Lade Inhalt...

Flausen im Kopf, Waldschrat im Herzen

von Kerry Greine (Autor:in) Ben Bertram (Autor:in)
185 Seiten

Zusammenfassung

Nach ihrem Studium zieht Sina für drei Monate aus München zu ihrem Vater. Die ländliche Idylle Schleswig-Holsteins soll der Ort sein, an dem Sina sich darüber klar werden will, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte. In der Kneipe ihres Vaters lernt sie den eigenbrötlerischen Wolf kennen, der in einer kleinen Hütte im Wald wohnt und sich von den Bewohnern des Dorfes fernhält. Er spricht mit niemandem, bis Sina ihm eines Tages im Wald begegnet. Ein Unfall bringt die beiden einander näher und Sina erfährt durch einen Zufall von Wolfs schwerem Schicksalsschlag. Von Tag zu Tag werden Sinas Gefühle für diesen undurchdringlichen Mann stärker, und sie beginnt, hinter die Fassade des mürrischen Waldschrats zu schauen. Als auch ihr eigenes Leben aus den Fugen gerät, ist er es, der ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Aber reicht das aus? Ist Wolf in der Lage, wieder Vertrauen in andere Menschen zuzulassen? Und kann er es schaffen, seine Mauern einzureißen und die Liebe, die Sina für ihn empfindet, zu erwidern?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zitze

Es klopfte an der Wohnungstür, als ich gerade meine letzten Klamotten in den Kleiderschrank räumte.

„Hey, Mäuschen. Kommst du klar? Oder brauchst du noch irgendwas?“, fragte mein Vater, nachdem ich ihn reingelassen hatte. Er wirkte ein wenig nervös, als er sich in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung umschaute.

„Nein, ich glaube, ich habe alles. Danke schön. Du hättest dir echt nicht so viel Mühe machen müssen. Ich bin doch schon groß, ich kann für mich allein einkaufen.“ Ich zwinkerte meinem Pa zu und meine Worte schienen ihn ein wenig zu beruhigen.

„Ach, lass mich meine Tochter doch mal ein bisschen verwöhnen. Ich hab dich so lange nicht gesehen, da wollte ich dir einfach gern eine Freude machen.“ Ja, das stimmte. Es war schon wieder viel zu lange her, dass wir uns gesehen hatten. Ich liebte meinen Pa sehr, doch wir trafen uns leider nur selten. Nach der Scheidung von meiner Mutter vor zehn Jahren war er von München in den hohen Norden, in ein Dorf in Schleswig-Holstein, gezogen. Seitdem war unser Kontakt aufgrund der Entfernung leider stark eingeschränkt. Auch wenn wir in den letzten Jahren viel telefoniert hatten, war es doch etwas ganz anderes, als sich zu sehen.

„Ach Papa!“, sagte ich und nahm ihn in den Arm. Fest drückte er mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Haare.

„Ich freu mich so sehr, dass du endlich hier bist! Auch wenn es nur für drei Monate ist, endlich haben wir mal ein wenig Zeit für uns“, murmelte er, dann löste er unsere Umarmung und trat einen Schritt zurück. Wieder schaute er sich um.

„Und du bist sicher, dass du nichts weiter brauchst?“, fragte er erneut und ich nickte.

„Ganz sicher!“, antwortete ich.

„Fein, dann gehe ich mal … Die Arbeit ruft. Falls irgendwas sein sollte …“

„Dann brauche ich nur die Außentreppe hinunterzugehen“, unterbrach ich ihn. Er nickte lächelnd und ließ mich dann allein.

Ich ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Na ja, „ein bisschen verwöhnen“ war wohl die Untertreibung des Jahres. Die Küchenschränke, der Kühlschrank und das Eisfach waren prall gefüllt mit all dem, was ich gerne aß. Ich hatte deutlich mehr, als ich brauchte, und wie es ausschaute, würde ich vieles davon gar nicht schaffen, bevor das Haltbarkeitsdatum ablief. Aber ich wusste, mein Pa meinte es gut. Es war seine Art, mir zu zeigen, wie sehr er mich liebte und wie sehr er sich freute, dass ich hier war.

Vor drei Monaten war mir die Idee gekommen, nach meinem Germanistik-Abschluss für ein paar Monate herzukommen. Ich wollte Zeit mit meinem Papa verbringen und mir in aller Ruhe überlegen, was ich mit meinem Studium anfangen und wo ich mich bewerben wollte. Was eignete sich dafür besser als ein kleines Dorf und die absolute Ruhe, die hier herrschte.

Mein Pa war von meiner Idee begeistert. Sofort hatte er angefangen, die kleine, leer stehende Einliegerwohnung über seiner Dorfkneipe herzurichten und bezugsfertig zu machen. Die Wände waren frisch gestrichen, das Parkett abgeschliffen und neu versiegelt. Er hatte neue, moderne Möbel für mich besorgt und sogar Gardinen in meiner Lieblingsfarbe aufgehängt. Auch wenn diese Wohnung nicht sonderlich groß war, war sie einfach traumhaft schön geworden. Ich fühlte mich von der ersten Sekunde an schon viel wohler, als ich es in meinem WG-Zimmer je getan hatte.

Als ich hier angekommen war, war mein kleines weißes Auto bis unters Dach voll gewesen mit Kisten und Koffern. Das Nötigste für die nächsten drei Monate hatte ich mit hierher genommen, der Rest meiner Sachen war in München eingelagert, bis ich mich endgültig entschieden hatte, wo ich zukünftig wohnen wollte. Jetzt machte ich mich daran, alles auszuräumen und in die Schränke zu verstauen.

Zwei Stunden später ging ich über die Außentreppe nach unten. Ich wollte meinem Vater in der Kneipe ein wenig Gesellschaft leisten. Auch wenn er bereits seit mittags geöffnet hatte, vermutete ich, dass nicht viel los sein würde. Wer setzte sich auch schon am Nachmittag in eine Kneipe?

Das rote Backsteingebäude mit den großen, weiß gerahmten Sprossenfenstern zur Straße hin wirkte einladend und gar nicht so verkommen und düster, wie man sich eine kleine Dorfkneipe so vorstellte.

Über der Tür hing ein hellgelbes Schild, auf dem in blauen Lettern der Name „Zitze“ stand. Ich konnte nicht genau sagen, ob es eine Anlehnung an unseren Nachnamen Zitzler war oder ob die Namensgebung nicht eher mit dem Landleben in Verbindung stand. Wahrscheinlich war der Name aber doch unserem Nachnamen geschuldet, immerhin wurde ich als Kind auch häufig damit geärgert. Daher musste ich ein wenig schmunzeln, als ich die Tür öffnete und eintrat.

Zu meiner Überraschung war schon einiges los, als ich im Gastraum ankam. Der Großteil der Tische war besetzt und auch am Tresen saßen bereits einige Gäste. Ich war noch nie hier gewesen, mein Vater hatte mich immer in München besucht, daher kannte ich seine Kneipe nur aus Erzählungen.

Überrascht schaute ich mich um. Wie von außen bereits zu erahnen gewesen war, entsprach auch das Innere nicht dem, was ich erwartet hatte.

Hell und freundlich wirkte der Laden. An den Wänden hingen wunderschöne Landschaftsaufnahmen in Schwarz-Weiß. Ein Trecker, der gerade ein Feld pflügte, ein Waldrand, hinter dem die Sonne aufging, eine Wildblumenwiese, ein einfacher hölzerner Lattenzaun. Doch schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass diese Fotos etwas Besonderes waren, und ich nahm mir vor, meinen Vater zu fragen, ob er sie gemacht hatte. Besonders gut gefiel mir ein Bild von einem Flusslauf am Waldrand. Obwohl es schwarz-weiß war, wirkte es so real und romantisch, dass ich mich am liebsten sofort an das Ufer gesetzt hätte.

„Hey, Sina! Schön, dass du kommst“, riss die Stimme meines Vaters mich aus meinen Betrachtungen. Er freute sich sichtlich, mich zu sehen, und so ging ich zu ihm hinüber an den Tresen.

„Magst du was trinken?“, fragte er, kaum dass ich auf einem der Barhocker Platz genommen hatte.

„Ja, gern. Aber bitte kein Bier!“ Mein Blick wanderte zu den Gläsern, die auf dem Tresen standen. Es war noch nicht mal 17 Uhr, für meinen Geschmack viel zu früh, um mit Alkohol anzufangen. Oder lag es daran, dass heute Samstag war und niemand mehr arbeiten musste?

Ich entschied mich für eine Cola light, und während ich trank, musterte ich die anwesenden Dorfbewohner. Hauptsächlich ältere Männer waren hier vertreten. An mehreren Tischen wurde Karten gespielt, andere hatten Würfelbecher vor sich stehen. In einer Ecke war ein Spielautomat an der Wand, vor dem einer der Herren sein Glück versuchte, den Jackpot zu knacken.

„Ist das hier immer so?“, fragte ich meinen Pa und deutete auf die Leute. „Oder gibt es hier so wenig Frauen?“

Mein Vater grinste.

„Nein, hier gibt es schon auch Frauen. Die Jungs sind fast alle verheiratet. Aber sie werden von ihren Frauen rausgeschmissen, damit sie nicht im Weg rumstehen, während das Abendessen vorbereitet wird. Das ist hier ganz normal. Warte mal ab, in einer Stunde sind die alle weg, dann ist hier Totentanz. Und nach der Tagesschau kommen sie zusammen mit den Frauen wieder, dann wird es voll hier.“

Ein wenig wunderte ich mich schon über diese merkwürdigen Gepflogenheiten, aber vielleicht war ich auch einfach nur viel zu sehr ein Großstadtkind.

Während ich meine Cola light trank, erzählte mir mein Vater, was es hier alles zu erleben gab. Wobei „erleben“ für ihn wohl eine andere Bedeutung hatte als für mich. Außer dieser Kneipe gab es in dem 500-Seelen-Dorf anscheinend nur noch eine kleine Bäckerei. Ansonsten war hier in der Gegend nichts außer Wald, Feldern, Bauernhöfen und Tieren. Okay, ich hatte nicht erwartet, dass es hier Diskotheken und Shoppingmalls geben würde, aber zumindest einen vernünftigen Supermarkt oder ein, zwei Bekleidungsgeschäfte. Leider wurde ich eines Besseren belehrt. Und nicht nur das, mein Vater lachte mich sogar aus.

„Sei froh, dass wir hier mittlerweile vernünftiges Internet haben. Vor anderthalb Jahren musste man sich hier noch mit einem 56k-Modem über die Telefonleitung einwählen“, erklärte er mir und ich lachte auf.

„Ja, genau. Sehr witzig, Papa. Veralbern kann ich mich selbst“, antwortete ich augenzwinkernd, doch einer der Männer am Tresen mischte sich sofort ein.

„Nee, Mädchen. Zitze verarscht dich nicht. Das war echt so.“ Eifrig nickend stimmte sein Sitznachbar zu.

„Jo! Aber wat soll’n wa hier auch mit so’n neumodischen Krams?“, fragte er in breitem Norddeutsch. Ein wenig geplättet musterte ich die beiden Männer und wunderte mich, wie man im Jahre 2017 noch derart hinter dem Mond leben konnte.

„Keine Angst, Mäuschen. Mittlerweile sieht es anders aus und in deiner Wohnung gibt es auch WLAN.“ Beruhigend legte mein Vater seine Hand auf meine und drückte leicht zu. Dankbar lächelte ich ihn an.

Auf einmal kam Bewegung in die Gäste. Es schien, als hätten sie sich alle abgesprochen, denn sie standen nacheinander auf, nickten meinem Vater freundlich zu und verließen das Lokal. Innerhalb von zehn Minuten war ich mit meinem Pa allein. Und nicht nur das war merkwürdig. Mir fiel auf, dass nicht einer der Gäste etwas für seine Getränke bezahlt hatte.

„Was ist denn jetzt?“, fragte ich verwirrt. Mein Vater deutete auf die große Bahnhofsuhr, die hinter dem Tresen an der Wand hing.

„Es ist sechs. Jetzt geht’s nach Hause, in einer halben Stunde steht das Abendessen auf dem Tisch.“ Breit grinsend polierte mein Pa an einem Bierglas, bevor er es in die Vorrichtung über dem Tresen hängte und nach dem nächsten griff.

„Ähm … okay … Aber wollen die nicht zahlen?“ Ich kam mir ziemlich dumm vor, als ich diese Frage stellte, erst recht, als mein Vater laut loslachte.

„Nö, die haben hier ihre Bierdeckel. Da schreib ich alles auf und einmal die Woche wird abgerechnet.“

Na, der hatte ja Vertrauen in seine Gäste. Aber gut, bei geschätzten 500 Einwohnern kannte vermutlich eh jeder jeden.

Fliegender Diamant

Bereits seit über drei Stunden lag ich heute schon auf der Lauer. Fast bewegungslos und gut getarnt saß ich an dem kleinen Flusslauf, der sich direkt am Waldesrand befand und an dem ich vor einigen Wochen einen Eisvogel hatte fliegen sehen.

Zunächst glaubte ich damals, dass ich mich getäuscht hatte. Zumindest so lange, bis er erneut aus seinem Versteck gekommen und über das ruhige Gewässer geflogen war. Dieser Tag, besser gesagt, dieser türkisblau schimmernde Vogel war es, der dafür gesorgt hatte, dass ich seitdem fast täglich meine Zeit hier verbrachte.

Genau wie auch jetzt hatte ich schon viele Tage versteckt und mit meiner Fotokamera in den Händen an diesem Ort gesessen. Ich musste diesen fliegenden Diamanten einfach erneut zu Gesicht bekommen. Ihn mit meiner Kamera und dem großen Objektiv, das ich aufgesetzt hatte, einfangen. Warum ich es wollte? Ganz einfach. Er war etwas Besonderes. Etwas Kostbares. Diese wunderbare Schöpfung der Natur war wie ein ungeschliffener Diamant. Er war so, wie die Natur ihn erschaffen hatte. So, wie die Natur es für ihn vorgesehen hatte, lebte er sein Leben im Schatten jeglicher Zivilisation. Er war präsent. Allerdings nur für die Menschen, die ein Auge für das Wesentliche hatten. Alle anderen würden ihn niemals erleben dürfen.

Er war wie ein Wolf. Ja, auch wenn dieser Vergleich dem ersten Anschein nach hinkte, so fand ich doch, dass sie sich sehr ähnlich waren. Beide lebten in ihrer eigenen Welt und zeigten sich nur dann, wenn ihnen danach war. Nicht wie Rehe oder Hasen, die sich öffentlich den Spaziergängern präsentieren.

Bin ich auch zu einem Eisvogel geworden? Oder bin ich doch eher der Wolf? Ich konnte mir meine eigenen Gedanken nicht beantworten. Auf jeden Fall aber war ich kein Wildschwein und ein Reh sowieso nicht.

Wenn es nach den Menschen aus dem Dorf ginge, war ich der Wolf. Der unheimliche und mysteriöse Mann aus dem Wald. Der Waldschrat, der sich in einem alten Haus zurückgezogen hatte. Der Typ, der Kontakt zur Menschheit scheute und der ihnen Rätsel aufgab. Ja, genau wie ein Wolf eben. Einen Wolf kannte jeder und doch kannte ihn eigentlich auch niemand.

Oder bin ich doch wie ein Eisvogel? Schließlich zeige ich mich den Menschen nur, wenn mir danach ist! Erneut holten mich meine Gedanken ein und abermals schüttelte ich meinen Kopf, da auch dies eine Gemeinsamkeit und kein Unterschied zwischen dem Wolf und einem Eisvogel war.

Vielleicht lag es aber auch einzig und allein daran, dass ich selbst nicht wusste, wer ich eigentlich war. Wer ich sein wollte, das wusste ich allerdings schon, und doch hatte ich dieses Ziel noch längst nicht erreicht. Ich befand mich mitten auf meinem Weg. Auf meinem Weg, auf dem ich trotz meiner erst 37 Jahre schon viele Schicksalsschläge hatte verarbeiten müssen. Doch ich hatte diese inzwischen akzeptiert. Sie gehörten zu mir. Auch wenn ich einige von ihnen noch immer nicht verstanden hatte, versuchte ich, mit ihnen zu leben. Besser gesagt, mit ihnen umzugehen, da es nicht in meiner Macht lag, es zu ändern.

Mein Rücken und meine Beine waren inzwischen taub geworden. Viel zu lange schon hatte ich in meiner Tarnhaltung gesessen und nach dem Eisvogel Ausschau gehalten. Da ich keine Uhr besaß, musste ich mich am Stand der Sonne orientieren, und so ging mein Blick hinauf in den Himmel. Ungefähr 15 Uhr war es, und ich lächelte, als mir bewusst wurde, dass ich nun bereits seit vier Stunden hier saß. Vier Stunden waren eine lange Zeit und doch waren sie wie im Fluge vergangen. Früher hätte ich mich über diese verlorene Zeit geärgert. Wenn ich damals mit meinen Kindern vier Stunden im Englischen Garten, meiner damaligen Heimat München, gewesen war, hatte ich ein schlechtes Gewissen meiner Arbeit gegenüber gehabt. In diesen Stunden hätte ich Aufträge abarbeiten können, und so drängte ich immer viel zu schnell darauf, zurück nach Hause zu gehen. Damals wusste ich noch nicht, was wirklich wichtig war. Ich hatte nicht kapiert, dass man seine Arbeit auch hätte später durchführen können. Ja, die Arbeit konnte nicht weglaufen. Ein Kinderlachen aber konnte verstummen. Die gemeinsame Zeit konnte man nicht zurückholen, ein verstummtes Lachen konnte man nicht wieder aktivieren und verlorene Menschen blieben verloren.

Die Arbeit jedoch blieb da. Ja, sie wartete. Leider war ich damals zu besessen, vielleicht auch einfach zu blöd, es zu verstehen.

Noch immer machte der fliegende Diamant keine Anstalten, sich zu zeigen. Vielleicht hatte er aber auch längst diesen Ort verlassen, um sich woanders ein neues Revier zu suchen. Genau, wie ein Wolf es tat, der ständig auf der Suche nach dem für ihn besten Ort war.

Und genau, wie ich es gemacht habe!

So unterschiedlich ein Eisvogel, ein Wolf und ich auf den ersten Blick auch sein mochten. Irgendwie waren wir doch gleich. Unsere Gleichheit spiegelte sich darin wider, dass wir anders als die anderen waren, und ich war mir ziemlich sicher, dass es auch der fliegende Diamant und Isegrim, wie der Wolf in den Fabeln der Menschen heißt, so sahen wie ich.

Ohne ein Foto, dafür aber mit eingeschlafenen Beinen, versuchte ich, aufzustehen. Langsam, fast wie ein alter Mann, reckte und streckte ich mich zunächst etwas, bevor ich es endlich in die Senkrechte geschafft hatte.

Der weiche Waldboden ließ meinen Schritt sanft federn, während ich mich langsam und bedächtig zwischen den Bäumen hindurch auf den Weg zu meinem Haus machte.

Dort angekommen, brachte ich zunächst meine Fotoausrüstung hinein, um anschließend wieder hinauszugehen. Der Brunnen war mein Ziel. Dieser alte Brunnen, der sich vor meinem Haus befand und der ziemlich zugewuchert war. Mein Brunnen, der ganz sicher viele interessante Geschichten zu erzählen gehabt hätte, wenn er denn hätte sprechen können. O ja, diese Geschichten wären es bestimmt wert gewesen, aufgeschrieben zu werden. Schon häufig hatte ich daran gedacht, dass der Brunnen und ich ein tolles Team gewesen wären. Wenn er hätte sprechen und ich schreiben können, dann wären diese Geschichten keine Geheimnisse geblieben.

Andererseits hatte es auch seinen Charme, wenn man nicht alles wusste. Und gerecht war es sowieso. Warum sollte ich alles über den Brunnen wissen dürfen? Der Brunnen wusste ja auch nichts über mich. Zumindest nichts über meine Vergangenheit.

Nachdem ich mich mit dem klaren und kalten Wasser erfrischt hatte, legte ich mich ins Gras. Nur wenige Wolken zogen über mir entlang. Langsam und doch unaufhörlich schoben sie sich über den Himmel. Sie lebten ihre Freiheit aus und sie erinnerten mich an mich selbst. Auch ich lebte mein neues Leben langsam und ohne Zwang. Doch während die Wolken vom Wind abhängig waren, da er ihr Tempo bestimmte, musste ich meine Geschwindigkeit selbst erlernen. Das Schicksal hatte meinen neuen Weg geebnet und ich hatte mir das dazugehörige Tempo erst aneignen müssen. Das Tempo meines Lebens war anders als früher. Genau wie mein gesamtes Leben, das sich vor fünf Jahren schlagartig verändert hatte. Damals war ich ICH. Auch wenn ich heute noch immer ich war, war alles anders, und ich hatte noch immer nicht verstanden, warum ausgerechnet ich vom Leben so hart bestraft worden war. Ich hatte inzwischen zwar kapiert, was geschehen war. Ich hatte ebenfalls registriert, dass alles anders war. Verstehen konnte und wollte ich es trotzdem nicht.

Ich war anders. Mein Leben war anders. Alles war anders, und doch wusste ich, dass das Leben noch eine Aufgabe für mich vorgesehen hatte. Leider hatte ich noch immer nicht herausgefunden, welche es war.

Schweigend stand ich auf und ging ins Haus. Vor meinem Kamin blieb ich stehen und sah mir das Bild an, welches seit fünf Jahren an genau diesem Platz stand. Hier auf dem Sims, wo ich es von überall aus sehen konnte. Wieder einmal strich ich über den goldenen verschnörkelten Rahmen und rückte es so zurecht, dass es an seinem korrekten Platz stand. Auf dem Platz, an dem es eben schon gestanden hatte. Doch es tat mir einfach gut, es täglich neu auszurichten.

Damals kannte ich die Bilder, die sich in unserem Haus befanden, nicht. Wenn mich jemand gefragt hätte, was für Bilder wir besaßen, hätte ich mit einem Achselzucken geantwortet. Heute war jedes meiner Bilder ein Teil von mir. Meine Fotoausrüstung hatte ich damals schon gehabt, doch erst in den letzten Jahren war sie ein Teil von mir geworden. Hierdurch hatte ich die Möglichkeit, diese Bilder zu meinen zu machen.

Alles hatte sich verändert. Damals sprach man mich in allen großen Städten mit meinem richtigen Namen an. Heute sprachen alle hier im Dorf nur von Wolf.

Stille

Ich war gerade mal 24 Stunden hier und schon zweifelte ich an meiner eigenen Entscheidung. War es wirklich richtig gewesen, gleich für drei Monate herzukommen? Ich war mir nicht mehr sicher. Mein Plan war es gewesen, Zeit mit meinem Vater zu verbringen, sein Leben kennenzulernen, seine Freunde, seinen Wohnort, seine Arbeit. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass es mir so schwerfallen würde. Klar war es toll, bei ihm zu sein, doch irgendwie hatte ich nicht bedacht, dass er ja die meiste Zeit arbeiten musste.

Ich hingegen hatte nicht wirklich was zu tun. In München hatte ich mir manchmal gewünscht, so viel freie Zeit zu haben, die ich komplett selbst füllen konnte. Ich hätte unzählige Möglichkeiten gehabt, mich zu beschäftigen. Ich wäre shoppen gegangen, hätte mich in ein Café gesetzt und Leute beobachtet, hätte mich mit Freunden getroffen. Dort war ich immer unterwegs gewesen und hatte mir so oft gewünscht, dass der Tag mehr Stunden hätte. Und hier? Hier war alles anders. Das Leben lief langsamer, niemand rannte von Termin zu Termin. Die Menschen strahlten eine innere Ruhe aus, wie ich sie von der Großstadt nicht kannte. Und nicht nur das, auch das Dorf und die gesamte Umgebung waren ruhig.

Es gab keinen Verkehrslärm, kein Gehupe, keine schreienden Nachbarn, die sich stritten, keine blinkende Leuchtreklame – es gab nur Stille.

Eine Stille, die mir bereits seit 24 Stunden in den Ohren dröhnte und die mich, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, ein wenig überforderte. Ja, ich war wohl ein Großstadtkind durch und durch. Doch was sollte ich tun? Ich hatte meinem Vater versprochen, bis zum Herbst zu bleiben. Er wäre enttäuscht, wenn ich früher wieder fahren würde, und das wollte ich auf keinen Fall.

Abgesehen davon – wo sollte ich auch hin? Ich hatte mein Zimmer in der WG, in der ich die letzten zwei Jahre gewohnt hatte, gekündigt. Ich hatte keinen festen Job und konnte mir somit auch nicht einfach eine andere Wohnung suchen. Kein Vermieter würde mich nehmen, und wovon sollte ich es auch bezahlen? Meine einzige Geldquelle war ein kleiner Nebenjob als Texterin für eine Agentur, die Schreibaufträge vermittelte. Damit konnte ich keine Miete aufbringen.

Zu meiner Mutter konnte ich auch nicht gehen. Als ich mit dem Studium anfing, hatte meine Ma beschlossen, noch einmal neu durchzustarten. Sie hatte ihren Job im Krankenhaus, wo sie als Ärztin angestellt gewesen war, gekündigt und sich bei Ärzte ohne Grenzen beworben. Im Moment war sie irgendwo in Kenia für diese Hilfsorganisation unterwegs und somit unser Kontakt stark eingeschränkt.

Heute Morgen hatte ich mich mit meinem Vater zum Frühstücken getroffen, doch danach musste er in seine Kneipe, um alles vorzubereiten. Wie ich gestern Abend erfahren hatte, gab es bei ihm nicht nur Getränke, sondern auch ein paar Kleinigkeiten zu essen. Das Speisenangebot war nicht groß und wechselte wöchentlich. Wie er mir erklärt hatte, kochte er das, worauf er selbst gerade Lust hatte. Heute gab es Gulasch mit Nudeln, und ich freute mich schon darauf, nachher bei ihm zu essen.

Während er arbeitete, machte ich mich daran, die Umgebung zu erkunden. Vielleicht gab es hier doch etwas Interessantes zu entdecken, was mich mit dem Dorfleben ein wenig versöhnte und mir die Eingewöhnung erleichterte.

Stundenlang streifte ich durch die Felder, und es dauerte nicht lange, da setzte die Faszination für diese mir vollkommen ungewohnte Umgebung ein. Weite grüne Wiesen, nur getrennt durch ein paar Zäune. Kühe, die mit ihren Kälbchen noch glücklich auf den Weiden standen. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel und nur ein paar weiße Wattewölkchen waren in der Ferne zu erkennen.

Noch nie hatte ich eine solche Weite gesehen, immer war mein Blick von Häusern und Straßen verstellt gewesen, fiel mir auf. Doch hier hatte ich das Gefühl, das erste Mal wirklich den Horizont zu sehen.

Natürlich nicht wirklich, immerhin hatte ich auch schon Urlaube am Meer gemacht, wo man ja auch den Horizont sehen konnte, und doch war das hier ganz anders.

Irgendwann merkte ich, dass diese Stille in Wirklichkeit gar keine war. Die Geräusche waren da, sie waren nur anders als in der Stadt. Während ich auf einen Waldrand zulief, lauschte ich und versuchte, zu identifizieren, was ich hörte. Vögel zwitscherten und aus der Ferne war das Muhen der Kühe zu vernehmen. Der Wind raschelte in den Bäumen um mich herum und meine eigenen Schritte klangen dumpf auf dem Waldboden. Auf einmal bemerkte ich ein leises Rauschen, ein Plätschern, wie von einem Flusslauf. Neugierig folgte ich dem Geräusch und verließ mich ganz auf mein Gehör, das mir den Weg weisen sollte.

Es dauerte nicht lange, da entdeckte ich das Wasser glitzernd zwischen den Bäumen. Als ich näher kam, sah ich, dass es ein kleiner Flusslauf direkt am Waldrand war. Die Sonne drang nur teilweise durch die Bäume um mich herum und warf verspielte Schattenbilder auf den Boden. Am Rande des Flusses waren mehrere große Feldsteine, die geradezu einluden, sich dort niederzulassen.

Es war, als wäre ich in einer Märchenwelt gefangen. Solche verwunschenen Orte wie diesen hier kannte ich bisher nur aus irgendwelchen Filmen. Mein Herz schlug höher vor Freude, dass ich diesen Platz entdeckt hatte, und bereits jetzt wusste ich, ich hatte meinen Lieblingsplatz gefunden.

Auf einmal kam mir das Dorfleben gar nicht mehr so schlimm vor, auf einmal konnte ich die Ruhe genießen und spürte, wie sie mich erfasste. Ich fühlte eine Entschleunigung, als würde ein Teil von mir den Fuß vom Gas nehmen und auf die Bremse treten.

Entspannt setzte ich mich auf einen der Feldsteine und ließ meinen Blick schweifen. Ich ärgerte mich ein wenig, dass ich keine Kamera, ja nicht mal ein Handy dabeihatte, um zu fotografieren, doch ich wusste auch so, ich hatte die Bilder in meinem Herzen gespeichert. Nie würde ich diesen Anblick wieder vergessen.

Während ich mich umschaute, fiel mir noch etwas auf. Ich kannte diesen Ort. Es war, als wäre ich schon einmal hier gewesen, doch das konnte nicht sein. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Déjà-vu. Aber warum?

Eine Bewegung, die ich nur im Augenwinkel sah, riss mich aus meinen Überlegungen, und ich schaute mich um, was es gewesen war.

Nicht weit von mir entfernt entdeckte ich einen Vogel, der über dem Wasser zu schweben schien. Er war wunderschön! Sein leuchtend blaues und orangefarbenes Gefieder glitzerte im Sonnenschein und ich hielt spontan die Luft an.

Ein Eisvogel war es, der sich mir hier zeigte. Ich erinnerte mich an meine Schulzeit. Wir hatten ein Poster im Klassenraum hängen, auf dem die Vogelarten Deutschlands abgebildet waren. Auch der Eisvogel war dort drauf, doch noch nie hatte ich einen dieser scheuen Tiere in natura gesehen.

Ein paar Sekunden später verschwand der Vogel. Ein wenig enttäuscht war ich schon, zu gern hätte ich ihn noch länger beobachtet. Aber ich wusste, ich würde wiederkommen, und vielleicht sah ich ihn ja dann noch einmal.

Allmählich machte ich mich auf den Rückweg. Ich hatte Hunger und wollte meinem Vater von meiner Entdeckung erzählen.

Als ich in der Kneipe ankam, war einiges los. Wie schon gestern schienen auch heute die Männer von ihren Frauen losgeschickt worden zu sein, denn es war wieder 17 Uhr. Kurz wunderte ich mich, wo die Zeit geblieben war. War ich wirklich so viele Stunden unterwegs gewesen?

„Oh, Sina. Da bist du ja wieder! Wie war’s denn?“, fragte mein Vater, doch ich merkte schon, er fragte nur aus Höflichkeit. Eigentlich hatte er gerade gar keine Zeit, denn wie es ausschaute, bearbeitete er mehrere Bestellungen gleichzeitig.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte ich, statt eine Antwort zu geben.

„Du bist hier nicht zum Arbeiten!“, gab er zurück und verschwand in der kleinen Küche, die sich an den Tresenbereich anschloss. Mit einem Teller Gulasch in der Hand kehrte er zurück und wollte an mir vorbei, doch ich stellte mich ihm in den Weg.

„Soll ich den rausbringen? Wenn ich schon umsonst in der Wohnung wohnen darf, kann ich dir wenigstens ein wenig zur Hand gehen. Und da warten noch mehrere Biere darauf, gezapft zu werden.“ Ich deutete auf die Gläser, die unter dem Zapfhahn standen.

„Nein, das musst du nicht!“, protestierte er erneut, doch ich unterbrach ihn.

„Nun gib schon her. Welcher Tisch?“ Ohne weitere Widerworte zuzulassen, nahm ich ihm den Teller ab.

„Das ist für Wolf. Da drüben in der Ecke, der kleine Tisch.“ Während ich mit dem Teller in der Hand den angegebenen Tisch ansteuerte, musterte ich den Gast, der dort saß, unauffällig. Wolf … Irgendwie passte der Name zu ihm. Er wirkte tatsächlich wie ein einsamer Wolf. Seine langen Haare, die ihm bis über die Schulter gingen, und dazu der dichte Vollbart – er sah aus wie ein Waldschrat, der keinen Kontakt zur Außenwelt wollte. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass er als Einziger allein an einem Tisch saß, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihn eine Aura der Einsamkeit umgab. Trotz seines Erscheinungsbildes, das auf den ersten Blick ungewöhnlich wirkte, fiel mir sofort auf, was für ein gut aussehender Mann er war. Ich schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig und somit gute zehn, eher zwölf Jahre älter, als ich es war.

„Guten Appetit! Lassen Sie es sich schmecken“, sagte ich und stellte lächelnd den Teller vor ihm ab. Nur flüchtig schaute der Mann auf, streifte mich mit seinem Blick.

Dann nickte er, ohne mich weiter anzusehen, und wandte sich dem Essen zu.

Komischer Kauz, dachte ich und kehrte zu meinem Vater an den Tresen zurück. Mittlerweile schien er alle Getränkebestellungen abgearbeitet zu haben, denn er nippte entspannt an einer Tasse Kaffee.

„So, jetzt hab ich Zeit“, bestätigte er meine Vermutung. „Erzähl, was hast du so getrieben?“

Während ich ihm von meinem Tag erzählte, merkte ich selbst, wie glücklich ich klang. Meine Zweifel von heute Vormittag waren verschwunden, die Schönheit der Landschaft hatte mich gepackt.

„Ich habe sogar einen Eisvogel gesehen!“ Begeistert strahlte ich meinen Vater an. Er runzelte die Stirn und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Nein, Mäuschen, da musst du dich irren. Es gibt hier keine Eisvögel.“

Ich war verwirrt. Gedanklich rief ich mir das Bild des Vogels wieder vor Augen.

„Doch, ich bin mir ganz sicher! Es war ein Eisvogel“, beharrte ich, doch mein Vater blieb bei seiner Meinung. Es gab hier keine. Sollte ich mich tatsächlich so geirrt haben? Ich beschloss, das nächste Mal unbedingt meine Kamera mitzunehmen, um ein Foto zum Beweis zu machen.

Mein Blick fiel auf den Mann namens Wolf. Wie erstarrt schaute er mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als er mir unverwandt in die Augen sah. Was sollte dieser Blick bedeuten? Irgendwie war er unheimlich, er wirkte so gar nicht freundlich. Und doch konnte ich mich nicht von ihm abwenden. Diese Aura, die ich vorhin schon bemerkt hatte, zog mich wie magisch an. Irgendetwas strahlte er aus, etwas Unnahbares und doch Faszinierendes.

Gefühlte Minuten dauerte unser Blickkontakt, bis er sich plötzlich abrupt abwandte und auf den mittlerweile leeren Teller vor sich schaute.

Mein Eisvogel

Hatte ich die Worte eben richtig verstanden? Klar hatte ich, daran gab es keinerlei Zweifel. Dass Zitze kein Auge für besondere Momente haben würde, hatte ich mir bereits gedacht. Niemand hier in diesem Dorf, das für mich eine Art freiwilliges Gefängnis und neue Freiheit zugleich war, hatte diesen so wichtigen Blick für das Wesentliche im Leben. Die Menschen hier waren Spiegel für mich. Mein Spiegel der Vergangenheit! Heutzutage war ich so weit, dass ich mich über sie hätte amüsieren können. Zumindest dann, wenn mir danach gewesen wäre. Wann ich mich zum letzten Mal amüsiert hatte, wusste ich nicht. Es war mir aber auch egal, da ich mit den Themen Glück, Liebe und Träume abgeschlossen hatte. Damals war es gewesen. Damals, in dieser regnerischen und stürmischen Nacht. In dieser Nacht, die mein Leben hatte zerbrechen lassen. Mein Leben? Nein, mich!

Freude kannte ich. Tatsächlich hatte ich es geschafft, die Freude wieder zu erlernen. Nicht die Freude im Umgang mit anderen Menschen. Mit der Menschheit hatte ich abgeschlossen. Ich wollte mit niemandem etwas zu tun haben. Ich war ich und wollte und konnte es nicht zulassen, dass irgendeine Person Zugang zu mir bekommen würde. Mein Herz war eine Tabuzone. Meine Gedanken behielt ich für mich, und meine Worte waren für die Bäume, die Wolken und die Tiere des Waldes bestimmt. Ob mich andere für unhöflich hielten, war mir egal. Was die Dorfbewohner über mich dachten sowieso. Niemals hatte ich hier in der Kneipe, die diesen dämlichen Namen Zitze trug, ein Gespräch geführt. Noch vor drei Jahren hatten einige dieser seltsamen Menschen versucht, mit mir zu reden. Ich sollte sogar mit ihnen Würfelspiele machen oder Skat kloppen. Ja, sie hatten sich bemüht. Aber inzwischen hatten sie auch endlich eingesehen, dass ich nur zufällig mit ihnen in einem Dorf wohnte. Dass ich nicht ihretwegen hier lebte und sie mich gefälligst in Ruhe lassen sollten.

Hier in die Kneipe ging ich nicht wegen der Menschen. Nicht, um mich auszutauschen. Nicht, um irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren. Ich ging hierher, weil ich ab und an ein frisch gezapftes Bier trinken wollte. Und ich kam her, da Zitze das beste Gulasch überhaupt zubereiten konnte. Ja, es schmeckte hervorragend. Und ja, ich aß niemals etwas anderes, wenn ich mich bei Zitze in der Zitze aufhielt.

Heute war es nicht wie sonst. Ich hatte eben Worte aufgeschnappt und tatsächlich anschließend auch weiter zugehört. Eigentlich konnte man sogar behaupten, dass ich ein Gespräch belauscht hatte. Ein Gespräch zwischen Zitze und seiner Tochter. Die junge Frau musste seine Tochter sein. Immerhin hatte sie ihn mit Pa angesprochen. Oder hatte ich mich etwa verhört? Wie auch immer es sich verhielt, eigentlich war es mir auch vollkommen egal, wie die beiden zueinander standen. Zugehört hatte ich ausschließlich wegen eines anderen Wortes. Auch die junge Frau hatte meinen fliegenden Diamanten entdeckt. Zumindest hatte sie ihn angeblich gesehen. Selbst wenn ich es mir nicht vorstellen konnte, gab es tatsächlich diese Möglichkeit. Wie sonst sollte sie ausgerechnet auf einen Eisvogel gekommen sein? Immerhin war sie ein Stadtmensch. Deutlich war es ihr anzusehen, und ich hätte meinen Arsch darauf verwettet, dass sie aus München kam. Ihre spießigen Perlenohrringe und ihr gesamtes Auftreten schrien förmlich nach meiner alten Heimat.

Hätte sie meinen fliegenden Diamanten nicht gesehen, hätte sie von Rehen, Wildschweinen, Fasanen oder vielleicht von einem Hasen berichtet. Zumindest dann, wenn sie diese Tiere überhaupt kannte. Ganz sicher konnte sie einen Hasen nicht von einem Kaninchen unterscheiden. Es wäre auch durchaus möglich gewesen, dass sie lediglich wusste, dass es Kühe und Schweine gab. Wie eine typische Stadtmensch-Trulla halt, die sich vor schmutzigen Händen und dreckigen Klamotten vermutlich viel mehr fürchtete als vor einem Wolf.

Als vor einem Wolf!? Ich wiederholte in Gedanken meine letzten Worte. Für die Dorfbewohner war ich der Wolf. Lag es daran, dass sie sich vor mir fürchteten? Oder war der Grund ein anderer? Immerhin signierte ich meine Fotos mit dem Namen Wolfseye. Dieser Name passte zu mir. Ich sah den Wald und seine Bewohner mit anderen Augen als die hiesigen Dorftrottel. Ich fürchtete die Tiere des Waldes nicht, sondern akzeptierte sie. Ich gewährte ihnen den notwendigen Sicherheitsabstand, genau so, wie sie ihn mir auch gaben. Wir respektierten uns und wussten, dass niemand den anderen fürchten musste.

Mein Blick fiel auf die Bilder, die hier in der Kneipe hingen. Ich hatte sie ihm als Dank dafür geschenkt, dass ich hier immer mein geliebtes Gulasch bekam, auch wenn es in der Woche gar nicht zum Angebot gehörte. Schon bei meinem nächsten Besuch in der Zitze hatten meine Fotos hier an der Wand gehangen. Deutlich konnte ich meinen Namen erkennen. Wolfseye stand unten auf den Fotos, und ich freute mich darüber, dass ich die Natur tatsächlich mit den Augen eines Wolfes sehen durfte. Ja, ich durfte es. Es war ein Geschenk für mich. Eine Gabe, die ich in den letzten Jahren genutzt und verfeinert hatte. Als ich meinen Blick weiter durch die Lokalität schweifen ließ, war ich froh darüber, dass es hier in der Kneipe zumindest keine ausgestopften Tiere an der Wand gab. Das war etwas, was ich nie begreifen würde. Warum tat die Menschheit so was? Warum um alles in der Welt begriffen wir Menschen nicht, dass Tiere nicht als ausgestopfte Figuren in unsere Häuser gehörten? Wir alle waren Lebewesen und hatten ein Recht auf das, was für uns vorgesehen war.

Hatten ein Recht auf das, was für uns vorgesehen war! Erneut wiederholte ich gedanklich meine Worte. War diese Nacht vor fünf Jahren etwa für Marie, Emilie und Johanna vorgesehen gewesen? Wenn ja, warum? Oder hatten sie einfach nur darunter leiden müssen, dass ich als Ehemann und Vater versagt hatte? War ihr Leben deshalb so abrupt beendet worden, damit ich lernte, was wirklich wichtig war? Was wirklich zählte, das wusste ich jetzt. Doch leider war es zu spät. Es half mir nicht mehr, und was noch sehr viel schlimmer war, es half auch meiner Frau und meinen Zwillingen nicht mehr.

Nur zu gerne wäre ich jetzt sofort in mein Haus gegangen, um zu überprüfen, ob das Bild, das sich in dem verschnörkelten Bilderrahmen auf dem Kaminsims befand, an der richtigen Stelle stand. Doch ich ließ es bleiben. Ich hatte noch Bier in meinem Glas und eine Frage musste ich auch noch klären.

Nein, nicht mit den anderen Dorfbewohnern. Nicht mit Zitze, dessen eigentlichen Namen ich weder kannte noch mich für diesen interessierte. Und auch nicht mit der Frau, die diese Perlenohrringe trug und die wahrscheinlich die Tochter von Zitze war.

Nein, ich musste etwas mit mir klären. Warum nur um alles in der Welt hatte die Trulla aus München etwas von meinem fliegenden Diamanten erzählt? Hatte sie ihn wirklich gesehen? War es ihr gelungen, meinen Schatz zu entdecken? War es so? Oder wollte sie sich tatsächlich nur wichtigmachen? Um mir diese Frage zu beantworten, hätte ich mit ihr reden müssen. Reden! Wollte ich mit ihr reden? Ich sprach sonst auch mit niemandem. Nein, ich wollte mein Verhalten auch jetzt nicht ändern.

Aber es gab noch eine Möglichkeit. Sie anzusehen. Ihren Augenkontakt zu suchen. Ja, das konnte ich machen. Natürlich nicht lange. Nur ganz kurz, dafür aber intensiv. So wie ich es auch bei den Tieren tat, kurz bevor sie wieder in ihrem Dickicht verschwanden. Ich konnte in den Augen der Tiere lesen. Mir war es möglich, zu erkennen, ob sie Angst hatten oder einfach nur ihre Ruhe haben wollten.

Ein kurzer und intensiver Blick in die Augen der Frau würde genügen, um zu erfahren, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Bei den Tieren klappte es. Warum, in Gottes Namen, sollte es dann nicht auch bei ihr funktionieren?

Auch mein dritter Versuch blieb erfolglos. Nicht, dass ich nichts in ihren Augen lesen könnte. Es lag einfach daran, dass ich es nicht hinbekam, meinen Blick von diesem verfluchten Gulasch abzuwenden. Endlich hatte ich meinen Teller geleert. Nachdem ich ihn beiseitegeschoben hatte, startete ich einen erneuten Versuch. Ich war es nicht mehr gewohnt, andere Menschen anzusehen. Ich hatte damit abgeschlossen und wollte es nicht mehr. Zumindest bis heute war es so gewesen. Genauer gesagt, bis vor wenigen Minuten!

Nein, es lag nicht an der Frau. Sie war mir vollkommen egal. Trotzdem musste ich es machen. Ja, ich musste, da ich herausfinden wollte, ob sich mein gefiederter Diamant tatsächlich dieser Frau gezeigt hatte.

Wortlos war ich aufgestanden und hatte die Zitze verlassen. Ein kurzes Nicken meinerseits hatte genügt, um mein Gulasch und das Bier auf den Deckel schreiben zu lassen. Verwirrt ging ich langsam in Richtung meines Hauses. Als ich die Kurve erreicht hatte, nach der ich die Kneipe nicht mehr sehen konnte, hielt ich an und drehte mich herum. Niemals zuvor hatte ich das getan, und doch war das Verlangen in mir aufgestiegen, es heute zu machen.

Die Kneipe lag dort im Schatten der großen Bäume. Ja, eigentlich hätte ich sie sehen müssen. Meine Augen waren schließlich auf sie gerichtet. Trotzdem hatte ich nicht die Zitze, sondern die Frau mit den Perlenohrringen vor meinen Augen. Vor meinen Augen, obwohl sie sich in der Lokalität befand und ich sie eigentlich nicht hätte sehen können.

Ich hatte vor wenigen Minuten etwas gemacht, was ich eine Ewigkeit lang nicht getan hatte. Ich hatte jemandem in die Augen gesehen. Tief in die Augen sogar. Dieser Blick hatte mich aufgeklärt.

Tatsächlich hatte die Frau meinen Eisvogel gesehen. Er hatte sich ihr präsentiert. Warum auch immer er das getan hatte, wusste ich nicht. Allerdings stieg ein Gefühl in mir auf, dass ich es herausfinden wollte. Wollte? Nein, musste!

Doch jetzt ging es nicht. Zunächst musste ich in mein Haus. Musste zu meinem Kamin. Ich wollte an den Sims herantreten und überprüfen, ob das Bild in dem verschnörkelten goldenen Rahmen noch immer an der richtigen Position stand.

Foto

Bereits gestern Abend hatte ich beschlossen, dass ich gleich heute Morgen wieder zum Flusslauf gehen würde. Auch wenn mein Vater behauptete, dass es hier keine Eisvögel gab, wusste ich, was ich gesehen hatte. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht und ich würde es ihm beweisen. Gleich nach einem schnellen Frühstück schlüpfte ich daher in ein Trägertop und Hotpants und machte mich auf den Weg.

Kaum hatte ich die Dorfstraße verlassen und war in den Feldweg, der zum Waldrand führte, eingebogen, da klingelte das Handy in meiner Hosentasche. Elli, meine beste Freundin seit Kindertagen, war es, die mich anrief.

„Hey, Sissi, wie geht es dir? Wie ist das Dorfleben?“, begrüßte sie mich, kaum dass ich das Gespräch angenommen hatte. Der Spitzname Sissi war aus unserer Grundschulzeit übrig geblieben, als wir noch zusammen Prinzessin gespielt und vom Prinzen auf dem weißen Ross geträumt hatten. Bis heute nannte sie mich so, und sie war auch die Einzige, der ich es erlauben würde. Elli hatte ihren Traum von damals wahr gemacht, sie hatte ihren Prinzen gefunden und bereits vor zwei Jahren geheiratet. Damals war sie noch mitten in ihrem Kunststudium, und als sie einige Monate später schwanger wurde, hatte jeder gedacht, sie würde ihr Studium an den Nagel hängen und sich ganz dem Mutterdasein widmen. Nur ich wusste, dass meine Freundin da anders war, und wie ich es sofort vermutet hatte, setzte sie ihr Studium trotz des Babys fort.

Mittlerweile war die kleine Luna bereits neun Monate alt und Elli hatte ihr Studium abgeschlossen.

„Gut geht es mir! Die Gegend hier ist toll und an das Dorfleben gewöhne ich mich auch langsam. Aber es ist schon komisch, diese Ruhe und Stille hier“, antwortete ich und Elli lachte auf.

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Kein Coffeeshop, wo man mal eben einkehren kann, kein Einkaufszentrum in der Nähe. Du brauchst bestimmt für alles ein Auto, weil es nicht mal einen Bus gibt, oder? Das ist ja was für dich!“

Ich stimmte in ihr Lachen mit ein. Sie kannte mich einfach viel zu gut und hatte meine Gedankengänge von gestern aufgegriffen.

„Stimmt, einen Bus gibt es hier wirklich nicht, glaube ich. Aber ich hab ja mein Auto. Und ich bin schon froh, dass es hier zumindest teilweise Handyempfang gibt. Also falls ich irgendwann weg bin … Nicht wundern“, warnte ich meine Freundin vor. Mein Vater hatte mir gestern Abend erklärt, dass gerade im Wald so gut wie kein Empfang war. Dann sprach ich weiter.

„Aber ernsthaft. Es ist echt toll hier! Und vor allem ist es schön, dass man nicht immer perfekt gestylt sein muss. Den Dorfleuten ist es egal, ob du tolle Klamotten trägst und die Haare sitzen.“ Während ich sprach, griff ich nach meinem einfachen Pferdeschwanz, den ich mir heute gebunden hatte. Auch auf das Schminken hatte ich verzichtet – für wen sollte ich auch? Ich wollte in den Wald, da war Einsamkeit vorprogrammiert.

Während ich Elli von meinen ersten zwei Tagen hier erzählte, näherte ich mich dem Waldrand.

„Was macht eigentlich Luna?“, fragte ich, als ich die kleine Maus im Hintergrund leise quietschen hörte.

„Im Moment versucht Matze, sie davon zu überzeugen, dass die Holzbausteine nicht essbar sind“, antwortete Elli sarkastisch und ich lachte auf. Ich konnte es mir regelrecht vorstellen, wie der ängstliche, immer leicht hektische Matze versuchte, seine Tochter vor den bösen Bausteinen zu beschützen. Er musste definitiv entspannter werden, wenn er nicht am Vaterdasein verzweifeln wollte. Auf einmal kam mir eine Idee.

„Sag mal, wollt ihr nicht mal für ein Wochenende herkommen und mich besuchen? Das wäre so toll! Und dann hätte ich mal jemanden in meinem Alter hier. Ich hab bisher noch nicht viele Leute kennengelernt, und ich hab so das Gefühl, die Altersklasse zwischen 20 und 30 existiert hier nicht.“

„Oh, das ist eine schöne Idee! Vielleicht bekommt Matze ja auch mal einen oder zwei Tage frei, dann können wir das Wochenende verlängern. Ich werde mal …“ Auf einmal herrschte Stille in der Leitung. Ich nahm das Telefon vom Ohr und schaute aufs Display. Okay, so viel zum Thema Handyempfang. Hier war jedenfalls keiner mehr. Aber das machte auch nichts, denn mittlerweile hatte ich den Flusslauf fast erreicht. Ich konnte das Wasser bereits durch die Bäume schimmern sehen.

Wieder ließ ich mich auf einem der großen Feldsteine nieder und atmete tief durch. Die Luft roch nach Feuchtigkeit, Wald und Erde. Ein Geruch, den ich so noch nie wahrgenommen hatte, und doch war es in diesem Moment der schönste Duft der Welt für mich.

Ich zog meine Sneakers und die Socken aus und drehte mich ein wenig, damit ich die Füße ins Wasser baumeln lassen konnte. Da ich meinen Fotoapparat wieder vergessen hatte, lag mein Handy griffbereit neben mir auf dem Stein, falls der Eisvogel wiederkommen sollte.

Eine dicke Libelle schwirrte über dem Wasser und die Sonne, die durch das Blätterdach fiel, wärmte mich. Das Flusswasser war eiskalt und doch genau richtig. Träge bewegte ich meine Zehen und schaute auf die kleinen Wellen, die sich um meine Waden bildeten.

Ein leises Knacken schreckte mich auf und ließ mich herumfahren. Fast direkt hinter mir, kaum drei Meter entfernt, stand der Mann aus der Kneipe von gestern Abend. Wolf.

Schweigend schaute er mich durchdringend an, doch er sagte kein Wort. Irgendwie war dieser Typ doch merkwürdig. Mein Vater hatte mir gestern Abend noch erzählt, dass er wie ein Einsiedler in einer Hütte im Wald lebte. Im Dorf gingen die komischsten Gerüchte um, was er dort wohl machte. Natürlich waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Vom Serienmörder bis hin zum eigenbrötlerischen Aussteiger waren alle Theorien dabei. Wobei ich für mich diese Serienmördertheorie gleich strich, denn das wäre der Polizei wohl aufgefallen, wenn hier ein gesuchter Verbrecher hausen würde.

Als er mich weiterhin nur schweigend anschaute, fasste ich mir ein Herz.

„Hallo!“, grüßte ich freundlich. „Sie sind Wolf, oder? Sie waren gestern in der Kneipe meines Vaters. Ich bin Sina, ich habe Ihnen Ihr Gulasch gebracht.“ Keine Reaktion. Nicht einmal ein einziger Muskel zuckte nach meinen Worten in seinem Gesicht. Wieder schaute er mich gefühlte Minuten nur an und genau wie gestern Abend zog sich ein Schauer über meinen Rücken. Trotzdem konnte ich den Blick nicht von ihm abwenden. Ja, der Name Wolf passte wirklich zu ihm. Sein Vollbart und dazu die langen braunen Haare gaben ihm etwas Verwegenes, etwas Gefährliches.

Spiel mit dem Feuer. Ich konnte mir nicht erklären, warum mir dieser Satz bei seinem Anblick durch den Kopf schoss, doch er löste ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Magen aus und jagte mir einen erneuten Schauer über den Rücken.

Auf einmal löste dieser Wolf seinen Blick von mir. Noch immer schweigend stapfte er an mir vorbei und ließ sich ein paar Meter von mir entfernt ebenso, wie ich es vorhin getan hatte, auf einen großen Stein sinken. Er nahm seine Umhängetasche ab, holte eine teuer aussehende Kamera mit einem langen Objektiv heraus und legte sie sich in den Schoß. Ab dieser Sekunde würdigte er mich keines Blickes mehr, und ich beschloss, ihn ebenso zu ignorieren.

Außerdem wurde meine Aufmerksamkeit nur kurz darauf von etwas anderem gefesselt. Der Eisvogel war wieder da!

Ehrfürchtig beobachtete ich ihn, während ich gleichzeitig wie in Zeitlupe nach meinem Handy griff. Für einen Moment ließ dieser wunderschöne Vogel sich auf einem alten, mit moosbewachsenen Ast nieder, und diesen Moment nutzte ich aus. Schnell hatte ich ihn vor der Kameralinse meines Handys und drückte auf den Auslöser. Ein leises Klicken war zu vernehmen und erleichtert atmete ich auf. Ich hatte mein Foto! Meine Erinnerung an diesen ganz besonderen Moment und den Beweis, dass es hier sehr wohl zumindest einen Eisvogel gab.

Nur Sekunden später erhob sich der Vogel wieder in die Lüfte und verschwand. Glücklich strahlend wandte ich mich um und schaute zu Wolf, der noch immer auf seinem Stein ein paar Meter weiter saß. Die Kamera hatte er ein wenig erhoben, doch wie er da saß, schien er kein Foto gemacht zu haben, der Vogel war wohl zu schnell wieder weg gewesen.

„Haben Sie das gesehen? Ist er nicht unglaublich gewesen?“, fragte ich voller Euphorie. In meinem Herzen blubberte es, als hätte ich zu viel Kohlensäure intus. Es wollte schier überlaufen vor Freude.

Langsam wandte Wolf seinen Kopf, schaute mich an, dann stand er wortlos auf, packte die Kamera ein und ging. Nach wenigen Schritten war er im Unterholz verschwunden und ich war allein.

Was für ein Arsch! Zumindest irgendeine Reaktion hätte er ja zeigen können. Wie kann man so unhöflich sein?

Auch als ich eine Stunde später aufbrach, hatte ich noch immer diese Gedanken im Kopf. Ich regte mich wirklich über diesen Typen auf. Eigentlich hieß es doch immer, das Dorfvolk sei zwar neugierig, aber freundlich. Hier grüßte jeder jeden und sprach mit ihm. Ich hatte ja nicht erwartet, dass Wolf mit mir Small Talk machte, aber zumindest ein einziges Wort hätte doch wohl drin sein müssen! Ich war wütend auf Wolf und verstand ihn nicht. Mit jedem Schritt, den ich durch den Wald machte, steigerte ich mich mehr in meine Wut hinein.

Als ich um eine Kurve bog, blieb ich wie angewurzelt stehen. Direkt vor mir, keine zwei Meter entfernt, kam jemand aus dem dichten Unterholz. Ich sah erst nur seinen Schatten und hörte das leise Knacken der Äste. Wie erstarrt stand ich da und spürte, wie Angst in mir aufwallte. Ich war allein im Wald, mein Handy hatte keinen Empfang, und mein Kopf sagte mir, dass kein normaler Spaziergänger hier durch das dichte Gehölz schleichen würde. Bilder stiegen in meinem Kopf auf, Bilder von verletzten, geschändeten Frauen. Was, wenn es ein Vergewaltiger war? Sofort versuchte ich, mich selbst zu beruhigen.

Was für ein Schwachsinn, Sina! Du hast auch echt zu viele schlechte Krimis gesehen! Mitten am Tag in einem norddeutschen Wald!

In diesem Moment erschien der Mann vor mir auf dem Weg, und sofort erkannte ich, wer es war.

„Heilige Scheiße, Wolf! Müssen Sie mich so erschrecken?“, fluchte ich lautstark los. „Sind Sie irre, hier so durchs Unterholz zu schleichen? Sie haben mich fast zu Tode erschreckt!“

Zittrig fuhr ich mir mit der Hand übers Gesicht und versuchte, meinen rasenden Herzschlag wieder in den Griff zu bekommen. Meine Knie waren so weich, dass ich die paar Schritte zum nächsten Baum taumelte und mich gegen den Stamm lehnte, bevor sie unter mir nachgaben. Erst dann schaute ich wieder auf Wolf. Er zeigte keinerlei Reaktion auf meinen Ausbruch, schaute mich nur unter zusammengezogenen Augenbrauen an. Aber was hatte ich auch erwartet? Er sprach ja nicht mit mir.

Dusselige Großstadtkuh

„Heilige Scheiße, Wolf! Müssen Sie mich so erschrecken?“ Ihre Worte erstaunten mich nicht. Vielmehr fühlte ich mich bestätigt. Meine Vermutung war richtig gewesen. Sie kam aus einer Großstadt. Aus München. Aus meiner ehemaligen Heimat. Nur Menschen aus Großstädten gingen so achtlos durch den Wald. Nur sie hatten kein Gespür für das Wesentliche. Wahrscheinlich war sie mit ihrem dämlichen Handy beschäftigt gewesen, anstatt die Natur zu genießen. Die Natur musste man in sich aufsaugen. Seine Lungen mit gesunder Waldluft zu füllen, war ein kostenloses Heilmittel. Doch woher sollte diese Frau es wissen. Ich habe es früher schließlich ebenfalls nicht gewusst. Doch ich war nicht wie sie. Ich wollte auch gar nichts mit ihr zu tun haben. Mich ärgerte es vielmehr unsagbar stark, dass ich sie schon wieder treffen musste. Doch nicht nur das. Erneut war sie dort, wo ich mich wohlfühlte. Wieder war sie in meine Welt eingedrungen. Ja, sie befand sich in meinem Wald und würde nun sicherlich auch noch die anderen Tiere verscheuchen. Genau so, wie sie es vorhin bei meinem fliegenden Diamanten getan hatte. Was hatte sich diese Suse – oder wie auch immer sie sich bei mir vorgestellt hatte – nur dabei gedacht, in meine Welt einzudringen? Nicht nur, dass sie nicht hier in das Dorf passte. In den Wald passte sie schon mal gar nicht. Sneakers hatte sie an den Füßen. Was wollte sie mit solchen Schuhen im Wald? Warum trug sie bei dieser Hitze überhaupt Schuhe, die keine Luft an ihre Füße ließen? War sie nicht vorhin noch barfuß gewesen? Klar war sie es. Ansonsten hätte ich nicht ihre merkwürdig bunt lackierten Fußnägel sehen können. Diese Nägel, die mit ihrer Farbe jeden Fisch verjagt hatten, als sie die Beine bis zu den Knien ins Wasser gehalten hatte. Ich wunderte mich, dass sie es überhaupt getan hatte, da das Wasser ja hätte schmutzig sein können.

Und jetzt auch noch das! Weshalb taumelte sie und lehnte sich gegen den Baum? Warum setzte sie sich auf den Waldboden? War ihr etwa schlecht? Hatte sie zu viel unserer gesunden Luft eingeatmet? Vertrug sie es nicht, da diese Suse nur die dicke und schmutzige Stadtluft kannte?

Ich sah sie an. Einfach nur an. War dabei noch immer unsagbar wütend auf sie. Die dusselige Großstadtkuh hatte mir mein Foto versaut. Versaut, weil sie die Frechheit besaß, den Eisvogel mit ihrem verkackten Handy zu fotografieren. Warum hatte sie es getan? Wollte sie mir mein Foto stehlen? War es Absicht von ihr? Ein Foto mit dem Handy. Auf eine lächerlichere Art konnte man nicht versuchen, einen Eisvogel zu knipsen. Warum hatte sie überhaupt ein Handy dabei? Wofür benötigte man die blöden Teile, wenn man im Wald mit der Natur verschmelzen wollte? Wenn man eins sein wollte mit der Schönheit des Lebens. Wenn man unvergessliche Momente erleben wollte. Mein Handy von früher besaß ich noch immer, allerdings lag es seit Ewigkeiten ausgeschaltet in meiner Kommodenschublade. Ich brauchte es einfach nicht. Es gab niemanden, mit dem ich sprach. Und im Wald brauchte ich das Ding schon gar nicht.

Auf dem Boden sitzend sah die Frau mich an. Was sollte ihr Blick? Was erwartete sie von mir? Sollte ich mich bei ihr entschuldigen? Dafür entschuldigen, dass ich durch den Wald gegangen war? Oder vielleicht sogar dafür, dass sie jetzt hier auf dem Boden hockte? Nein, ich würde es auf keinen Fall machen. Es gab keinen Grund dafür. Ausschließlich einer von uns musste sich bei dem anderen entschuldigen. Sie sich bei mir! Immerhin hatte sie mir mein Foto versaut.

Langsam stand Suse – oder wie auch immer diese Person nun hieß – auf. Noch immer schaute sie mich an. Ihr Blick sprach von Wut, während ich in ihre Augen sah.

„Sie hätten mir ruhig aufhelfen können.“ Auch jetzt sah ich die Frau an. In diesem Augenblick fiel mir ein, dass ihr Name Sina und nicht Suse war. Ich wunderte mich über diesen Geistesblitz, da mir ihr Name eigentlich vollkommen egal war.

Mir schon. Meinem Unterbewusstsein allem Anschein nach nicht! Ich hatte diesen Gedanken in meinem Kopf, während ich Sina noch immer ansah.

„Können Sie oder wollen Sie nicht reden? Verdammt noch mal, eine kurze Antwort ist ja wohl nicht so schwierig!“ Wütend sagte Sina diese Worte.

„Du dusselige Großstadtkuh hast mir mein Foto versaut.“ Mehr sagte ich nicht. Dann verschwand ich auf der anderen Seite des Weges im Wald.

Meine Fotoausrüstung lag schon längst an dem für sie vorgesehenen Platz. Den verschnörkelten goldenen Bilderrahmen hatte ich ebenfalls an die richtige Stelle gerückt. Ich selbst saß auf dem alten Schaukelstuhl, der sich auf meiner Holzterrasse befand, und hielt einen Becher schwarzen Kaffee in den Händen. Meine langen Haare wurden von der Sonne getrocknet, die letzten Tropfen des Duschwassers kamen aus meinem Vollbart und fielen auf meinen freien Oberkörper hinab. Als einer der Tropfen auf meiner Brust landete, spürte ich die Schwere meines Herzens ganz genau. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass der Tropfen genau auf mein tätowiertes Herz gefallen war. Auf das Tattoo, das sich direkt über meinem Herzen befand und in dem die Namen Marie, Emilie und Johanna verewigt waren. Das Tattoo war noch bei mir. Die drei Menschen hatten mich verlassen. Verlassen, weil ich nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte. Als der nächste Tropfen auf das Herz hinab tropfte, war es nicht meinem Bart geschuldet. Ich hatte diesen Tropfen bereits vorher gefühlt, als er zunächst über meine Wange gelaufen war. Von dort aus setzte er seinen Weg fort und war nun genau an meiner schwächsten Stelle gelandet. Meine traurigen Gedanken an früher sorgten dafür, dass noch weitere Tropfen folgten. Trotz der inzwischen vergangenen fünf Jahre war ich noch immer nicht in der Lage, das Geschehene zu begreifen. Ich hatte es noch längst nicht verarbeitet. Noch immer hatte ich nicht verstanden, wie es geschehen konnte. Weshalb ich so hart bestraft worden war.

Ich sah auf meinen linken Unterarm. Meine Augen fixierten die Narben, die sich auf meinem Körper an dieser Stelle befanden. Schon lange hatte ich nicht mehr nach meinem Teppichmesser gegriffen, um mich selbst zu bestrafen. Um meinen inneren Schmerz, der noch immer unerträglich war, durch den äußeren Schmerz zu überdecken. Ich hatte es in den Griff bekommen. So dachte ich zumindest bis eben, da ich mich jetzt von meinem Schaukelstuhl erhob und mich auf den Weg in die Küche machte.

Einige Minuten stand ich bereits vor der verschlossenen Schublade, während mein Blick abwechselnd zwischen der Lade und meinem Arm hin und her ging. Erst nachdem ich mit voller Wucht meine Faust auf die Arbeitsplatte geschlagen hatte, verließ ich die Küche wieder, ohne die kleine Werkzeugschublade geöffnet zu haben.

Mit meinem Becher schwarzen Kaffee in der Hand hatte ich inzwischen erneut auf dem Schaukelstuhl Platz genommen und sah in den Himmel. Ein Raubvogelpärchen kreiste und ich sah ihnen dabei zu. Sie waren frei. Genau wie ich es war. Trotzdem war unsere Freiheit nicht zu vergleichen. Sie waren frei, weil die Natur es so für sie vorgesehen hatte. Ich war frei, weil ich frei sein musste. Weil mir mein Liebstes genommen worden war. Das Leben der Greifvögel hatte einen Sinn. Mein Leben nicht.

Kurz überlegte ich, ob ich mein Fernglas aus dem Haus holen sollte. Doch ich ließ es bleiben. Immerhin befand sich im Haus auch die Küche, in der sich das Messer befand. Ob ich ein weiteres Mal so stark wie eben sein würde, wusste ich nicht, und ich legte keinen Wert darauf, es auszuprobieren.

Als ich den Schaukelstuhl verließ und über die Terrasse auf meinen Rasen ging, der vielmehr eine Wiese war, hatten wir bereits späten Nachmittag. Es war ein merkwürdiger Tag, an dem ich irgendwie gar nichts erreicht hatte. Mein Foto war mir von Sina zunichtegemacht worden und auch sonst fühlte sich alles merkwürdig an. Ich war nicht mal in der Lage, mich über meine Stärke zu freuen. Immerhin hatte ich es geschafft, keine frische Wunde auf meinem linken Unterarm zu hinterlassen. Doch warum sollte ich deswegen auch stolz auf mich sein? Millionen anderer Menschen schafften es ebenfalls täglich.

Aufgewühlt und rastlos lief ich über mein kleines Grundstück, das sich wenig bis gar nicht gepflegt präsentierte. Dann machte ich mich doch auf den Weg in die Küche. Nein, ich wollte nicht an die Schublade, um nach meinem Messer zu greifen. Mir war nach einem Bier.

Leider gab es keins. Ja, ich musste morgen dringend einkaufen gehen. Morgen? Hatte ich dieses Vorhaben nicht auch schon die letzten Tage gehabt?

Bier gab es in der Zitze. Sogar frisch vom Fass. Ganz sicher hatte Zitze selbst – oder wie auch immer der Kerl nun auch hieß – auch noch eine Portion Gulasch für mich.

Ich zog mir ein Shirt über und machte mich auf den Weg. Allerdings nicht, ohne vorher noch zu überprüfen, ob der Bilderrahmen an seinem richtigen Platz stand.

Wolfseye

Selbst jetzt, zwei Stunden nach unserer unschönen Begegnung im Wald, dachte ich über die Worte nach, die mir dieser Wolf an den Kopf geknallt hatte.

„Du dusselige Großstadtkuh hast mir mein Foto versaut.“ Was bitte wollte er mir damit denn sagen? Ich konnte ja wohl kaum etwas dafür, dass er seine blöde Kamera mit diesem Angeber-Objektiv nicht rechtzeitig hochgenommen hatte. Er konnte mir auch nicht die Schuld dafür geben, dass der Eisvogel so schnell wieder verschwunden war. Es war halt so bei Wildtieren, man musste einfach Glück haben, wenn man sie fotografieren wollte – und ich hatte dieses Glück gehabt.

Ich saß in meiner Wohnung am Küchentisch und hatte meinen Laptop aufgeklappt vor mir stehen. Das Bild vom Handy hatte ich längst übertragen. Es war – für eine einfache Handyaufnahme – wirklich toll geworden. Ein Sonnenstrahl hatte das Gefieder des Vogels getroffen und ließ ihn dadurch wunderschön schillern. Ich öffnete meinen Internetbrowser und ging auf eine Foto-Bestellseite. Dort lud ich das Bild hoch und orderte gleich zwei Abzüge in größerem Format. Das eine wollte ich mir selbst hinstellen und das andere war für meinen Vater gedacht. Nicht nur, damit er meinen Beweis, dass es hier durchaus Eisvögel gab, vor Augen hatte. Nein, ich wusste, er mochte Tier- und Landschaftsfotografien. Das war wohl auch der Grund für die Schwarz-Weiß-Fotos, die in seiner Kneipe hingen.

Auf einmal fiel mir ein, wo ich diesen Flusslauf bereits gesehen hatte. Er war auf einem der Bilder in der Kneipe. Innerlich schlug ich mir vor den Kopf für meine Dummheit. Dass ich das nicht auf den ersten Blick erkannt hatte! Wieder nahm ich mir vor, meinen Vater zu fragen, wer die Fotos gemacht hatte.

Nachdem ich die Bestellung abgesendet hatte, öffnete ich mein E-Mail-Account. Nicht nur die Bestellbestätigung war bereits eingetroffen, ich hatte auch eine Mail der Textagentur, die mir zwei neue Aufträge anbot.

Ein Möbelhersteller wollte seine Website modernisieren und brauchte dazu passende Beschreibungen der Möbel. Okay, das war jetzt nicht die interessanteste Arbeit, aber immerhin wurden solche Aufträge recht gut bezahlt.

Der zweite Auftrag war da schon spannender. Ich sollte einen Text für einen Reiseführer über Hamburg verfassen. Meine Aufgabe war es, die geschichtliche Entwicklung der Speicherstadt zusammenzufassen. Solche Aufgaben liebte ich. Auch wenn sie immer viel Recherche erforderten, machte es mir auch unheimlich viel Spaß.

In der vorgegebenen Zeit würde ich beide Aufträge schaffen, daher nahm ich sie an. Während ich für den Möbelhersteller noch auf weitere Informationen warten musste, konnte ich mit der Beschreibung der Speicherstadt gleich morgen früh loslegen.

Nachdem ich den Laptop heruntergefahren hatte, machte ich mich auf den Weg zu meinem Vater in die Kneipe. Ich wollte ihm wieder ein wenig zur Hand gehen und außerdem war mir gerade nach Gesellschaft.

Als ich im Lokal ankam, waren nur drei Gäste anwesend.

„Das ist ja so leer hier“, sagte ich zu meinem Vater, nachdem ich ihn begrüßt hatte.

„Ja, es ist Montag. Montags ist es immer leer“, antwortete er und räumte ein paar Gläser ins Regal. „Wie war dein Tag?“

Strahlend zog ich mein Handy aus der hinteren Tasche meiner Shorts.

„Großartig! Ich habe hier was für dich.“ Ich wollte nicht warten, bis das Foto entwickelt war, viel zu aufgeregt war ich über das Bild des Eisvogels. Schnell entsperrte ich den Bildschirm, suchte das Foto heraus und hielt es meinem Vater unter die Nase.

Erst runzelte er kurz die Stirn, als könnte er nicht glauben, was er sah, doch dann strahlte er ebenso wie ich.

„Das gibt’s ja gar nicht. Du hast tatsächlich einen Eisvogel gesehen!“ Er gab mir das Handy zurück und nahm mich fest in die Arme. „Und das Bild ist so toll geworden! Da hattest du ja tatsächlich einen großartigen Tag, das freut mich sehr. Tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe!“

„Ja, mein Tag war wirklich toll! Bis auf einen kleinen Zusammenstoß mit diesem merkwürdigen Wolf“, antwortete ich und mein Vater schaute mich fragend an. In diesem Moment ging die Tür auf und ein neuer Gast traf ein. Nein, genau genommen war es kein neuer Gast, es war Wolf, der durch die Tür trat.

„Na super! Haben dem die Ohren geklingelt?“, murmelte ich so leise, dass nicht mal mein Vater mich verstanden haben konnte. Dann wandte ich mich ab, schnappte mir einen Lappen und fing an, die Tische abzuwischen. Ich hatte keine Lust, ihn auch nur anzusehen, geschweige denn, ihn zu bedienen. Dennoch kam ich nicht umher, zu hören, wie mein Vater mit ihm sprach.

„Na, Wolf. Bierchen?“

Ich wusste nicht, ob Wolf in irgendeiner Form auf die Frage reagierte, jedenfalls sprach er nicht. Aber gut, das war ja nichts Neues.

„Ich hab auch noch Gulasch da.“ Wieder war keine verbale Reaktion zu vernehmen.

Da ich mittlerweile mit den Tischen fertig war, blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder dem Tresen zuzuwenden und somit genau in Wolfs Richtung zu schauen. Wieder saß er am selben Tisch wie gestern bereits. Anscheinend war es sein Stammplatz. Doch diesmal stierte er nicht auf die Tischplatte vor sich. Als ich mich umdrehte, schaute er mich direkt an. Es war ein Blick, den ich nicht einordnen konnte. Irgendwie wirkte er noch immer so wütend wie im Wald vorhin und doch strahlte er noch etwas aus. Diese Aura, die ich neulich schon gespürt hatte. Etwas Düsteres, Abgründiges. Ich blinzelte ein wenig erschreckt, damit hatte ich nicht gerechnet. Schnell wandte ich meinen Blick von ihm ab und verschwand hinter dem Tresen.

Den ganzen Abend über versuchte ich, den Mann an dem kleinen Tisch in der Ecke zu ignorieren. Mein Vater war es, der ihm das Gulasch brachte und den leeren Teller irgendwann wieder abräumte. Als er endlich sein Bier ausgetrunken hatte und das Lokal verließ, atmete ich auf. Was auch immer dieser Mann an sich hatte, er faszinierte mich auf eine mir völlig unbekannte Art und Weise. Gleichzeitig machte er mir aber auch ein wenig Angst mit dieser extrem abweisenden Art.

Nach Feierabend, als alle Gäste gegangen und wir am Aufräumen waren, kam mein Vater zurück auf das Thema, bei dem Wolf uns mit seinem Auftauchen vorhin unterbrochen hatte.

„Okay, jetzt erzähl mal. Warum bist du mit Wolf aneinandergeraten? Ich meine, der Mann redet nicht. Ich glaube, der hat, abgesehen von seinen Bestellungen in den ersten Wochen, noch nie auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Ich kenne ihn mittlerweile seit fünf Jahren und kenne ihn eigentlich trotzdem nicht. Wenn ich ihn anspreche, bekomme ich nur ein Nicken oder Kopfschütteln als Antwort. Wie kann man so aneinander rasseln?“, fragte er und räumte die letzten Gläser in die Spülmaschine.

„Wie, er spricht nicht? Mit mir hat er gesprochen.“

Mit einem dreckigen Teller in der Hand drehte sich mein Vater zu mir um und schaute mich erstaunt an.

„Er hat mit dir gesprochen? Was hat er denn gesagt?“

„Dusselige Großstadtkuh!“

Fragend schaute mein Vater mich an, und ich konnte sehen, dass seine Mundwinkel zuckten, als müsste er sich ein Lachen verkneifen.

„Mehr nicht?“, fragte er, als ich nicht weitersprach.

„Na ja, nicht viel. Er war auch an dem Fluss, wo ich den Eisvogel fotografiert habe. Die ganze Zeit über hat er mich ignoriert, hat nicht mal geantwortet, als ich mich vorgestellt habe. Und irgendwann ist er einfach verschwunden“, erzählte ich von unserer merkwürdigen Begegnung. „Als ich auf dem Rückweg war, kam er im Wald plötzlich aus dem Unterholz und stand vor mir auf dem Weg. Ich hab mich fast zu Tode erschreckt und hab ihn angeblafft. Und das Einzige, was er sagte, war: ‚Du dusselige Großstadtkuh hast mir mein Foto versaut.‘“ Ich atmete tief durch, als ich spürte, wie meine Wut zurückkehrte, dann sprach ich weiter. „Ich meine, ja, er hatte auch eine Kamera dabei. Aber er hat kein Bild gemacht. Das ist aber ja nicht meine Schuld, oder?“

Mein Vater hatte den Teller inzwischen weggestellt und lehnte mit der Hüfte an der Arbeitsfläche. Die Arme vor der Brust verschränkt, musterte er mich nachdenklich.

„Vielleicht denkt er, du hast den Vogel vertrieben? Durch irgendeine Bewegung, ein Geräusch? Ich meine, Wolf ist Fotograf, die sind ja manchmal recht eigen, wenn sie ein ganz bestimmtes Bild machen wollen.“

Jetzt war ich es, die nachdenklich ihren Blick schweifen ließ, bis er an einem der Fotos hängen blieb. Auf einmal machte es klick. Nein, nicht mein Vater hatte die Bilder geschossen, die hier hingen. Er hatte nicht das Auge, solche Fotos zu machen. Das hätte mir eigentlich von vornherein klar sein müssen. Außerdem war auf den Bildern eine Signatur. Wolfseye.

„Wolf ist Wolfseye?“, fragte ich erstaunt. Ich weiß nicht warum, aber einen solchen Blick für die wunderschöne Natur, für die Kleinigkeiten hätte ich diesem schroffen Einsiedler niemals zugetraut.

„Ja, Wolf ist Wolfseye“, bestätigte mein Vater.

Eine Stunde später saß ich auf der Außentreppe vor meiner Wohnungstür und ließ meinen Blick über die nächtliche Landschaft gleiten. Nur der Mond, der vom wolkenlosen Himmel schien, erhellte die Szenerie, die sich mir bot. Noch immer hatte ich Wolfs Worte in meinem Kopf. Doch das, was mein Vater gesagt hatte, hatte sich dazugesellt. War es vielleicht tatsächlich so? War Wolf so sauer gewesen, weil der leise Klickton meiner Handykamera den Eisvogel vertrieben hatte? Wenn ja, war es zwar trotzdem nicht meine Schuld – auch seine Kamera war sicher nicht komplett lautlos –, doch es war zumindest eine Erklärung für seine Wut auf mich. Ich nahm mir vor, ihn zu fragen, wenn wir uns das nächste Mal trafen. Auch wenn ich nicht mit einer Antwort rechnete, da er ja mit niemandem sprach.

Mit mir hat er gesprochen, korrigierte ich mich in Gedanken selbst und wunderte mich, dass mein Herz vor Freude klopfte. Doch es war vermutlich nur ein Ausrutscher und seiner Wut geschuldet.

Worte

Heute Morgen war ich, wie eigentlich immer, sehr früh aufgestanden. Nachdem ich den verschnörkelten goldenen Bilderrahmen etwas zur Seite und anschließend wieder zurückgeschoben hatte, befand er sich am richtigen Platz. Beruhigt ging ich in die Küche und warf zunächst einen verächtlichen Blick auf die Schublade. Mein Wille hatte gestern erneut den Kampf gegen das Messer gewonnen. Ja, manchmal schaffte es sogar ich, stark zu sein.

Dann kochte ich mir einen Kaffee und ging mit meinem Becher hinaus auf die Terrasse. Mit meinem heißen und pechschwarzen Getränk nahm ich auf dem Schaukelstuhl Platz und schaute in den Himmel. Die Sonne war dabei, aufzugehen, und die Vögel gaben dazu ein Konzert. Immer wieder aufs Neue genoss ich diese Momente. Früher hatte ich viel Geld für irgendwelche vollkommen überteuerten Operetten und Opern ausgegeben. Jetzt hatte ich deutlich schönere Musik und diese auch noch kostenfrei. Ja, ich hatte viel falsch gemacht in meinem früheren Leben. Sehr viel falsch, obwohl ich von anderen Menschen beneidet wurde. Ich war eine sogenannte „Größe“. Wurde eingeladen, wenn die Münchener Szene Partys gab oder angeblich großartige Gebäude eingeweiht wurden. Ich hatte ein Schiff getauft und durfte im Münchner Tierpark für ein Elefantenbaby der Namenspate sein. Ich trank keinen Sekt, sondern ausschließlich Champagner. Rauchte anstatt Zigaretten nur teure Zigarren und trug keine Jeans, sondern lediglich Anzüge. Ich war ein Künstler. Ein Künstler der oberen Gesellschaft. Durch Fleiß, aber natürlich auch, weil ich das Glück hatte, schnell die richtigen Menschen kennengelernt zu haben, wurde ich zum Star der Skulpturenszene ernannt. Ernannt? Nein, erkoren!

Alle Menschen, die etwas auf sich hielten, hatten mich in ihren Häusern stehen. In ihren Häusern oder in ihren Gärten, in denen jeder Grashalm mit einer Nagelschere geschnitten schien.

Mich! Ich schmunzelte etwas über meinen Gedanken. Mich selbstverständlich nicht, aber zumindest eine Arbeit von mir. Ja, uns ging es gut. Meine drei Frauen und ich brauchten uns über nichts Gedanken zu machen. Wir waren reich. Wir waren beliebt. Wir waren besonders.

Doch was hatte es uns gebracht? Nichts …

Das Wesentliche hatte ich damals nicht erkannt. Ich dachte, dass das Geld wichtig gewesen war, um meine Familie und mich abzusichern. Doch ich kannte keine Grenze. Hatte mein Limit verpasst. Ich wurde immer besser. Immer erfolgreicher und vergaß meine Familie dabei. Nein, ich vergaß sie nicht wirklich, aber ich widmete ihr viel zu wenig Zeit. Meine Zeit verbrachte ich in meinen heiligen Hallen. In meinem Atelier war ich häufiger und länger als in unserem Haus. Ich sprach mehr mit meinen Skulpturen als mit Marie, die trotzdem immer zu mir gehalten hatte. Die mich geliebt hatte, die sich niemals von mir getrennt hätte.

An sonnigen Tagen war ich in meinem Atelier. Bei Schnee und auch bei Sturm und Gewitter. Warum nur zum Teufel hatte ich meine Familie an dem Tag, der alles veränderte, bei diesem Unwetter allein mit dem Auto fahren lassen? Ich war der Schuldige, auch wenn es, außer meinen Eltern, alle anderen Menschen anders gesehen hatten. Meine Eltern machten mir ebensolche Vorwürfe wie ich mir selbst, gaben mir die Schuld an dem Unglück und hatten daher den Kontakt zu mir komplett abgebrochen.

Mit meinen Skulpturen sprach ich anschließend nicht mehr. Doch nicht nur das. Ich hatte auch aufgehört, welche zu erstellen. Ich wollte und konnte es nicht mehr, da mich meine Kraft und die Muse verlassen hatten.

Zwei Jahre lang hatte ich nichts gemacht. Ich war hierhergezogen und hatte alles andere aufgegeben. Stattdessen hatte ich angefangen zu fotografieren, und mittlerweile erwischte ich mich immer häufiger bei der Überlegung, meine Bilder auch verkaufen zu wollen.

Eines Tages hatte es an meiner Tür geklopft. Claas Ekdal stand einfach wortlos da und sah mich an. Ich tat es ihm gleich. Claas Ekdal war Schwede. Aber nicht nur das. Er war auch mein Manager und dann noch mein Trauzeuge. Claas Ekdal war damals mein Freund gewesen. Mein bester Freund. Er war der Mensch, dem ich blind vertraut hatte. Blindes Vertrauen hatte ich sonst zu niemandem. Doch ich musste bei Claas Ekdal auch nie bereuen, es gehabt zu haben.

Nachdem wir uns viele Minuten lang an der Eingangstür angeschwiegen hatten, schwiegen wir zunächst im Haus und anschließend auf meiner Terrasse weiter. Wir schwiegen und tranken starken schwarzen Kaffee.

Auch zwei Stunden später schwiegen wir noch und tranken Kaffee aus alten angeschlagenen Bechern. Schwarzen Kaffee. Ganz schwarz war er und Zucker war auch nicht drin.

„Du musst eine Skulptur machen.“ Nach drei Stunden sagte Claas Ekdal diese Worte.

„Okay.“ Mehr antwortete ich nicht. Ich sagte auch nur deshalb ja, weil ich der Meinung war, es ihm schuldig zu sein. Immerhin war er es gewesen, der mich damals entdeckt und gefördert hatte. Der mich in dem Meer aus Künstlern gesehen und mein Talent erkannt hatte. Wissen konnte ich an diesem Tag noch nicht, dass diese Skulptur einen absurden Betrag bringen würde. Dadurch, dass ich mich zurückgezogen hatte, waren die Gebote für meine Skulpturen in noch abenteuerlichere Sphären gestiegen als vorher schon.

Doch woher sollte ich es gewusst haben? Ich lebte bereits zwei Jahre hier in diesem Dorf. Hier, wo ich jeglichen Anschluss zur Öffentlichkeit verloren hatte. Ich las keine Zeitungen und besaß kein Internet. Ich sprach auch nicht mehr mit irgendwelchen Menschen. Nur noch mit meiner Skulptur, während ich an ihr arbeitete.

Im nächsten Jahr klopfte es erneut. Noch immer hatte ich keine Ahnung, woher Claas Ekdal wusste, wo er mich finden würde. Ein Jahr zuvor hatte ich nicht gefragt und auch bei diesem Besuch tat ich es nicht. Wieder tranken wir Kaffee und schwiegen. Wieder taten wir beides viele lange Stunden.

„Du musst eine Skulptur machen“, sagte Claas Ekdal irgendwann in die Stille hinein.

„Okay.“ Mehr antwortete ich auch im letzten Jahr nicht. Dann war ich wieder allein. Ich brauchte das Geld für mein neues Leben. Daher tat ich es erneut.

Auch vor drei Wochen war Claas Ekdal unangemeldet zu mir gekommen. Er überreichte mir meinen Anteil für die Skulptur aus dem letzten Jahr in bar. Natürlich schweigend. Ebenso schweigend legte ich das Geld in die Schublade, die sich direkt über der Schublade mit dem Messer befand. Dann gingen wir auf die Terrasse und schwiegen viele Stunden bei starkem Kaffee ohne Zucker.

„Du musst eine Skulptur machen.“ Claas Ekdal sagte diese Worte und stand auf, um zu gehen.

„Okay.“ Nur dieses Wort verließ meine Lippen. Als er durch meinen Garten ging, um zu verschwinden, blieb er plötzlich stehen und drehte sich herum. Es schien, als würde er mir noch etwas sagen wollen. Doch sein Blick fiel nur auf meinen Schaukelstuhl, der sich noch immer hin und her bewegte. Ich war inzwischen ins Haus verschwunden und sah diese Szene von meinem Fenster aus, hinter dem Vorhang versteckt.

Auch jetzt bewegte sich mein Schaukelstuhl. Ich hatte meinen Platz auf der Terrasse inzwischen verlassen und war ins Haus gegangen. Wieder beobachtete ich den Stuhl von meinem Fenster aus. Ich stand lediglich nicht hinter meinem Vorhang versteckt. Ich musste es nicht tun, da ich allein war.

Nein, ich sprach seit langer Zeit nicht mehr. Ich tat es lediglich, wenn Claas Ekdal bei mir war. Ich kannte auch keinen Namen. Von keinem der Dorfbewohner kannte ich den Namen. Ich kannte nur den Namen von Zitze und wusste nicht, ob es sein tatsächlicher Name war.

STOPP!

Ein großes STOPP hatte sich in meinem Kopf breitgemacht. Ich kannte sehr wohl einen Namen. Sina war dieser Name, den ich mir gemerkt hatte. Sogar gesprochen hatte ich mit ihr!

Warum war es so? Wer war sie eigentlich, dass ich mich ihr gegenüber anders verhielt?

Ja, sie war sehr schön. Die jugendliche Schönheit konnte ich ihr nicht absprechen. Ihre langen blonden Haare und diese grünen Augen sprachen ihre eigenen Worte. Es waren Worte voller Zuversicht. Worte von Zukunftsträumen und Worte von großen Zielen. Sie passte nicht hierher. Sie gehörte nach München. An den Starnberger See. Sina trug Perlenohrringe und hatte lackierte Fußnägel.

Allerdings hatte sie auch den Eisvogel entdeckt. Auch wenn sie mir mit ihrem blöden Handy mein Foto versaut hatte, war ich verblüfft darüber, dass sie überhaupt ein Auge und auch Interesse an meinem fliegenden Diamanten hatte.

Sina war anders als die anderen. Aber war das etwas Schlechtes? Ich war immerhin auch anders als die anderen. Allerdings war ich auch anders als Sina.

Doch durfte ich sie dafür verurteilen?

Nachdem ich den goldenen und verschnörkelten Bilderrahmen gestreichelt hatte, griff ich nach meiner Fotoausrüstung und machte mich auf den Weg.

Kneippkur

Mit jedem Tag, der verging, rückte München in weitere Ferne für mich. Fast zwei Wochen war ich nun bereits hier, und mittlerweile konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass ich mich in der Großstadt einmal so wohlgefühlt hatte. Hier auf dem Dorf hatte ich das Gefühl, aufzublühen. Es war, als würde ich mich zum ersten Mal selbst entdecken. Ich lief keinem Trend mehr nach, machte einfach, was mir gefiel. Auch die Shoppingzentren, die Cafés und die Diskotheken, in denen ich sonst meine Wochenenden verbracht hatte, fehlten mir nicht eine Sekunde lang.

Die Einzige, die mir fehlte, war Elli. Leider würde es auch in den nächsten Wochen nicht klappen, dass sie mich hier besuchte, da ihr Mann viel arbeiten musste und Elli nicht allein von München die lange Fahrt mit einem Baby auf sich nehmen wollte. Ich war ein wenig traurig darüber, konnte sie aber auch verstehen. Ich wusste, sobald es sich einrichten ließ, würde sie mich besuchen. Außerdem telefonierten wir viel, waren also dennoch in Kontakt. Regelmäßig bekam ich Fotos und die neusten Entwicklungsschritte von Luna mitgeteilt. Noch immer war ich stolz darauf, ihre Patentante sein zu dürfen. Ich liebte diese kleine Maus sehr und sie fehlte mir fast ebenso wie ihre Mutter.

Beinahe eine Woche lang hatte ich Wolf nicht mehr gesehen. Er war weder in der Zitze noch am Flusslauf aufgetaucht. Trotzdem war er irgendwie ständig in meinen Gedanken. Immer wieder dachte ich an seine Worte, doch mittlerweile ärgerte ich mich nicht mehr.

Für mich war dieser Moment mit dem Eisvogel ein ganz besonderer Moment gewesen, den ich immer in meinem Herzen tragen würde. Und es war ein Moment, der für mich eine Art Bindung zwischen Wolf und mir geschaffen hatte. Wir hatten gemeinsam etwas ganz Außergewöhnliches erlebt, und der Vogel verband uns, obwohl wir doch so unterschiedlich waren.

Wenn ich allein spazieren ging, machte ich jedes Mal an diesem kleinen Fluss Halt. Ich wünschte mir, diesen Eisvogel noch einmal erleben zu dürfen. Doch es war noch mehr. Diese Stelle war mein Rückzugsort geworden. Ich genoss es, ganz allein am Ufer zu sitzen und die Füße ins Wasser zu halten. Manchmal brachte ich sogar meinen Laptop mit her, um einfach in Ruhe, nur von der Musik der Natur umgeben, zu schreiben. Mit meinen Textarbeiten kam ich gut voran, den Bericht über die Speicherstadt hatte ich sogar bis auf eine Endkorrektur bereits fertig. Da ich noch eine Woche Zeit hatte bis zur Deadline, wollte ich mir heute einen freien Tag gönnen. Nachdem es die letzten drei Tage viel geregnet hatte, schien heute wieder die Sonne und es war herrlich warm. Ich beschloss, mich im Fluss ein wenig abzukühlen.

Später war ich noch mit meinem Vater verabredet. Da die Zitze mittwochs Ruhetag hatte und mein Pa daher nicht arbeiten musste, wollten wir ein wenig Zeit für uns haben. Gestern schon hatten wir gemeinsam eingekauft und beschlossen, heute Abend bei ihm zu Hause zu grillen.

Langsam und gemächlich ging ich zwischen den Feldern hindurch in Richtung des Waldes. An einer Kuhweide blieb ich stehen und beobachtete die schwarz-weiß gefleckten Tiere. Wie ein großer Fellhaufen lagen sie dicht aneinander gedrängt im Gras.

„Na, macht ihr eine Runde Mittagsschlaf?“, fragte ich lächelnd, obwohl ich wusste, dass sie mir nicht antworten würden. Dennoch schienen sie auf meine Stimme zu reagieren, denn eine nach der anderen stand auf und kam langsam an den Zaun getrottet. Eine besonders neugierige Kuh streckte ihre Nase über den Zaun, als wollte sie, dass ich sie streichelte. Am liebsten hätte ich auch genau das getan, aber ich traute mich nicht. Zum einen war ich dafür wahrscheinlich doch zu sehr Großstadtkind, denn ich hatte keinen Schimmer, ob Kühe nicht vielleicht beißen. Zum anderen war ich mir auch nicht sicher, was der Bauer dazu sagen würde, wenn ich einfach ungefragt seine Tiere anfasste.

Einen Moment lang blieb ich noch am Zaun stehen, aber die Kühe verloren das Interesse an mir und zogen wieder von dannen. Ich setzte meinen Weg fort, schließlich wollte ich noch ein Weilchen am Fluss in der Sonne liegen, bevor ich mich auf den Rückweg machte.

Es war so wunderbar, durch das knietiefe, kühle Wasser des Flusses zu waten. Die Kieselsteine am Grund waren im Laufe der Zeit vom Wasser glatt und rund gespült worden. Als ich darüber lief, fühlte es sich an wie eine sanfte Fußmassage. Ich musste über mich selbst lächeln, als mir einfiel, dass ich bisher immer in Wellnesstempeln gewesen war und teuren Eintritt bezahlt hatte, um eine Kneippkur zu machen oder eine Fußmassage zu bekommen. Jetzt bekam ich es ganz umsonst und in der schönsten Umgebung, die ich mir hätte vorstellen können. Die Sonne schien warm auf meine nackten Schultern und in mein Gesicht. Nahe beim Ufer blieb ich stehen, schloss meine Augen und wandte mein Gesicht hoch in Richtung Sonne. Tief atmete ich durch und sog den Duft des Waldes und des klaren Wassers tief in meine Lungen.

Ja, das hier war besser als jeder Wellnesstempel. Ich spürte regelrecht, wie mein Kopf sich klärte und meine Gedanken anfingen zu fliegen. Noch immer mit geschlossenen Augen breitete ich meine Arme aus, als ich einen leichten Windhauch spürte. Es war so schön hier, und ich war mehr als dankbar, diesen verwunschenen Platz gefunden zu haben. Als ich das erste Mal hier war, kam es mir wie aus einem Film vor, doch mittlerweile wusste ich, die Realität war um Längen schöner, als jeder Film hätte sein können.

Allmählich wurde es mir doch zu kalt im Wasser und so stieg ich aus dem Fluss. Kaum zwei Schritte war ich mit meinen nackten Füßen durch das Gras gelaufen, als ich auf etwas Spitzes trat. Erschreckt sprang ich einen Schritt zur Seite, ohne auf den Untergrund zu achten. Unglücklicherweise erwischte ich somit genau ein Loch im Boden und mein Fußgelenk knickte schmerzhaft weg.

„Oh, heilige Scheiße!“, fluchte ich, als der Schmerz durch meinen Knöchel und anschließend in das Bein hoch schoss. Ich ließ mich auf den Boden fallen und griff reflexartig nach meinem Fußgelenk. Tränen stiegen mir in die Augen, und durch diesen Schleier erkannte ich bereits jetzt, wie mein Fuß blau und dick wurde.

Einen Moment lang blieb ich einfach still sitzen, hoffte, dass der Schmerz ein wenig abebbte, doch er wurde eher schlimmer als besser. Ich versuchte aufzustehen, um zu meiner Tasche zu gelangen, in der sich auch mein Handy befand, aber ich konnte mit dem Fuß nicht einmal mehr den Boden berühren. Auf dem Hintern rutschend, Zentimeter für Zentimeter, den verletzten Fuß über dem Boden haltend, erreichte ich nach einer gefühlten Ewigkeit meine Sachen.

Nachdem ich mein Telefon aus der Tasche gekramt hatte, stopfte ich sie mir unter das Knie. Das Pochen in meinem Gelenk wurde immer stärker und die Muskeln meines Oberschenkels fingen an zu zittern aufgrund der Anstrengung. Ich hoffte, ihn so ein wenig entlasten zu können. Mir war klar, dass ich den Rückweg so auf keinen Fall schaffen konnte. Ich brauchte dringend Hilfe, um wieder in das Dorf zurückzukommen.

Als ich mein Handy entsperrt hatte und gerade die Nummer meines Vaters heraussuchen wollte, hätte ich es beinahe von mir geschmissen.

Kein Empfang.

„Nicht ein verfickter kleiner Balken!“, schrie ich wütend in die Stille des Waldes. Ich hielt mein Handy hoch in die Luft, als könnte ich dadurch ein wenig Empfang bekommen. Völliger Schwachsinn, das wusste ich selbst, trotzdem hatte ich das Gefühl, ich musste es so versuchen. Natürlich änderte sich nichts. Die Worte „Kein Netz“, die oben in der linken Ecke des Displays standen, wirkten fast, als wollten sie mich verhöhnen. Ein paar Minuten lang überlegte ich, was ich machen sollte, doch mir fiel nichts ein. „So eine verkackte Scheiße!“

Wieder stiegen mir die Tränen in die Augen und ich schluckte hart gegen den Kloß in meinem Hals an. Angst wallte in meiner Brust auf. Mein Vater wusste zwar, dass ich unterwegs war, doch er wusste nicht wo. Ich hatte ihm zwar mal von dieser Stelle hier erzählt, doch ob er auf die Idee kommen würde, mich hier zu suchen? Nein, vermutlich nicht. Ich musste es irgendwie allein schaffen, auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte.

Verzweifelt zog ich mein gesundes Bein an und legte meine Wange auf das Knie. Die Tränen der Angst, der Verzweiflung und des Schmerzes liefen nun ungehindert über meine Wangen. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, und sah mich schon die Nacht allein hier draußen verbringen.

Mein Fuß war mittlerweile beinahe auf die doppelte Dicke angeschwollen und schillerte dunkellila. War er womöglich gebrochen? Ich wusste es nicht, und wie es ausschaute, hatte ich erst einmal auch keine Möglichkeit, es herauszufinden. Es sei denn, es geschah noch ein Wunder.

Smaragd

Dieses Dorf spielte schon lange eine große Rolle in meinem Leben. Eine Rolle, die es gar nicht spielen wollte, und auch eine, die es nicht freiwillig tat. Ich war es, der sich diese Hütte ausgesucht hatte. Dieses Haus im Wald, das zu diesem Dorf gehörte. Das Haus war irgendwie dabei und trotzdem weit weg. Genau wie ich es war. Auch mein Leben spielte sich hier ab, ohne dass ich tatsächlich dabei war. Manchmal war ich in der Zitze. Doch auch dann war ich nur dort, ohne wirklich da zu sein.

Es störte mich auch nicht, dass ich die letzten Tage auf mein frisch gezapftes Bier und mein Gulasch verzichtet hatte. Ich verspürte keinen Drang, in die Zitze zu gehen.

Oder log ich mich etwa selbst an? War der Drang vielleicht um einiges größer und ich ging genau aus diesem Grund nicht hin? Es lag nicht an dem fantastischen Gulasch, das Zitze mir immer zubereitete. Auch nicht an dem frisch gezapften Bier, das mir um einiges besser schmeckte als das Flaschenbier aus meinem Kühlschrank. Tatsächlich hatte ich eine Veränderung in mir erfahren müssen. Keine Gravierende, aber doch eine, die dafür sorgte, dass ich mich noch mehr zurückziehen musste. Eine, gegen die ich ausschließlich mit Einsamkeit ankämpfen konnte.

Ich hatte Angst, dass der Drang in mir, dieser Drang, in die Zitze zu gehen, etwas mit dieser Sina zu tun hatte. Das durfte nicht sein! Nein, ich wollte dieses Gefühl nicht und bekämpfte es mit Einsamkeit. Ja, ich musste auf Nummer sicher gehen. Meine Tage verbrachte ich im Wald. Allerdings nicht dort, wo ich diese Frau getroffen hatte. Den Ort, wo ich meinen gefiederten Diamanten gesehen hatte und der auch für das Treffen mit Sina verantwortlich war, hatte ich mir selbst als Tabuzone auferlegt.

Der Eisvogel würde auf mich warten. Da war ich mir sehr sicher. Zumindest dann, wenn er der Meinung war, sich erneut zeigen zu wollen. Wenn er dazu bereit war und sich dadurch auf einem Foto verewigen lassen würde. Auf einem richtigen Foto und nicht nur auf einem blöden Handybild. Dieser Eisvogel, der es mir angetan hatte und dessen Gefieder einen solch fantastischen Gleichklang zu Sinas Augen bot, würde die richtige Entscheidung treffen und nicht das machen, was ich wollte. Diese Augen! Ihre Augen strahlten wie Smaragde. Auch sie waren einzigartig und hatten es mir auf eine merkwürdige und faszinierende Art angetan. Sie überstrahlten alles. Zumindest alles, was ich in den letzten Jahren gesehen hatte. Maries Augen waren auch besonders gewesen und die meiner Zwillinge ebenfalls, da sie die Augen und deren Strahlkraft von ihrer Mutter geerbt hatten. Es waren blaue Augen. Ein Blau wie das Gefieder des Eisvogels. Die Augen meiner geliebten Frauen leuchteten wie Diamanten für mich.

Wahrscheinlich schockierte es mich daher umso mehr, dass ich Sinas Augen ebenfalls mit einem Edelstein verglich. Nein, es schockierte mich nicht nur. Es machte mir auch Angst. Es durfte einfach nicht sein. Marie, Emilie und Johanna waren noch immer die drei anderen Blätter unseres vierblättrigen Kleeblatts. An diesem Kleeblatt war kein Platz für einen weiteren Menschen. Doch selbst wenn es Platz gegeben hätte, durfte ich es nicht zulassen. Ich durfte es nicht? Nein, ich wollte es nicht.

Nachdem ich heute sanft über den goldenen und verschnörkelten Bilderrahmen gestrichen hatte, schnappte ich mir meine kleine Umhängetasche und ging in den Wald. Ohne Fotoausrüstung, ohne Fernglas und auch ohne mir Gedanken über den Weg zu machen. Ich lief einfach los und dachte darüber nach, wie meine neue Skulptur aussehen sollte. Claas Ekdal hatte mir keinerlei Vorgaben gemacht. Zumindest nicht über die Art der Figur. Lediglich die Größe hatte er erwähnt. Ich wusste zwar nicht, weshalb diese Skulptur genau diese Größe haben musste, hatte allerdings auch nicht gefragt, da es mich nicht interessiert hatte. Außerdem sprach ich nicht. Und um die Frage beantwortet zu bekommen, hätte ich es machen müssen.

Ich horchte in mich hinein und wartete darauf, eine Antwort von mir zu bekommen. Die Antwort auf die Frage, welche Art von Skulptur erschaffen werden wollte. Was wollte ich aus mir herauslassen? Welche Gefühle und Gedanken von mir wollten als Skulptur verewigt werden?

Leider hatte ich noch keine Antwort aus meinem Innersten bekommen. Dafür konnte ich deutlich hören, wie die Tiere des Waldes mit mir sprachen. Ich hörte Spechte hämmern, Singvögel zwitschern und konnte das Knacken im Unterholz wahrnehmen, wenn sich Rehe oder Wildschweine hindurchbewegten. Das Schattenspiel, für das sich die Sonne in Zusammenspiel mit den Bäumen verantwortlich zeigte, war grandios. Immer weiter lief ich und ließ ich mich treiben. Ich ging wie automatisiert durch den Wald. Der richtige Weg wurde mir geebnet, ohne dass ich mir Gedanken darüber machen musste.

Diese Stille, die nur von den Waldbewohnern und einigen kleinen Windstößen durchbrochen wurde, tat mir heute besonders gut. Diese Stille, die durch nichts und niemanden unterbrochen wurde, der nichts im Wald zu suchen hatte, war für einige Menschen unheimlich. Für mich nicht. Ich genoss sie und fühlte mich dazugehörig.

Allein mit der Natur und den Tieren war ich. Durch eine Baumlücke konnte ich einen Greifvogel kreisen sehen. Ein Bussard. Da war ich mir sicher. Ja, auch diese wunderschönen Vögel liebten die Stille. Die Stille des Waldes, der eigentlich gar nicht still war.

„Nicht ein verfickter kleiner Balken!“ Hatte ich diese Worte wirklich gehört? Es konnte doch nicht sein, dass sich irgendjemand hier im Wald so benahm. Hatte sich mal wieder irgendeine dämliche Tusse hier im Wald verlaufen? Die Worte hätten dazu gepasst. Mit den Worten „nicht ein verfickter kleiner Balken“ war ganz bestimmt nicht gemeint, dass es hier keine Holzbalken gab, sondern sie galten ziemlich sicher einem Handy. Selbstverständlich hatte man hier im Wald keinen Empfang. Wofür auch? Hier war Ruhe angesagt. Hier sprachen die Tiere. An diesem Ort war der Wind für die Musik und die raschelnden Blätter für die Begleitung zuständig. Wir Menschen hatten hier die Klappe zu halten. Wer das nicht konnte, war hier falsch! Diese Menschen sollten ihre Füße in die Isar, den Main oder die Elbe halten und dabei den abgasverseuchten Großstadtgeruch einatmen. Dabei Stöpsel in den Ohren haben und sich von ihrer merkwürdigen Musik beschallen lassen, damit sie den Lärm ihrer Stadt nicht wahrnehmen mussten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752120400
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
See Poesie Romantik Einsamkeit Sehnsucht Liebe Wald Vertrauen Humor

Autoren

  • Kerry Greine (Autor:in)

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram ist ein Hamburger Jung. Er erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er pflegt. Er verbringt viel Zeit auf der Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Kerry Greine ist Autorin aus Leidenschaft. Sie ist eine Träumerin, Bloggerin, Tänzerin und emotionale Chaotin. Ein Dorfkind mit großer Liebe zu Hamburg. So viel Zeit wie möglich verbringt sie mit ihrer "Wauz" auf Sylt, denn im Herzen ist sie ein Inselkind.
Zurück

Titel: Flausen im Kopf, Waldschrat im Herzen