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Western Legenden 04: Wie Wölfe aus den Bergen

von Werner J. Egli (Autor:in)
137 Seiten
Reihe: Western Legenden, Band 4

Zusammenfassung

Delgado und die Yavapai-Apachen von Chief Big Rump haben sich in eine unwegsame Bergregion der Apacheria zurückgezogen. Doch die US-Armee hat sich inzwischen mit den Todfeinden der Apachen, den Pima und Maricopa aus dem Tal des Gila River, verbündet. Der berüchtigte Indianerkiller Jim Fletcher führt eine Bande von Pima und einen Trupp Kavallerie unter Lieutenant C.C.C. Carr gegen die Yavapai. Während die Soldaten im Hornitos Canyon eine Höhle belagern, in der die Frauen und Kinder der Yavapai Zuflucht gefunden haben, treffen Delgado und Fletcher aufeinander. Ein großer historischer Roman aus der Zeit der Indianerkriege. Band 2 der erfolgreichen Delgado-Trilogie. Die Printausgabe des Buches umfasst 224 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

 

Als im Jahre 1865 der verheerende Bürgerkrieg ein Ende fand und die Südstaaten endlich kapitulierten, standen die USA vor dem Problem der Reorganisation einer Armee, mit der das schier grenzenlose Gebiet des amerikanischen Westens unter Kontrolle gebracht werden konnte. Ein Teil dieses Gebietes war die Apacheria, eine zivilisationsfeindliche Wildnis im heutigen Südwesten der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie reichte vom Colorado River im Westen bis zum Rio Grande del Norte im Osten, vom Grand Canyon im Norden bis tief in die Sonorawüste Mexikos hinein.

Das Leben in der Apacheria war so gefährlich und hart wie das Land selbst. Nur die Starken konnten bestehen, und bevor die Amerikaner kamen, galt das Volk der Apachen als das stärkste im Lande.

Verschiedene semi-nomadische Apachenstämme kontrollierten das gesamte Gebiet, terrorisierten die Pueblo-Stämme, plünderten ihre Dörfer, töteten ihre Männer, Frauen und Kinder und stahlen ihnen regelmäßig, was sie auf ihren Äckern anbauten und ernten wollten.

Für die Pueblo-Stämme, auch für die Pima und Maricopa, die sich aus den fruchtbaren Niederungen in die unzugänglichen Berge zurückziehen mussten, waren die räuberischen Apachen ein Joch, dem sie sich als sesshafte Ackerbauern nahezu schutzlos jahrzehntelang ausliefern mussten. Und die Apachen kannten keine Gnade. Wer sich ihren Kriegerbanden entgegenstellte, wurde niedergemacht, Frauen und Kinder oft verschleppt.

Die ersten Europäer, die in der Apacheria einmarschierten, waren die spanischen Conquistadores, die Eroberer. Im Schutze spanischer Soldaten begannen Missionare die sesshaften Indianer zu missionieren. Stämme wie die Pima, die Maricopa und die Tohono O’Odham, alle im Süden des heutigen Arizona beheimatet, verbrüderten sich aus reiner Notwendigkeit mit den Spaniern, die ihnen Schutz vor den Apachen versprachen.

Nachdem die USA durch den sogenannten Gadsden Purchase einen Großteil der Apacheria von den Spaniern übernommen hatten, setzten sich die starken Apachen gegen die neuen weißen Eindringlinge zur Wehr, die zu Tausenden in die Apacheria kamen, als in den Berg- und Wüstenregionen große Vorkommen von Silber und Gold entdeckt wurden. Städte wie Prescott, Tucson und Yuma entstanden. Bald durchzog ein Netz von Handelsstraßen das Land, und an strategisch wichtigen Punkten entstanden zum Schutz der amerikanischen Siedler die Forts der US-Armee.

Am Anfang waren es nur wenige Kompanien, die nach dem Südwesten geschickt wurden. So verteilten sich im Jahre 1867 auf vierzehn Forts nur siebenundzwanzig Kompanien Kavallerie und Infanterie. Die Apachen wussten dies zu nutzen. Sie schlugen in kleinen Gruppen überall dort zu, wo sich ihnen Gelegenheit bot, aus dem Hinterhalt heraus schnell anzugreifen und wieder zu verschwinden.

Der Schutz der Armee reichte nicht aus, um den Amerikanern in der Apacheria Sicherheit zu garantieren. Gegen Ende der 1860er Jahre war die Stadt Prescott sozusagen von der Außenwelt abgeschnitten, obwohl an ihrer Peripherie Fort Whipple, eines der Hauptquartier-Forts, stand. Die Handelsstraße vom Colorado River nach Prescott musste von ihrem Besitzer, William Hardy, gesperrt werden. Die großen Bergwerke in den Bradshaw Mountains mussten wegen des mangelnden Schutzes der Minenarbeiter stillgelegt werden. Die Bürger konnten die kleine Pionierstadt nicht mehr verlassen, denn die Apachen hatten ihre anfängliche Scheu verloren und lauerten vor den Toren Prescotts auf eine Chance, jeden der verhassten Weißen zu überfallen und wenn möglich umzubringen.

Für die amerikanischen Siedler, die voller Tatendrang und Zuversicht in die Apacheria gekommen waren, begann eine unsichere Zeit. Vergeblich warteten sie auf eine Verstärkung der Schutztruppen durch Armee-Einheiten, die man im zivilisierten Osten der USA entbehren konnte. Die Regierung in Washington sollte sich so schnell wie möglich für eine Großoffensive gegen die Apachen entschließen, um das gesamte Gebiet zu säubern und die Stämme auszurotten.

Für die Siedler waren die Apachen nicht mehr als widerliche Wilde, in ihrer Art und Entwicklung kaum von den niederen Wesen der Tierwelt zu unterscheiden. Ohne Gott blieb den Apachen das Christentum fremd. Ihre Bräuche und Rituale erschienen den Weißen wie Teufelswerk. Ihre Art, in primitivsten Verhältnissen zu leben, das ständige Herumstreifen in kleineren und größeren Banden, das rücksichtslose Vorgehen gegen ihre Feinde und der Widerstand gegen alle Zivilisationsversuche, machten die Apachen in den Augen der weißen Siedler zu wahren Bestien. Das Leben eines Apachen zählte für die Amerikaner nichts. Im Krieg gegen sie war ihnen jedes Mittel recht. Privatleute bezahlten für Skalpe von Apachen horrende Trophäenpreise. Dabei war es egal, ob der Skalp von Mann, Frau oder Kind stammte. Männer in Prescott trugen Halsketten, an denen die Zähne hingen, die sie Apachenfrauen aus dem Mund geschlagen hatten. Aus Frauenbrüsten wurden Tabaksbeutel hergestellt. Die Apachen wurden massakriert, wo man sie traf, und man machte keine Unterschiede. Der Hass blendete alle.

In Prescott wurde eine Bürgerarmee gegründet. Sie bestand aus einem Captain und dreißig Mann, nannte sich Yavapai-Ranger und beschäftigte sich ausschließlich mit der Apachenjagd. Finanziert wurde der Trupp teilweise aus den Einnahmen von Tom Hodges, einem streitsüchtigen und skrupellosen Saloon-Wirt, der sich selbst zum Captain ernannte. Er führte im Jahre 1867 Captain James Monroe Williams und seine Einheit der US-Armee auf einem ersten groß angelegten Feldzug gegen die Yavapai-Apachen. Die regulären Soldaten überfielen gemeinsam mit den Rangers aus Prescott kleine Indianerdörfer und machten sie dem Erdboden gleich. Dutzende von Männern, Frauen und Kindern wurden gnadenlos niedergemetzelt.

Einer der Apachen, der das Massaker im Dead Horse Wash überlebt hatte, war Delgado, der Sohn von Mangas Coloradas. Er war damals ein junger Bursche, der bei den Yavapai zu Gast war und eine Tochter von Chief Wah-poo-eta – oder Big Rump – zur Frau nehmen wollte. Die Soldaten töteten das Mädchen bei dem Überfall auf das Dorf, und Delgado floh mit wenigen Überlebenden tiefer in die Wildnis hinein. Wenig später griffen einige junge Apachenkrieger die Truppen von Captain James Monroe Williams an und verletzten den Captain so schwer, dass er den Feldzug abbrechen musste.

Daraufhin kehrte für kurze Zeit Ruhe ein. Die Apachen hatten sich in ihre schwer zugänglichen Schlupfwinkel zurückgezogen. Sie glaubten, dass die verhassten Weißaugen jetzt vielleicht nicht weiter in ihr Gebiet vordringen würden. Doch sie irrten sich. Die US-Armee verbündete sich mit den alten Feinden der Apachen, den Pima und den Maricopa. Diese kannten jeden Pfad in dieser Wildnis, jede Höhle, in der man sich verstecken konnte, jeden Canyon, in dem eine Handvoll Frauen, Kinder und alte Leute Schutz fanden, und jeden Platz, wo die Apachen ein Dorf errichten konnten.

Die Pima kamen aus den kahlen Bergen in der Sonorawüste. Und sie hatten lange auf diese Gelegenheit gewartet, um sich an den Apachen für die vergangene Schmach zu rächen. Jetzt waren sie die Stärkeren, denn sie glaubten, im weißen Mann einen Freund und Verbündeten gefunden zu haben, dem sie vertrauen konnten.

Später bezahlten sie für diesen Irrtum genauso wie ihre Gegner, die Apachen.

Doch in der Zeit, in der diese Geschichte handelt, war da ein neuer Gott, der ihnen im Kampf gegen ihre Todfeinde zur Seite stand. Scharenweise waren sie zum christlichen Glauben übergetreten und hatten sich von den Missionaren taufen lassen. Das Töten von Feinden wurde für sie zur gottgewollten Pflicht, und alle Schandtaten sollten ihnen verziehen werden, auch das Morden von Frauen und Kindern.

 

Tucson, Arizona 1978 und 2014

JEFFERSON PARKER / WERNER J. EGLI

PIMA JIM FLETCHER

 

Der Bighorn-Bock stelzte aus dem Waldschatten heraus, als die Sonne aufging und mit ihren Strahlen den Dunst durchbrach. Das erste Licht floss wie Gold von den zerklüfteten Felsformationen, die am Rande eines Hochplateaus in den Himmel ragten. Im Halbschatten der Kiefern standen sechs Schafe, die mit ihren großen, weit auseinanderstehenden Augen den Bock beobachteten, so als ob sie auf ein Zeichen warteten, mit dem er ihnen erlaubte, den schützenden Wald zu verlassen.

Der Bock blieb stehen. Er äugte in alle Richtungen, spielte mit den Ohren und sog die kühle Morgenluft ein. Am Ende des Plateaus, dort wo ein Steilhang in das Tal abfiel, tauchte aus dem Gestrüpp ein kleiner Fuchs auf. Er sah den Bock, drehte sich um und lief mit hängendem Schwanz davon. Hoch über den Felsen flogen zwei Falken, tanzten im Wind, tauchten in die blauen Schatten der Berge ein und stiegen wieder auf, wo der Schnee des letzten Winters glitzerte. Der Bock beobachtete alles. Er wollte sicher sein, denn er kannte die Gefahren, die auf ihn und seine Schafe warteten. Er kannte den Puma, und er kannte die Wölfe als effiziente Jäger. Und er kannte die Menschen als die gefährlichsten aller Feinde.

Erst als er nicht die geringste Andeutung einer Gefahr wahrnehmen konnte, ging er zum Rand des Plateaus und blickte hinunter in das enge Tal, in dem noch vereinzelte Nachtschatten nisteten. Ein schmaler Bach schlängelte sich durch satte Wiesen, die mit silbernem Tau bedeckt waren. In den Weidenbüschen unterhielten sich ein Arizona-Cardinal-Weibchen und ein Männchen. Dunkle Spuren von Hasen durchzogen die glitzernden Wiesen. Ein gefleckter Skunk tauchte kurz unter einem Busch auf und verschwand sofort wieder. Der Bock hatte sich nach seinen Schafen umgedreht. Sie kamen aus dem Wald heraus. Ein paar Lämmchen folgten ihnen, staksten auf ihren dünnen Beinchen herum und jagten in noch ungelenken Bocksprüngen ausgelassen hintereinander her.

Es war ein friedlicher Morgen. Dort, wo die Sonne hinreichte, wurde es schnell warm. Der Tau trocknete. Dunstschleier hoben sich, strichen an den Hängen entlang und lösten sich schnell auf. Der Bock blieb auf der Wiese stehen, während die Schafe durch die Büsche zum Bach gingen. Der spitze, lang gezogene Schrei eines Falken durchbrach die trügerische Stille. Der Bock hob den Kopf, regungslos, das mächtige Geweih mit den spitzen blanken Enden zurückgelegt. Er blähte die Nüstern, nahm Witterung auf und spürte die plötzliche Gefahr, in die er sein Rudel geführt hatte. Jäh drehte er sich um, stieß ein paar warnende Laute aus und jagte mit weiten Sprüngen davon. Die Schafe und die beiden Lämmer brachen durch die Büsche und hetzten hinter dem Bock her, der einen Vorsprung von etwa hundert Yards hatte.

Nur eines der Schafe blieb etwas zurück. Es war das Schaf mit dem krummen Vorderlauf. Und dort, wo der Bach eine große Schleife machte, dort wurde dieses Schaf von einem Pfeil getroffen, der seinen Hals durchbohrte. Blut. Das Schaf überschlug sich mitten im Lauf, blökte, schlug mit allen vieren wild um sich und wälzte sich im taunassen Gras, bis seine Kräfte nachließen und der Widerstand langsam erlosch. Nach einer Weile lag es still, atmete nur noch, und das Blut quoll aus der Wunde und lief über das Fell ins Gras.

 

*

 

Der junge Apache, der den Pfeil abgeschossen hatte, hieß Rana. Er war fast noch ein Knabe. Erst vor vierzehn Wintern hatte ihn seine Mutter geboren. Sein Vater war Cebolleta, ein Bruder von Wah-poo-eta, den die Weißaugen Big Rump nannten.

Rana wollte das Fell des Bighorn-Schafes, um damit einen Köcher für seine Pfeile herzustellen und eine Hülle für den neuen Bogen, den ihm Delgado geschenkt hatte. Es war ein guter Bogen, geleimt aus den Herzstücken der Hörner eines mächtigen Bighorn-Bockes, den Delgado im letzten Herbst, kurz vor dem ersten Schneefall, in der Nähe des Baker Butte erlegt hatte. Delgado hatte von den Jicarillas gelernt, wie man Hornbogen herstellt. Er selbst besaß ebenfalls ein Prachtstück, um das ihn viele beneideten.

Delgado hatte Rana, der für ihn wie ein jüngerer Bruder war, in die Berge mitgenommen. Zwei Tage und zwei Nächte hatten sie am Rande des Plateaus auf den Bock und seine Schafe gewartet. Und als Rana schon fast die Geduld verloren hatte und weggehen wollte, da brachte der Bock tatsächlich seine kleine Herde zum Bach.

Rana wollte zuerst den Bock erlegen, aber Delgado machte ihn auf das lahmende Schaf aufmerksam. Dieses Schaf war magerer als die anderen, und irgendwann wäre es wahrscheinlich von den Wölfen oder von den Kojoten oder einem Puma erlegt worden. Jetzt kam Rana den Tieren zuvor. Er brauchte nur einen Pfeil, und er traf gut. Als er aufsprang, leuchteten seine Augen. Er blickte Delgado, seinen älteren Freund, beinahe herausfordernd an und rief: „Sag mir, Bruder, bin ich dem Bogen, den du mir geschenkt hast, nicht ein würdiger Jäger?“

Delgado lächelte. Er kauerte zwischen den Büschen, halb unter einer dicken Wolldecke, die ihn gegen die Kälte der Nacht geschützt hatte. In der linken Hand hielt er seinen Bogen. Die rechte streckte er Rana entgegen. „Hilf mir hoch, großer Jäger“, spöttelte er. „Meine Gelenke sind vom langen Warten steif geworden.“

„Das ist, weil du alt bist und morsche Knochen hast, Bruder.“ Rana ergriff Delgados Hand und zog ihn auf die Beine.

„Einige Winter sind es nur, die uns trennen“, antwortete Delgado dem Jungen.

„Dann solltest du vielleicht einmal daran denken, dir eine Frau zu nehmen, die dich in kalten Nächten warm hält.“

„Dazu bin ich noch nicht bereit, mein Bruder.“ Delgado wandte sich ab. Seit dem Tod von Siki war noch nicht genug Zeit vergangen, um die Wunden zu heilen. Sein Herz schmerzte noch immer, wenn er an sie dachte, und manchmal fürchtete er, diesen Schmerz nie mehr loszuwerden.

„Entschuldige, Bruder“, sagte Rana. „Ich wollte dich nicht auf düstere Gedanken bringen.“

Delgado drehte sich ihm wieder zu. Er lächelte. „Ich weiß, es gibt tatsächlich einige sehr hübsche Mädchen in unserem Dorf, mein Bruder. Vielleicht werde ich demnächst beginnen, einem von ihnen Zeichen zu geben.“

„Du könntest sie alle haben.“

„Findest du das gut oder schlecht?“

„Ich weiß es nicht. Eher schlecht, denke ich, weil jede von ihnen ihre Vorzüge hat, aber auch ihre Nachteile. Ich bin froh, dass nicht ich es bin, der sich an deiner Stelle befindet.“

„Bald, mein kleiner Bruder, wirst auch du die Qual der Wahl haben.“

„Ich weiß schon, wer es sein wird.“

„Du kümmerst dich jetzt besser um das Schaf, welches du erlegt hast, Rana. Komm, machen wir uns an die Arbeit.“

Delgado war fast einen Kopf größer als Rana und wirkte deshalb massiver und stärker. Er hatte ein ebenmäßiges dunkles Gesicht. Das schwarze Haar trug er in der Mitte gescheitelt. Es hing ihm in glänzenden Strähnen bis auf die Schulter nieder. Über dem linken Auge hatte er eine kleine Narbe. Obwohl er noch keine zwanzig Jahre alt war, wirkte er wie ein erfahrener Mann, den das Leben in einem wilden Land bereits gezeichnet hatte.

Delgado war der Sohn von Mangas Coloradas, dem großen Mimbreño Chief, der von Soldaten der US-Armee ermordet worden war, als er nach Fort McLean eingeladen wurde, um einer Friedensverhandlung beizuwohnen. Seine Mutter war eine Yavapai gewesen, die von mexikanischen Skalpjägern getötet worden war.

Seit mehr als einem Jahr war Delgado bei den Yavapai von Chief Big Rump zu Gast, und eigentlich hatte er Siki, eine Tochter des Chiefs, zur Frau nehmen wollen. Aber Siki war beim Angriff auf das Dorf am Dead Horse Wash ums Leben gekommen, und seither fühlte sich Delgado wie ein Blatt im Wind. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er konnte keinen Pfad finden, der sich ihm anbot, kein Ziel, das ihn lockte. Er hatte fast zur gleichen Zeit Siki und seinen Freund und Lehrer, den alten Weisen Pajaro Pinto, verloren. Beide waren so sehr ein Teil von ihm selbst gewesen, dass Delgado sich seither fühlte wie ein Mann, dem ein Stück des Herzens weggenommen worden war.

Delgado war froh, dass er in Rana einen Freund gefunden hatte, der ihn brauchte. Rana war fast immer bei ihm. Oft verließen sie gemeinsam das Dorf und trieben sich wochenlang in der Wildnis herum. Sie erkundeten das ganze Gebiet rund um das neue Dorf von Chief Big Rump, das von den Amerikanern, den Weißaugen, wie die Apachen die Eindringlinge nannten, noch nicht entdeckt worden war.

Delgado lehrte Rana viel von dem, was er selbst von Pajaro Pinto gelernt hatte. Und Rana war ein guter Schüler. Er versuchte, mit den Tieren zu reden, versuchte, seinen Geist selbstständig zu machen und ihn davonfliegen zu lassen, irgendwohin, denn, so hatte es Pajaro Pinto einmal Delgado erklärt, nur dem Körper waren Grenzen gesetzt, nicht aber dem Geist eines Menschen. Der Geist konnte mitten in die Sonne hineinfliegen oder eine Ewigkeit mit Steinen im Flussbett liegen, oder er konnte mit den Herbstblättern tanzen und mit den Falken hoch über der Erde kreisen. Der Geist war es, der lebte, und er brauchte dazu nicht den Körper, der schwach und verwundbar war.

Delgado und Rana liebten die Stille entfernter Täler, in denen es noch keine Spuren von Weißaugen gab, die klare Sprache des Windes und die Wärme des Himmels, der sich wie eine Decke über ihrem Land ausbreitete.

Unten in den Tälern war alles anders. Schatten lagen über dem Land. Als der Schnee des letzten Winters wegschmolz, gab er die Gräber derjenigen frei, die im letzten Jahr von den Weißaugen umgebracht worden waren. Gräber von Frauen und Kindern, von alten Leuten und von tapferen Kriegern. Und er gab die Pfade frei, auf denen die Weißaugen ins Land kamen, die Pfade, auf denen sich ihre Wagen reihten wie lebende Schlangenskelette. Und am Himmel trieben die Wolken, die nach Ofenfeuer rochen, Wolken wie stinkender Atem eines Feuer speienden Ungeheuers.

Hier oben in den Bergen, da war es anders. So wie es immer gewesen war, seit die Apachen von Norden her, von der kanadischen Pazifikküste, in dieses Land gekommen waren. Auf dem langen Weg nach Süden hatten sie mehrere Male versucht, irgendwo zu bleiben, aber sie waren in den Wäldern des Nordwestens und in den Tälern der Rocky Mountains und den weiten Prärien einheimischen Stämmen begegnet, denen sie unterlegen waren. Hier, in den Wüsten des Südwestens, trafen sie auf friedliche Menschen, die in kleinen Häusern lebten, sesshaft waren und Ackerbau betrieben. Keine Gegner, die ihnen das Bleiben verwehren konnten. Also blieben sie, durchstreiften die Bergregionen und die Wüsten, bekriegten sich manchmal gegenseitig, mit Vorliebe jedoch die Spanier, die ungefähr um die gleiche Zeit ins Land gekommen waren. Ein friedliches Leben verabscheuten sie. Sie waren Jäger, Räuber und vor allem stolze Krieger. Friede war etwas für die Alten und Schwachen.

Es hatte immer wieder Zeiten des Friedens gegeben. Vor allem dann, wenn die Apachen sich in die Bergtäler zurückzogen und ihre Feinde es nicht wagten, ihnen zu folgen und ihre Dörfer anzugreifen. Und es hatte unter ihnen immer Mahner gegeben, die von kommendem Unglück redeten, von einem Feind, der mächtiger war als alle Apachenstämme zusammen. Einer dieser Mahner war Pajaro Pinto gewesen, der Delgado zum Frieden erzogen hatte, weil er glaubte, dass dies der einzige Weg sei, dem Untergang zu entgehen. Ganz andere Soldaten würden es sein, die den Stämmen der Apachen Tod und Verderben bringen würden. Soldaten, die einem weißen Vater gehorchten und ihrem Gott, der übrigens der Gleiche war wie der der Spanier, untertänigst gehorchten. Aber sie betrachteten sich als die von Gott Auserwählten. Für diesen Gott töteten sie. Für diesen Gott brandschatzten sie. Für ihn schändeten sie Frauen und Mädchen, skalpierten kleine Kinder und knechteten die Männer, damit sie ihrem Gott an vielen Orten in Fronarbeit ein großes Haus bauen konnten. Wer sich weigerte, am Bau der Gotteshäuser mitzutun, dem wurde zur Strafe eine Hand abgehackt.

Pajaro Pinto, der friedliche alte Mahner, ein Schamane, den die Yavapai und auch andere Apachenstämme verehrten, wurde von Weißaugen ermordet. Delgado hatte die Tat mit eigenen Augen gesehen. Seither war auch für ihn das Leben, wie er es gekannt hatte, vorbei. Nur hier oben in den Bergen, in den unwegsamen Gebieten, wohin sich die Apachen zurückgezogen hatten, schien es manchmal, als ob alles noch in Ordnung wäre.

Doch, wie lange noch würde es so sein? Delgado wusste es nicht, aber er ahnte, dass die Weißaugen auf die Dauer nicht davon abzuhalten waren, auch in diese Täler vorzudringen. Was dann geschehen würde, wollte sich Delgado gar nicht ausdenken. Tausende von ihnen würden sterben, und die Überlebenden würden das Land verlassen müssen, weiter nach Süden ziehen, so wie es Delgados Vorfahren getan hatten, als sie von ihrer ursprünglichen Heimat im hohen Norden bis hierher gezogen waren.

Delgado verwarf diese Gedanken. „Komm, es gibt Arbeit, Rana“, sagte er zu seinem jungen Begleiter, der sich in diesem Moment kaum mit solch tristen Gedanken beschäftigte. Die beiden gingen zusammen auf die Weide hinaus. Jetzt flossen die ersten Sonnenstrahlen über den Rand des Plateaus den Steilhang hinunter und tauchten das Tal in gleißendes Licht.

Hoch oben am wolkenlosen Himmel kreiste jetzt ein einzelner Falke. Sich gewiss, dass es sich dabei nur um Pajaro Pintos Geist handeln konnte, der ihn besuchte, rief er lachend zum Falken hinauf: „Großvater, ich danke dir, dass du uns hierher begleitet hast! Ich danke dir!“

Rana blickte ebenfalls zum Falken hoch und prahlte: „Du kannst stolz auf mich sein, alter Mann! Schau her, hier liegt ein Schaf, das mir sein Fell gibt für meinen Köcher und für die Bogenhülle! Hier liegt es und versorgt Delgado und mich mit seinem Fleisch. Und das, was wir hier zurücklassen, das ist für dich und deine Freunde!“ Rana zog sein Messer, kniete sich zum toten Schaf und schlitzte ihm den Bauch auf.

„Glaubst du, dass er mich gehört hat, Bruder?“, fragte er Delgado, der seine Decke zusammenfaltete. Das warme Eingeweide des Schafs quoll zwischen den blutverschmierten Händen des Jungen hervor.

„Sicher hat er dich gehört. Schau, er hat andere herbeigerufen. Vier Begleiter hat er schon, und vielleicht, mein Bruder, befindet sich Siki unter ihnen.“

Rana machte sich nun daran, das Schaf abzuhäuten. Er arbeitete geschickt mit seinem Messer, und nach kurzer Zeit war das Schaf ausgeweidet und abgehäutet. Rana hob das Fell hoch und warf es Delgado zu, der es auffing und inspizierte.

„Es ist ein schönes Fell“, sagte Delgado. „Nur wird es bald die Haare lassen. Du musst dir im Winter ein Schaf erlegen und daraus deinen Köcher machen, Rana.“

„Bis zum nächsten Winter genügt es mir“, gab Rana zurück. „Und im Winter erlege ich einen Puma. Aus seinem Fell werde ich mir den schönsten Köcher fertigen, den du je gesehen hast. Und die Hülle für den Bogen mache ich mir aus den Fellen von zwei Wölfen.“ Rana drehte das abgehäutete Schaf auf die andere Seite. „Sag mir, Bruder, welche Stücke soll ich mitnehmen?“

„Nimm die beiden Rückenstücke. Hier und hier. Komm, gib mir das Messer.“ Delgado nahm Rana das Messer aus der Hand. Er löste die beiden Fleischstücke vom Rückgrat und den Rippen des Schafes. „Die genügen“, sagte er. Er wischte die Klinge des Messers im Gras ab und erhob sich. Die Falken und die Bussarde flogen jetzt tiefer.

Rana schwenkte das blutige Fell. „Komm, alter Mann, und bring deine Freunde mit!“, rief er. Dann umwickelte er den Kopf des Schafes und die Fleischstücke mit dem Fell und verschnürte es mit einer Rohhautschnur zu einem kleinen Paket. Das Hirn des Schafes würde er zum Gerben des Felles brauchen, die Fleischstücke würden sie auf ihrem Weiterweg essen.

Delgado legte Rana einen Arm über die Schultern. So verließen sie zusammen die Wiese. Sie gingen zum Bach hinunter. Dort wuschen sie ihre Hände, tranken vom eiskalten Wasser und folgten dann einem Trampelpfad, der über eine Anhöhe in ein tiefer gelegenes Tal führte. Sie sangen und lachten, und fast hätten sie den Reitertrupp übersehen, der plötzlich in der Senke auftauchte. Delgado und Rana versteckten sich schnell hinter einigen Büschen. Durch ein Gewirr von Ästen hindurch beobachteten sie den vorderen Reiter. Ihm folgten Indianer. Diese trugen Kleider, die sie von den Weißaugen bekommen hatten, Hemden und Westen, weiße Hosen. Einige hatten sogar einen Hut auf dem Kopf.

„Pima“, zischte Rana. „Schau sie dir an, Bruder. Wie kranke Wölfe.“

„Sie haben einen Anführer, Rana“, flüsterte Delgado ruhig. „Und sie besitzen sogar Gewehre. Und sie haben Bogen, und ihre Köcher sind voll mit Pfeilen. Ich sehe Revolver und Messer.“

„Was wollen sie hier? Es ist eine lange Zeit her, seit Pima es gewagt haben hierherzukommen. Vater hat gesagt, dass sie sich seit einigen Wintern nicht mehr getrauen, ihre Nester im Süden zu verlassen. Sie haben Angst vor uns, weil sich die Mächte von ihnen abgewandt haben. Jetzt halten sie den Geist in ihrem Körper gefangen, und deshalb sind sie auch blind und taub.“

„Ich weiß nicht, ob das stimmt, Rana. Die dort unten, die sehen nicht aus, als ob sie krank wären, blind oder taub.“

Darauf gab ihm Rana keine Antwort. Die beiden beobachteten den Reitertrupp, der sich durch die Senke bewegte, genau auf eine Schneise im Wald zu.

„Sie werden unser Haus finden“, raunte Rana Delgado zu.

„Du hast recht. Wahrscheinlich werden sie unser Haus finden.“

„Wir müssen etwas tun, Delgado. Wir müssen sie ablenken.“ Hastig griff der Junge nach einem Pfeil, aber Delgado legte ihm die Hand auf den Arm.

„Was willst du tun, Rana? Wenn wir einen oder zwei von ihnen töten, werden die anderen uns zu Tode hetzen. Nein, lass sie ziehen. Wer weiß, vielleicht nehmen sie nicht den Pfad, der zu unserem Haus führt. Vielleicht reiten sie den Weg zum anderen Tal.“

„Und was wollen sie dort?“

„Das weiß ich nicht.“

„Jagen?“

„Ja, das könnte sein. Vielleicht sind sie auf der Jagd. Vielleicht ist der Mann dort unten einer von den Weißaugen, die darüber zu bestimmen haben, wo man jagen darf und wo nicht.“

„Niemand kann darüber bestimmen, wo man jagen darf und wo nicht“, entgegnete Rana scharf.

„Die Weißaugen glauben, dass sie das dürfen, Bruder. Die Weißaugen glauben, dass sie mächtiger sind als die Sonne, mächtiger als die Erde und mächtiger als der Himmel. Mächtiger als alle Kraft, die wir aus dem Licht und aus den Schatten schöpfen können, und mächtiger als jeder Gedanke, der in uns geboren wird. Sie sind Narren, das weiß ich. Allein, wie sollten sie dies selbst erkennen können?“

„Jemand muss es ihnen sagen!“

„Wer? Du? Ich? Nein. Warum sagt ihnen nicht ihr Gott, dass sie sich und ihn betrügen?“

„Weil es diesen Gott nicht gibt.“

„Selbst wenn es ihn gäbe, es würde nichts nützen!“, widersprach Delgado. „Sie werden alles zerstören, und merken nicht einmal, dass sie sich dabei selbst zerstören. Das ist es, was Pajaro Pinto gesagt hat, und er weiß es.“

„Warum ist der Tag nicht heute, an dem sie sich selbst zerstören?“ Rana ballte seine Faust. „Ich hasse sie alle! Sie sollen alle sterben!“

„Sie hassen uns genauso, Rana, und der Hass ist es, der sie zerstört.“

„Willst du etwa, dass ich sie liebe? Soll ich sein wie ein Pima?“

„Nein, das habe ich nicht gesagt. Ein Apache kann niemals ein Pima sein. Deshalb will ich, dass du wachsam bist und aufpasst. Ich will, dass du sie nicht aus den Augen lässt.“ Delgado richtete sich etwas auf. Der Reitertrupp befand sich jetzt kurz vor dem Einschnitt im Wald. Schatten nahm die Pferde und Reiter auf.

Rana erhob sich. Seine Lippen waren fest zusammengepresst. Aus schmalen Augen blickte er in das Tal hinunter und hinter den Reitern her. „Ich glaube nicht, dass die Pima hier sind, um zu jagen“, sagte Rana nach einer Weile. „Das glaube ich nicht, Bruder.“

„So? Und was glaubst du dann, warum die Pima hier sind?“

„Ich glaube, dass sie keine Angst mehr haben, hierherzukommen.“

„Und ich glaube, dass du recht hast, Rana. Die Weißaugen sind unsere Feinde, das wissen wir. Die Pima sind unsere Feinde. Die Maricopa auch. Gemeinsam sind sie stark.“

„Lass uns gehen, Delgado! Ich will herausfinden, was sie vorhaben. Ich will sie im Auge behalten.“

„Gut, das ist etwas, was wir tun können. Komm, mein Bruder, aber sei vorsichtig. Ich will nicht ohne dich zurückkehren.“

Obwohl der Boden von vielen Steinen und Kakteen bedeckt war, liefen die beiden leichtfüßig den steilen Hang hinunter. Die Reiter waren inzwischen im Wald verschwunden. Die Sonne stand nun schon ziemlich hoch, und es war heiß geworden. Kurz bevor sie den Wald erreichten, bemerkten sie über den stillen Wipfeln der Bäume Rauch aufsteigen. Schwarzer Rauch, der sich zu Wolken ballte. Delgado und Rana blieben stehen.

„Sie haben unser Haus angezündet!“, stieß Rana wütend hervor. „Glaubst du mir jetzt, Bruder? Sie sind hier, um Apachen zu töten!“

„Wir werden sie daran hindern, Rana!“, versprach Delgado dem Jungen.

„Jetzt?“, zischte dieser wütend. „Jetzt gleich! Ich bin zum Kampf bereit, Bruder. Lass uns diese feigen Hunde töten.“

„Es sind zu viele. Wir müssen ins Dorf zurückkehren und unsere Leute warnen.“

Rana war enttäuscht, obwohl er begriff, dass es wichtiger war, Wah-poo-eta vor den Pima und dem Weißauge, das sie anführte, zu warnen.

 

*

 

Der Mann auf dem hellgrauen Hengst schwang sich aus dem Sattel, übergab die Zügel einem der Pima und ging mit dem Gewehr in den Händen auf die Hündin zu, die sich schützend vor ihre drei Welpen gestellt hatte. Sie war eine magere Bastardhündin, mit einem stehenden und einem hängenden Ohr, einem dunkel gefleckten Fell und einem blauen und einem braunen Auge.

„Du bist ein verdammt hässlicher Köter“, sagte der Mann, als er breitbeinig vor ihr stand und das Gewehr in seinen Händen umdrehte, sodass er es wie eine Keule benutzen konnte. Die Hündin knurrte leise. Ihr Instinkt sagte ihr, dass dieser Mann ihr und den Welpen gefährlich werden konnte, aber sie war zu schwach, ihn anzufallen.

Der Mann hörte das leise Knurren, lachte auf, hob das Gewehr und tötete die Hündin mit einem wuchtigen Schlag. Als der Gewehrkolben den Schädel der Hündin traf, scheute das Pferd, aber der Mann parierte es und schaute zu, wie die Hündin am Boden liegend verendete. Die drei Welpen waren ein Stück weit davongerannt, blickten zu ihrer Mutter hinüber, leise japsende Laute ausstoßend. Aber ihre Mutter kam nicht wie sonst zu ihnen. Es war der Mann, der sich ihnen näherte. Die Welpen wichen vor ihm zurück. Erst als der Mann stehen blieb, liefen sie zu ihrer Mutter und legten sich bei ihr nieder. Der Mann übergab das Gewehr einem der Pima, die auf ihren Pferden saßen, und ging zur toten Hündin. Der mutigste der drei Welpen trat ihm zögerlich entgegen. Der Mann bückte sich, packte ihn beim Genick und schleuderte ihn gegen einen Felsbrocken. Einen anderen warf er hinterher, hob den Letzten vom Boden und ersäufte ihn lachend im Wasser des kleinen Quelltümpels.

Die Pima schauten dem Mann mit versteinerten Gesichtern zu. Obwohl sie den Mann begleiteten, um ihre Todfeinde, die Apachen, zu töten, verstanden sie nicht, wie der Mann es fertigbrachte, die Hündin und ihre Welpen in dieser kaltblütigen Art zu töten. Sich die Hände an der Hose abwischend, grinste er ihnen zu, als hätte er die Hunde zu ihrem Vergnügen umgebracht. Doch keiner von ihnen lachte. Sie wichen seinem Blick aus. Schauten sich verlegen um, so als wäre ihnen irgendetwas abhanden gekommen.

Der Mann nahm die Zügel seines Pferdes auf und sagte ihnen, dass sie sich jetzt in der Hütte umschauen konnten. „Nehmt mit, was ihr wollt“, erklärte er ihnen. „Beute!“

Die Pima zögerten nicht. Sie rutschten von den Pferden und verschwanden in der Hütte. Große Beute war hier nicht zu machen. Einer brachte einen alten Revolver zum Vorschein, ein anderer fand ein Gewehr. Heißhungrig aßen sie vom Vorrat, den sie fanden, nahmen eine Decke mit, und einer streifte sich eine Kette über den Kopf, an der zwei Krallen eines Grizzlybären und ein silbernes Amulett hingen. Sonst wollten sie nichts von dem, was sich in der Hütte befand.

Die Rundhütte stand am Rande einer Senke. Hohe Kiefern beschatteten den Platz mit dem kleinen Quelltümpel, dem Korral und dem Stangengerüst, an dem dünne Fleischstreifen zum Trocknen aufgehängt waren. Im Korral standen zwei Pferde, eine gescheckte Stute und ein kastanienfarbener Hengst. Der Korralzaun war aus Kiefernpfosten, Ästen und den Ranken von Ocotillos gebaut, und der Anführer der Pima hatte keine große Mühe, zwei Pfosten niederzureißen und die Pferde in die Flucht zu schlagen. Die beiden Tiere galoppierten das Tal hinunter und verschwanden in einem engen Canyon.

Danach ließ er die Pima trockenes Reisig aus dem Wald herbringen. Er übergab die Zügel des Hengstes dem jüngsten der Pima, und warf das Reisig in die Rundhütte. Bedächtig tat er seine Arbeit, beobachtet von den Pima, die nicht so recht zu wissen schienen, ob sie das, was der Mann tat, auch getan hätten, wenn sie allein gewesen wären.

Der Anführer verschwand in der Hütte. Als er wieder herauskam, hing Rauch an ihm. Kurz darauf brannte die Hütte. „Singt!“, rief der Mann ihnen zu. „Eine Apachenhütte brennt!“

Zögerlich begannen die Pima zu singen: „Eine Apachenhütte brennt, eine Apachenhütte brennt …“

Der Mann lachte. „Tanzt!“, forderte er sie auf und die Pima tanzten in der Hitze des Feuers und schwangen ihre Waffen. Ihr Anführer klatschte in die Hände, während er den Pima zusah. Fast fing er selbst auch an zu tanzen, aber dann weiteten sich seine Augen und er suchte mit einer Hand in der Hosentasche herum und brachte ein schmutziges Taschentuch zum Vorschein. Seine Schläfenadern schwollen an, und das graue Gesicht wurde vom Hals her dunkel. Der Mann fing an zu husten und krümmte sich dabei, presste das Taschentuch an den Mund und ging beinahe in die Knie.

Der Hustenkrampf dauerte fast eine Minute. Als der Mann sich aufrichtete, wurde das hagere Gesicht wieder grau, die Haut beinahe durchsichtig. Nur um die Augen waren rötliche Ringe zu sehen, und die Stoppelhaare auf seinem Kinn waren blutverschmiert. Er knüllte das Taschentuch zusammen, steckte es weg und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn.

Die Pima hatten längst zu singen und zu tanzen aufgehört. Sie wichen dem Blick des Mannes aus, schauten auch weg von der brennenden Hütte und vom schwarzen Rauch, der die Sonne verdunkelte. Noch geschwächt vom Hustenanfall, kletterte der Anführer in den Sattel seines Pferdes und rief: „Kommt, ihr Hunde, wir haben einen langen Weg vor uns!“

Die Pima hassten es, wenn er sie Hunde nannte, aber sie taten, was er von ihnen verlangte, denn er hatte ihnen große Beute versprochen, mit der sie in ihre Dörfer zurückkehren würden und sich als große Krieger feiern lassen konnten. Die Pima schwangen sich auf ihre Pferde und folgten dem Mann auf dem hellgrauen Hengst.

Jim Fletcher hieß er. Leute, die ihn kannten, nannten ihn Pima Jim Fletcher. Er stammte aus Arkansas und war mit Charlestons Volunteers aus Kalifornien in die Apacheria gekommen. Yavapai-Apachen hatten seinen Trupp einmal in einen Hinterhalt gelockt. Fletcher, damals First Sergeant, war von einem Pfeil in den Rücken getroffen worden. Terry Daniels, der Trompeter, hatte ihm den Pfeil aus dem Rücken gezogen, aber die Spitze war dringeblieben. Seither hatte Jim Fletcher Schwierigkeiten mit dem Atmen, und er zerfiel ganz langsam. Verblutete innerlich.

Nachdem Fletcher ausgemustert worden war, hatte er sich der Prospektorengruppe von King S. Woolsey angeschlossen. Er war dabei gewesen, als Woolsey in den Bradshaw Mountains Pinole unter die Apachen verteilen ließ, das mit Strychnin vergiftet war. Er war auch dabei gewesen, als Woolsey einige Chiefs der Yavapai-Apachen zu einer Friedensverhandlung einlud und sie dann auf dem Beratungsplatz niedermetzeln ließ. Und Jim Fletcher war dabei gewesen, als Sugarfoot Jack und seine Freunde eine Yavapai-Rancheria, ein kleines Dorf dieses Stammes, überfallen und sämtliche Bewohner massakriert hatten.

Fletcher ahnte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er hasste die Apachen, die er für sein elendes Dasein verantwortlich machte. Er bekämpfte sie, wo und wann immer er eine Gelegenheit dazu bekam. Als Mitglied der Yavapai Ranger hatte er im Frühjahr 1867 den Feldzug von Captain James Monroe Williams mitgemacht. Nachdem Williams von zwei Apachenpfeilen getroffen worden war und man ihn in das Armee-Hospital von Kalifornien eingeliefert hatte, verließ Jim Fletcher Prescott und nistete sich bei den Pima ein, die im Tal des Gila River lebten. Er nahm sich ein Pima-Mädchen zur Frau und gewann das Vertrauen von Chief Onado, dessen beide Söhne von Apachen getötet worden waren.

Fletcher versprach den Pima einen Sieg über den verhassten Feind, von dem sie jahrelang terrorisiert worden waren, und der einzige Traum, der Onado nach der Ermordung seines Söhne geblieben war, war die Vernichtung von Yavapai-Apachen. In Jim Fletcher fand er nicht nur einen Gleichgesinnten, sondern einen hasserfüllten Bruder. Er gab ihm seine jüngste Tochter zur Frau und verlangte als Gegenleistung von Fletcher den Skalp von Chief Big Rump.

Daraufhin besuchte Fletcher General Gregg in Fort McDowell und bot ihm die Hilfe der Pima an, falls sich die Armee bereit erklärte, den Pima einen regulären Sold zu zahlen und ihnen die gesamte Beute zu garantieren, die bei den Apachen gemacht werden konnte.

General Gregg, Kommandant des Prescott Distrikts, hatte jedoch zurzeit einige Probleme mit dem Oberkommando des Military Department of California, dem General Irvin McDowell vorstand. Ein paar Zeitungen im Osten prangerten den Vernichtungskrieg gegen die Apachen an und unterstützten die Interessen des Innenministeriums, das durch seine Indianeragenten Ruhe und Ordnung in den Südwesten bringen wollte. In ungewissen Zeiten wie diesen, konnte Gregg das Angebot von Fletcher unmöglich annehmen. McDowell hatte ihm nämlich klar zu verstehen gegeben, dass seine Truppen sich vorübergehend etwas zurückzuhalten hätten, und Gregg tat, was ihm befohlen wurde, obwohl die weißen Bewohner des Gebietes auf den Schutz der Armee und auf deren Strafaktionen angewiesen waren.

Seit Wochen schon war nämlich die Hardyville-Prescott-Frachtstraße nicht mehr passierbar, weil die Apachen sämtliche Wagenzüge überfielen, die sich auf ihr bewegten. Prescott war nahezu isoliert, und in den Bergwerken in den Bradshaw Mountains arbeitete niemand mehr. Die Siedler entlegener Farmen waren den Apachen schutzlos ausgeliefert und viele von ihnen zogen es vor, mit Kind und Kegel und Sack und Pack nach Prescott zu ziehen.

Pima Jim Fletcher wollte dafür sorgen, dass endlich etwas passierte. Er verließ Fort McDowell, holte einige willige Pimakrieger aus dem Dorf von Onado und ritt mit ihnen nordwärts. Er folgte dem Verde River, stieß tief in das Gebiet der Yavapai-Apachen vor und suchte nach versteckten Dörfern und nach Pfaden, die nur den Apachen bekannt waren. Er durchstreifte die östlichen Hänge und Täler der Mazatzal Mountains und stieß in der Nähe des Mogollon Rim auf ein Yavapai-Dorf, das sich tief in einer geschützten Talsenke befand. Sofort machte Fletcher kehrt. Er wartete mit seinen Pima, bis in den Bergen der Schnee wegschmolz und die Pässe passierbar wurden. Dann ritt er ein Stück auf seiner eigenen Fährte zurück, schwenkte nach Osten ab und suchte einen Weg durch die Mazatzal Mountains. In der Nähe des Horseshoe Plateaus stieß er dann auf die einzelne Apachenhütte, die er von den Pima niederbrennen ließ. Von der Hütte aus nahm er einen Pfad, der südwestwärts führte, tiefer in die Berge hinein, deren Spitzen noch Schnee trugen. Irgendwo im Süden war der Reno Pass, und auf der anderen Seite der Berge, im Tonto Basin, befand sich Camp Reno. Die dort stationierte Einheit wurde von seinem alten Freund, Lieutenant C. C. C. Carr kommandiert, und Fletcher war davon überzeugt, dass Carr sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, etwas für seine Karriere zu tun und die Pima für seine Ziele zu benutzen.

Auch Fletcher hatte Karriere machen wollen. Immerhin hatte er es im Bürgerkrieg bis zum Captain gebracht. Captain James T. Fletcher. Er hatte im selben Regiment mit C. C. C. Carr gedient. Sie waren sozusagen Steigbügel an Steigbügel geritten, er als Captain und Carr als Lieutenant. Das war ihre große gemeinsame Zeit gewesen, eine Zeit, von der nur noch Schatten im eingefallenen Gesicht von Fletcher übrig geblieben waren. Jetzt war er nicht mehr Captain James T. Fletcher. Jetzt war er Pima Jim Fletcher, ein Squaw-Mann, dem eine Obsidian-Pfeilspitze einen Lungenflügel ruiniert hatte. Bevor er das Zeitliche segnete, wollte er so viele Apachen wie nur möglich töten, und es war ihm egal, ob es Männer, Frauen oder Kinder waren, an denen er sich für den langsamen Tod rächen konnte.

Pima Jim Fletcher folgte an der Spitze seines Reitertrupps einem Wildpfad über scharfe Felsgrate hinweg, hinauf zu einem Pass zwischen mächtigen Felsgipfeln. Hier oben blies ein scharfer, kalter Wind. Das Licht der Sonne wurde von den Schneehängen reflektiert und blendete die Pferde und die Reiter. Schmelzwasser tropfte von den Felsen und rann durch die Spalten im Gestein, suchte sich einen Weg durch Geröll, tränkte moosartiges Gras auf weichem Boden und sammelte sich in Rinnen, durch die es zu Tal floss.

Fletcher hielt auf dem Pass kurz an und blickte zurück. Noch immer hingen in der Ferne dünne Rauchschleier über den dunklen Wäldern. So weit das Auge reichte, breitete sich die Wildnis aus, Bergzüge, dunkle Täler und Wälder, Plateaus und Niederungen, Wüstenstücke und Prärien. Es war ein herrliches Land. Vielleicht wirklich ein Stück vom Paradies, in dem er sich eines Tages, wären diese für ihn nicht längst gezählt, niedergelassen hätte. Eine kleine Ranch, eine Frau und Kinder, das war alles, was Fletcher sich als junger Mann für seine Zukunft gewünscht hatte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

In ihren dürftigen Kleidern der nagenden Kälte ausgesetzt, drängten die Pima zum Weiterritt. Vor ihnen, flankiert von Bergketten, lag das Tonto Basin, ein weites Talbecken mit karg bewachsenen Hängen, die sich zur Sierra Ancha hochzogen. Dort unten, in den Wüstentälern, wo die Saguaros wuchsen, nistete bereits die Sommerhitze. Bleich und leer lag das Becken unter flirrenden Luftströmungen. Irgendwo in der Ferne musste sich Camp Reno, einer der entlegensten Posten der US-Armee, befinden. Nichtsdestotrotz freute sich Fletcher auf ein Wiedersehen mit seinem alten Wegbegleiter aus Bürgerkriegszeiten, Lieutenant C. C. C. Carr.

Während Fletcher und sein Trupp talwärts ritten, hatte er keine Ahnung, dass ihm zwei junge Apachen folgten, wie zwei Schatten aus dem Reich seiner übelsten Träume. Die beiden Apachen kannten jeden Steg und jeden Weg in diesem Gebiet, und sie kamen zu Fuß genauso schnell voran, wie Pima Jim Fletcher und seine Pima auf ihren magern Gäulen.

EIN GRUND ZUM TÖTEN

 

Camp Reno war eine isolierte Militärstation am Tonto Creek, mit der Außenwelt durch eine kaum passierbare Militärstraße verbunden, die aus dem Tonto Basin zum Reno Pass hochführte, über die Mazatzal Mountains hinweg, hinunter in das Tal des Verde River und nach Fort McDowell. Das Tonto Basin, ein gewaltiges Wüstenbecken, war von einem Ödland eingeschlossen, einer unwegsamen Wildnis von kleinen steinigen Hügeln, durchbrochen von ausgetrockneten Flussbetten und übersät mit Dornenbüschen und Kakteen. In den engen Tälern und Schluchten des Salt River-Gebietes, in den Mazatzal Mountains und der Sierra Ancha hausten die Yavapai und verschiedene andere Apachenstämme, die sich hierher zurückgezogen hatten, um den Weißaugen aus dem Weg zu gehen.

Verschiedene Stammesgruppen der Tonto-Apachen lebten in unmittelbarer Nähe von Camp Reno. Aber auch Big Rumps Yavapai betrachteten das Tonto Basin und die umliegenden Berge als einen Teil ihres Jagdgebietes.

Vom Osten her drangen manchmal Coyotero-Apachen in das Becken vor, White-Mountain-Apachen und Cibecue-Apachen. Den in Camp Reno stationierten Truppen war es deshalb nahezu unmöglich, das Tonto Basin zu kontrollieren. Camp Reno spielte im Krieg gegen die Apachen ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Das Truppenkontingent bestand meistens aus weniger als dreißig Soldaten, und die reichten kaum aus, um die wenigen Siedler, die sich im Basin niedergelassen hatten, effektiv zu beschützen.

Am Tag, als die Wache das Herannahen eines kleinen Reitertrupps meldete, hatte ein Meldereiter aus Fort McDowell die Nachricht nach Camp Reno gebracht, dass General John Irvin Gregg als Kommandant für den Prescott Distrikt von General T. C. Devin abgelöst worden sei. Die Gründe dafür waren Lieutenant Carr nicht bekannt, aber in seiner Generalorder No. 1 gab Devin den Befehl aus, in der Behandlung der Apachen äußerste Vorsicht walten zu lassen. Es schien, als ob General Devin versuchen wollte, im Kampf um die Apacheria neue Wege einzuschlagen.

Lieutenant Camillo Casatti Cadmus Carr döste im Zwielicht seiner kleinen Schlafkammer. Das Fenster neben der Tür stand weit offen. Manchmal wehte ein frischer Luftzug durch den Raum, der äußerst karg eingerichtet war. Außer einem Feldbett bestand die Möblierung aus einer großen Seemannskiste, einem Gestell, das aus den Skelettrippen eines Saguaro-Kaktus gebaut war, und zwei übereinanderliegenden Teekisten, die als Nachttisch dienten. Auf den Teekisten standen eine Porzellanwaschschüssel mit rosaroten und hellblauen Blumen zwischen zwei Goldstreifen und ein Wasserkrug, der einen Sprung hatte. Daneben eine goldgerahmte Fotografie, die in einem Studio in Harrisonburg, Virginia, aufgenommen worden war und die Braut von Lieutenant Carr zeigte. An einer Adobe-Lehmwand hingen ein hölzernes Kreuz über einem kleinen Weihwasserbecken, eine Kopie der Unabhängigkeitserklärung und ein Bild von General Washington an der Spitze seiner Armee.

C. C. C. Carr, ein junger Gentleman aus Virginia, der schon als 19-Jähriger Offizier geworden war, träumte im Halbschlaf von zu Hause, träumte von den Pferderennen am Sonntagnachmittag, von den Freunden der Familie Carr, von Picknickausflügen, Hahnenkämpfen und von Martha, dem Mädchen mit den goldenen Zapfenlocken.

Sobald er dieses Camp hier verlassen konnte, würde er Martha nach Arizona nachkommen lassen. In Fort McDowell gab es hübsche Offiziershäuser, genau wie in Fort Whipple oder Fort Lowell. Dort gab es sogar einen Tennisplatz, eine Bibliothek und die Möglichkeit, sich in der Stadt die Zeit zu vertreiben.

Jede Station hier in Arizona war besser als Camp Reno. Hier konnte man eigentlich nur vor die Hunde gehen, und Carr wunderte sich nicht darüber, dass er eine Desertationsrate von nahezu vierzig Prozent hatte. Fast jede Woche suchten Soldaten der B-Kavallerie das Weite. Einige kamen vielleicht durch, andere liefen Armeepatrouillen in die Arme oder wurden von Apachenbanden erwischt.

Als die Wache an diesem Tag den Reitertrupp meldete, dachte Carr zuerst daran, dass irgendeine Patrouille einen Deserteur zurückbrachte. Während seiner Ruhepause am Mittag hatte Sergeant Patrick Russell das Kommando im Camp. Russell, ein erfahrener Mann, hatte das volle Vertrauen seines Vorgesetzten. Er verließ das Hauptquartier, ging über den hart gebackenen Paradeplatz und blickte zwischen zwei schäbigen Adobe-Lehmhütten hindurch in die Wüste hinaus. Von den Pferdekoppeln her näherte sich der Reitertrupp, und jetzt war unschwer zu erkennen, dass es sich um einen Weißen und mehrere Indianer handelte. Sergeant Russell rief die Wachmannschaft ins Freie und empfahl Corporal Farrish, die Augen offen und die Ohren steifzuhalten.

„Das könnten Tonto sein“, sagte er. „Oder Yavapai.“

„Mit einem Weißen als Chief?“

Sergeant Russell kratzte sich in seinem roten Vollbart und hob die breiten Schultern. „Der Teufel weiß, was los ist, Farrish.“ Er ging dem Reitertrupp etwas entgegen und blieb im Schatten des Gefängnisses stehen, das aus Kalksteinquadern gebaut war.

Der Weiße, der an der Spitze des Trupps ritt, spornte sein Pferd an. Er galoppierte zwischen den Mannschaftsquartieren hindurch und zügelte vor dem Sergeant den Hengst.

Der Sergeant kniff die Augen etwas zusammen. „Was gibt‘s?“, fragte er.

Der hagere Mann auf dem Hengst beugte sich etwas vor. „Ich bin Jim Fletcher“, sagte er. Der kurze Ritt im Galopp schien ihn angestrengt zu haben.

Sergeant Russell spuckte einen Strahl Tabaksaft gegen die Gefängnismauer. „Jim Fletcher, eh?“, sagte er. „Schön, Fletcher. Wenn du wieder mal so viel Staub machen willst, such dir einen freien Platz.“

Fletcher kniff die Augen etwas zusammen, musterte den Sergeant und blickte sich um. „Sergeant, ist das hier wirklich Camp Reno?“

„Manchmal frage ich mich das selbst, Fletcher. Was willst du hier und wer sind diese jungen Böcke? Pima oder Maricopa?“

„Pima.“ Hinter Fletcher hatten jetzt die Pima angehalten. Sie blickten sich unsicher nach allen Seiten um. Die Nähe der Soldaten machte sie nervös. „Sergeant, wo kann ich Lieutenant Carr finden?“

Ich habe hier im Moment das Kommando, Fletcher. Und ich will wissen, was du willst. Ich will wissen, woher du kommst, und ich will wissen, was du vorhast. Klar?“

Fletcher zog den Hengst zurück und machte Anstalten, an Russell vorbei weiterzureiten. Der Sergeant trat ihm in den Weg. „Was willst du hier mit deiner Bande von Rothäuten, Fletcher? Ich glaube nicht, dass man dich hergebeten hat.“

„Das sage ich alles dem Lieutenant“, erwiderte Fletcher. „Carr und ich, wir sind alte Freunde. Im Krieg sind wir …“ Ein furchtbarer Hustenanfall riss ihm die Worte von den Lippen. Er krümmte sich auf dem Pferd zusammen, ließ die Zügel fallen und hustete in seine Hände. Sein Gesicht wurde rot, dann dunkler, fast blau. Der Hengst tänzelte zur Seite, drehte sich, und Fletcher verlor das Gleichgewicht. Er fiel haltlos aus dem Sattel und prallte hart am Boden auf. Blut hustend wand er sich am Boden.

Russell packte das tänzelnde Pferd an den Zügeln und übergab es einem der Wachposten. Dann kauerte er sich bei Fletcher nieder, aber er konnte nichts für ihn tun. Der Hustenanfall dauerte einige Minuten. Als er vorbei war, kam Captain Barker, der Camp-Arzt, über den Platz gelaufen. Röchelnd lag Fletcher am Boden. Sein Gesicht war wachsbleich und schweißbedeckt. Er hatte die Finger in die harte Erde des Bodens gekrallt, als könnte er sich dadurch davor bewahren, in die Hölle zu fahren.

Captain Barker, ein kleiner Mann mit einer Vollglatze, kniete neben Sergeant Russell nieder. Er riss Fletcher das Hemd über der Brust auf. Fletcher öffnete die Augen und versuchte sich auf den Ellbogen aufzurichten, als Captain Barker nach seinem Puls fühlen wollte.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, keuchte er. „Ich bin in Ordnung, verdammt!“

„Mister, ich weiß nicht was Sie krank macht, aber als Arzt will ich Ihnen raten, sich irgendwo in Ruhe zu setzen und keine anstrengenden …“

„Sparen Sie sich ihre Ratschläge, Doc!“, knurrte Fletcher.

Captain Barker sah kurz zu Russell auf. Dieser hob zum Zeichen seiner Ratlosigkeit die Schultern. „Na, dann werde ich ja hier nicht gebraucht“, meinte Barker freundlich, klappte seine Tasche zu, erhob sich und ging davon. Fletcher setzte sich auf, wartete eine Weile auf einen Energieschub und erhob sich schließlich. „Und wo finde ich jetzt Carr?“

„Bist du wirklich okay, Fletcher?“

Fletcher wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß und das Blut aus dem Gesicht. „Wenn ich hier noch lange rumstehen muss, kotze ich dir meine Innereien vor die Stiefel, Sergeant.“ Ohne sich weiter um Russell zu kümmern, taumelte er in den Schatten des Gefängnisses und lehnte sich gegen die Mauer.

Die Pima saßen regungslos auf ihren Pferden. Ihre Gesichter blieben unbewegt. Es war nicht das erste Mal, dass sie gesehen hatten, wie Fletcher gegen die Dämonen aus dem Schattenreich kämpfte. Und bis jetzt war er immer Sieger geblieben. Dafür achteten sie ihn.

Fletcher hatte kaum mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Die Anfälle schienen von Tag zu Tag schlimmer zu werden, schwächten ihn mehr und mehr, besonders nach langen, anstrengenden Ritten.

Die Soldaten, die um die Pima herumstanden, musterten ihn unverhohlen. Es machte ihm nichts aus. Er wusste, dass er aussah wie sein eigener Geist.

„Du solltest dir vom Doc hier helfen lassen, Mister“, sagte einer der jungen Soldaten.

Fletcher beachtete ihn nicht. Tat, als hätte er den Ratschlag überhört.

Russell kam zurück. „Okay“, sagte er. „Der Lieutenant erwartet dich, Fletcher.“

Fletcher räusperte sich vorsichtig. „Los, versorgt die Pferde!“, befahl er den Pima. „Wir bleiben über Nacht hier im Camp bei den Soldaten.“

Keiner widersprach. Fletcher wusste, dass sie sich hier in dieser kleinen Soldatenstadt nicht sicher fühlten. Sie hatten Angst, obwohl die Amerikaner ihre Freunde waren.

Fletcher folgte dem Sergeant ins Hauptquartier. Russell bot ihm Whisky an, aber Fletcher wehrte ab und verlangte ein Glas Wasser. Der Sergeant holte ein Glas und goss es mit Wasser aus einem Porzellankrug voll. Draußen erklangen Schritte. Fletcher drehte sich im Stuhl. Ein Mann erschien im Türrahmen. Ein hagerer, großer Mann in der Uniform eines Lieutenants, das Gesicht braun gebrannt von der Sonne, die Augen von einem strahlenden Blau.

„Jim!“ Carr ging mit ausgestreckter Hand auf seinen alten Freund zu. Aber bevor er ihn erreichte, hielt er an. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. Er holte tief Luft und sagte noch einmal den Namen jenes Mannes, mit dem er kreuz und quer durch Virginias Wälder geritten war.

Fletcher grinste schief, erhob sich und streckte dem Lieutenant seine knöcherne Hand entgegen. „Cam, du siehst gut aus“, sagte er lachend. „Im Gegensatz zu mir siehst du verdammt gut aus, mein Freund.“

Carr ergriff Fletchers Hand. „Ich habe gehört, dass du im Land bist, Jim. Dein Ruf als Apachenkiller eilt dir voraus bis hierher in dieses gottverlassene Camp. Sergeant Russell sagte mir, dass du von einigen Pima begleitet wirst.“

„Das stimmt. Und wenn du willst, mein Freund, stehen wir dir im Kampf gegen die verdammten Apachen zur Verfügung. Meine Pima sind alle erprobte Kämpfer und ziemlich gut bewaffnet. Und ausdauernd sind sie wie junge Wölfe. Der Einzige, der hin und wieder schlappmacht, bin ich.“

„Was zum Teufel ist dir passiert? Als ich dich das letzte Mal sah, bist du …“

„Erinnere mich lieber nicht an die guten alten Tage, Cam. Ich habe sie in meinem Kopf längst ausgelöscht. Die Spitze eines Apachenpfeils steckt in meiner Lunge und bringt mich langsam um.“

„Jim, unser Doc …“

„Nichts zu machen, Cam. Ich war in Denver. Und in Frisco. Die Ärzte geben mir ein, zwei Jahre. Es könnte aber auch schneller gehen. Eine einzige falsche Bewegung, und die verdammte Spitze könnte eine Arterie durchtrennen. Ich habe mich längst an den Gedanken gewöhnt, bald in die Hölle zu fahren, aber bevor dies geschieht, will ich noch ein paar Dutzend Rothäute in die ewigen Jagdgründe befördern. Deshalb bin ich mit meinen Pima hier. Sie sind ausgezeichnete Fährtenleser und riechen einen Apachen auf zehn Meilen Entfernung.“

„Gut, dann lass uns mit den anderen über deine Vorhaben reden, Jim. Sergeant Russell wird den Pima einen Platz zuweisen, wo sie ihr Lager errichten können. Wir sind in unseren wenigen Quartieren ziemlich eingeengt. Was ich dir anbieten kann, ist ein Lager in einer der Mannschaftsbaracken.“

„Kein Offiziersquartier?“ Fletcher grinste schief.

„Setz dich lieber hin, Jim.“ Carr schob seinem Freund einen Schemel zu, auf dem sich dieser vorsichtig niederließ.

„Diese verdammten Schmerzen beim Husten, Cam, sie bringen mich manchmal beinahe um den Verstand.“

Der Lieutenant gab dem Sergeant einen Wink. Russell verstand sofort. Er verließ den Raum und eilte über den Platz zum Quartier des Arztes.

 

*

 

Lieutenant Carr, Captain John Barker, Lieutenant Archer Hill und die beiden Sergeants Patrick Russell und George Morrison saßen in der Offiziersmesse gemeinsam mit Jim Fletcher an einem Tisch. Fletcher schien es besser zu gehen. Captain Barker hatte ihm vor dem Essen eine hohe Dosis Laudanum verabreicht.

Zwei Soldaten, die Küchendienst hatten, räumten den Tisch ab.

Die Ordonnanz von Captain Barker holte eine Flasche Coney Island Club Sour Mash der Paxton Bros. Destillerie in Cincinnati aus einem Eckschrank. Während des Essens hatten die Offiziere noch einmal ihre Bürgerkriegserinnerungen aufgefrischt, und es war keiner unter ihnen, der nicht die alten Zeiten liebend gern heraufbeschworen hätte. Damals – seitdem waren nicht mehr als zwei Jahre vergangen – hatten sie noch gewusst, wozu sie ihre Uniform trugen. Sie waren alle stolz gewesen, für ihr Vaterland in den Krieg zu ziehen, obwohl es ein Bruderkrieg war. Für sie alle hatte es nie Bedenken oder gar Zweifel gegeben, denn letztlich ging es um den Fortbestand der Vereinigten Staaten von Amerika. Eine eindeutige Sache. Die Nordstaaten gegen die Südstaaten. Kleine und große Schlachten. Armeen gegen Armeen. Was sich hier im Südwesten tat, war ein übles Versteckspiel. Ein Krieg ohne Regeln. Ohne klare Fronten. Es gab keinen erklärten Feind. Dauernd wurden neue Befehle ausgegeben, die alten Befehle aufgehoben. Einmal galten alle Indianer, die sich außerhalb ihrer Reservate oder nicht mehr in der Nähe der Agenturen aufhielten, als Freiwild, ein andermal wurde eine Anordnung erlassen, dass nur diejenigen Indianer bekämpft werden durften, die man während oder kurz nach einer Übeltat erwischte.

„Was man hier mit uns macht, ist ein erbärmlicher Zirkus“, stellte Lieutenant Hill grimmig fest und nippte an seinem Whisky. „Guter Stoff, John. Da soll noch einer sagen, dass wir Amerikaner keinen feinen Whisky hinkriegen.“

Dr. Barker leckte genüsslich seine Lippen. Er war der Älteste in der Runde. Das grausträhnige Haar hatte er in der Mitte gescheitelt. Seine kleinen Augen waren rot gerändert, die Nase etwas aufgequollen. Er trank viel, aber selbst in betrunkenem Zustand war er ein ausgezeichneter Armeearzt. „Ich kann nicht sagen, dass es mir hier gefällt, Archer“, sagte der Arzt und goss sein Glas wieder voll. „Wir könnten in Tucson stationiert sein. Oder in Prescott. Das wäre angenehmer. Aber der Vorteil hier ist, wir sind so weit weg von der Arena, dass keiner auf die Idee kommt, uns ins Feld zu schicken.“ Barker lachte. „Es sind jetzt schon fast vier Monate her, seit ich das letzte Mal eine Schussverletzung verarzten musste.“

„Nur, wir sind Soldaten, John“, wandte Carr ein. Wie immer machte er den gepflegtesten Eindruck in der Runde. Er war frisch rasiert, hatte sein Haar sorgfältig gekämmt und den dünnen Schnurrbart an den Enden hochgezwirbelt. „Einige der Politiker in Washington regen sich darüber auf, dass wir hier keine großen Erfolge verbuchen können. Sie zweifeln an unseren Fähigkeiten. Meinen, dass unsere Soldaten hier draußen verkommen. Unrecht haben sie nicht, meine Herren. Schaut euch mal die Leute an, die hier in Camp Reno stationiert sind. Manchmal fühle ich mich wie ein Piratenkapitän, der mit seinem Schiff und der gesamten Mannschaft auf einer Insel gestrandet ist.“

Fletcher hustete in sein Taschentuch, entschuldigte sich und trank einen Schluck Wasser.

„Ich weiß nicht, ob das Klima hier für Sie das Beste ist, Fletcher“, sagte Dr. Barker besorgt. „Die Hitze macht Ihnen bestimmt zu schaffen. Ich würde meinen, dass Ihnen Colorado besser bekommen würde.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957194046
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Western Abenteuer Spannung Wilder Westen Roman

Autor

  • Werner J. Egli (Autor:in)

Werner J. Egli absolvierte die Primar- und Sekundarschule in Luzern, Schweiz. Danach machte er eine Lehre als Positiv-Retuscheur und arbeitete mehrere Jahre als Grafiker und Werbetexter im Atelier Max Koch in Luzern. In dieser Zeit fing er an zu schreiben. Eglis erste Arbeiten waren erfolgreiche Krimis und Westernromane, die er unter verschiedenen Pseudonymen verfasste.
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Titel: Western Legenden 04: Wie Wölfe aus den Bergen