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Western Legenden 03: Gefangene der Apachen

von Mark L. Wood (Autor:in)
123 Seiten
Reihe: Western Legenden, Band 3

Zusammenfassung

Als Kind wurde Mary-Jane von Indianern entführt und in den Stamm aufgenommen. Sie heiratet einen jungen Krieger und verbringt mit ihm glückliche Zeiten. Doch dann bricht der Krieg aus. Soldaten überfallen das Dorf der Apachen. Mary-Jane wird verschleppt und durchlebt harte Jahre. Als Ehefrau eines Offiziers kehrt sie an den Ort ihrer Jugend zurück. Dort wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Die Printausgabe des Buches umfasst 224 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wenn die Welt einmal aufhört zu bestehen, wird es keinen Regen und kein Wasser mehr geben. So werden wir es wissen. Auf der ganzen Erde wird es nur noch zwei oder drei Quellen geben, und um diese Quellen werden sich die Menschen streiten. Sie werden kämpfen und sich gegenseitig töten. Das wird das Ende der Menschheit sein.

Danach wird die Welt neu gemacht. Diejenigen, die Weiße waren, werden Indianer sein, und diejenigen, die Indianer waren, werden Weiße sein.

 

Legende der Chiricahua-Apachen

 

 

Kapitel 1

 

Mary-Jane kannte die Hitze. Sie kam aus El Paso und hatte in der texanischen Wüstenstadt so viele heiße und staubige Tage erlebt, dass ihr auch die Sonne von Arizona kaum etwas ausmachte. Und sie hatte von den Apachen gehört. Ihre Mutter hatte oft mit den Indianern gedroht, wenn sie unartig gewesen war. Wenn du nicht brav bist, holen dich die Apachen. Auch Mrs Hodge, die Frau des Pfarrers, die sich seit dem Tod ihrer Eltern um sie kümmerte, erwähnte die Apachen, wenn Mary-Jane ungezogen war. Die Apachen wären noch schlimmer als der Teufel und die bösen Geister, die Mary-Jane aus ihrem Märchenbuch kannte.

Ihre Eltern waren vor einem dreiviertel Jahr gestorben, und sie war bei der Frau des Pfarrers aufgewachsen. Mrs Hodge kümmerte sich liebevoll um sie. Du sollst es immer gut bei mir haben, sagte sie zu ihr. Sie las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, ohne dabei schwach oder allzu nachsichtig zu sein. Wie eine richtige Mutter eben. Doch dann erkrankte auch Mrs Hodge an hohem Fieber, nicht so schlimm wie damals ihre Eltern, aber schlimm genug, um in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden. „Ich werde ein paar Wochen dortbleiben müssen“, sagte sie mit schwacher Stimme zu Mary-Jane, „aber ich habe meiner Schwester in Tucson geschrieben. Sie wird sich um dich kümmern. Tante Ethel ist Lehrerin, und du kannst zu ihr in die Schule gehen. Hast du Lust, mit der Kutsche zu fahren?“

Mary-Jane freute sich.

Schon am nächsten Morgen brachte der Pfarrer sie zur Station. Er setzte sie in die Kutsche, nachdem er sich vorher umgehört und erfahren hatte, dass die Apachen im Augenblick friedlich waren und sich wohl wieder einmal nach Mexiko abgesetzt hatten. Der Kutscher, sein Begleitfahrer und sogar einige Soldaten, die als Eskorte eines Waffentransports in die Stadt gekommen waren, erklärten übereinstimmend, dass zurzeit nicht mit einem Angriff der Apachen zu rechnen war.

„Sie meinen also, ich kann die Kleine getrost nach Tucson schicken?“

„Natürlich“, antwortete einer der Soldaten, „die Indianer machen uns schon seit ein paar Wochen keinen Kummer mehr.“

Und der Kutscher fügte hinzu: „In meiner Kutsche ist die Kleine so sicher wie in Abrahams Schoß, Hochwürden. Wenn wirklich einer dieser roten Teufel seine Nase über die Felsen streckt, habe ich ja noch Sam.“ Er deutete auf seinen bewaffneten Begleitfahrer.

Mary-Jane hatte alles mit angehört und fürchtete sich deshalb auch nicht so sehr wie die blonde Frau, die ihr in der Kutsche gegenübersaß und auf ihren Mann einredete.

„Martin?“, fragte die Frau.

„Ja, Liebling?“

„Bist du sicher, dass die Apachen uns nicht angreifen?“

Ihr Mann, ein unscheinbarer Bursche von ungefähr dreißig Jahren, der Mary-Jane ein bisschen an den Sohn ihrer Lehrerin erinnerte, beruhigte sie mit einem geduldigen Lächeln. „Ganz sicher“, antwortete er, „du hast doch gehört, was die Soldaten in El Paso zum Vater des kleinen Mädchens gesagt haben. Die Apachen geben Ruhe. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Habe ich recht, Mister Todd?“

Mr Todd war Handlungsreisender, ein ziemlich schweigsamer Mann, der ständig in Gedanken versunken war und kein großes Interesse an den anderen Reisenden zu haben schien. Auch jetzt beschränkte er sich auf ein missmutiges Brummen.

„Da hörst du’s“, meinte der Mann der ängstlichen Frau. „Mister Todd sagt auch, dass wir keine Angst vor den Apachen zu haben brauchen und er muss es wissen, er fährt alle paar Wochen zwischen El Paso und Tucson hin und her.“

Das stimmte freilich nicht, denn Mr Todd war erst seit vier Wochen bei seiner jetzigen Firma beschäftigt und kannte Tucson nur vom Titelbild des Wandkalenders, den ihm sein neuer Chef zur Einstellung geschenkt hatte. Er fuhr zum ersten Mal durch die Wüste, und sein nachdenkliches Schweigen sollte nur die Angst verdecken, die ihn genauso plagte wie die hübsche Frau seines Nachbarn, aber das sagte er niemandem.

„Und wenn die Soldaten sich irren?“, bohrte die junge Frau weiter. Sie sah sehr hübsch und zerbrechlich aus.

„Elaine, beruhige dich!“, redete Martin auf seine Frau ein. Er hatte wohl Angst, dass sie die Nerven verlor und zu weinen begann.

„Aber die Apachen …“, begann Elaine erneut. Ihre Augen funkelten nervös. „Hast du nicht in der Zeitung gelesen, was sie mit ihren Gefangenen machen? Sie martern und foltern …“

„Elaine, das sind doch alles aufgebauschte Sensationsberichte! Der Reporter hat wahrscheinlich noch nie in seinem Leben einen Apachen gesehen. Diese Schreiberlinge phantasieren irgendetwas zusammen, um die Auflage ihres Blattes zu steigern, und dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Erinnerst du dich noch an den Bericht …“

„Aber der Mann hat doch selbst gegen die Apachen gekämpft!“, fiel Elaine ihrem Mann ins Wort. „Nicht der Reporter, aber der alte Scout aus den Bergen, der ihm alles über die Apachen erzählt hat. Der Reporter hat ihn getroffen und sich die ganze Geschichte erzählen lassen.“

„Und du glaubst, der alte Mann sagt die Wahrheit?“ Martin schüttelte den Kopf. „Elaine! Es gibt Hunderte von diesen alten Gaunern, die für teures Geld ihre Geschichte verkaufen und dafür das Blaue vom Himmel herunterlügen.“

„Meinst du wirklich?“

„Natürlich, Elaine!“, sagte Martin. Er legte einen Arm um seine Frau und drückte sie fest an sich. „Du brauchst keine Angst zu haben! Unsere Armee hat die Apachen vertrieben und dafür gesorgt, dass sie keine Weißen mehr angreifen können.“

„Hoffentlich“, seufzte sie.

Mary-Jane blickte schnell weg, als Elaine ihrem Mann einen Kuss auf die Wange drückte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, woher die Frau und ihr Mann kamen, aber sie hätte wetten mögen, dass sie aus dem Osten stammten. Zumindest die Frau. Diese Leute aus dem Osten, sagte der Schmied in El Paso immer, die haben doch keine Ahnung, wie’s bei uns zugeht. Die sitzen in ihren Steinhäusern und reden klug daher, dass wir die Indianer gut behandeln sollen und so, aber Ahnung haben die nicht. Die können ‘ne Rothaut nicht von ‘nem Chinesen unterscheiden! Mary-Jane musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie an die Worte des vierschrötigen Mannes dachte. Oder sie sitzen diesen Lügengeschichten auf, die bei ihnen im Umlauf sind, und machen sich fast in die Hosen vor Angst, wenn sie mal zu uns kommen!

Auch Mary-Jane hatte Angst. Der Pfarrer hatte ihr oft genug gesagt, dass man sich seiner Angst nicht zu schämen brauchte. Aber deswegen musste man sich noch lange nicht so anstellen, wie diese junge Frau, diese Elaine. Wenn die Soldaten sagten, dass die Apachen zurzeit friedlich waren, dann stimmte das auch. Die Männer in den blauen Röcken lebten schließlich hier draußen und hatten täglich mit den Indianern zu tun. In der Schule hatte sie gehört, dass es zahlreiche Forts gab, von denen aus die Soldaten das Land erkundeten. Sie schickten Späher aus und beobachteten die Indianer. Wenn es zu Unruhen kam, alarmierten sie sofort die ganze Gegend, und dann durfte auch die Kutsche nicht mehr fahren.

Ein beruhigender Gedanke, der aber nicht alle Angst vertreiben konnte. Es waren noch ein paar Stunden bis Tucson. Während der letzten Tage war jedoch nicht das Geringste passiert, warum sollte ausgerechnet ein paar Meilen vor dem Ziel etwas geschehen? Die Apachen lebten in der Wüste und in den Bergen und wagten sich bestimmt nicht so nahe an die Stadt heran.

Sie entspannte sich und blickte nach draußen. Es ging auf Mittag zu, und die Sonne schleuderte ihre Hitze auf das trockene und ausgedörrte Land. Zerklüftete Felsen und Kakteen flogen am Fenster der Kutsche vorbei. Das Land sah hier nicht viel anders aus als in El Paso, wo es um diese Jahreszeit ebenfalls sehr trocken und heiß war, nur dass es hier mehr Kakteen gab. Zum Teil blühten sie sogar, aber Mary-Jane war zu müde, um sich an den kräftigen Farben zu erfreuen. Sie war noch nie so lange unterwegs gewesen und wünschte sich nur, dass die Fahrt endlich zu Ende war.

Sie griff nach ihrer Wasserflasche, die sie an einem Riemen über der Schulter hängen hatte, schraubte den Verschluss ab und nahm einen kräftigen Schluck. Bald mussten sie die Station erreicht haben, von der sie am Morgen gesprochen hatten; dort würde es etwas zu essen und vielleicht sogar frische Limonade geben. Sie mochte Limonade für ihr Leben gern und hatte sich noch nie so danach gesehnt wie jetzt. Ihr Mund wurde ganz trocken, wenn sie an ein Glas kalte Zitronenlimonade dachte. Auch das brackige Wasser aus ihrer Feldflasche konnte diese Trockenheit nicht vertreiben.

Sie schraubte die Flasche zu und lehnte ihren Kopf zurück. Beim Rumpeln und Rattern der Kutsche war es beinahe unmöglich zu schlafen, aber sie wollte es trotzdem versuchen. Die lange Fahrt hatte sie müde gemacht. Sie schloss die Augen und zählte Schafe, nur holperte die Kutsche jetzt über felsigen Boden und machte einen solchen Lärm, dass an Schlaf gar nicht zu denken war. Sie öffnete die Augen und sah, dass auch die anderen Fahrgäste wach waren. Elaine, die ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes gelegt und geschlummert hatte, saß jetzt kerzengerade da und sah so entsetzt aus, als wäre sie dem Teufel persönlich begegnet. Ihre Augen waren groß, und ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. In ihrer Kehle steckte ein langer Pfeil.

Mary-Jane war viel zu erschrocken, um zu schreien oder zu weinen oder irgendetwas zu tun. Sie starrte nur auf den Pfeil und das Blut, das aus dem Hals der jungen Frau sickerte und sich über ihr schönes weißes Kleid ergoss. Auch Martin schrie nicht. Er starrte in stummem Entsetzen auf seine Frau, die nur noch ein schwaches Röcheln zustande brachte und dann in seinen Armen zusammensank.

Als er nach dem kleinen Revolver griff, der an seinem Gürtel hing, bohrte sich ein Pfeil in seine Wange, dann noch einer und noch einer, bis er stöhnend gegen seine tote Frau sank.

 

***

 

Ein Schuss krachte, die Kutsche geriet ins Schlingern. Der Kutscher griff sich an die Brust und fiel mit einem heiseren Schrei vom Kutschbock. Sein rechter Arm wurde von einem Rad zermalmt, aber da war er schon tot und merkte nichts mehr davon.

Der Begleitfahrer hielt seine Schrotflinte in beiden Händen und suchte verzweifelt nach einem Ziel. Aber er sah nur Felsen und Kakteen. Die tödlichen Pfeile waren aus dem Nichts heran geschwirrt, und auch der Pfeil, der seinem Leben ein Ende setzte, kam von einem unsichtbaren Feind und ließ ihm keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Ohne einen Schuss abgefeuert zu haben, fiel der Mann in den Staub.

Mary-Jane merkte nichts davon. Sie starrte immer noch auf den roten Fleck, der sich auf dem Kleid der toten Frau ausbreitete. Überall war Blut! Wo kam auf einmal das viele Blut her?

Ihre Lippen formten einen Schrei, aber es wurde nur ein ungläubiges Stöhnen daraus. Noch immer wollte und konnte sie nicht verstehen, was eben geschehen war.

Sie merkte nicht einmal, dass die Kutsche immer schneller wurde, dass die Pferde durchgingen und das Gefährt jeden Augenblick an einem Felsen zerschellen oder umkippen konnte.

Dann begann der Handlungsreisende zu schreien. Wie ein Ertrinkender, der keine Aussicht auf Rettung hat. „Indianer!“, schrie er. Immer wieder. Bis in der wallenden Staubwolke, welche die Kutsche einhüllte, ein Reiter auftauchte, die Tür aufriss und den schreienden Mann nach draußen zerrte. Das Schreien ging in lautes Schluchzen über und verstummte dann ganz.

Erst jetzt löste sich Mary-Jane aus ihrer Erstarrung. Sie erkannte plötzlich das ganze Ausmaß der schrecklichen Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren.

Die Apachen hatten die Kutsche angegriffen! Sie hatten alle Passagiere und wahrscheinlich auch den Kutscher und den Begleitfahrer getötet, und nur sie war noch am Leben. Noch ein paar Sekunden, dann würden die Apachen auch sie töten. Sie würden sie erschießen, erstechen oder erschlagen und im Staub liegen lassen.

Sie klammerte sich an den Sitz fest.

Elaine hatte recht gehabt. Die Apachen waren doch auf dem Kriegspfad und hatten der Kutsche aufgelauert. Sie waren so leise und plötzlich gekommen, dass Elaine gestorben war, ohne dass die anderen etwas gemerkt hatten.

Mary-Jane war alt genug, um zu begreifen, dass es keine Rettung mehr für sie gab. Sie würde sterben und konnte von Glück sagen, wenn sie einen so schnellen Tod starb wie Elaine.

Sie begann zu schluchzen. Zuerst leise, dann immer lauter, bis heisere und beinahe hysterische Schreie über ihre Lippen kamen. Sie klammerte sich jetzt mit beiden Händen an den Sitz, aber die Kutsche schlingerte wie ein Schiff in Seenot, und sie wurde auf die andere Seite geworfen. Ihre Hände krallten sich in das blutverschmierte Kleid der toten Frau, dann wurde sie wieder zurückgeworfen und prallte mit dem Kopf gegen die Kutschenwand. Sie fiel wieder nach vorn und blieb zwischen den Sitzen auf dem Boden liegen. Wimmernd schlug sie die Hände vor die Augen. So sah sie die Reiter nicht, die plötzlich die Kutsche umringten und den Pferden ins Geschirr griffen. Sie merkte nicht einmal, dass die Kutsche langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Staub wallte auf, und feine Sandkörner spritzten in das Innere der Kutsche. Aus dem Staub schälten sich dunkle Gestalten mit nackten Oberkörpern. Ihr siegestrunkenes Johlen riss Mary-Jane in die Wirklichkeit zurück.

Gleich würde sie sterben. In wenigen Sekunden. Sie konnte auf einmal wieder klar denken und wusste, was nun geschehen würde. Die Indianer würden sie hinaus zerren und erschlagen.

Die Kutschentür wurde aufgerissen. Eine dunkelhäutige Hand griff nach ihr. „Nein!“, schrie sie. „Nein! Nicht!“ Dann schloss sie die Augen. Sie glaubte den Luftzug zu spüren, als der Apache ausholte, um ihr mit einem wuchtigen Hieb den Kopf zu zerschmettern. Mom, dachte sie noch, vielleicht treffe ich Mom im Himmel.

„Kut-le!“

Der Apache, der schon die Kriegskeule erhoben hatte, hielt verblüfft inne. Apachen redeten sich nur mit ihrem Namen an, wenn irgendjemand in Gefahr war oder etwas Außergewöhnliches geschah. Sonst gebrauchten sie Kosenamen oder den Verwandtschaftsgrad, in dem der Angeredete zu ihnen stand.

„Was willst du, Onkel?“, fragte Kut-le verwirrt. Er hielt das weiße Mädchen am Kragen fest und hatte die Keule immer noch zum Schlag erhoben.

„Lass sie los!“, sagte Gil-lee. Wie alle Apachen war er nicht besonders groß, fiel aber durch seine muskulöse Gestalt auf. Er hatte vierzig Mal den Schnee auf den Bergen gesehen, und die Narben auf seinem Gesicht und auf seinem Körper erzählten von den vielen Kämpfen, die er schon erlebt hatte. Die Männer und Frauen seines Clans behaupteten, dass er ein mutiger und erfahrener Krieger war. Dass er ein di-yin war, und das war auch der Grund dafür, dass ihm vierzehn Krieger auf diesen Raubzug gefolgt waren.

„Sie ist ein Mädchen“, wunderte sich Kut-le. „Seit wann verschont mein Onkel ein weißes Mädchen? Was willst du mit ihr?“

„Ich will sie adoptieren.“

„Eine pindah?“

„Meine Frau hat sich immer eine Tochter gewünscht“, sagte Gil-lee. Er trieb seinen Schecken neben Kut-le. Mit einer Hand zog er Mary-Jane zu sich auf den Pferderücken.

„Aber sie ist weiß!“

„Sie ist noch jung genug, um eine von uns zu werden. Die Sonne wird ihre Haut bräunen, und meine Frau und ich werden sie so erziehen, dass man sie nicht mehr von einem Mädchen unseres Volkes unterscheiden kann.“

„Ich verstehe dich nicht, Onkel“, sagte Kut-le. „Aber du hast die Macht der Wildgänse und musst wissen, was du tust.“

„Das weiß ich“, sagte Gil-lee. Er wendete sein Pferd zum Zeichen, dass die Unterhaltung für ihn beendet war. Mit den Schenkeln lenkte er den Schecken auf einen nahen Hügel, von dem aus er die ganze Sache überblicken konnte. Die Straße nach Tucson lag wie ausgestorben da. Beruhigt wandte Gil-lee sich wieder seinen Stammesbrüdern zu.

Die Krieger hatten sich johlend auf die Leichen der Passagiere gestürzt und rissen ihnen die Kleider vom Leib. Ein junger Apache stülpte sich den Hut der blonden Frau auf den Kopf. Zwei andere untersuchten die Gewehre des Kutschers und des Begleitfahrers, die sie im Staub gefunden hatten. Einige Krieger turnten auf der Kutsche herum und durchwühlten das Gepäck. Die Zugtiere hatten sie längst ausgespannt und getötet, denn zum Reiten waren sie zu schwer; jetzt machten sie sich daran, die besten Fleischstücke aus ihren noch dampfenden Körpern zu schneiden.

Mary-Jane blieb der schreckliche Anblick erspart. Sie lag mit dem Bauch über dem Pferderücken und sah nur die hochschäftigen Mokassins ihres Retters und den felsigen Boden. Sie hatte angespannt gelauscht, als sich die beiden Apachen unterhalten hatten, aber natürlich kein Wort verstanden. Am Klang ihrer Stimmen hatte sie jedoch erkannt, um was es gegangen war. Der Krieger, der sie aus der Kutsche gerissen hatte, war für ihren Tod gewesen. Der Apache auf dem Pferd hatte sehr streng und bestimmt zu ihm geredet und ihm befohlen, sie in Ruhe zu lassen. Warum er wollte, dass sie am Leben blieb, wusste sie nicht.

Gil-lee trieb seinen Schecken zu den Kriegern zurück. „Ihr seid langsam wie alte Weiber! Warum braucht ihr so lange, um zwei Pferden und drei Weißaugen das Fell über die Ohren zu ziehen?“

Ein dicker Krieger, der gerade einige Fleischstücke aus den Pferden geschnitten und in eine Rinderhaut gewickelt hatte, sah grinsend auf. „Weil unser nantan sich zu fein ist, seinen Brüdern zu helfen“, gab er zurück. „Er kümmert sich lieber um ein blasshäutiges Mädchen …“

Jetzt lachten auch die anderen Apachen, aber Gil-lee brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Beeilt euch!“, rief er. „Diese Straße wird von vielen Weißaugen benutzt, und wir wollen erst die Beute zu den anderen bringen, bevor wir uns wieder auf einen Kampf einlassen.“

„Die Weißaugen sind schwach“, sagte ein Krieger.

„Nicht die Männer in den blauen Röcken“, erwiderte Gil-lee, „sie sind mit Feuerrohren bewaffnet und reiten immer in großen Horden über das Land.“

„Hast du etwa Angst?“, fragte Kut-le und grinste. „Der Wind kommt von Süden.“

Das reichte, um die Krieger zur Eile anzutreiben. Süden war die schlechteste aller Himmelsrichtungen, und Gil-lee kannte die Mächte des Krieges so gut, dass er wusste, wann es Zeit war, ein Schlachtfeld zu verlassen.

Die Krieger rollten die Beute in Rinderhäute oder verstauten sie in Körben, die sie an den Sätteln befestigten. Wer keinen Sattel benutzte, stopfte die erbeuteten Dinge in Beutel und Taschen, die an Lederriemen über den Pferden hingen.

Enju“, rief Gil-lee zufrieden, als alle Männer auf ihren Pferden saßen. Er warf noch einen Blick auf die Weißaugen, die nackt oder in ihrer Unterwäsche auf dem Boden lagen, und zeigte dann nach Osten. „Lasst uns reiten.“

Kapitel 2

 

Gil-lee und seine Krieger gehörten zu den tsoka-ne-nde, einem Unterstamm der Chiricahua-Apachen, deren indianischer Name für Weiße nicht zu übersetzen war. Sie selbst nannten sich fin-ne-ah, was so viel heißt wie das Volk, und keiner von ihnen hätte jemals das Wort Apachen in den Mund genommen, denn das bedeutete Feind und wurde nur von den Zunis benutzt.

Die tsoka-ne-nde hatten ihre rancherias in den Chiricahua-, Dragoon-, und Dos-Cabezas-Mountains im südöstlichen Arizona errichtet, das damals noch zum New-Mexico-Territorium gehörte. Sie waren ein kriegerisches Volk, das ohne Kampf nicht leben konnte und die friedlichen Ackerbauern des Südwestens von der Landkarte gefegt hatte; aber sie hatten auch eingesehen, dass es für ihre Kinder nur eine Zukunft gab, wenn sie lernten, mit ihren Nachbarn auszukommen. Da kein Stamm außer den Apachen in den unzugänglichen Wüstengebirgen leben wollte, gab es schon bald keine Schwierigkeiten mehr.

Anders verhielt es sich mit den pindah-lickoyee, den weißäugigen Fremden, wie die Apachen die Weißen nannten. Sie hatten Gold und Silber und Kupfer in den Bergen der Apachen gefunden und scherten sich einen Dreck um die Abmachungen, welche die Regierung mit den Apachen ausgehandelt hatte. Michael Steck, ein persönlicher Vertrauter des Präsidenten, hatte den Indianern einen dauerhaften Frieden zugesichert, wenn sie aufhörten, die Kutschen und Frachttransporte zu überfallen, und die Chiricahuas hatten sich bisher an diesen mündlichen Vertrag gehalten. Erst als ihre Späher die bärtigen Fremden mit ihren Schaufeln und Spitzhacken in den Bergen ausgemacht hatten, waren sie wieder auf den Kriegspfad gegangen. Cochise, der Anführer der tsoka-ne-nde, den sogar die nde-nda-i und die tci-he-nde als nantan anerkannten, hatte seinen Kriegern befohlen, gegen die Weißaugen in den Krieg zu ziehen.

Noch wusste die Armee nichts von diesen Überfällen, und Mary-Jane war die erste Weiße, die davon hätte erzählen können. Alle anderen Opfer waren getötet worden, die Passagiere der Kutsche, die beiden Fahrer eines Frachtwagens, die an einer Furt über den San Pedro River vom Kutschbock geschossen worden waren, und der einsame Goldsucher, der nichts ahnend in eine Falle junger Krieger gelaufen war. Und es würden an diesem Tag noch viele Reisende und Goldsucher von den Chiricahuas überfallen werden.

Mary-Jane dachte nicht an die anderen, sie dachte nur an sich selbst. Sie lag immer noch mit dem Bauch über dem Rücken des Pferdes und versuchte krampfhaft, nicht zu sehr durchgeschüttelt zu werden. Sie musste am ganzen Körper blaue Flecken haben, und beim Sturz in der Kutsche hatte sie sich die linke Hand verstaucht. Zum Glück ließ Gil-lee seinen Schecken im Schritt gehen. Bei einer schnelleren Gangart hätte sie wahrscheinlich vor Schmerz aufgeschrien.

Als das Gelände bergiger wurde und die Pferde sich einen Weg über steile Pfade suchen mussten, erlöste Gil-lee seine Gefangene aus ihrer unbequemen Lage. Er packte sie am Kragen und setzte sie mit einem Ruck vor sich in den Sattel. Mary-Jane stöhnte laut auf und krallte sich in der Mähne des Pferdes fest.

Ganz allmählich entspannte sie sich. Das Blut wich aus ihrem Kopf, und sie konnte wieder klar sehen. Sie hatte immer noch ihre weiße Sonnenhaube auf, sodass sie einigermaßen gegen die sengende Hitze geschützt war. Die Sonne hatte inzwischen ihren höchsten Stand erreicht und verwandelte das Land in einen riesigen Glutofen. Besonders in den Schluchten und Hohlwegen staute sich die Hitze. Nicht zufällig verglichen die Weißen dieses Land mit der Hölle, und es gab sogar Leute, die jede Wette eingingen, dass es schlimmer als die Hölle war; besonders solche, die als Soldaten oder Goldsucher durch die Wüste geritten waren und am eigenen Leib erfahren hatten, wie unbarmherzig dieses Land sein konnte.

Die Apachen lebten hier, und nicht einmal sie wussten, was sie ausgerechnet in diesen Teil des amerikanischen Südwestens verschlagen hatte. Warum waren sie auf ihrer Wanderung nach Süden, die vor vielen Tausend Jahren stattgefunden haben musste, nicht in die Täler des Verde River gezogen? Warum hatten sie ihre wickiups nicht auf den dicht bewaldeten Plateaus des Mogollon errichtet? Auch die Alten vermochten es nicht zu sagen, und die Jungen dachten nicht weiter darüber nach. Sie hatten einen Pakt mit der Wüste geschlossen und das Beste getan, was man in ihrer Lage tun konnte; sie hatten die unbarmherzige Natur zu ihrem Verbündeten gemacht. Wer die Apachen schlagen wollte, musste auch die Natur besiegen.

Mary-Jane stand immer noch unter dem Schock der furchtbaren Ereignisse in der Senke. Immer wieder tauchte das Bild der sterbenden Frau vor ihr auf, wie sie kerzengerade in der Kutsche gesessen hatte, die Augen weit aufgerissen, den tödlichen Pfeil in der Kehle. Ausgerechnet die blonde Frau, die während der ganzen Fahrt gejammert und Angst vor den Apachen gehabt hatte, ausgerechnet sie war als Erste gestorben. Mary-Jane hatte ihr Blut an den Händen, und immer, wenn sie auf ihre Hände sah, glaubte sie, noch einmal gegen den leblosen Körper der toten Frau zu fallen und ihre noch warme Brust zu spüren.

Und dann ihr Mann. Vier, fünf Pfeile waren in seinen Kopf eingedrungen, einer in die Wange und ein anderer direkt ins linke Auge, und sein Kopf war ganz blutig gewesen, als er ohne einen Schrei gegen seine tote Frau gesunken war. Sie würde dieses Bild niemals vergessen, und sie würde auch den beinahe tierischen Schrei des Handlungsreisenden nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen können. Mary-Jane hatte nicht viel von den Passagieren in der Kutsche gewusst, aber sie hatte mehrere Tage mit ihnen verbracht, und sie waren wie gute Bekannte gewesen.

Gil-lee zügelte seinen Schecken und deutete in eine tiefe Schlucht hinab, die mit Kakteen, Dornensträuchern und zahlreichen Cottonwood-Bäumen bedeckt war. Aus den verfilzten Sträuchern wuchsen graue und rotbraune Felsen in den seltsamsten Formen empor. Ein Habicht zog seine einsamen Kreise über dieser Felslandschaft, stieß plötzlich hinab und kam mit einem kleinen Tier zwischen den Fängen wieder nach oben.

„Ein gutes Zeichen“, sagte Gil-lee, „auch unsere Brüder haben reiche Beute gemacht und viele Weißaugen getötet.“

Die anderen Apachen glaubten ihm. Gil-lee war kein Hellseher, aber er war ein di-yin, ein Schamane, der die Zeichen der Natur zu deuten wusste. Alle Dinge in der Natur hatten eine besondere Macht, und wenn ein Tier oder der Himmel ein Zeichen gaben, dann sprach auch Yusn zu den Apachen; ihre oberste Gottheit und der Vater allen Lebens. Nicht alle Apachen verstanden seine Stimme, und nur wenige Krieger konnten so viel mit den Zeichen der geheimnisvollen Kräfte anfangen wie Gil-lee oder die anderen Schamanen.

Der stämmige Anführer lenkte seinen Schecken auf den schmalen Pfad, der in vielen Windungen in den Canyon hinabführte. Mary-Jane hielt unwillkürlich den Atem an, als das Pferd den geröllübersäten Weg betrat, und ihre unverletzte Hand verkrampfte sich noch fester in die Mähne. Der Pfad fiel nach einer Seite hin steil ab, ein einziger Fehltritt konnte das Ende bedeuten. Mary-Jane vergaß den Überfall und ihre Schmerzen und ihre Angst vor den Apachen, und ihre Gedanken konzentrierten sich nur noch darauf, nicht vom Pferd zu fallen.

Den Apachen machte der gefährliche Abstieg nichts aus, und auch die Pferde waren anscheinend an den steilen Pfad gewöhnt. Ihre Reiter brauchten sie nicht einmal mit den Zügeln zu führen. Ein gelegentlicher Schenkeldruck oder ein Schnalzen genügten, um ihnen die Richtung anzugeben. Gil-lee und seine Stammesbrüder fanden sogar Zeit, sich zu unterhalten und Witze zu erzählen. Mary-Jane glaubte jedenfalls, dass es Witze waren, denn die Krieger lachten und kicherten immer wieder.

Bisher hatte sie geglaubt, dass Indianer überhaupt nicht lachten. In den Erzählungen der Erwachsenen waren die Apachen immer missmutige und schweigsame Männer gewesen, die nur darauf aus waren, die verhassten Weißaugen zu töten. Sie lachten nicht und sie weinten nicht; ihr ganzes Denken war auf Morden und Brandschatzen gerichtet.

Gil-lee und seine Krieger waren anders. Sie hatten gemordet und waren wie wilde Tiere über die Toten hergefallen, aber jetzt benahmen sie sich wie ganz normale Menschen. Obwohl Mary-Jane kein Wort von ihrer Unterhaltung verstand, hörte sie am Klang ihrer Stimmen, dass sie nicht über Mord und Totschlag sprachen. Sie waren fröhlich und ausgelassen, und wenn ihre Sprache nicht so fremd gewesen wäre, hätte man meinen können, dass sich Weiße unterhielten.

Der Weg führte jetzt über einen riesigen Felsentisch, und Gil-lee nutzte die Gelegenheit, anzuhalten und aus seiner Wasserflasche zu trinken. Auch Mary-Jane verspürte plötzlich Durst. Sie hatte immer noch ihre Feldflasche über der Schulter hängen und wollte sie gerade an die Lippen führen, als Gil-lee einen erfreuten Schrei ausstieß und ihr die Flasche aus der Hand riss. Er hielt die Feldflasche hoch, verglich sie mit seinem eigenen Wasserbehälter aus Rehdarm und begann dann grinsend, sein Wasser in die Feldflasche des Mädchens zu füllen. Er lachte dabei wie ein Kind, das ein neues Spielzeug gefunden hat. Als er fertig war, schleuderte er den leeren Darm in die Schlucht und trank aus der Flasche.

Mary-Jane sah ihm mit großen Augen dabei zu. In einer Mischung aus Furcht und Erstaunen wanderte ihr Blick über den narbenbedeckten Oberkörper des Indianers und sein kantiges Gesicht, das auch während des Trinkens zu einem breiten Grinsen verzogen war. Wasser lief aus seinen Mundwinkeln und rann über das energische Kinn. Erst jetzt erkannte Mary-Jane, dass quer über den Hals des Indianers eine Narbe verlief, als hätte mal jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden.

Als Gil-lee fertig war, reichte er die Flasche dem Mädchen. Mary-Jane hatte nicht erwartet, etwas von dem Wasser abzubekommen, und blickte ihn erstaunt an. Dann aber griff sie schnell nach der Flasche. Sie nahm ein paar tiefe Schlucke und gab sie dem Apachen zurück. Kichernd verstaute Gil-lee die Flasche in seiner Vorratstasche. Er legte eine Hand um das Mädchen, nahm mit der anderen die Zügel auf und trieb den Schecken wieder an.

Mary-Jane wehrte sich nicht gegen die Berührung, obwohl sie ihr alles andere als angenehm war. Die Hand des Apachen war rau und schmutzig, und sie musste unwillkürlich daran denken, wie viele Weiße diese Hand schon getötet hatte. Sie erschauerte. Der Apache spürte es und sagte irgendetwas in seiner Sprache, das sehr beruhigend klang, aber Mary-Jane reagierte nicht.

Vor wenigen Minuten hatte sie festgestellt, dass dieser Apache auch lachen konnte, dass er sich freuen konnte wie ein Weißer, aber sie konnte doch nicht vergessen, dass er zu einem Stamm gehörte, der den Weißen mit abgrundtiefem Hass begegnete. Dass er ein Wilder war, ein schmutziger, halb nackter Wilder, der durch die Wüste ritt und harmlose Reisende massakrierte.

Wieder erschauerte sie und fühlte Ekel in sich aufsteigen, als sie den Körpergeruch des Apachen einatmete. Er roch nach ranzigem Fett, das er sich in die Haare und auf die Haut geschmiert haben musste. Mary-Jane wusste nicht, dass es bei den Apachen Sitte war, sich die Hände nach dem Essen am Körper und an den Haaren abzureiben. Sie waren auf einen fettigen Körper genauso stolz, wie eine weiße Frau auf ihr Parfüm. Außerdem erfüllte der für einen Weißen ungewohnte Geruch noch einen anderen Zweck. Wenn ein Krieger auf der Jagd war und sich einem Wild näherte, wurde er von diesem nicht so schnell bemerkt wie ein weißer Mann.

Gil-lee verstärkte seinen Griff und lenkte den Schecken um einen scharfkantigen Felsen herum. Der Boden war hier besonders locker, und das Pferd hatte große Mühe, auf dem schmalen Pfad zu bleiben. Als es ins Rutschen kam, feuerte Gil-lee es mit einem heiseren Schrei an und trieb ihm die Absätze seiner Mokassins in die Seite. Das Pferd tat einen Satz nach vorn und fand wieder festen Grund.

Heia“, rief er erleichtert. Er ritt noch fünfzig Meter weiter und wartete dann, bis seine Stammesbrüder die gefährliche Stelle passiert hatten. Keiner hatte größere Schwierigkeiten. Sie waren schon viele Male über diesen Pfad geritten und wussten, wie sie sich zu verhalten hatten.

Das letzte Stück des Weges war einfacher zu bewältigen. Der Pfad wurde zusehends flacher und breiter und verlor sich schließlich ganz zwischen einigen Felstürmen. Mary-Jane sah ehrfürchtig nach oben. Von hier unten erkannte man erst, wie hoch die Felsen waren.

Bei näherem Hinsehen stellte sie fest, dass es nicht nur Felsen und Kakteen und abgestorbene Dornenbüsche in dieser Schlucht gab. Ein schmaler Fluss schlängelte sich zwischen den Felsen hindurch und verbreitete so viel Feuchtigkeit, dass sogar einige Cottonwoods ihre Wurzeln in den Uferboden geschlagen hatten. Neben einem dieser Bäume stieg Gil-lee ab und füllte die Wasserflasche nach. Auch die anderen Krieger ergänzten ihre Vorräte.

Als die Pferde getrunken hatten, ging es weiter. Mary-Jane hätte zu gern gewusst, wie weit es noch bis zum Lager war. Waren sie nur ein paar Stunden oder ein paar Tage vom Dorf der Apachen entfernt? Sie hatte keine Ahnung, dass Gil-lee sie adoptieren wollte und keine unmittelbare Gefahr mehr für sie bestand. Auch wenn sie sich gegen die Vorstellung wehrte, rechnete sie doch noch damit, dass die Apachen sie nur verschont hatten, um im Lager ihren Spaß mit ihr treiben zu können. Sie wusste nicht genau, was die Indianer mit ihren Gefangenen machten, aber sie hatte sogar den Pfarrer sagen hören, dass eine Frau sich lieber gleich töten sollte, wenn sie den Apachen in die Hände fiel, weil die Indianer furchtbare Dinge mit ihr anstellten. Dagegen sei der Tod eine Erlösung.

Ob sie mit Kindern genauso umgingen? Pfarrer Hodge hatte mal aus der Zeitung vorgelesen, dass die Apachen viele Kinder raubten, um sie in den Stamm aufzunehmen und wie Indianer großzuziehen. Aber in dem Artikel war nur von Jungen die Rede gewesen, nirgends von Mädchen. Mary-Jane lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie daran dachte, dass die Apachen sie quälen könnten.

Sie begann zu weinen. Erst jetzt, zwei oder drei Stunden nach dem Überfall, quollen die Tränen aus ihren Augen. Sie weinte immer heftiger, rang nach Luft und verkrampfte sich im Arm des Apachen, der sie fest umklammert hielt. Die Tränen rannen ihr über Wangen und Hals und vermischten sich mit dem Staub, der sich auf ihre Haut gelegt hatte.

Gil-lee sah das Mädchen verständnislos an. Er wusste nicht, warum es plötzlich weinte, es gab doch gar keinen Grund. Sie hatte frisches Wasser bekommen, und von Feinden oder wilden Tieren war weit und breit nichts zu sehen. Warum weinte das Mädchen mit der blassen Haut und den gelben Haaren?

„Das hast du jetzt davon“, stichelte Kut-le.

Gil-lee drehte sich im Sattel um und warf dem jungen Krieger einen bösen Blick zu. „Mein Neffe hat keine Ahnung von kleinen Mädchen“, sagte er. „Er kümmert sich nur um Hunde!“

Das war eine schwere Beleidigung, da die Chiricahuas mit Hunden nichts zu tun haben wollten und diese Tiere geradezu verabscheuten. Kut-le reagierte entsprechend und trieb sein Pferd dicht neben Gil-lee und funkelte ihn an. Bevor er jedoch etwas Scharfes erwidern konnte, kam der dicke Krieger von hinten heran geritten.

„Dein Neffe kümmert sich nur um ältere Mädchen“, meinte er mit einem Grinsen, „aber mit denen hat unser alter nantan ja nichts mehr im Sinn!“

„Was willst du damit sagen?“, fauchte Gil-lee.

„Du bekommst ihn ja überhaupt nicht mehr hoch!“

Gil-lee griff zu seinem Messer, überlegte es sich aber anders und kicherte plötzlich. „Ich bekomme ihn nicht mehr hoch, meinst du? So hoch wie du Wüstenratte noch lange!“

Jetzt kicherten auch die anderen Apachen, und einer schlug sich sogar auf die Schenkel.

Nur Kut-le schaute finster in die Runde.

Mary-Jane hörte auf zu weinen. Wenn sie doch bloß verstehen könnte, was die Apachen sagten, aber es schien nichts Böses zu sein, da alle lachten. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und versuchte, wieder tapfer zu sein.

Gil-lee war zufrieden und ritt kichernd weiter. Er war zwar alt für einen Apachen, aber er gehörte noch lange nicht zum alten Eisen. Seine indah-keh-ho-ndi, seine Macht des Krieges, war ungebrochen, und er konnte es noch mit jedem Feind aufnehmen. Mit Weißen und mit Roten und mit diesen lausigen Hunden auf der anderen Seite der Grenze. Vor wenigen Wintern hatten die Weißaugen Frieden mit den braunen Schmutzfinken dort geschlossen, aber die Apachen kämpften immer noch gegen sie. Gil-lee hatte erst vor ein paar Tagen seinen Mut bewiesen, weil er ganz allein in ein Dorf dieses Volkes geschlichen war und vier Männer mit dem Messer getötet hatte. Nein, er war kein alter Mann. Bei Yusn, er konnte sogar die Sonne festhalten, damit es länger hell blieb.

Er fühlte sich so kräftig und gesund wie nie zuvor, und der erfolgreiche Angriff auf die Postkutsche hatte ihn für viele Monate des Müßiggangs entschädigt. Ein Apache konnte seine Männlichkeit nur im Krieg beweisen, dieser Meinung war er schon immer gewesen, und ein Krieg gegen die Mexikaner war ihm auf die Dauer nicht genug. Die Weißaugen waren da ein ganz anderes Kaliber und stellten zumindest manchmal einen ebenbürtigen Gegner dar, gegen den es sich zu kämpfen lohnte.

Gil-lee wusste, dass Cochise anders darüber dachte. Der Anführer aller Chiricahuas wollte den Frieden, weil er der Meinung war, dass es nur im Frieden eine Zukunft für die Chiricahuas gab. Die Weißaugen sind so zahlreich wie das Laub an den Bäumen, hatte er gesagt, und wir müssen Frieden schließen, wenn wir überleben wollen! Nun, er hatte ja gesehen, wie es die Weißaugen mit dem Frieden hielten. Ganze Horden von Goldsuchern und Siedlern waren in das Land der Apachen eingefallen und gruben die kostbare Erde um.

Sein Blick fiel auf das blonde Mädchen, und er entspannte sich. Endlich hatten sie eine Tochter. Seine Frau hatte sich immer ein Mädchen gewünscht und würde einen Luftsprung machen, wenn sie die Gefangene sah. Sie war zwar blass, und ihre Haare waren gelb, aber sie war kräftig und würde zu einer guten Squaw heranwachsen. Irgendwann einmal würden sich die Krieger um sie reißen, und er würde dann immer sagen können: Seht her, das ist meine Tochter, die Tochter des unbesiegbaren nantan, der viele Weißaugen getötet und Tag und Nacht zu den Mächten der Natur gebetet hat, um sie zu bekommen.

Mary-Jane, die nichts von den Gedanken des Apachen ahnte, saß erschöpft vor ihm im Sattel und hoffte nur, dass die Indianer bald anhielten. Der Ritt hatte sie sehr angestrengt, und ihre Schenkel waren an den Innenseiten wund gescheuert. Außerdem kniff ihr Kleid. Sie hätte sonst was dafür gegeben, jetzt in den heißen Waschzuber zu steigen, den Mrs Hodge jeden Samstag für sie füllte.

Eine plötzliche Bewegung des Apachen erinnerte sie daran, dass jetzt nicht der Augenblick war, sich nach einem heißen Bad zu sehnen. Sie war eine Gefangene, von Apachen umgeben, und konnte von Glück sagen, wenn sie am Leben blieb.

Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zuviel war in den letzten Stunden auf sie eingedrungen. Ihr Kopf war ein einziger Ameisenhaufen, und ein Gedanke jagte den anderen.

Sie war müde und ausgebrannt. Sie wollte schlafen, nur schlafen und in ein paar Stunden in Mrs Hodges Armen aufwachen und ihr erzählen, dass sie einen schlimmen Albtraum gehabt hatte. Erschöpft schloss sie die Augen.

Kapitel 3

 

Als sie wieder aufwachte, saß sie immer noch auf dem Schecken und wurde von dem narbigen Apachen festgehalten, der freudig brummte, als sie wieder zu sich kam. Ihre Schenkel taten noch immer weh, und auch das Land sah genauso aus wie vorher.

Ihr Kopf war immer noch ein Ameisenhaufen, und es gelang ihr nur ganz allmählich, sich auf die raue Wirklichkeit einzustellen. Erst als sie zwei Apachen kichern hörte und dann die Stimme des dicken Indianers erklang, wurde ihr wieder bewusst, in welcher schrecklichen Lage sie sich befand.

„Dein Mädchen ist aufgewacht“, sagte Tzo-e. So hieß der dicke Apache, obwohl ihn seine Stammesbrüder nur Dicker oder Fettsack nannten. „Wirst eine Menge Ärger mit der kleinen pindah haben. Willst du sie wirklich behalten?“

„Ja“, sagte Gil-lee nur. Er hatte keine Lust, sich mit den anderen Kriegern auseinanderzusetzen. Gelbhaar, wie er das Mädchen heimlich nannte, mochte im Augenblick noch schwach und ängstlich sein, aber in vier oder fünf Wintern würde sie alle anderen Frauen der tin-ne-ah ausstechen. Er würde sie zu einer mutigen und zähen Frau erziehen und einen hohen Preis verlangen, wenn ein Krieger sie haben wollte.

Aber so weit konnten die anderen nicht denken, dachte Gil-lee, dazu waren sie zu dumm. Sie sahen nur das kleine, schwache Mädchen, und ihre Phantasie reichte nicht aus, um sie sich als starke und schöne Frau vorzustellen. Cochise und Deeo-det und die anderen di-yins würden ihn verstehen, aber nicht diese halbwüchsigen und törichten Krieger.

Mary-Jane war noch ganz benommen. Die paar Minuten Schlaf hatten sie eher noch müder gemacht, und wären da nicht der Schmerz und die unregelmäßigen Bewegungen des Pferdes gewesen, hätte sie wahrscheinlich noch einen Tag und eine Nacht die Augen zugemacht. Sie hörte die vereinzelten Laute der Apachen und spürte die Hand des narbigen Kriegers auf ihrem Körper, aber sie war zu erschöpft, um Angst und Panik zu empfinden.

Als sie aber zu einem der Felstürme emporschaute und eine schattenhafte Gestalt in den Hitzeschleiern zu erkennen glaubte, kam ihr zu Bewusstsein, dass dieser Ritt nur in die Gefangenschaft oder in den Tod führen konnte.

Ihr Körper straffte sich. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder, um klar sehen zu können, aber die Schleier verschwanden erst nach und nach. Die Gestalt auf dem Felsen gab ein Zeichen, das Mary-Jane nicht zu deuten wusste, aber sie hörte, wie Gil-lee antwortete und zufrieden einige Worte mit den anderen Kriegern wechselte.

Vor ihnen tauchte die rancheria auf, ein Dorf mit ungefähr zweihundert Hütten, die so versteckt zwischen den Felsen lagen, dass Mary-Jane sie erst entdeckte, als sie nur noch knappe hundert Meter von ihnen entfernt waren. Sie hatte immer gedacht, dass die Apachen in Zelten wie die Comanchen oder in Lehmhäusern wie die Mexikaner wohnten, aber die Behausungen zwischen den Felsen waren nichts weiter als kegelförmige Hütten aus Dornensträuchern und Mesquitezweigen, über die Tierhäute oder Kleidungsstücke von Weißen gelegt waren.

Von den Bewohnern war nicht viel zu sehen. Die meisten Apachen hatten sich während der Mittagshitze ins Innere der Hütten zurückgezogen, und nur einige Frauen, die draußen kochten, und ein paar spielende Kinder waren im Freien.

Zwei Jungen, die am Eingang der Felsenschlucht nach Kaninchen gesucht hatten, erspähten die heimkehrenden Krieger zuerst. Erfreut sprangen sie auf und rannten ins Dorf zurück. „Sie kommen! Sie kommen!“, riefen sie aufgeregt.

Jetzt wurde es im Dorf lebendig. Aus den wickiups, wie die Strauchhütten genannt wurden, kamen Männer und Frauen und Kinder und grüßten Gil-lee und seine Krieger.

„Sie kommen! Sie kommen!“, riefen auch sie.

Mary-Jane wurde es mulmig zumute. Die vielen Apachen erschreckten sie, und ihre gutturalen Rufe konnten nichts Gutes verheißen. Sie wusste ja nicht, dass es sich bei den Schreien um Willkommensrufe handelte.

Unwillkürlich duckte sie sich im Sattel. Sie hatte Angst, und doch kam es ihr beinahe komisch vor, dass es keine Hunde in diesem Lager gab. Auf den Zeichnungen von anderen Indianerdörfern hatte es immer unwahrscheinlich viele Hunde gegeben. Auch nach dem Marterpfahl, der in den Indianergeschichten der Erwachsenen immer vorkam, suchte sie vergeblich.

Gil-lee ließ seinen Schecken in einen langsamen Schritt fallen und reckte sich. Er hatte einen erfolgreichen Raubzug hinter sich und wollte allen zeigen, wie stolz er darauf war. Seine Krieger hatten viele Kleidungsstücke aus den Koffern der toten Weißaugen gekramt und bedruckte Papiere entdeckt, mit denen man Vorräte und Waffen bei weißen Händlern kaufen konnte. Es gab zwei oder drei dieser Händler in den Dragoons, weiße Schurken, die mit den Indianern verbotene Geschäfte machten und sich dafür teuer bezahlen ließen.

„Seht doch!“, riefen einige Apachen, als sie die kleine Gefangene in den Armen des Anführers entdeckten.

Gil-lee packte das Mädchen mit beiden Händen und hielt es freudestrahlend hoch wie eine Jagdtrophäe. „He-ah!“, stieß eine Frau aus.

„Ooh!“, raunte ein alter Mann spöttisch.

„Er hat eine Gefangene!“, rief ein tsoka-ne-nde, der noch zu jung war, um auf den Kriegspfad zu gehen. „Er hat ein gelbhaariges Mädchen mitgebracht. Wir werden es töten!“

Er kam herbeigerannt und wollte Gil-lee die Gefangene abnehmen, aber der Krieger gab ihm einen derben Tritt und stieß ihn damit in den Sand.

Die anderen Apachen lachten.

„Du willst sie nicht töten?“, fragte jemand.

„Nein“, antwortete Gil-lee, „meine Frau und ich werden sie adoptieren! Sie gehört uns!“

Er sagte es so entschieden, dass niemand widersprach.

Mary-Janes Angst wuchs. Sie hatte nicht verstanden, was Gil-lee gesagt hatte, und befürchtete, dass sich die Apachen gleich auf sie stürzten. Ängstlich wich sie zurück, als zahlreiche Männer, Frauen und Kinder den Schecken umringten und kichernd auf sie zeigten. Einige Männer machten Drohgebärden und stießen mit imaginären Lanzen nach ihr, die Frauen hatten es besonders auf das blonde Haar abgesehen und griffen neugierig danach.

Mary-Jane begann zu weinen. Sie war sich noch nie so hilflos und verloren vorgekommen. Sie hatte noch nie so große Angst gehabt. Nicht damals, als sie allein in der Dunkelheit gewesen war und sich verlaufen hatte, und auch nicht vor zwei Wochen, als sie keine Hausaufgaben gemacht hatte und von der Lehrerin aufgerufen worden war. Nicht einmal am Krankenbett ihrer sterbenden Eltern hatte sie sich so gefürchtet.

„Lasst mich los!“, jammerte sie. „Bitte! Lasst mich los!“ Die Frauen verstanden sie nicht und lachten über ihre ängstlichen Rufe.

So war es recht. Die kleine pindah sollte jammern und schreien und um sich schlagen. Während der letzten Monate war es ziemlich langweilig gewesen, und sie wollten ihren Spaß mit der gelbhaarigen Weißen haben. Dann konnte sie der narbige nantan meinetwegen in seine Hütte schleifen.

Gil-lee schlug mit den Zügelenden nach den Frauen. „Hört auf!“, schrie er sie an. „Aufhören!“

Die Squaws wichen ängstlich zurück. Eine übermütige Frau griff noch einmal nach dem zitternden Mädchen, aber Gil-lee schlug ihr so fest auf die Hand, dass sie aufschrie.

Tzo-e, der jetzt neben seinem Anführer ritt, kicherte vergnügt. „Lasst sie bloß zufrieden!“, meinte er spöttisch. „Er hat einen Narren an der Kleinen gefressen!“

Und Kut-le rief: „Er will eine Apachin aus ihr machen!“ Die Frauen lachten geringschätzig. Sie kannten die blassen Amerikanerinnen und wussten, dass sie kaum etwas aushielten. Sie saßen seitlich auf ihren Pferden, weil sie Angst um ihre zarten Beine hatten, und ließen sich von den Männern in Kutschen helfen, und wenn die Sonne schien, rannten sie mit Schirmen herum, weil sie die Hitze nicht ertrugen.

Und aus der Brut einer solchen Frau sollte eine tsoka-ne-nde, eine Angehörige der tapferen tin-ne-ah werden? Pah, so etwas gab es nicht. Der narbige nantan musste den Verstand verloren haben. Das blasse Mädchen würde keine zwei Winter hier draußen überleben, wenn sie überhaupt so lange durchhielt. Wäre sie ein Junge, ja, das wäre etwas anderes, aber ein Mädchen? Bisher hatten die Krieger alle Mädchen erschlagen und nur die Jungen in den Stamm aufgenommen.

Gil-lee sah den Zweifel und die Belustigung in den Augen der Frauen und spuckte aus. „Sie wird tapferer und ausdauernder als ihr alle!“, rief er. „Denkt an meine Worte! Ihr werdet euch noch nach ihr umdrehen und mit Bewunderung in der Stimme von ihr sprechen. In zwei, drei Wintern wird sie stärker und kräftiger als jeder Junge ihres Alters sein, und in fünf oder sechs Wintern wird ihre Schönheit nur noch mit der eines fliegenden Adlers zu vergleichen sein!“

Mary-Jane beruhigte sich etwas. Am Tonfall und an den Bewegungen des narbigen Apachen hatte sie erkannt, dass er sie gegen die Squaws in Schutz nahm. Was er gesagt hatte, schien Eindruck auf die anderen Indianer zu machen, denn sie zogen sich zurück und belästigten sie nicht mehr.

Hatte sie Glück im Unglück? Wollte der Anführer sie gar nicht töten? Wollte er sie in den Stamm aufnehmen wie die Jungen, von denen die Zeitungen damals geschrieben hatten? Wenn es wirklich so war, musste sie so tun, als gefiele es ihr bei den Apachen. Wenn sie dann einmal nicht aufpassten, konnte sie vielleicht fliehen und nach El Paso oder in die nächste Stadt laufen.

Vor einem wickiup, das mit aufgeschlitzten Mehlsäcken der US-Kavallerie bedeckt war, zügelte Gil-lee sein Pferd. Er setzte Mary-Jane auf den Boden, stieg dann selbst aus dem Sattel und umarmte Tzes-ton, seine Frau. Sie hatte geduldig vor der Hütte gewartet und sich nicht an den Schmähungen der anderen Frauen beteiligt. Lächelnd legte sie die Arme um ihren Mann.

„Mann“, sagte sie, „du warst nicht lange weg.“

„Wir hatten leichtes Spiel“, erwiderte Gil-lee.

„Du hast reiche Beute gemacht?“

Er ließ von ihr ab und lächelte. „Ich habe dir eine Tochter mitgebracht!“ Er deutete auf Mary-Jane und schob sie in die Arme seiner Frau. „Sie gehört dir. Sie gehört uns. Du hast dir doch immer eine Tochter gewünscht …“

Tzes-ton umarmte das weiße Mädchen, das die Liebkosungen der Apachin nur widerwillig und mit zusammengekniffenen Lippen über sich ergehen ließ.

Asoog-d“, sagte Tzes-ton feierlich. Dieses Dankeswort gebrauchten die Apachen nur dann, wenn sie sich überschwänglich über etwas freuten.

Gil-lee reckte sich. „Wir werden sie zu einer tapferen Apachin erziehen.“

Tzes-ton nickte nur.

„Wo ist mein Bruder?“, fragte Gil-lee.

„Mit dem nantan geritten.“

„Mit Cochise?“, rutschte Gil-lee der Name des Anführers aller tsoka-ne-nde heraus.

Seine Frau blickte ihn strafend an. Es war nicht schicklich, den Namen eines anderen Apachen auszusprechen, schon gar nicht den des Anführers. „Sie beobachten die Soldaten an der Stelle, die die Weißaugen Apache Pass nennen“, sagte sie.

„Welche Soldaten? Erzähle, Frau!“

Tzes-ton berichtete in knappen Worten. Na-tio-tish, so hieß der Bruder ihres Mannes, hatte fünfmal so viele Soldaten entdeckt, wie Finger an ihren Händen waren. Sie lagerten in der Nähe des Apache Pass und schickten ständig Kundschafter aus, die wahrscheinlich nach den tsoka-ne-nde Ausschau halten sollten. Na-tio-tish hatte sich aber nicht erwischen lassen und war sofort ins Dorf zurückgekehrt, um Cochise Bescheid zu sagen. Das war gestern gewesen.

„Will der nantan sie überfallen?“, fragte Gil-lee.

Tzes-ton schüttelte den Kopf. „Er hat nur sechs Krieger und deinen Bruder als Kundschafter mitgenommen. Er will morgen oder übermorgen zurückkommen, um den anderen nantans mitzuteilen, was die Soldaten am Apache Pass wollen, und um sich mit ihnen zu beraten.“

„Ich glaube, er will mit ihnen verhandeln.“

„Mit den Weißaugen? Niemals! Du weißt, dass sie alle Verträge gebrochen haben und in unseren Bergen nach den goldenen Steinen suchen. Niemals!“

„Du kennst unseren nantan nicht“, widersprach Gil-lee. „Er ist stark und tapfer, und seine indah-keh-ho-ndi ist mächtiger als die von Go-yath-khla oder von mir. Aber sein Herz ist schwach, und er glaubt immer noch an das Gute in den Weißaugen. Er will mit ihnen verhandeln, ich weiß es.“

„Vielleicht haben die Weißaugen Angst vor uns bekommen“, meinte Tzes-ton, „vielleicht wollen sie Frieden machen.“

„Niemals!“

Die Frau sah ihn lange an. Auch sie hatte ihre Zweifel an Cochises Willen zum Krieg, aber sie war eine Frau und wollte nicht mit ihrem Mann über eine so wichtige Sache diskutieren. „Du hast bestimmt Hunger“, wechselte sie das Thema.

„Ja“, sagte Gil-lee, „aber ich will erst die Beute verteilen.“ Er deutete auf die Angehörigen der armen Familien, die Witwen und alten oder verletzten Männer, die schon darauf warteten, dass sie etwas von der Beute abbekamen. Es war bei allen Apachen üblich, dass die Anführer der Kriegstrupps den bedürftigen Stammesmitgliedern etwas von den erbeuteten Dingen abgaben, und es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass ein nantan am Schluss mit leeren Händen dagestanden hatte.

Auch dieses Mal kehrte Gil-lee nur mit einer silbernen Taschenuhr zurück. Mary-Jane erinnerte sich daran, dass sie dem Handlungsreisenden gehört hatte, und begann zu schluchzen. Gil-lee kümmerte sich nicht um sie. Er ließ den Deckel der Uhr aufschnappen, hielt sie an sein rechtes Ohr und lachte vergnügt, als er das Ticken hörte. Er reichte die Uhr seiner Frau. Auch die lachte und wollte sie gar nicht mehr aus der Hand geben. Gil-lee deutete auf das schluchzende Mädchen und nahm die Uhr wieder an sich. Da er nur einen Lendenschurz und b-deh-n-keh, die hochschäftigen Mokassins der Apachen trug, verstaute er sie in einer Vorratstasche. „Wer spricht Englisch außer meinem Bruder?“, fragte er.

„Der nantan, aber der ist auch nicht da“, antwortete Tzes-ton.

„Sonst keiner?“

Tzes-ton dachte nach. „Die Frau meines Onkels hat einige Zeit mit einem Händler zusammengelebt“, sagte sie schließlich.

„Hol sie.“

Nach wenigen Minuten kehrte Tzes-ton mit einer alten Frau zurück, die so dick war, dass sie kaum durch den Eingang des wickiups passte. Gil-lee und Mary-Jane hatten sich inzwischen auf das Fell gesetzt, das im Inneren der Hütte ausgebreitet war.

Das Mädchen schaute der Frau misstrauisch entgegen.

„Sag ihr, dass sie jetzt unsere Tochter ist“, sagte Gil-lee zu der alten Frau.

„Es ist lange her, dass ich Englisch gesprochen habe.“

„Versuch es.“

Gu-yan, so war der Name der alten Frau, wandte sich an das Mädchen. „Du sein Tochter“, sagte sie. Mary-Jane sah sie verständnislos an.

„Du sein Tochter“, wiederholte Gu-yan, „Tochter von …“ Sie deutete auf den narbigen Krieger und seine Frau.

Gil-lee lächelte. „Nenne unsere Namen“, sagte er. „Dies ist ein feierlicher Augenblick.“

„Du sein Tochter“, begann die alte Frau noch einmal. „Tochter von …“ Sie zögerte immer noch, die Namen ihrer Verwandten auszusprechen, aber Gil-lee lächelte ihr aufmunternd zu. „Von Gil-lee und Tzes-ton“, ergänzte sie schnell.

Mary-Jane hatte die Worte der alten Apachin verstanden, obwohl die kaum noch Zähne hatte und undeutlich sprach. Aber die Worte ergaben keinen Sinn. „Ich bin Tochter von Ma und Pa“, sagte Mary-Jane hastig. „Doch sie sind tot. Ich wohne jetzt bei dem Pfarrer und seiner Frau in El Paso.“

Gu-yan verstand kein Wort, weil Mary-Jane viel zu schnell sprach, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Du sein Tochter von … den beiden da.“

Mary-Jane sah sie verwirrt an.

„Sag ihr, dass wir sie nach den Regeln unseres Volkes erziehen werden“, sagte Gil-lee, „und dass sie eine von uns werden wird. Sag es ihr!“

„Du erzogen, wie wir wollen“, übersetzte die alte Frau holprig. „Du eine von uns! Du eine von uns“, wiederholte sie, als sie merkte, dass das Mädchen sie immer noch nicht verstand.

Langsam kapierte Mary-Jane. Der narbige Apache und die alte Frau wollten ihr klarmachen, dass sie bei ihnen aufwachsen sollte. Sie wollten sie in die Familie aufnehmen, und ihr neues Zuhause sollte in dieser Wildnis sein. Sie war noch zu jung, um sich über das volle Ausmaß dieser Mitteilung im Klaren zu sein. Aber sie war alt genug, um einzusehen, dass sie jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen musste. Nur wenn sie so tat, als freue sie sich darüber, hatte sie noch eine Chance, ihrem Schicksal zu entgehen. Sie musste Geduld haben, irgendwann würden die Apachen nicht mehr auf sie aufpassen, und dann würde sie weglaufen.

„Du hier zu Hause“, übersetzte Gu-yan.

„Ich bin hier zu Hause“, wiederholte Mary-Jane.

„Zu Hause!“ Gil-lee freute sich wie ein kleines Kind. Das gelbhaarige Mädchen hatte verstanden. Und es schluchzte und jammerte nicht mehr. Es war tapferer als die vielen Mexikanerjungen, die sie schon in den Stamm aufgenommen hatten.

In Wirklichkeit musste sich Mary-Jane zusammenreißen, um nicht laut loszuheulen. Sie war irgendwo in der Wildnis, in einer versteckten und kaum zugänglichen Schlucht, meilenweit von jeder weißen Siedlung entfernt. Sie saß in der Hütte eines narbigen Wilden, der sie zu seiner Tochter machen wollte. Sie versuchte ein Lächeln, es misslang.

Gil-lee grinste breit. „Du Tochter! Du viel Tochter!“, radebrechte er. „Du viel Apache! Mucho Apache!“

Gu-yan sah, dass sie nicht länger gebraucht wurde, und zog sich zurück.

„Bist du hungrig?“, fragte Gil-lee. Er führte einen unsichtbaren Löffel zum Mund.

Mary-Jane schüttelte den Kopf.

„Bist du müde?“ Er legte beide Hände gegen die rechte Wange und schloss die Augen.

Mary-Jane nickte. Nun, nachdem die Angst vor einem grausamen Tod von ihr gewichen war, machten sich Müdigkeit und Erschöpfung bemerkbar. Die Ereignisse der vergangenen Stunde lagen wie eine schwere Last auf ihr, und der Ritt durch die Berge hatte ihre letzten Kräfte verbraucht.

Der Apache lachte wieder. Er deutete auf eine Matte aus Yuccafasern, die in der Hütte auf dem Boden lag, und schloss noch einmal die Augen. Er schnarchte.

„Ja, ich will schlafen“, sagte sie langsam, weil sie glaubte, dass der narbige Krieger sie dann verstand. Sie kroch auf die Matte, blickte noch einmal auf den Apachen und seine Frau und legte sich dann hin. Sekunden später war sie eingeschlafen.

Kapitel 4

 

Mary-Jane wachte früh am nächsten Morgen auf. Sie hatte von allen möglichen Dingen geträumt und brauchte einige Zeit, bis sie wusste, wo sie sich befand. Sie setzte sich gähnend auf und blickte nach draußen in die aufgehende Sonne. Der Eingang eines wickiups lag immer Richtung Osten, weil in dieser Himmelsrichtung alle guten Dinge begannen.

Das Mädchen aus El Paso wusste nichts darüber und hätte es auch nicht geglaubt, weil in einem Apachendorf nichts Gutes für ein weißes Mädchen beginnen konnte. Sie befand sich unter Wilden, unter unzivilisierten Menschen, wie die Erwachsenen sagten, und diese roten Krieger waren der Feind jedes weißen Mannes, solange die Welt bestand.

Tzes-ton war schon seit einer Stunde auf und damit beschäftigt, vor der Hütte eine Haut zu gerben. Sie schmierte eine Paste aus Hirn und gekochtem Fett auf die von allen Haaren befreite Haut und knetete sie wie einen Kuchenteig. Als sie hörte, dass sich Mary-Jane im wickiup bewegte, ließ sie die Haut fallen und schaute in die Hütte. „Wasch dich“, sagte sie in ihrer Sprache. Als ihr einfiel, dass das Mädchen sie nicht verstand, tat sie so, als ob sie sich wusch, und deutete auf den kleinen Fluss, der sich in ungefähr hundert Meter Entfernung durch die Felsen schlängelte. Mary-Jane trat zögernd vor die Hütte und rümpfte die Nase. Der strenge Geruch, der von der gegerbten Haut ausging, bereitete ihr Übelkeit. Sie warf einen Blick auf den Topf mit dem Brei aus Hirn und Fett und begann zu würgen. Tzes-ton blickte sie seltsam an. „Wasch dich“, sagte sie wieder und deutete zum Fluss hinüber, an dem schon einige andere Kinder standen und sich gegenseitig mit Wasser bespritzten.

Jetzt kapierte Mary-Jane. Sie tat zögernd ein paar Schritte, drehte sich noch einmal um und ging schnell weiter, als Tzes-ton wild gestikulierte. Sie hatte das Gefühl, von allen Apachen des Dorfes beobachtet zu werden, und einmal glaubte sie sogar, das Kichern mehrerer Frauen zu hören. Sie machten sich lustig über sie, lachten über ihr kurzes Kleid und den schmutzigen Sonnenhut, den sie immer noch auf dem Kopf trug. Auch die Kinder am Fluss behandelten sie nicht gerade höflich. Sie lachten und johlten und zeigten mit Fingern auf sie. Ein Junge versuchte, sie ins Wasser zu stoßen. Sie hielt sich gerade noch an einem Weidenast fest.

„Schaut mal, sie hat gelbes Haar!“, rief ein Junge.

„Und der Hut!“, lästerte ein anderer. „Seht euch bloß diesen Hut an! Haben alle Weißaugen solche Hüte auf?“

„Mein Onkel sagt, die weißen Frauen haben noch viel komischere Hüte“, meinte der Junge, der sich über ihr gelbes Haar lustig gemacht hatte. „Richtig große Dinger mit breiten Rändern und Blumen obendrauf!“

„Warum kommst du nicht ins Wasser?“, rief ein Mädchen und spritzte Mary-Jane nass. „Hast du Angst?“

„Komm, wir tauchen sie unter“, meinte ein zweites.

Nahilzay, der achtjährige Sohn eines nde-nda-i, der sich den tsoka-ne-nde angeschlossen hatte, stellte sich entschlossen zwischen die Mädchen und Mary-Jane. „Lasst sie zufrieden!“, sagte er. „Sie hat euch nichts getan!“

„Hast dich wohl verguckt in sie?“

Der junge Apache fand es unter seiner Würde, darauf zu antworten. Es war schon schlimm genug, dass er sich überhaupt mit diesen dummen Gänsen abgab. Ein Junge blieb unter seinesgleichen und vergeudete seine Zeit nicht mit läppischem Gezänk, aber die Mädchen sahen die Möglichkeit, dem überheblichen Jungen eins auszuwischen, und ließen nicht locker.

„Schaut ihn euch an!“, begann das eine Mädchen wieder. „Wie ein tapferer Krieger hat er sich vor die pindah gestellt!“

„Er hält sich für was Besseres, weil er ein nde-nda-i ist“, meinte die andere.

„Pah“, machte Nahilzay nur. Dann wandte er sich an Mary-Jane und bedeutete ihr, sich zu waschen.

„Trag sie doch ins Wasser!“, höhnte eines der Mädchen.

„Dumme Gans!“, konterte Nahilzay.

Obwohl Mary-Jane nur erahnt hatte, dass pindah für Weiße stand, war es nicht schwer gewesen, die Bedeutung der Worte zu erraten.

„Danke“, sagte sie zu dem Jungen. Sie sah ihm ein paar Sekunden lang in die Augen und wunderte sich darüber, dass er so freundlich zu ihr war. Aber wenn sie es recht überlegte, konnte sie sich auch nicht über das Verhalten von Gil-lee und Tzes-ton beklagen.

Sie zog ihre Schnürstiefel und die Strümpfe und nach einigem Zögern auch noch ihr Kleid aus, warf die Sonnenhaube ins Gras und watete ins Wasser. Es war ziemlich kalt, aber die Sonne brannte schon heiß vom Himmel, und die Erfrischung tat ihr gut. Bis zum Hals ließ sie sich in das kühle Wasser sinken. Sie schloss die Augen und genoss die angenehme Kühle und vergaß für einen Augenblick allen Kummer. Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, dass die anderen Kinder lächelten. Das Lächeln des Jungen, der sie verteidigt hatte, war warm und freundlich, aber in den Augen der anderen sah sie nur Spott und Hohn.

Ihr neuer Freund sagte ein Wort zu ihr, das sie nicht verstand. Mary-Jane zuckte mit den Schultern. Der Junge wiederholte das Wort und griff sich an die Stelle, an der bei einem pindah die Unterhose saß. Mary-Jane blickte an sich hinunter und wurde rot. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Apachenkinder alle nackt waren und sie, als Einzige eine Unterhose anhatte. Wieder sagte der Junge etwas. An seinen Gesten erkannte sie, dass sie die Unterhose ausziehen sollte. Sie zögerte. Zu Hause hatte man ihr eingeschärft, dass man sich niemals nackt vor anderen Menschen zeigte, schon gar nicht vor einem Jungen. Das sei eine Sünde, hatte Pfarrer Hodge ihr eingeschärft, aber Mary-Jane war nicht mehr in El Paso. Sie war in einem Versteck der Apachen, und dort war so ziemlich alles anders als in den Städten der Weißen. Sie lebte mitten unter halb nackten Wilden, die wahrscheinlich gar nicht wussten, was eine Sünde war. Also streifte sie sich zögerlich die Unterhose vom Körper. Ein bisschen komisch war ihr schon dabei zumute, aber sie gewöhnte sich schnell daran, als sie sah, dass die anderen Kinder nicht mehr über sie spotteten. Sogar die beiden Mädchen hatten das Interesse an ihr verloren und beschäftigten sich wieder damit, sich gegenseitig Wasser ins Gesicht zu spritzen.

Nahilzay schwamm um Mary-Jane herum und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ins tiefe Wasser zu kommen. In der Mitte des Flusses war eine anderthalb Meter breite Rinne, die zumindest für Kinder tief genug zum Schwimmen war. Mary-Jane hatte erst vor einem halben Jahr schwimmen gelernt und zögerte ein wenig, aber Nahilzay lächelte ihr aufmunternd zu, griff nach ihrer linken Hand und zog sie langsam hinein. Mary-Jane machte ein paar hastige Bewegungen, wurde dann ruhiger und fand plötzlich Spaß an dem kühlen Bad. Der freundliche Junge spritzte ihr ein wenig Wasser ins Gesicht. Sie spritzte zurück und brachte sogar ein Lachen fertig. In diesem Augenblick empfand sie keinen Unterschied mehr zwischen den Kindern aus ihrer Nachbarschaft und diesen jungen Wilden aus dem Felsenland der Apachen. Nahilzay sagte etwas, das sehr lustig klang. Mary-Jane lachte, obwohl sie es nicht verstand.

Dann rief Tzes-ton, und sie stieg schnell aus dem Wasser und zog ihre Unterhose wieder an. Mit den restlichen Kleidern in der Hand kehrte sie zum wickiup zurück. Die Frau deutete in die Hütte, und Mary-Jane beeilte sich, hineinzukommen und sich vollends anzuziehen. Sie wollte sich gerade das Kleid überstreifen, als Tzes-ton in das wickiup trat und ihr ein Bündel zuwarf. Mary-Jane hielt erstaunt inne.

„Zieh das an“, sagte Tzes-ton. Als sie sah, dass das weiße Mädchen nicht kapierte, nahm sie ihm einfach Kleid, Strümpfe, Schuhe und Sonnenhaube weg und deutete auf das Bündel. „Zieh das an“, wiederholte sie.

Jetzt verstand Mary-Jane. Sie hob das Bündel auf und untersuchte neugierig das mit roten Streifen verzierte Wildlederkleid, bevor sie es anzog. Es war ihr ein bisschen zu groß, aber dafür passten die hochschäftigen Mokassins umso besser. Auch sie waren mit einem roten Streifen verziert. Sie ging ein paar Schritte und fand, dass die Lederbekleidung wesentlich bequemer war als ihr Kleid und die Schnürschuhe. Lächelnd trat sie vor die Hütte.

Tzes-ton nickte anerkennend, zog und zupfte noch ein bisschen an dem Kleid herum, damit es besser saß. Dann deutete sie auf einen flachen Stein. „Essen“, sagte sie.

Mary-Jane griff nach dem Teller, den die Apachin ihr reichte. Er war mit einer Suppe gefüllt, die sie nicht kannte. Langsam tauchte sie den hölzernen Löffel in die Brühe.

„Wilde Zwiebeln“, sagte Tzes-ton.

Das Mädchen verstand sie natürlich nicht, aß aber trotzdem und fand, dass die Suppe gar nicht schlecht schmeckte. Außerdem hatte sie Hunger. Sie hatte seit dem vergangenen Morgen nichts mehr gegessen und brauchte nach dem anstrengenden Ritt durch die Wüste natürlich neue Kraft. Beinahe gierig griff sie nach den Pfannkuchen aus Mesquitemehl, die Tzes-ton ihr gab, nachdem sie die Suppe aufgegessen hatte. Mit etwas Wasser spülte sie die Bissen hinunter.

Tzes-ton deutete auf das Gefäß aus Yuccafasern, in dem das Wasser aufbewahrt wurde. „Tus“, sagte sie.

Mary-Jane legte die Stirn in Falten.

„Tus“, wiederholte die Frau.

Jetzt erkannte Mary-Jane, dass Tzes-ton begann, ihr Unterricht in der Sprache der Apachen zu geben. „Tus“, wiederholte sie. „Das ist aber ein komisches Wort.“

Tzes-ton nickte zufrieden und deutete auf einen großen Korb, der noch halb mit Holz gefüllt war. „Tuts-ah“, sagte sie.

„Tuts-ah“, wiederholte Mary-Jane.

Die Frau lächelte leicht, weil das weiße Mädchen Schwierigkeiten mit der gutturalen Aussprache der Apachen hatte, und sagte noch einmal: „Tuts-ah. Tuts-ah.“

„Tuts-ah“, ahmte Mary-Jane die Frau nach.

Tzes-ton ging zu dem Mädchen und berührte die hochschäftigen Mokassins. „B-deh-n-keh“, sagte sie langsam.

Dieses Wort war schon schwieriger auszusprechen, und Mary-Jane brauchte eine ganze Weile, bis sie es endlich schaffte.

Die Apachin wies auf einen flachen Korb, der wie ein Tablett aussah. „Tsah“, erklärte sie.

„Tsah“, sprach Mary-Jane nach. Das war einfach. Tzes-ton suchte nach einem anderen Gegenstand und wollte gerade auf den Suppentopf zeigen, als Gil-lee aufgeregt herbeigerannt kam. Er hatte die erste Wache gehabt und war jetzt abgelöst worden. „Er kommt“, rief er.

„Er kommt! Er kommt!“, riefen auch andere Krieger. Der Wächter auf dem Felsenturm schwenkte sein Gewehr.

„Was ist los?“, fragte Mary-Jane erstaunt.

„Der nantan kommt!“, antwortete Tzes-ton.

„Nantan?“

Nantan“, wiederholte die Frau. Und dann sagte sie so leise, dass nur Mary-Jane es verstehen konnte: „Cochise!“

Das Mädchen erschauerte. Sie hatte den Namen schon oft gehört und wusste, dass er zu den Männern gehörte, den die Weißen von allen Apachen am meisten fürchteten. Cochise war der Anführer aller tsoka-ne-nde und hatte auch die meisten nde-nda-i und tci-he-nde hinter sich. Seine indah-keh-ho-ndi war so stark, dass ihm die meisten Apachen blindlings vertrauten. Bei den Weißen war er als zäher und fairer Verhandlungspartner, aber auch als grausamer und unerbittlicher Krieger bekannt. Fast jeder Soldat und jeder Goldgräber wusste eine Schauergeschichte über den Anführer zu erzählen, und obwohl die meisten dieser Geschichten erfunden waren, trugen sie doch zu dem Bild bei, das sich die Weißen von Cochise machten.

Mary-Jane lief hinter den Apachen her, die zur Mitte des Dorfes rannten, um den Anführer willkommen zu heißen. Bei einigen anderen Kindern, die auf einer kleinen Anhöhe standen, von der aus man den Dorfplatz gut überblicken konnte, blieb sie stehen.

Die Kinder sahen sie nicht einmal an. Auch die Erwachsenen drehten sich nicht nach ihr um. Alle hatten nur Augen für den Anführer, der in Begleitung von zwanzig Kriegern in die rancheria geritten kam. „Nantan!“, riefen die Apachen immer wieder.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957194039
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Abenteuer Spannung Indianer Wilder Westen Roman

Autor

  • Mark L. Wood (Autor:in)

Mark L. Wood (Thomas Jeier) schrieb diesen mitreißenden Roman aus der Zeit der Apachenkriege. Im amerikanischen Fernsehen wurde der Autor als einer der besten Amerika- und Indianerkenner Europas vorgestellt.
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Titel: Western Legenden 03: Gefangene der Apachen