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Oma Lotte macht die Biege

von Mimi J. Poppersen (Autor:in)
225 Seiten

Zusammenfassung

Lieselotte Krügers 75. Geburtstag verändert alles. An diesem Tag entdeckt ihr Enkel Luke den alten VW-Bus in ihrer Garage und beginnt prompt, diesen liebevoll zu restaurieren. Luke möchte Oma Lottes Wunsch erfüllen: eine Spritztour nach Straßburg mit dem VW-Bulli. Mit leichtem Gepäck machen sie sich auf den Weg, nicht ahnend, dass ihre Tour keinesfalls in Straßburg endet, sondern erst beginnt. Bei einem Stadtbummel treffen sie auf Pascal, dessen Schicksal sie berührt. Ihr Entschluss, Pascal zu helfen, führt sie zu ihrem nächsten, überraschenden Ziel. Pascal soll nicht der letzte Fremde sein, der sich zu ihnen gesellt und ihre Weiterreise gen Süden bestimmt. Mit jedem Tag und jedem Mitreisenden wird ihre Fahrt ins Blaue kurioser. Denn sie alle verbindet eines: Spontanität und Abenteuerlust. Eine außergewöhnliche Reise, die für alle einen unvorhergesehenen Lauf nimmt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Oma Lotte macht die Biege

von

Mimi J. Poppersen


Text Copyright © Mimi J. Poppersen

Cover Design: Rafi Gnirck

Cover Images © Adobe Stock

Lektorat: Media-Agentur Gaby Hoffmann

Alle Rechte vorbehalten

Mimi J. Poppersen auf Instagram


“Travel is the only thing you buy that makes you richer”

(Unknown)

2

Nachdem alle Gäste gegangen waren, fand Oma Lotte, dass sie zufrieden sein konnte mit ihrer Geburtstagsfeier. Es hatte eine gute Stimmung unter den zahlreichen Gästen geherrscht. Alle hatten satt und zufrieden ihr Haus verlassen. So sollte es sein.

Nun war nur noch ihre Familie anwesend und sie wollte sich mit ihrer Tochter an den Abwasch machen.

„Lass nur, Mama, ich mache das schon“, bot Melanie an und nahm ihr sachte das wertvolle Porzellangeschirr aus der Hand.

Hiergegen hatte Lotte keine Einwände. Warum sollte sie sich an ihrem Geburtstag nicht mal ein bisschen bedienen lassen?

Stattdessen beschloss sie, in der Garage nach passenden Vasen für die vielen Blumensträuße zu suchen, die gerade alle noch etwas provisorisch untergebracht waren. Ihre Tochter hatte für so etwas keinen Blick und die meisten Sträuße einfach in Biergläser gestellt.

Ihr Haus war äußerst praktisch aufgeteilt, darauf hatte Wilhelm beim Kauf, vor gefühlten hundert Jahren, Wert gelegt. Von der Küche aus ging es über eine recht geräumige Speisekammer direkt in die Garage. Gerade jetzt im fortgeschrittenen Alter war es sehr komfortabel, die Einkäufe nach nur wenigen Metern direkt in der Vorratskammer abstellen zu können.

Auch hatten sie beim Kauf des Hauses die Lage gut durchdacht, es lag etwas außerhalb von Heidelberg, im schönen Neckartal, mit einem großen Garten für die Kinder, aber auch Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe. Perfekt für eine junge Familie.

Gerade stand Oma Lotte in der Speisekammer und wollte die Tür zur Garage öffnen, als sie bemerkte, dass diese nur angelehnt war. In dem Moment vernahm sie Stimmen dahinter. Natürlich waren dies wieder Michael und Susanne, die sich angifteten. Gerade wollte Lotte schwungvoll die Tür öffnen, um dem Streit ein Ende zu setzen, als einige Wortfetzen an ihr Ohr drangen, die sie stutzen ließen.

Selbstverständlich wäre sie niemals auf die Idee gekommen, die beiden zu belauschen, aber wie von selbst klebte ihr Ohr bereits an der Tür. Nun verstand sie jedes Wort.

„Du musst es ihr endlich sagen!“, keifte Susanne gerade mit scharfer Stimme. „Hör auf, es immer weiter vor dir herzuschieben. Das bringt doch nichts. Wie lange willst du denn noch warten?“, redete sie auf Michael ein, der gar nicht zu Wort kam.

Woher kam eigentlich der Glaube, dass immer Schwiegermütter die Furchtbaren seien? Schwiegertöchter konnten genauso schlimm, wenn nicht noch biestiger sein, war Lottes Gedanke, während sie weiter horchte.

„Ich weiß auch nicht, Susanne. Ich möchte sie einfach nicht vor den Kopf stoßen. Und außerdem finde ich, sie kommt noch ganz gut zurecht“, stammelte ihr Sohn nun.

Mit einem Mal wurde Lotte klar, dass es nicht um Melanie oder Luke ging, sondern um sie selbst.

„Also, sieh dich doch mal um. Dieses Chaos! Alleine die Garage. Warum stehen hier überhaupt drei verrostete Wagen, wo sie doch gar kein Auto fährt?“

Da hatte sie leider recht, musste Lotte insgeheim gestehen. Aber dieser Ton. Wie sie mit ihrem armen Sohn redete, diese Furie.

„Das braucht halt seine Zeit … Außerdem müsste ich ihr dabei helfen und das habe ich in letzter Zeit einfach nicht geschafft.“

„Ach ja? Was machst du denn anderes Wichtiges? Hast du wieder mal eine Affäre mit einer deiner Sekretärinnen?“ Ihre Stimme klang hierbei süffisant.

In dem Moment beschloss Lotte, genug gehört zu haben. Laut räusperte sie sich und täuschte einen Hustenanfall vor, bevor sie äußerst umständlich die Garage betrat, um den beiden genug Zeit zu geben, die peinliche Situation zu überspielen.

Tatsächlich hatte Susanne wieder ihr unechtes, völlig verkrampft wirkendes Lächeln aufgesetzt, als sie die beiden anblickte.

„Mama, was ist eigentlich mit den ganzen Autos?“, wollte Michael sogleich von ihr wissen, angestachelt von seiner Frau.

„Ja, das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht“, tat Lotte unschuldig. „Das ist eine gute Frage“, fügte sie noch einsichtig an und lächelte ihren Sohn an. Denn das war die Wahrheit. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie mit den ganzen Fahrzeugen tun sollte. Dies hier war Wilhelms Reich gewesen. Sie selbst hatte das letzte Mal 1988 hinter einem Steuer gesessen. Genau gesagt: am 12. Mai 1988.

Oft hatte sie diese Geschichte zum Besten gegeben. Ihr Mann hatte sie ständig beim Autofahren zurechtgewiesen und immer mehr verunsichert, sodass sie eines Tages auf einer Landstraße eine Vollbremsung hinlegte, ausstieg und zu Wilhelm sagte: „Von jetzt an fährst du. Ich setze mich nie wieder hinter ein Lenkrad.“ Daran hatte sie sich von da an strikt gehalten und würde dies wohl kaum in ihrem hohen Alter noch einmal ändern.

„Hast du noch mehr Wagen als den alten Volvo von Opa?“, wollte Luke in dem Moment wissen, der gerade die Garage betrat und wohl den Rest der Konversation mitbekommen hatte.

„Ja“, bestätigte Oma Lotte fast stolz, „einen alten Trabbi, der aber, glaube ich, nie gefahren wurde, und noch den da drüben.“ Dabei deutete sie auf ein Fahrzeug unter einer Abdeckung auf der anderen Seite der Garage, in der vier Fahrzeuge Platz hatten.

„Darf ich da mal drunter schauen?“, wollte Luke neugierig wissen.

„Natürlich, mein Schatz“, säuselte Oma Lotte, worauf Susanne ihre Arme vor der Brust verschränkte und die Augen verdrehte.

Wie so oft, fiel ihr auf, dass Lukes Eltern so wenig Herzliches und Sinn für Humor hatten, was ihr in der Seele wehtat. Ihr Enkel war von jeher trotzdem ein aufgewecktes, fröhliches Kerlchen, gewesen. Manchmal fragte sie sich, wie er es mit diesen Trauerklößen als Eltern überhaupt aushielt. Dies musste er zwar nicht mehr lange, denn mit seinen neunzehn Jahren würde er bald ausziehen, aber dennoch hatte sie Mitleid mit ihm. Schließlich konnte er nichts dafür, dass die Beziehung der beiden auseinandergegangen war.

„Wie cool ist das denn?“, hörte sie da Lukes begeisterte Stimme, der gerade die vordere Seite der Abdeckung hochgezogen hatte. Darunter erschien die Frontseite des Wagens in weißem und mintgrünem Lack. Mit einigen schnellen Handgriffen hatte er bald die ganze Schutzhülle abgezogen und blickte ungläubig auf das Fahrzeug.

„Oma Lotte, das gibt es doch gar nicht. Das ist ja ein VW-Bus T1 Samba!“

„Ja, genau. Du kennst dich aber gut aus. Dieser VW-Bulli ist aus dem Jahr 1962.“

„Weißt du, dass das eine totale Rarität ist. Gerade dieses Modell mit den vielen Fenstern und in diesen Farben.“

„Nein, das wusste ich nicht. Aber wenn du das sagst, glaube ich dir das“, sagte Oma Lotte und ging ein paar Schritte auf ihren Enkel zu.

„Das ist schon ein toller Bus“, gestand nun auch Lukes Vater und gesellte sich ebenfalls zu ihnen, „aber er wurde auch schon länger nicht mehr gefahren.“

„Ich gebe es auf!“, schimpfte Susanne in ihre Richtung und wandte sich zur Tür. Zufrieden registrierte Lotte, dass niemand Susanne Beachtung schenkte, die gerade noch einmal verachtend schnaubte und die Tür hinter sich zuschlug.

„Wann wurde er das letzte Mal gefahren? Und darf ich mal reingucken?“, wollte Luke gespannt wissen. Bereits als Kleinkind war er so begeisterungsfähig gewesen, was Oma Lotte immer wieder faszinierte. Wenn sich Luke für etwas interessierte, konnte er Stunden damit verbringen. Luke begeisterte sich für die verschiedensten Dinge und war vielseitig begabt, wie Oma Lotte fand. Beispielsweise kannte er sich mit allen technischen Sachen hervorragend aus, ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Aber auch künstlerisch war Luke talentiert und steckte voller Ideen. Viel Zeit investierte er auch in die Musik und spielte leidenschaftlich in einer Band Gitarre. Im Grunde interessierte er sich für alles, was nichts mit der Schule zu tun hatte.

Deshalb waren sie auch alle außerordentlich froh gewesen, als Luke letzten Monat ein durchaus passables Abitur abgeschlossen hatte, woraufhin ihm nun alle Türen offen standen, wie seine Eltern immer wieder betonten.

„Schau dir diese Inneneinrichtung an! Wie liebevoll und detailliert das alles noch verarbeitet ist“, begeisterte sich Luke gerade, während er im Inneren des VW-Busses kniete und geradezu andächtig über das lederne Interieur strich.

Oma Lotte war gerührt, wie entzückt ihr Enkel von der alten Rostschüssel war. Gerade hatte sich dieser hinter das Steuer gesetzt, seine Hand auf die lange, freistehende Gangschaltung gelegt und fragte: „Meinst du, der fährt noch?“.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Lotte ehrlich, „obwohl dein Opa ihn immer gut gepflegt hat … und auch stets den TÜV erneuert hat, auch wenn wir bestimmt seit zwanzig Jahren damit nicht mehr in den Urlaub gefahren sind. Ich glaube, in den letzten Jahren war die Strecke zum TÜV und zurück die einzige Bewegung für den Bus. Dein Opa kannte dort jemanden, der wohl bei jeder Prüfung ein Auge zugedrückt hat. Ich hole mal die Schlüssel, dann sehen wir ja, ob er anspringt.“

Als sie wiederkam, hatten die beiden Männer die Heckklappe geöffnet und blickten interessiert hinein. Augenscheinlich war der Motor noch in einem guten Zustand. Oma Lotte hörte, wie sie über die Funktionsweise des Motors fachsimpelten, wobei sie vermutete, dass keiner der beiden hiervon wirklich Ahnung hatte. Wenn sich jemand damit auskannte, dann wohl eher Luke als ihr Sohn, der in Bezug auf Technik schon immer zwei linke Hände gehabt hatte.

Doch egal, was bei diesem Manöver herauskommen würde, war es schön, Vater und Sohn mal wieder in solch einer Eintracht zu sehen, ohne Streit und böse Worte. Dies war in den letzten Monaten kaum der Fall gewesen. Gerade wenn es um das Lernen zum Abitur ging, waren sie öfters aneinandergeraten. Oft genug hatte Luke davon berichtet.

3

„Darf ich mal probieren, ihn anzulassen?“, fragte Luke mit strahlenden Augen, nachdem Oma Lotte ihm den Wagenschlüssel überreicht hatte.

„Gerne. Du hast ja bald den Führerschein“, antwortete sie und zwinkerte ihm zu.

Das war auch so ein stetiges Streitthema. Seine Eltern hatten darauf bestanden, dass Luke sich das Geld für seinen Führerschein selbst verdienen sollte und somit hatte sich dies über ein Jahr in die Länge gezogen. Oma Lotte war fast aus allen Wolken gefallen, als sie erfahren hatte, was man heutzutage für diesen Wisch hinlegen musste. Natürlich hatte sie Luke daraufhin immer wieder Geld zugesteckt, damit er die Fahrstunden bezahlen konnte. Nächste Woche sollte nun endlich die Fahrprüfung sein, der Luke schon so lange entgegenfieberte.

Glücklich saß Luke kurz darauf hinter dem Lenkrad des Oldtimers und drehte vorsichtig den Zündschlüssel um. Es fehlte nur noch ein Trommelwirbel. Alle Anwesenden hielten den Atem an und warteten gespannt, doch leider tat sich … Nichts.

Die Enttäuschung darüber war Luke anzusehen. Etwas hilflos blickte er seinen Vater an, der nur mit den Schultern zuckte.

Hierbei wird er ihm keine große Hilfe sein, dachte Oma Lotte, was sie aber für sich behielt.

„Ich glaube, Wilhelm hat die Batterie abgeklemmt“, mutmaßte sie hierauf, wobei sie eigentlich gar keine Ahnung von solchen Sachen hatte. Aber daran meinte sie, sich zu erinnern.

„Wo ist denn die Batterie bei diesem Fahrzeug?“, wollte Michael wissen, der sich wieder einmal nicht gerade als Autokenner outete. Dabei war er oft genug in diesem VW-Bus mit seinen Eltern im Urlaub gewesen. Da hätte er seinem Vater ja mal über die Schulter schauen können, aber leider hatte er keinerlei technisches Interesse. Der Beruf des Immobilienmaklers war wirklich genau das Richtige für ihn.

Vielleicht lag es auch an den unterschiedlichen Interessen von Vater und Sohn, dass die beiden sich schon seit längerer Zeit nicht mehr gut verstanden. Oma Lotte hatte registriert, dass Michael viele Sachen wichtiger waren, als Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Sein Büro etwa, mit allem, was damit zusammenhing, sein Golfclub und seine Reisen rund um die Welt. In diesem Leben war für Luke nicht mehr viel Platz. Vor allem, seitdem dieser ein etwas anstrengender Teenager war.

Während Michael noch in dem geöffneten Motorraum nach der Batterie suchte, hatte Luke bereits die richtige Stelle gefunden und einen der hinteren Sitze hochgeklappt, wo sich normalerweise die Autobatterie befand. Im Augenblick allerdings war das Fach leer.

„Keine Batterie da“, kommentierte Luke seinen Fund.

„Das kann gut sein. Wilhelm hat diese bestimmt vor gut zehn Jahren ausgebaut und wahrscheinlich nie eine neue eingebaut.“

„Papa, können wir auf dem Rückweg noch beim Autoteileladen vorbeifahren? Der hat noch bis sechs Uhr offen“, ereiferte sich Luke sofort und blickte seinen Vater hoffnungsvoll an. Oma Lotte fand seine Euphorie rührend und hätte sofort alles stehen und liegen lassen, um ihn dorthin zu kutschieren.

„Nein, Luke, das geht nicht. Ich bin jetzt schon spät dran für das Treffen auf dem Golfplatz. Dort ist heute eine besondere …“, als er in dem Moment den strafenden Blick seiner Mutter bemerkte, lenkte er schnell ein, „Na gut, eigentlich können wir das schon machen … wenn es schnell geht.“

Na, geht doch! dachte Oma Lotte und beobachtete zufrieden, dass sich Lukes Miene augenblicklich aufhellte.

„Ich flitze in den Laden und komme fünf Minuten später mit einer neuen Batterie wieder raus. Nichts einfacher als das“, erklärte Luke gut gelaunt, während er auf seine Großmutter zuging und diese umarmte.

„Oma Lotte, ich würde gerne morgen wieder vorbeikommen, um die Batterie einzubauen und zu schauen, ob der Bus anspringt. Passt dir das oder hast du was vor?“

Da musste sie gar nicht lange überlegen. Was sollte sie schon vorhaben?

„Gerne, Luke. Ich bin hier“, antwortete sie und fragte sich insgeheim, warum sie ihm nicht schon lange den VW-Bulli gezeigt hatte.

Sie folgten Michael zurück ins Haus, dem man nun anmerkte, dass er es eilig hatte. Im Grunde war ihr Sohn immer im Stress, stets auf dem Weg zum nächsten Termin, nahm sich selten mal Zeit für etwas, außer für das Golfspielen vielleicht.

Im Wohnzimmer saßen Melanie und Susanne, jede in einer anderen Ecke des Raums, auf ihr Smartphone starrend. Die beiden hatten sich noch nie sonderlich leiden können.

„Wir müssen los. Luke möchte noch eine neue Batterie für den VB-Bus kaufen“, erklärte Michael in Richtung seiner Noch-Ehefrau, die daraufhin wieder nur die Augen verdrehte.

„Und wer zahlt das?“, fing Susanne gleich an zu stänkern.

„Das zahle natürlich ich. Es ist ja schließlich mein Bus“, erklärte Oma Lotte bereits und zückte ihr Portemonnaie. Während sie Luke das Geld überreichte, schenkte sie seiner Mutter ein breites Lächeln. Immerhin lächelte Susanne zurück. Früher hatte sie ihre Schwiegertochter durchaus leiden können. Manchmal fragte sie sich, was wohl in der Zwischenzeit passiert war, dass sie so griesgrämig geworden war. Vielleicht war es auch nur Michaels Anwesenheit, die sie so gereizt erscheinen ließ.

„Bis morgen, mein Lieber“, sagte sie dann zu ihrem Enkel und freute sich bereits, ihn so bald wiederzusehen.

Aus dem Fenster beobachtete sie, wie die Familie in den neuen Porsche Cayenne von Michael stieg und die Eltern gleich wieder in eine heftige Diskussion verfielen. Am liebsten hätte sie beiden mal für einen ganzen Tag Klebeband über den Mund geklebt. Bei dieser Vorstellung musste sie kichern und winkte ihnen zum Abschied noch einmal fröhlich zu, was nur Luke erwiderte.

Melanie blieb noch etwas länger und half ihrer Mutter weiter beim Aufräumen. Oma Lotte spürte, dass auch sie etwas bedrückte, hielt sich aber zurück, danach zu fragen. Sie kannte ihre Tochter. Diese würde niemals auf Aufforderung etwas erzählen, sondern nur, wenn sie Lust dazu hatte. So war sie schon als Kind gewesen. Also würde sie warten.

4

Überrascht blickte Oma Lotte auf den Wecker auf ihrem Nachttisch und überlegte, was sie geweckt haben könnte. Die Uhr zeigte erst kurz nach 7 Uhr morgens an, viel zu früh, um aufzustehen, wie sie fand. In dem Moment vernahm sie erneut das Geräusch, das sie aus dem Schlaf geholt hatte, und registrierte, dass es die Türklingel war.

Wer konnte das so früh sein?

So schnell wie sie konnte schlüpfte sie aus dem Bett und zog sich ihren Morgenmantel über, um aus dem Fenster zu spähen. Vor dem Gartentor sah sie niemanden. Also musste der frühe Besucher direkt an ihrer Haustür stehen. Obwohl sie dies etwas ungewöhnlich fand, machte sie sich gleich auf den Weg. Natürlich war sie auch ein wenig neugierig …

„Ich bin gleich da!“, rief sie, während sie vorsichtig die Treppe hinabstieg. Gerade, wenn sie ihre Brille nicht trug, musste sie langsam gehen. Schritt für Schritt tastete sie sich hinab. Schließlich wollte sie nicht, dass es ihr erging wie ihrer alten Schulfreundin Elfriede, die sich bei einem Sturz auf der Treppe die Hüfte gebrochen und davon nie wieder ganz erholt hatte.

„Ein Moment noch!“, brüllte sie erneut.

Ohne lange zu zögern, riss sie kurz darauf die Haustür auf. In Gedanken hatte sie sich schon ein paar Worte zurechtgelegt, um den Postboten ordentlich zusammenzustauchen. Was diesem überhaupt einfiel, so früh bei ihr zu klingeln. Doch vor ihr stand kein Briefträger, sondern Luke.

„Luke! Ist irgendetwas passiert?“, wollte sie sogleich beunruhigt wissen. Denn warum sonst stand er mitten in der Nacht vor ihrer Tür.

„Nein, Oma Lotte, alles bestens“, erwiderte dieser gut gelaunt und gab ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange.

„Ich bin hier, um die Batterie einzubauen“, erklärte er, als wäre es das Normalste auf der Welt, und hielt ihr einen Karton vor die Nase. Dazu grinste er glücklich.

Oma Lotte war wirklich überrascht über den frühen Besuch ihres Enkels. Sprachlos blickte sie Luke hinterher, der sich bereits auf den Weg zur Küche machte. Es kam nicht allzu oft vor, dass es Oma Lotte die Sprache verschlug.

„Oder ist dir das nicht recht?“, stockte Luke plötzlich, drehte sich um und musterte sie besorgt.

„Doch. Doch. Natürlich ist mir das recht“, lenkte Lieselotte gleich ein und trabte ihrem Enkel hinterher.

Als dieser in der Küche ankam, zog er eine Tüte aus seinem Rucksack und verkündete fröhlich: „Ich habe uns Brötchen mitgebracht. Hast du Lust auf ein Frühstück? Soll ich Kaffee machen?“

Wie Luke so dastand, mit den vor Begeisterung geröteten Wangen und strahlenden Augen, erinnerte er Oma Lotte an den kleinen Jungen von damals. Auch seinerzeit hatte er dieses Leuchten in den Augen gehabt, wenn ihn etwas faszinierte. Im Moment schien es wieder so zu sein. Sein Tatendrang war kaum zu stoppen.

„Frühstück hört sich gut an. Aber geh du ruhig schon mal in die Garage und lass mich das Essen zubereiten“, entschied Oma Lotte und deutete mit einem Kopfnicken Richtung Garagentür.

Dies ließ sich Luke nicht zweimal sagen und machte sich sofort auf den Weg.

Oma Lotte ging erst noch einmal nach oben, um sich anzuziehen. Schließlich wollte sie das Frühstück mit ihrem Enkel nicht im Morgenmantel zu sich nehmen. In diesem Aufzug hätte sie sich äußerst unwohl gefühlt.

Während sie die Treppen hinaufging, fiel ihr wieder einmal auf, wie unnötig weitläufig das Anwesen war. Damals, vor einer halben Ewigkeit, war diese Größe durchaus angemessen gewesen. Immerhin hatten sie zwei Kinder, gerne Gäste im Haus und Wilhelm auch sein Büro in den eigenen vier Wänden gehabt. Doch mittlerweile standen all diese Räume leer und oft fühlte sich Oma Lotte, als würde sie in einem Museum übernachten. Manche Zimmer im obersten Stockwerk betrat sie nur, um diese zu putzen und sie dann wieder unbewohnt zu lassen, bis sie erneut Staub wischen musste. Was für eine Zeitverschwendung.

Früher hatte sie eine Putzfrau gehabt, doch mittlerweile fand sie dies Geldverschwendung, schließlich hatte sie mehr Zeit als genug, und konnte ganz gemütlich einen Raum nach dem anderen in Ordnung bringen. Zwar kam es ihr oft so vor, dass sie gerade wieder von vorne anfangen konnte, wenn sie mit dem letzten Zimmer fertig war, aber so war das nun mal.

Wieder dachte sie an das Gespräch von ihrem Sohn und Susanne, das sie belauscht hatte. Offensichtlich waren auch sie der Meinung, dass sie mit dieser großen Villa überfordert war. Sie würde dies zwar nie zugeben, aber ein klein wenig hatten sie damit schon recht.

Lieselotte schob die unliebsamen Gedanken beiseite und wählte in ihrem gut bestückten Kleiderschrank etwas zum Anziehen aus. Sie genoss es, sich hübsch zurechtzumachen. Gerne trug sie ein Kostüm, am liebsten von Coco Chanel, eine völlig zeitlose Mode, wie sie fand. Dazu stattete sie sich gerne mit den passenden Accessoires aus, wie einem hübschen Halstuch, Schmuck oder einer farblich abgestimmten Handtasche.

Praktisch war dabei, dass sich in den letzten vierzig Jahren ihre Konfektionsgröße kaum verändert hatte und sie somit auf eine stattliche Auswahl an Kostümen zurückgreifen konnte. Heute entschied sie sich jedoch für etwas Bequemeres.

Wer weiß, vielleicht benötigt Luke ja meine Hilfe, dachte sie, während sie die Kleidung aus dem Schrank nahm. Sie wählte eine dunkelblaue Baumwollhose, die sie auch gerne zum Spazierengehen trug, ein etwas ausgewaschenes T-Shirt mit einem hübschen Veilchenmuster am Kragen und eine dazu passende Strickjacke.

Hierauf bürstete sie ihr immer noch volles Haar kräftig durch und steckte es hoch, trug etwas Lippenstift und Rouge auf und betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Sie wollte ja nicht eingebildet sein, aber mit ihren 75 Jahren konnte sie sich immer noch sehen lassen.

Als kurze Zeit später die ersten Tropfen Kaffee durch die Maschine liefen, vernahm sie Musik aus der Garage und hörte, dass Luke zufrieden die Melodie mitträllerte. Gerade als sie den Tisch schön gedeckt und eine Kerze angezündet hatte, stürmte Luke wieder in die Küche.

„Oma Lotte, jetzt musst du dabei sein. Ich probiere, ob es funktioniert!“, rief er euphorisch.

Insgeheim zweifelte Lieselotte daran, dass der Wagen nach so langer Zeit einfach wieder anspringen würde, behielt dies aber für sich. Sie wünschte sich so sehr für ihren Enkel, dass seine Bemühungen von Erfolg gekrönt waren.

„Komm, setz dich in den Bus“, forderte Luke seine Oma auf, als sie in die Garage kam.

Brav befolgte sie dies und machte es sich auf der hinteren Bank bequem.

Mein Gott, wo wir mit diesem Bus schon überall waren, dachte Oma Lotte, während sie sich in dem Gefährt umblickte. Die Innenausstattung war in hellgrauem und mintgrünem Kunstleder gehalten, das perfekt zum Außenlack passte. Zwar war die Farbe im Inneren etwas ausgeblichen und die Sitzbezüge hier und da abgewetzt, aber im Großen und Ganzen war der VW-Bus noch in überraschend gutem Zustand. Vor ihrem geistigen Auge sah Lieselotte, wie sie damit an einem menschenleeren Strand an der Nordsee standen und Michael und Melanie glücklich im Sand spielten. Meistens waren sie an die Nord- oder Ostsee gefahren, ein paar Mal auch gen Süden nach Italien, wo ihnen aber schon seinerzeit zu viel Verkehr herrschte.

„Bist du bereit?“, holte sie Luke aus ihren Gedanken zurück.

„Es kann losgehen …“, frohlockte Oma Lotte und lächelt ihm aufmunternd zu, obwohl sie sicher war, dass gleich eine große Enttäuschung folgen würde.

5

Mit einer ausholenden Armbewegung steckte Luke den Schlüssel ins Zündschloss, holte einmal tief Luft und drehte ihn langsam um. Zuerst hörten sie nur ein lautes Klicken, das sich anhörte, als würde der Motor nicht anspringen wollen. Dann jedoch vernahmen sie das laute Motorengeräusch und jubelten beide los.

Oma Lotte konnte die Vibration des Motors direkt unter ihrem Sitz spüren. „Das gibt es doch nicht!“, rief sie begeistert und beugte sich in die Fahrerkabine, um ihren Enkel zu umarmen, der vor lauter Jubeln gar nicht mehr zur Ruhe kam.

„Wow! Ist das cool“, rief dieser gerade aus und umarmte seine Großmutter freudig.

Offensichtlich hatte auch er nicht wirklich damit gerechnet, dass der VW-Bulli anspringen würde, denn nun wollte er ganz aufgeregt wissen: „Und jetzt? Können wir irgendwo hinfahren?“

„Dazu müsstest du wohl erst mal deinen Führerschein machen“, antwortete Oma Lotte hierauf.

„Ach ja. Klar“, bemerkte Luke, der dies in seiner Begeisterung vergessen zu haben schien. „Immerhin hat der VW-Bus noch über ein Jahr lang TÜV. Das hat Opa echt toll gemacht“, fügte er noch an und kam gar nicht auf die Idee, den Motor wieder auszustellen. Man konnte ihm ansehen, dass er diesen Moment noch etwas auskosten wollte.

„Du könntest höchstens ein wenig in der Einfahrt auf- und abfahren“, schlug Oma Lotte vor und hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als Luke bereits ausgestiegen war, um das Garagentor zu öffnen.

„Oder willst du lieber fahren?“, fragte er seine Großmutter kurz darauf, als er sich wieder hinter das Lenkrad gesetzt hatte. Er schien Zweifel an seinem Vorhaben zu bekommen.

„Nein, auf gar keinen Fall“, erwiderte diese bestimmt.

Plötzlich wirkte Luke unsicher. So einen alten Bus zu fahren war schon etwas anderes als den nigelnagelneuen Golf der Fahrschule.

„Komm. Trau dich. Es kann doch nichts passieren“, munterte Oma Lotte ihn auf, obwohl sich in ihrem Kopf ganz andere Szenen abspielten. In Gedanken sah sie den alten Bus schon die abschüssige Einfahrt hinabsausen, da die Bremsen versagten. Ihre Zweifel behielt sie allerdings für sich.

Noch war Luke dabei, alle Schalter auszuprobieren. Gerade hatte er den Blinker und die Scheibenwischer gleichzeitig angeschaltet und nickte zufrieden. Entschlossen setzte er sich dann gerade hin und legte geübt den Rückwärtsgang ein, was beim dritten Versuch auch funktionierte.

Zwar wirkte das alte Mobil etwas ungelenk, aber immerhin schien alles zu funktionieren.

Es konnte losgehen …

Während Oma Lotte immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht hatte, das bestimmt etwas aufgesetzt wirkte, merkte sie, wie angespannt sie da saß. Etwas nach vorne gelehnt hatte sie ihre Finger in das alte Leder der Sitze gekrallt und wartete, dass irgendetwas geschah. Bewusst entspannte sie sich und schlug ganz locker ein Bein über das andere.

Luke war völlig konzentriert auf sein Vorhaben, den Bus aus der Garage zu fahren. Vorsichtig gab er Gas und versuchte, das Fahrzeug von der Stelle zu bewegen. Doch nichts tat sich.

„Hast du denn die Handbremse gelöst?“, folgerte Oma Lotte richtig, worauf Luke begann, diese zu suchen. Kurz darauf hatte er die Feststellbremse auf der linken Seite entdeckt und löste diese, während er immer noch mit einem Fuß auf dem Gaspedal stand.

Mit einem gehörigen Satz sausten sie plötzlich rückwärts aus der Garage, was Oma Lotte vor Schreck aufschreien ließ. Während Luke nun kräftig auf die Bremse trat, was die beiden Insassen ruckartig in die andere Richtung schleuderte, entfuhr Oma Lotte erneut ein Schrei, der sich alles andere als begeistert anhörte. Schnell hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um Luke mit ihrem Geschrei nicht völlig zu verunsichern.

„Versuch es noch einmal“, sagte sie möglichst ruhig, nachdem sie ein paar Sekunden gestanden hatten, und sich beide von dem Schreck erholt hatten.

„Ich weiß nicht …“, zögerte Luke, der alles andere als zuversichtlich aussah.

„Es ist doch nichts passiert. Du hast lediglich vergessen, die Handbremse zu lösen“, redete seine Großmutter ihm gut zu, worauf Luke tatsächlich wieder den Rückwärtsgang einlegte. Diesmal klappte es besser und die nächsten fünfzehn Minuten fuhren sie die etwa zehn Meter vor der Garage hin und her.

„Meinst du, der würde auch eine weitere Strecke packen, als nur bis zum TÜV?“, wollte Luke schließlich von ihr wissen, nachdem er den Motor wieder ausgestellt hatte.

Oma Lotte überlegte kurz, bevor sie antwortete: „Ich glaube, da müsstest du noch etwas an Arbeit hineinstecken. Die Reifen sehen ziemlich abgefahren aus, die Bremse scheint auch nicht mehr die beste zu sein und den Unterboden sollte man auf Rost überprüfen“, erklärte sie, als hätte sie jahrelang in einer Autowerkstatt gearbeitet.

Luke nickte zustimmend und schien zu überlegen. Mit einem Mal hellte sich seine Miene auf.

„Ich habe ja noch zwei Monate Zeit, bis mein Studium anfängt. Dann wird das hier mein neues Projekt“, entschied er und klopfte dem alten Gefährt freundschaftlich aufs Armaturenbrett.

„Das hört sich gut an!“, stimmte Oma Lotte zu und hatte bereits in Gedanken beschlossen, ihrem Enkel den Bus zu überlassen, wenn er seine Pläne umsetzen sollte. Dies würde sie ihm natürlich nicht gleich sagen, denn nur, weil er bisher eine Stunde Zeit in den VW-Bus investiert hatte, sollte er diesen nicht gleich geschenkt bekommen.

Zwar musste sie Luke als Großmutter nicht erziehen, was sie, ehrlich gesagt, genoss, aber dass das zu weit gehen würde, war auch ihr klar. Sollte Luke es allerdings wirklich gelingen, dass dieser über fünfzig Jahre alte VW-Bulli wieder eine längere Strecke fahren konnte, könnte er ihn liebend gerne behalten.

„Sollen wir jetzt mal frühstücken?“, schlug sie vor und war insgeheim froh, dass die Fahrversuche erst einmal beendet waren.

6

Die nächsten Tage zeigten, wie ernst Luke es mit seinem neuen Vorhaben meinte. Jeden Tag kam er bei Oma Lotte vorbei, meist mit neuem Werkzeug, und widmete sich voller Hingabe dem alten VW-Bus, dem er augenscheinlich eine Komplettsanierung verpassen wollte.

Bereits am zweiten Abend wurde es so spät, dass Oma Lotte ihm vorschlug, im Gästezimmer zu übernachten. Dies war zwar noch wie für einen Zehnjährigen eingerichtet, da Luke in diesem Alter häufiger bei Oma Lotte und Opa Wilhelm übernachtet hatte, aber das störte ihn nicht. Sofort willigte er ein und war insgeheim wohl froh, den täglichen Streitereien seiner Eltern aus dem Weg zu gehen. Auch fingen diese immer wieder an, seine Zukunftspläne infrage zu stellen, wie er seiner Oma anvertraute. Nach wie vor akzeptierten seine Eltern nicht, dass Luke in München Brauwesen und Getränketechnologie studieren wollte.

„So eine Zeitverschwendung“, lautete der übliche Kommentar seiner Mutter hierzu. „Da kannst du dich ja gleich hinter eine Bar stellen und brauchst gar nicht zu studieren“, war die Meinung seines Vaters.

Aber Luke hatte sich hierzu durchaus seine Gedanken gemacht. Er wollte mit einem Freund eine neuartige Brauerei, eine Mikrobrauerei, in Heidelberg eröffnen. Diesen Traum hegte er bereits, seitdem er das erste Mal ein solches Bier gekostet hatte und diese neue Brauart einfach faszinierend fand.

Oma Lotte glaubte ihm, dass dies voll im Trend sei und man damit sogar Geld verdienen konnte. Schließlich hatte sie ihren Kindern auch nie hineingeredet bei ihrer Berufswahl. Luke würde schon wissen, was er wollte. Dessen war sie sich sicher und bezeugte dies auch immer wieder Susanne und Michael gegenüber. Bei denen stieß sie diesbezüglich allerdings auf taube Ohren.

Jedenfalls genoss sie, dass Luke nun rund um die Uhr bei ihr war. So konnte sie noch etwas gemeinsame Zeit mit ihm verbringen, bevor er aus Heidelberg wegziehen würde.

Tagsüber sah sie zwar wenig von ihm, ständig werkelte er in der Garage, meist alleine, manchmal auch mit einem Freund. Besonders mochte sie es, ihren Enkel mit gutem Essen zu verwöhnen. Gut gelaunt radelte sie zum Supermarkt bei ihr um die Ecke und kochte ein Leibgericht nach dem anderen für ihn. So bereitete sie etwa Hühnerfrikassee, Lasagne, Schnitzel oder Schupfnudeln zu. Nachmittags gab es oft einen frischgebackenen Kuchen und abends saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer und schauten fern, unterhielten sich oder lernten noch ein wenig für die anstehende theoretische Fahrprüfung. Oma Lotte war überrascht, wieviel man heutzutage für einen Führerschein wissen musste. Das war zu ihrer Zeit noch ganz anders gewesen. Egal, womit sie sich die Zeit vertrieben, Oma Lotte genoss jede Minute mit ihrem Enkel.

Als sich der Tag Fahrprüfung näherte, war schon klar, dass sie ihn dorthin begleiten wollte. Michael würde sie zur Fahrschule bringen, aber natürlich nicht dortbleiben, da er, wie immer, keine Zeit hatte. Susanne wäre wohl gerne mitgekommen, hatte aber an diesem Tag einen wichtigen Termin.

Am Morgen der Fahrprüfung war Luke mächtig aufgeregt, das spürte Oma Lotte sofort. Bereits um acht Uhr würde er die theoretische Fahrprüfung ablegen. Gleich im Anschluss sollte dann, mit der Voraussetzung, dass er die theoretische bestanden hatte, die praktische Prüfung folgen.

Menschen konnten sich äußerst unterschiedlich verhalten, wenn sie nervös waren. Manche wurden ganz ruhig und eher in sich gekehrt. Andere konnten nichts essen und verspürten Übelkeit, wie es Oma Lotte immer erging. Luke gehörte jedoch zu denjenigen, die bei Nervosität reden mussten, wie ein Wasserfall. Während sie bei einem frühmorgendlichen Kaffee zusammensaßen, plapperte er munter drauflos.

„Oma Lotte“, begann er überschwänglich, „warum fahren wir nicht mit dem VW-Bus weg, wenn ich die Fahrprüfung bestanden habe?“ Hierauf strahlte er wie ein Honigkuchenpferd.

Da Oma Lotte sich nicht sicher war, ob er dies wirklich ernst meinte, zuckte sie nur mit den Schultern. „Eine nette Idee …“, antwortete sie vage.

„Alter, das wäre so cool …“, begeisterte sich Luke weiter und biss in sein Brötchen, das er dick mit Nutella bestrichen hatte.

„Alter? Du meinst wohl Alte?“, scherzte Oma Lotte, die diese Redensart zwar kannte, sie aber nach wie vor etwas sonderbar fand.

„Das sagt man doch so …“, begann Luke gerade zu erklären, da er nicht wusste, ob Oma Lotte ihre Frage ernst gemeint hatte.

„Ich weiß“, bestätigte Oma Lotte, die ihn nicht unnötig verunsichern wollte, „genauso wie wir dann chillen können, stimmt’s?“

„Korrekt!“, bestätigte Luke grinsend, der jetzt ihre Ironie verstand. Während er sich eine weitere Brötchenhälfte mit der Nougatcreme beschmierte, plapperte er weiter. „Wenn die Prüfung rum ist, werde ich erst mal so krass chillen, Alter“, erklärte er und beide mussten herzlich lachen.

„Und wir fahren mit dem VW-Bus weg!“, fügte er entschlossen an, während er aufstand, um sein Geschirr wegzuräumen.

„Lass nur! Ich erledige das schon. Mach du dich mal in Ruhe fertig“, entschied Oma Lotte und blickte ihrem aufgeregten Enkel kopfschüttelnd hinterher. In gewisser Weise fühlte sie mit ihm und war auch ein wenig nervös. Zumindest hatte sie kaum einen Bissen hinunterbekommen. Sie hoffte inständig, dass Luke die Prüfung bestehen würde.

7

Etwa drei Stunden später saß Lieselotte im Wartezimmer der Fahrschule, trank einen viel zu dünnen Kaffee aus einem veralteten Automaten und zählte die Minuten. Sie fühlte sich ein wenig overdressed in ihrem roséfarbenen Chanel-Kostüm in dem schlichten Raum, der nur mit ein paar billigen Stühlen ausgestattet war. Zwar hatte sie sich eine ihrer Lieblingszeitschriften mitgebracht, konnte ihre Gedanken aber nicht wirklich darauf konzentrieren. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie die Seiten umblätterte, ohne sie gelesen zu haben. Gerade war Luke mit einem äußerst streng aussehenden Prüfer in den Wagen gestiegen und davon gefahren. Immerhin hatte er die theoretische Prüfung völlig fehlerfrei bestanden, was aber keinerlei Auswirkung auf den praktischen Teil hatte, wie der Fahrlehrer unnötigerweise mehrmals betonte.

Während Oma Lottes Blick auf der Wanduhr weilte, ließ sie sich noch einmal Lukes Worte von diesem Morgen durch den Kopf gehen.

Zusammen wegfahren. Was für eine nette Idee eigentlich, dachte sie, während sie gedankenverloren in ihrem Kochmagazin blätterte. Gerade hatte sie einen Bericht aufgeschlagen, in dem französische Spezialitäten aus dem Elsass angepriesen wurden. Dazu waren einige malerische Bilder von den gemütlichen Restaurants in Straßburg abgebildet. Eine Weile betrachtete sie die Fotos der schmucken Altstadt. Die schmalen Gässchen mit dem Kopfsteinpflaster zwischen windschiefen Fachwerkhäusern und vielen Geranien vor den Fenstern luden geradezu zu einem Spaziergang ein.

Wann war ich das letzte Mal in Straßburg, fragte sich Oma Lotte gerade, als ein Brummen ihres Mobiltelefons die Ankunft einer neuen Nachricht ankündigte. So ein neumodisches Ding hatten ihr Michael und Melanie geschenkt, mit der Aussage, dass sie damit vielmehr an ihrem Leben teilhaben konnte. Oma Lotte musste zugeben, dass sie damit recht behalten hatten. Obwohl sie sich anfangs vehement gegen diese moderne Technik gesträubt hatte und das Telefon wochenlang nur in ihrem Schrank lag, wollte sie es mittlerweile nicht mehr missen. Sie freute sich über jede Nachricht und jedes Foto, das ihr von Familie oder Freunden zugesandt wurde.

Gerade wollte Susanne wissen, wie es gelaufen war. Schnell verfasste Oma Lotte eine knappe Nachricht zum Stand der Dinge und widmete sich wieder ihrer Zeitschrift.

Straßburg, so eine tolle Stadt, dachte sie erneut und betrachtete die Fotos genauer. Nach längerem Überlegen kam sie darauf, dass sie das letzte Mal in Straßburg gewesen war, als sich ihre Kinder noch im Kindergarten- und Grundschulalter befunden hatten. Somit war dies wohl über vierzig Jahre her. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und vertiefte sich in den Artikel. Als sie diesen zu Ende gelesen hatte, stand für sie fest, dass sie noch einmal die schöne elsässische Stadt besuchen wollte. Zwar fügte sie in dem Moment noch nicht eins und eins zusammen, aber in ihrem Kopf entstand ein Plan.

Als Luke zwanzig Minuten später freudestrahlend auf sie zugelaufen kam, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie hätte vor Glück die ganze Welt umarmen können. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie mitgelitten hatte.

„Oma Lotte, kann ich heute Abend mit ein paar Kumpels feiern?“, wollte Luke gut gelaunt von ihr wissen.

„Aber natürlich!“ Oma Lotte fragte sich insgeheim, warum er von ihr die Erlaubnis hierzu benötigte. Schließlich war er neunzehn Jahre alt und konnte tun und lassen, was er wollte.

Als Luke ihren fragenden Blick bemerkte, erklärte er: „Ich würde gerne meinen bestandenen Führerschein mit ein paar Freunden in deiner Garage feiern und ihnen den coolen VW-Bus zeigen.“

Ah, daher weht also der Wind, wurde Oma Lotte nun klar. Aber auch dagegen hatte sie nichts einzuwenden.

„Natürlich, mach ruhig“, bestätigte sie und freute sich, dass er ihre Garage seinen eigenen vier Wänden vorzog.

„Vielen Dank, Oma Lotte“, kommentierte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Kurz überlegte Lieselotte, ob nun wohl eine ganze Horde wilder Teenager ihr Haus stürmen würde, aber das würde sie ja sehr bald herausfinden.

Als die beiden wieder in ihrem Haus ankamen, legte sich Luke noch einmal ins Bett, um sich auszuruhen. Auch Oma Lotte machte ein kleines Nickerchen. Wie üblich setzte sie sich hierfür auf ihre Wohnzimmercouch vor dem Fernseher, wo sie meist innerhalb von Sekunden einschlief, gerade bei dem langweiligen Nachmittagsprogramm.

Als Oma Lotte gegen drei Uhr nach wie vor nichts aus dem oberen Stockwerk hörte, schlich sie sich leise nach oben, um unauffällig in Lukes Zimmer zu linsen. Dort lag er tatsächlich immer noch im Bett. Unter Star Wars-Postern und einem Mobile vom Sonnensystem, bei dem schon die meisten Planeten fehlten, schlief er tief und fest. Erst jetzt wurde Oma Lotte klar, wie sehr ihn die letzten Tage angestrengt haben mussten. Seine kleine Feier heute hatte er sich redlich verdient.

Obwohl Oma Lotte davon ausging, dass Luke und seine Freunde an diesem Abend wohl eher Chips und Bier verköstigen würden, beschloss sie, einen Kuchen zu backen. Sie wollte einen Schoko-Nuss-Kuchen mit besonders viel Schokoladenguss zubereiten, wie Luke ihn so gerne mochte.

„Das riecht ja köstlich“, schwärmte Luke, als er gut eine Stunde später mit einem etwas verknitterten Gesicht in die Küche trat.

„Das ist für euch heute Abend, falls ihr darauf Lust habt …“, erklärte Oma Lotte und konnte ihrem Enkel ansehen, dass er sich wirklich darüber freute. Allerdings war er ein wenig in Eile.

„Sebastian holt mich jetzt ab und wir gehen einkaufen für die Feier heute Abend“, erklärte Luke kurz. „Mit Sebastian werde ich übrigens in München studieren“, fügte er noch an.

„Sehr gut. Dann bis später“, antwortete Oma Lotte knapp, die merkte, dass Luke schnell los wollte. Wahrscheinlich war er selber etwas erschrocken, wie lange er geschlafen hatte.

Oma Lotte freute sich, Lukes Freunde kennenzulernen, vor allem Sebastian, mit dem er solch spannende Zukunftspläne hatte.

8

Oma Lotte hatte beschlossen, sich an diesem Abend in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen, noch etwas zu lesen und nach einem guten Glas Rotwein als Schlummertrunk mit Ohrstöpseln zu schlafen. Sie ging davon aus, dass die Partygesellschaft recht laut sein würde und wollte gut vorbereitet sein und, vor allem, die jungen Leute nicht stören. Doch wie sie bald merkte, waren Lukes Gäste äußerst angenehme Teenager, oder eher junge Erwachsene.

Eigentlich hätte sie die jungen Leute gar nicht gestört, aber gleich zu Beginn stürmte Luke zu ihr in die Küche und forderte sie auf: „Komm, Oma Lotte, meine Freunde wollen dich mal kennenlernen. Dein Kuchen schmeckt hammermäßig.“ Hierauf nahm er sie an der Hand und führte sie in die Garage.

Dort hatte sie auch ein eher wildes Bild vermutet, wie einen völlig verrauchten Raum mit leeren Bierflaschen und lauter Musik. Aber offensichtlich schienen sich Lukes Freunde benehmen zu können, allerdings war es auch noch recht früh am Abend.

Oma Lotte zählte acht Personen, drei davon aus Lukes Band, die sie bereits kannte und die teilweise auch ihre Musikinstrumente mitgebracht hatten. Dann stellte Luke ihr besagten Sebastian vor, den sie auf Anhieb sympathisch fand, einen weiteren Jungen namens Tobi, der etwas jünger wirkte, und drei Mädchen, die sie schüchtern anlächelten.

„Leute, hier ist meine Oma!“, kündigte Luke sie an.

„Oma Lotte, darf ich vorstellen“, sprach Luke feierlich und zählte die einzelnen Namen der Anwesenden auf, die sich Oma Lotte natürlich niemals merken konnte. Freundlich schüttelte sie jedem die Hand.

„Und das hier ist so ein Craftbier, wie Sebastian und ich es später brauen wollen. Probier mal.“

Schon hatte er ihr eine Bierflasche in die Hand gedrückt, die ein auffällig kreatives Logo hatte, ganz anders als die langweiligen Etiketten herkömmlicher Biersorten.

Frohen Mutes stieß sie mit allen Anwesenden an und nahm einen ordentlichen Schluck. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass das Bier solch einen intensiven, leicht bitteren Geschmack haben würde, und verzog intuitiv das Gesicht.

Luke hatte sie beobachtet und musste lachen.

„Okay, ein IPA ist wohl nicht so ganz dein Fall“, kommentierte er und reichte ihr ein anderes Bier.

„Probier mal dieses Amber Ale. Das könnte dir besser schmecken“, meinte er, während er ihr die Flasche gab. Oma Lotte verstand zwar nur Bahnhof, nahm aber brav das Bier entgegen und versuchte es.

Wieder war sie überrascht, allerdings positiv. Das dunkle Bier war ebenfalls stark im Geschmack, aber dieses schmeckte ihr viel besser. Es war etwas süßlicher und erinnerte sie ein wenig an Malzbier, was ihr gut gefiel. Oma Lotte war keine Biertrinkerin, wenn sie Alkohol trank, dann ab und zu mal ein Glas guten Wein. Trotzdem fand sie es rührend, wie Luke sie am Geschehen teilhaben lassen wollte.

„Lecker!“, kommentierte sie und nahm gleich noch einen Schluck, um zu demonstrieren, wie gut es ihr schmeckte.

Ausgelassen stieß die ganze Runde mit Oma Lotte an und es sah aus, als könnte die Party nun richtig losgehen. Lukes Bandkollegen packten ihre Instrumente aus, und die Gäste machten es sich bequem. Einige von ihnen setzten sich in den VW-Bus, auf den Luke mächtig stolz war, was man nicht übersehen konnte.

Oma Lotte lauschte noch ein wenig der Musik, die Luke immer als „Indie Rock“ bezeichnete, und unterhielt sich mit dem einen oder anderen Gast, dessen Namen sie natürlich schon wieder vergessen hatte.

Sie konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie einfach Durst hatte oder weil ihr das Bier wirklich schmeckte, aber gefühlte fünf Minuten später reichte ihr Sebastian schon die nächste Flasche. Oma Lotte mochte Lukes Kompagnon.

Mit der Musik wirkte die Stimmung gleich ausgelassener und einige Gäste tanzten. Oma Lotte beschloss, sich zurückzuziehen, bevor einer der Teenager sie noch zum Tanzen aufforderte.

Sie lächelte Luke noch einmal zu, der ein paar Meter von ihr entfernt stand, und machte ihm Zeichen, dass sie wieder ins Haus gehen würde. Hierauf kam er zu ihr und umarmte sie noch einmal dankbar.

„Danke. Du bist die beste Oma auf der Welt!“, flüsterte er ihr zu, was sie mehr als glücklich stimmte.

Wahrscheinlich lag es am Bier, aber in diesem Moment sagte Oma Lotte: „Wenn wir mit dem Bus eine Spritztour machen, würde ich gerne nach Straßburg fahren.“

„Das machen wir!“, gab Luke begeistert zurück und prostete ihr noch einmal zu. Ganz ernst zu nehmen schien er sie allerdings nicht.

9

Als Oma Lotte wieder ihr Wohnzimmer betrat und überlegte, ob sie noch etwas fernsehen oder gleich ins Bett gehen sollte, klingelte es an der Haustür. Bereits das Klingeln hörte sich fordernder an als sonst.

Lieselotte vermutete, dass dies ein verspäteter Gast ihres Enkels war. Als sie kurz darauf die Tür öffnete und sich Michael gegenüber sah, war sie verwundert. Äußerst selten stattete er ihr einen Überraschungsbesuch ab.

„Hallo, Mama“, begrüßte er sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, „wie geht es dir?“ Allerdings schien ihn die Antwort nicht wirklich zu interessieren. Michael wirkte abwesend und gestresst, wie es meistens der Fall war.

„Gut …“, gab Oma Lotte zurück und betrachtete ihren Sohn. Irgendetwas hatte er auf der Seele, das sah sie sofort. Während Oma Lotte sich auf den Schaukelstuhl sinken ließ, auf dem früher meist Wilhelm gesessen hatte, tigerte Michael im Wohnzimmer auf und ab. Er wirkte gehetzt.

Ruhig wartete Oma Lotte ab, was er auf dem Herzen hatte, und nahm noch einen Schluck von ihrem Bier.

„Oma Lotte … Mama, es geht um dieses Haus hier. Wir müssen reden“, begann Michael, der offensichtlich beschlossen hatte, gleich mit der Tür in eben besagtes Haus zu fallen.

Lieselotte konnte sich vorstellen, wie Susanne ihm weiterhin in den Ohren gelegen hatte. Sie war gespannt, was er zu sagen hatte.

„Gut“, antwortete Oma Lotte erneut, wobei Michael gar nicht aufzufallen schien, dass sie bisher kaum etwas gesagt hatte.

„Wir meinen, dass dieses Haus mittlerweile viel zu groß für dich ist und du es in deinem Zustand kaum noch bewirtschaften kannst“, ließ er die Katze aus dem Sack und wirkte hierauf sichtlich erleichtert. Endlich hatte er ausgesprochen, was ihm wohl schon seit Monaten auf der Seele lag.

Was heißt da in meinem Zustand? Und wieso überhaupt bewirtschaften? Ich habe doch keinen Bauernhof. Was soll das alles heißen? Oma Lotte war bestürzt, bemerkte ihm gegenüber allerdings nur: „Ach …“

Vermutlich hätte sie hierauf alles erwidern können, denn sie merkte, dass Michael ihr gar nicht richtig zuhörte. Er war so darauf versteift, seine Meinung anzubringen, dass er seine Umwelt kaum noch wahrnahm. So war er schon immer gewesen, bereits als Kind. In seinem Beruf mochte ihm dies von Nutzen sein, dass er sich so sehr auf eine Sache konzentrieren konnte und alles um sich herum vergaß. Im Privatleben war dies allerdings fehl am Platz, gerade wenn es um Gefühle ging.

Mittlerweile lief er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor seiner Mutter auf und ab und erklärte weiter, wieviel Arbeit es doch für sie sei und dass sie nicht mehr die Jüngste wäre, als wüsste sie das alles nicht selbst.

Richtig in Rage hatte er sich geredet. Oma Lotte fand seine Argumente alle gut und schön, denn über all das hatte sie selbst natürlich längst nachgedacht. Fast fand sie es rührend, dass er sich so um sie sorgte, bis dieses eine Wort fiel: ALTERSHEIM.

So nannte man es ja mittlerweile gar nicht mehr, sondern Seniorenheim, Seniorenzentrum oder Ähnliches. Doch allen Ernstes redete Michael gerade von solch einer Einrichtung. Er nannte es „Wohnstift“.

„Schau es dir doch wenigstens mal an. Man hat von dort aus einen schönen Blick über das Neckartal und leisten könntest du es dir auch. Es gibt dort auch einen Bingo-Abend, das spielst du doch so gerne“, versuchte er tatsächlich gerade, die Sache schönzureden. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt, wie so oft.

Hätte er ihr vorgeschlagen, eine Haushaltshilfe einzustellen, um ihr bei der Entrümpelung und Instandhaltung des Hauses zu helfen oder in eine kleinere Wohnung zu ziehen, hätte sie durchaus mit sich reden lassen. Aber das?

Nach wie vor fiel ihm gar nicht auf, dass sie bisher nichts dazu gesagt hatte, sondern schwieg und ab und zu von ihrem Bier trank.

„Seit wann trinkst du eigentlich Bier?“, fragte er plötzlich und hielt in seinem Laufschritt inne.

„Ah. Willkommen zurück auf der Erde“, scherzte Oma Lotte und setzte die Flasche erneut an.

„Seitdem mein Enkel mich in die neue Braukunst eingeweiht hat“, antwortete sie stolz und grinste.

Erst in dem Moment schien Michael aufzufallen, dass Musik aus der Garage ertönte. Fragend blickte er seine Mutter an. Oma Lotte mochte ihren Sohn wirklich gerne, aber diese ignorante Art konnte sie einfach nicht ausstehen.

„Was ist das für Musik?“, wollte er nun verblüfft wissen.

Langsam stand Oma Lotte auf und stellte sich direkt vor ihren Sohn, der ein gutes Stück größer war als sie und nun zu ihr hinabblickte. „Setz dich!“, forderte sie ihn mit einer Stimme auf, die keine Widerrede duldete.

Augenblicklich befolgte ihr Sohn etwas überrascht ihren Befehl und blickte sie mit großen Augen an.

Gelinde ausgedrückt war Lieselotte Krüger sauer. Stinksauer. „So, mein Lieber, jetzt hörst du mir mal zu“, verlangte sie und registrierte zufrieden, dass Michael nicht wagte, etwas anderes zu tun. „Bist du überhaupt mal auf die Idee gekommen, deinen Sohn zu fragen, wie die Führerscheinprüfung war?“ Als Michael hierauf etwas entgegnen wollte, gab sie ihm ein Zeichen zu schweigen.

„Ich weiß, dass du dies nicht getan hast, da Luke die ganze Zeit bei mir war, also lüg mich nicht an“, sprach sie mit ernster Stimme weiter. „Dein Sohn hat die Führerscheinprüfung bestanden und feiert dies gerade mit einigen Freunden in der Garage. Übrigens hat er den VW-Bus in den letzten zwei Wochen komplett restauriert. Er ist technisch sehr begabt, wovon du dir mal eine Scheibe abschneiden könntest. Was hältst du davon, wenn du in die Garage gehst und ihm zu seinem bestandenen Führerschein gratulierst? Über das andere Thema können wir ein andermal sprechen. Aber eins sage ich dir gleich: In ein Altersheim gehe ich nicht!“

Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden. Michael starrte vor sich hin und kratzte sich am Kopf. Auch eine Geste, die Oma Lotte deuten konnte, und wusste, dass ihre Worte Wirkung zeigten.

„Okay. Dann mach ich das mal“, gab er kleinlaut von sich und stand auf.

„Michael …“, Oma Lotte sah ihm fest in die Augen, „du warst früher so liebenswert, fürsorglich und humorvoll. Ich finde, dass viel davon durch den Stress in deinem Job verloren gegangen ist. Überleg doch mal, ob es das wirklich wert ist. Im Grunde hast du inzwischen genug Geld verdient und könntest dich zur Ruhe setzen.“

Hierauf nickte er nur und erwiderte nichts.

Immerhin wusste Oma Lotte, dass es ihn bei seinem Vorschlag mit dem Seniorenheim nicht ums Geld ging. Er wollte sie nicht etwa aus ihrem Haus vertreiben, um dieses für eine horrende Summe zu verkaufen. Im Grunde wollte er sich nur nicht um sie kümmern müssen. Mit seinem Vorschlag hätte er eine Lösung für dieses Problem, hätte wieder eine Sache von seiner Liste abgehakt.

Obwohl Lotte weiterhin sauer war, umarmte sie ihren Sohn nun und ging voran Richtung Garage.

Die Reaktion von Luke, als sein Vater plötzlich den Raum betrat, war herzerwärmend.

„Papa?“, rief er fragend, aber zugleich begeistert aus.

Augenblicklich schritt Michael auf seinen Sohn zu, gratulierte diesem und umarmte ihn herzlich.

Oma Lotte beobachtete das Geschehen von der Tür aus und war nun richtig froh, dass Michael vorbeigekommen war, um ihr diesen idiotischen Vorschlag mit dem Altersheim zu machen. Sie blickte sich in der Garage um und fand, dass diese richtig gemütlich war für Lukes Feier. Er hatte vieles aufgeräumt und zur Seite geschoben, sodass sich neben den drei Fahrzeugen noch überraschend viel Platz bot. Die alten Fernsehsessel hatte er entstaubt und einen kleinen Couchtisch davorgestellt, auf dem sich schon einige leere Kuchenteller und Bierflaschen befanden. Den Bus hatte er von innen mit Lichterketten beleuchtet, was Oma Lotte augenblicklich an ihre Hippie-Zeiten erinnerte. Das Garagentor stand offen, in dieser lauen Sommernacht herrschte noch eine angenehme Temperatur. Auf der Einfahrt vor der Garage hatte Luke die schon etwas in die Jahre gekommene Tischtennisplatte aufgebaut, an der sich gerade zwei seiner Freunde lautstark ein Match lieferten.

Was für eine schöne Stimmung! Oma Lotte vermisste in dem Moment ihren Wilhelm. Früher war dieser solch ein großzügiger und offenherziger Mann gewesen, was sich im Alter jedoch geändert hatte.

Fast ein wenig wie Michael, fiel ihr zum ersten Mal auf. Hoffentlich nahm er sich ihre Worte etwas zu Herzen. Zumindest schien es im Augenblick so auszusehen. Gerade stand er zwischen Lukes Freunden mit einem Bier in der Hand und lauschte begeistert dem neuen Song von Lukes Band. Sie betrachtete ihren Sohn genauer und stellte fest, dass er sich wirklich wohlfühlte in dieser Runde und sich wahrscheinlich selbst fragte, warum er so wenig Zeit mit seinem Sohn verbrachte. Das hoffte Oma Lotte zumindest.

Die Musik war nun lauter als zu Beginn der Party, aber da hinter ihrem Haus der Garten direkt in den Wald überging, würde dies bestimmt keinen stören.

Langsam zog sich Oma Lotte zurück, da sie mittlerweile recht müde war. Dies war etwas, woran sie definitiv merkte, dass sie älter wurde. Abends war sie manchmal bereits um zwanzig Uhr völlig erschlagen und schlief oft ein paar Minuten nach der Tagesschau auf ihrem Fernsehsessel ein. Dies und die immer öfter schmerzenden Gelenke suggerierten ihr, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Andererseits war sie um einiges fitter als viele ihrer Altersgenossen, wie zum Beispiel Trudi, ihre langjährige Freundin, die kaum noch das Haus verließ, während sie selbst fast täglich mit ihrem Fahrrad unterwegs war.

Während sie langsam die Treppe hinaufging, sah sie wieder die schönen Bilder aus der Zeitschrift von diesem Morgen vor Augen.

„Zum Schlemmen ins Elsass fahren, das wäre doch was“, sprach sie leise zu sich selbst und fand die Idee von Luke gar nicht mehr so abwegig, mit dem Bus wegzufahren.

10

„Was wollt ihr?“, fragte Michael nun schon zum wiederholten Mal.

„Nach Straßburg fahren“, erklärte Oma Lotte, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Wieder war Michael ohne Ankündigung bei seiner Mutter vorbeigekommen, anscheinend in seiner Mittagspause und offensichtlich, um sich bei ihr zu entschuldigen. Zumindest behauptete er, dass er das mit dem Altersheim am vorherigen Abend nicht so gemeint hätte.

Nun saß er am Küchentisch und seine Mutter rührte in einem Topf, in dem sie Erdbeermarmelade aufkochte. Zwar hatte sie mit Luke noch nicht weiter über das Thema Straßburg gesprochen, aber anscheinend wollte sie ihrem Sohn mit dieser Aussage verdeutlichen, dass sie noch keineswegs ein Fall fürs Seniorenheim war. Ob sie diese Reise wirklich antreten würden, stand in den Sternen. Noch lag Luke oben in seinem Zimmer und schlief tief und fest. Allerdings hatte Oma Lotte in der letzten Nacht von ihrem Ausflug ins Elsass geträumt, was sie in ihrem Vorhaben bestärkte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752125467
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Familienroman Oma VW Bus Bulli Roadtrip Enkel Reisen Romantische Komödie Belletristik für Frauen Humor Liebesroman Liebe Roman Abenteuer

Autor

  • Mimi J. Poppersen (Autor:in)

Mimi J. Poppersen ist das Pseudonym einer deutschamerikanischen Schriftstellerin, deren Romane sonst im Krimi-und Thrillerbereich angesiedelt sind. Mimi J. Poppersen ist freie Journalistin, und wenn sie nicht gerade auf der Suche nach einer spannenden Geschichte um die Welt reist, lebt sie mit ihrer Familie in Santa Cruz in Kalifornien oder in ihrer Heimatstadt Heidelberg. Instagram: mimij.poppersen Unter dem Namen Hannah Hope schreibt sie spannende Liebesromane.
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Titel: Oma Lotte macht die Biege