Lade Inhalt...

Windstärke 10

von Mimi J. Poppersen (Autor:in)
129 Seiten

Zusammenfassung

Fünf Frauen bei Windstärke zehn! Wie viel Wahrheit kann eine Freundschaft vertragen? Seit fast zehn Jahren haben sich die fünf Frauen nicht mehr gesehen, die zu Schulzeiten beste Freundinnen waren. Ein Brief weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten. Spontan beschließen sie, ein paar entspannte Tage miteinander zu verbringen. Zu fünft treten sie eine Kreuzfahrt an, die ganz harmonisch beginnt. Alle sind glücklich, sich wiederzusehen, haben die kleinen Reibereien, die manchmal zwischen ihnen herrschten, über die Jahre vergessen. Täglich nimmt dann allerdings nicht nur die Windstärke zu, sondern auch die Spannungen zwischen den Freundinnen werden größer … bis schließlich bei Windstärke zehn einige Wahrheiten ans Tageslicht kommen, mit denen niemand gerechnet hätte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Windstärke 1

1–5 km/h. Schwacher Wind. Kleine, schuppenförmig aussehende Kräuselwellen ohne Schaumkämme.

„Unglaublich“, flüsterte Anna und blickte misstrauisch auf den ungeöffneten Briefumschlag, den sie gerade aus ihrem Briefkasten genommen hatte.

In geschwungenen Buchstaben stand Anna Schröder darauf, darunter ihre Adresse. An sich nichts Verwunderliches. Nur hatte Anna erst vor Kurzem ihren Mädchennamen wieder angenommen und wohnte nicht einmal seit einer Woche in dieser neuen Wohnung.

Als sie verheiratet war, hatte sie den klangvollen Namen Anna La Croix geführt und lebte in einer der schönsten Villen ganz Heidelbergs. Nun residierte eine andere mit ihrem Exmann Simon in diesem Palast direkt am Neckar mit Blick auf das Heidelberger Schloss. Natürlich war die Dame, die sich dort momentan mit ihrem Ex vergnügte, zwanzig Jahre jünger als sie.

Anna Schröder hingegen wohnte mittlerweile in einer kleinen Zweizimmerwohnung etwas außerhalb der Stadt. Dafür hatte sie viel Natur um sich herum, was sie sehr genoss. Bald wollte sie sich wieder eine Katze anschaffen, vielleicht sogar einen Hund. Oder beides? Etwas, das sie seit Kindheitstagen vermisste und nie hatte tun können wegen der starken Tierhaarallergie ihres Mannes.

Eine von vielen seiner Allergien …

Insofern ging es ihr noch nicht einmal schlecht. Sie genoss ihre neue Freiheit – meistens. Außerdem mochte sie ihr bescheidenes Leben momentan. Bis nicht geklärt war, wie viel ihr ehemaliger Gatte zu zahlen gewillt war oder eher zahlen musste, wollte sie sich nichts Größeres leisten. Die Gerichtsverhandlung sollte in drei Monaten sein.

An ihr neues Leben hatte sich Anna bereits gewöhnt. Die Jahre im Prunk und an der Öffentlichkeit waren ihr sowieso meist ein Graus gewesen, aber als Gattin eines berühmten Anwalts, der auch noch in der lokalen Politik aktiv war, hatte sie dies oft über sich ergehen lassen müssen. Ständig wurden sie zu irgendwelchen Wohltätigkeitsveranstaltungen eingeladen.

Nun wollte sie ihr Geld lieber für das Alter sparen. Ihr Plan war, sich in ein paar Jahren in die Toskana abzusetzen.

Erneut blickte sie auf den Brief in ihrer Hand. Wer nur wusste von diesen erst kürzlich geschehenen Veränderungen in ihrem Leben?

Langsam öffnete sie den Brief und begann zu lesen. Gleich darauf griff sie zum Telefonhörer.

* * *

Überrascht blickte Bianca Schwarz auf das Schreiben, das ihre Sekretärin ihr gerade überreicht hatte. Noch einmal überflog sie die Zeilen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie doch die Zeit verging …

„Stimmt etwas nicht, Frau Schwarz?“, wollte ihre stets besorgte Mitarbeiterin sogleich wissen.

„Nein, alles bestens. Vielen Dank“, bestätigte Bianca schnell und schnappte sich ihren prall gefüllten Terminkalender. Zwar hatte sie in den letzten zwei Jahren, seit der Ankunft ihrer Tochter, ihre Tätigkeit um einiges heruntergefahren, aber sie war nach wie vor eine sehr gefragte Anwältin.

Bis vor etwa fünf Jahren hatte es außer ihrer steilen Karriere nicht viel in ihrem Leben gegeben. Kaum Freizeit genoss sie bis dahin und hatte teilweise auch die Wochenenden durchgearbeitet. Mit Anfang vierzig realisierte sie auf einmal, dass es noch etwas anderes im Leben geben musste. Über Familienplanung hatte sie bis dato gar nicht nachgedacht, ihr damaliger Lebenspartner noch weniger.

Damals war es wirklich, als hätte ihr eine höhere Macht im Schlaf etwas zugeflüstert. Eines Morgens wachte sie auf und wusste, dass sie Kinder haben wollte. Und das natürlich so schnell wie möglich. Denn dass einem mit über vierzig, obwohl man sich noch wie Mitte zwanzig fühlte, nicht mehr viel Zeit blieb, war ihr klar.

Diego, ihr damaliger Partner, hatte sie nur angeschaut, als hätte sie den Verstand verloren. Dass er nicht sofort einen Platz in der Psychiatrie für sie reservierte war alles, was an seiner Reaktion auf ihren Kinderwunsch fehlte.

Diego hatte leicht reden, er war fünf Jahre jünger als sie, ebenso strebsam, um nicht zu sagen karrieregeil, und noch dazu ein spanischer Macho. Die Vorstellung, dass Diego jemals eine Windel wechseln würde, brachte sie schon damals zum Lachen … oder zur Verzweiflung, je nachdem, in welcher Stimmung sie sich gerade befand. Denn die konnte von nun an sehr schwanken. Die ganzen Hormone, die sie in sich hineinstopfte, gaben ihren Gefühlen auf einer turbulenten Achterbahn freien Lauf.

Diego hatte sie von den Hilfsmitteln und Methoden, die sie anwandte, vorerst gar nichts erzählt. Erst schien ihm auch nicht aufzufallen, dass sie an ein paar Tagen im Monat fast täglich Sex mit ihm haben wollte, den Rest des Monats hingegen gar nicht. Bianca wusste, dass sie das Kind alleine großziehen konnte, alleine zeugen hingegen war schon schwieriger.

Als Diego klar wurde, dass sie nur noch auf sein Erbgut scharf war, machte er die Biege. Nachdem Bianca von der Arbeit nach Hause kam, war er verschwunden. Ein kurzer Brief, in dem er ihr viel Glück wünschte. Das war’s. Seitdem hatte sie ihn nie wiedergesehen, er hatte sich nach acht Jahren Beziehung einfach in Luft aufgelöst.

Dass Diego weg war, fand Bianca noch nicht einmal so schlimm. Nur musste sie sich jetzt mit dem Kinderkriegen anders behelfen. Das tat sie auch.

All diese Strapazen behielt sie für sich, teilte ihre Sorgen weder mit ihrer Familie noch mit Freunden. Nicht einmal ihrer besten Freundin Anna erzählte sie davon.

„Eine Frau Anna Schröder ist für Sie am Apparat. Soll ich durchstellen?“, unterbrach die Sekretärin ihre Gedanken.

„Ja bitte“, antwortete Bianca und nahm sogleich den Telefonhörer in die Hand. Wie lange hatten sie nicht miteinander gesprochen?

Ihr war klar, dass Anna denselben Brief bekommen haben musste wie sie.

* * *

Mit zittrigen Fingern öffnete Clara Meister ihre Post. Diese hatte sie mit in die Klinik genommen. Die lange Zeit des Wartens konnte sie sich nun damit vertreiben, selbst die Werbesendungen las sie meist detailliert durch.

Sie war gespannt, welche Neuigkeiten sie heute erfahren würde. Dass es ihrem Mann gesundheitlich nicht gut ging, wusste sie schon lange. Doch wie schlecht es ihm diesmal ging, würde wieder eine Überraschung sein.

Immer war es eine neue Geschichte, die ihn in diese Klinik brachte, die jedes Mal auf seine verteufelte Krankheit zurückzuführen war, die ihn langsam ins Grab beförderte. Ihren Mann brachte die Krankheit unter die Erde und sie dermaßen zur Verzweiflung, dass wohl auch sie bald das Zeitliche segnen würde. Ein Blick in den Spiegel reichte ihr, um das zu beurteilen. Mittlerweile hatte sie jede Hoffnung aufgegeben, dass man jemals eine Heilung für ihn finden würde.

Geradezu lächerlich war, dass ihr Mann seine Krankheit nach außen immer noch zu verbergen versuchte. Dabei wussten die meisten doch Bescheid, dessen war sie sich sicher …

Gerade hatte Clara einen Brief geöffnet, der sie tatsächlich von ihrem Alltagsschicksal ablenken konnte. Urplötzlich war sie nicht mehr die Clara, die in dem trostlosen Wartesaal einer Berliner Klinik hockte, sondern die fröhliche, aufgeschlossene Clara von damals. Wie ein Film liefen glücklichere Zeiten vor ihrem geistigen Auge ab.

Zeiten, die lange her waren: ihre Schulzeiten. Sie sah sich und ihre vier guten Freundinnen vor sich, wie sie lachten und scherzten. Damals hatte sie noch keine Ahnung gehabt von den harten Zeiten, die kommen würden.

Beschämt realisierte sie, dass sie kaum wusste, was aus ihren Freundinnen in den letzten zehn Jahren geworden war, vielleicht sogar länger. Zu beschäftigt war sie mit ihrem eigenen Schicksal gewesen. Sie wusste, dass die meisten ihrer Freundinnen tolle Karrieren gemacht hatten, im Gegenteil zu ihr. Etwas, das sie im Nachhinein schwer bereute. Wahrscheinlich ein Grund mehr, warum sie sich bei ihnen kaum noch gemeldet hatte: Scham.

Mit einem Ruck stand Clara auf. Sie wollte nach Hause gehen und einige Telefonate tätigen. Heute würde sie nicht blöd hier herumsitzen und auf eine Nachricht vom Arzt warten.

„Sagen Sie meinem Mann, ich komme morgen wieder!“, erklärte sie einer Schwester bestimmt. Darauf verließ sie das Krankenhaus und sollte dies so schnell nicht wieder betreten.

Was ein paar Zeilen doch auslösen konnten …

* * *

Wie so oft war es ein sonniger Tag in Los Angeles, als Daniela Bach den Brief aus ihrem Briefkasten fischte. Dieser war eine typische, reich verzierte amerikanische Mailbox, die vor einem imposanten Metalltor stand, hinter dem eine lange Auffahrt zu ihrem Anwesen führte.

Daniela wohnte wie viele Stars in Hollywood in Beverly Hills. Dabei war sie nicht wirklich eine Berühmtheit. Eine einzige Rolle in einer amerikanischen Serie hatte ihr vor gut zwanzig Jahren zu kurzzeitigem Ruhm verholfen, von dem sie noch heute zehrte. Dass sie nach wie vor den Lebensstil einer Filmdiva führte, verdankte sie dem Umstand, dass sich damals der Regisseur der Serie unsterblich in sie verliebt hatte. Steve Fox war bis heute ein angesehener, millionenschwerer Filmemacher. Gleich beim ersten Treffen hatte Steve ihr einen Heiratsantrag gemacht, wie man es sich in Hollywood vorstellte. Daniela hatte dem Antrag sofort zugestimmt, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. Zum Entsetzen ihrer Eltern und vieler Freunde, die so viel Spontanität von ihr gar nicht gewohnt waren. Natürlich war ihnen mit dieser plötzlichen Hochzeit auch klar, dass Daniela so schnell nicht wieder nach Deutschland zurückkehren würde. Ein Umstand, den Daniela hingegen nie bereut hatte.

Mit ihrem Ehemann hatte sie definitiv einen guten Fang gemacht. Wahrscheinlich den besten von all ihren Freundinnen. Sie lebte ein Leben, wie es sich viele Menschen wünschten, konnte sich und ihren Kindern jeden Wunsch erfüllen.

So hatten ihre beiden vier- und achtjährigen Töchter auf einer Koppel bereits ihre eigenen Pferde stehen. Das war ganz normal in ihrem Leben.

Kurz seufzte sie und betrachtete noch einmal das Schreiben aus der Heimat. Wie froh sie war, heute nur diesen Brief vorgefunden zu haben und nicht wieder solch eine unangenehme Zuschrift, wie sie sie in den letzten Monaten immer öfter erreichte. Etwas, das ihr große Sorgen bereitete und woran sie so schnell wie möglich etwas ändern sollte. Nur was? Aber heute wollte sie sich nicht damit belasten, es raubte ihr schon genug Schlaf.

Sie beschloss, erst mit den Hunden Gassi zu gehen und dann in Ruhe bei einer Tasse Earl-Grey-Tee auf ihrer schönen Terrasse das Schreiben zu lesen. Obwohl sie bereits ahnte, um was es darin ging.

* * *

„Es ist also wieder soweit…“, sprach Eva Messner zu sich selbst und blickte auf das Schriftstück in ihrer Hand. Die Selbstgespräche hatte sie sich in letzter Zeit immer mehr angewöhnt. Schließlich war da niemand mehr, mit dem sie reden konnte. Nach ihrem Ehemann Konstantin hatte auch ihr dicker Kater Carlo das Zeitliche gesegnet und Eva war ganz allein. Einsam auf ihrem riesigen Gutshof in der Toskana.

Ich sollte mir wieder ein paar Tiere zulegen, dachte sie und blickte über die schmucke, hügelige Landschaft um sich herum. Schon immer war es ihr Traum gewesen, hier zu leben.

Sie dachte an ihre vier Freundinnen aus der Schulzeit, von denen sie wusste, dass sie alle dasselbe Schreiben bekommen haben mussten.

Bereits vor fünfzehn Jahren hatte sich Eva aus dieser Gruppe immer mehr zurückgezogen. Damals, als sie Konstantin geheiratet hatte, und es von ihren Freundinnen nichts außer Kritik gehagelt hatte. Mit Tadel hatte Eva noch nie gut umgehen können …

„Wir wollen dir doch nur helfen!“, hatte Anna zu jener Zeit etwa gesagt. Das nahm Eva ihnen nicht ab. Schon seinerzeit glaubte Eva, dass ihre Freundinnen nur neidisch waren. Alle außer Daniela vielleicht, denn ihr ging es ähnlich gut.

„Was willst du denn mit so einem alten Knacker?“, hörte sie Biancas Stimme. Aber Bianca wollte auch groß Karriere machen, ganz im Gegensatz zu ihr. Eva hatte ein paar Jahre als Krankenschwester gearbeitet, und das hatte ihr gereicht.

Zugegeben, sie war damals gerade dreiunddreißig und Konstantin bereits achtundsechzig Jahre alt gewesen. Ein Altersunterschied von fünfunddreißig Jahren war nicht von der Hand zu weisen.

„Du hast doch einen Ödipuskomplex“, hatte Clara ihr vorgeworfen, deren Mann immerhin auch zehn Jahre älter war als sie.

„Wenn, dann habe ich einen Elektrakomplex“, hatte Eva sie nur trocken korrigiert.

Wie dem auch sei, Eva hatte sich zurückgezogen. Sollten ihre Schulfreundinnen doch denken, was sie wollten! Schließlich hatte sie so alles erreicht, was sie wollte. Oder besser gesagt: Sie musste nichts mehr erreichen, weil Konstantin bereits alles hatte. Sogar Kinder, die Eva selbst nie haben wollte.

Da angelte sie sich doch lieber einen älteren Herrn mit erwachsenen Kindern. Zwar war Konstantin damals bereits schon Großvater, aber die Enkelkinder sah man schließlich nicht so oft, vor allem, wenn man weitab in der Toskana lebte. Für Eva war zu jener Zeit alles perfekt. Heute schwebte allerdings ein unangenehm dunkler Schatten über dem Gut in der Toskana, den hoffentlich nur sie selbst wahrnahm, aber dieser würde sich sicherlich auch bald verziehen. Nach wie vor ging es Eva hier fantastisch.

Dank Konstantin! Gott habe ihn selig!

* * *

Zügig machte die Ankunft des Briefes die Runde.

Anna hatte sogleich Bianca angerufen, die sie immer noch als ihre beste Freundin betrachtete. Kurz darauf erhielt Anna einen Anruf von Clara aus Berlin, die sich gar nicht gut anhörte. Danach telefonierten sich alle Freundinnen abwechselnd zusammen und besprachen, was sie von dem Schreiben halten sollten.

Trotz der teilweise weiten Entfernungen, die sie mittlerweile trennten und der langen Zeit, die verstrichen war, waren die Freundinnen sich gleich einig, wie sie auf den Brief reagieren wollten. Die fünf Frauen verstanden sich halt immer noch wie früher.

Ohne darüber nachzudenken, übernahm Anna nun die Planung. Ausgerechnet Anna, die von allen am wenigsten Organisationstalent besaß. Aber die neue Aufgabe konnte sie bestens ablenken. Außerdem war sie die einzige der Freundinnen, die noch am Ort des Geschehens lebte. Alle anderen waren früher oder später aus Heidelberg weggezogen, meist aus beruflichen oder familiären Gründen.

Anna wollte den Verfasser des Schreibens kontaktieren, denn sie hatte schon einen anderen Plan für die Frauengruppe.

Windstärke 2

6–11 km/h. Leichte Brise. Kleine Wellen, noch kurz, aber ausgeprägt. Kämme sehen glasig aus und brechen sich nicht.

„Das Alphabet kommt also nicht zu unserem Abiturtreffen“, bedauerte Andreas Schäfer halblaut. Seine Frau Karin schaute ihn über ihre Lesebrille hinweg an und legte die Stirn in Falten.

„Das Alphabet?“, erkundigte sie sich irritiert.

„Ja, so nannten wir früher immer die fünf Freundinnen Anna, Bianca, Clara, Daniela und Eva“, erklärte er lachend.

„Verstehe …“, bestätigte Karin und lächelte ihm zu. Sie fand es immer wieder rührend, mit welcher Hingabe ihr Ehemann solche Veranstaltungen organisierte. Als ehemaliger Stufensprecher ließ er es sich selbstverständlich nicht nehmen, immer die Abitreffen zu planen. Natürlich konnte sie ihm die Enttäuschung darüber ansehen, dass gleich fünf Personen abgesagt hatten.

„Haben sie dir kollektiv abgesagt?“, wollte sie verwundert wissen.

„Nein. Eine nach der anderen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sie sich darüber abgesprochen haben“, erklärte Andreas, als habe er mit so etwas schon gerechnet.

„Na ja, da lassen sie sich allerdings einen wirklich schönen Tag in Heidelberg entgehen. Dreißigjähriges Abi, das ist doch was! Das Programm werde ich ihnen trotzdem zuschicken“, beschloss er und klappte seinen Laptop zu, an dem er die letzten Stunden verbracht hatte.

„Ja, mach das. Vielleicht ändern sie ihre Meinung“, bestätigte Karin sanft und umarmte ihn liebevoll. Sie wusste, was sie an ihrem Ehemann hatte, mit dem sie nun schon seit fast zwanzig Jahren verheiratet war. Inständig hoffte sie, dass die Feier ein Erfolg werden würde.

* * *

Auch Anna saß an ihrem Laptop und plante ein Treffen. Allerdings nicht ein läppisches Abiturtreffen in Heidelberg, sondern eine Zusammenkunft ihrer Freundinnen, die groß gefeiert werden sollte.

Immer wieder hatte sie mit Bianca gechattet, um Details zu besprechen. Mit Daniela musste sie ebenfalls öfter Rücksprache halten, da sie die weiteste Anreise aus den USA hatte. Die anderen beiden Frauen hatten gesagt, dass ihnen alles recht sei.

In Einem waren sich die Damen einig: Sie wollten sich so schnell wie möglich treffen. Fast war es, als hätte das Schreiben ihnen klargemacht, wie viel Zeit verstrichen war. Noch etwas hatte ihnen der Brief verdeutlicht, nämlich, dass sie alle ihre Freundschaft etwas schleifen gelassen hatten. Natürlich hatte man zwischendurch mal kurz miteinander telefoniert oder eine Karte zum Geburtstag geschickt, aber gesehen hatten sich die meisten wirklich seit zehn Jahren nicht mehr, seit dem letzten großen Abiturtreffen. Kein Wunder, bei den Entfernungen.

Das wollten sie jetzt ändern und Anna hatte gerade das traumhafte Ergebnis ihrer Planung auf dem Bildschirm vor sich: Bereits übernächste Woche sollte es losgehen. Eine Kreuzfahrt. Durch das Mittelmeer cruisen, wie es sich viele von ihnen schon immer gewünscht hatten!

Windstärke 3

12–19 km/h. Schwache Brise. Kämme beginnen, sich zu brechen. Schaum überwiegend glasig, ganz vereinzelt können kleine weiße Schaumköpfe auftreten.

Heute war es also so weit. An diesem Tag würden sich die fünf Freundinnen wiedersehen.

Bereits gestern waren Anna und Bianca in dem Hotel direkt am Hafen von Savona eingetroffen. Die beiden Frauen hatten davor zwei schöne gemeinsame Tage in München verbracht und waren gleich wieder vertraut miteinander gewesen.

Anna lernte ebenfalls Biancas zweijährige Tochter Zoe kennen. Für Anna war es völlig neu, ihre Freundin und Karrierefrau in dieser Rolle zu sehen. Überraschend gut bewältigte sie die Doppelfunktion von Mama und Anwältin. Insgeheim bewunderte Anna ihre Schulkameradin dafür. Schon immer war sie um einiges tougher und zielstrebiger gewesen als sie selbst.

Zwar lebte auch Bianca nun schon seit einiger Zeit ohne Mann, aber offensichtlich geschah dies aus freien Stücken. Im Moment konnte sich Anna gar keinen Mann an Biancas Seite vorstellen, es war schlichtweg kein Platz für einen Partner in ihrem Leben, so komisch sich das anhörte. Es sei denn, dieser wäre als Hausmann zufrieden. Wenn sie Bianca Glauben schenken konnte, wollten starke Männer in der Beziehung immer mit ihr konkurrieren und darauf hatte sie keine Lust mehr.

Anna nahm ihr dies ab, schließlich kannte sie Bianca schon einige Jahre und es passte ins Bild. Sie selbst war leider immer der schwächere Part in einer Beziehung gewesen, hatte sich stets viel gefallen lassen. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn sie Kinder bekommen hätte, aber dazu war es nun sowieso zu spät. Mit achtundvierzig war der Zug hierfür wohl endgültig abgefahren. Immerhin hatten Anna und Bianca eines gemeinsam: Von Männern wollten sie erst einmal nichts mehr wissen.

Als Hilfe hatte Bianca eine ganz wunderbare Kinderfrau eingestellt. Eine ältere Dame, die schon einige Kinder großgezogen hatte. Diese half ihr, wo sie nur konnte, wie Anna mitbekommen hatte. Auch in der kommenden Woche, während der Kreuzfahrt, würde sie bei Zoe bleiben. Wie eine richtige Großmutter kümmerte sie sich um sie, Bianca hatte eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Insgeheim fragte sich Anna zwar, warum nicht die echten Großeltern auf das Mädchen aufpassten, da diese ebenfalls in München wohnten, nur ein paar Straßen entfernt. Vielleicht würde sie das ihre Freundin auf der Reise einmal fragen.

Das Hotel NH Savona Darsena hatte Anna aus rein praktischen Gründen gewählt. Es lag nicht nur am, sondern direkt im Hafen von Savona. Von ihrem Hotelzimmer aus konnten sie die Anlegestelle der Kreuzfahrtschiffe sehen.

Anna und Bianca waren zufrieden mit ihrer Wahl. Zwei Wochen hätten sie hier nicht verbringen wollen, aber für eine Nacht war es genau das Richtige. Den Wagen hatten sie bereits geparkt und ihre Boardingpässe entgegengenommen. Durch ihre frühe Anreise waren sie bei der ersten Gruppe dabei, die das Schiff betreten durfte. Wie aufregend.

Dann konnten sie sich an Bord in Ruhe umschauen, bevor die anderen tausend Gäste eintrafen. Nun hofften sie, dass auch ihre Freundinnen pünktlich ankommen würden.

„Eva steht im Stau, ist aber in etwa einer Stunde hier und Daniela ist gerade in Genua gelandet. Sie kommt mit dem Taxi her. Das wird wohl fast zwei Stunden dauern“, berichtete Anna gerade, während sie auf ihr Mobiltelefon blickte.

„Clara ist heute Morgen ganz früh in Nürnberg losgefahren, wo sie ihre Mutter die letzten Tage besucht hat. Sie wird wohl am Längsten hierher brauchen. Na ja, bis siebzehn Uhr, wenn das Schiff ablegt, werden es alle geschafft haben“, schloss Bianca.

Die beiden Freundinnen hatten sich die Koordination der Reise aufgeteilt, Anna war allerdings der Hauptteil zugefallen, da sie am meisten Zeit hatte und die Ablenkung dringend gebrauchen konnte.

„Lass uns frühstücken gehen“, rief sie freudig aus. Beide fühlten sich wieder wie Teenager.

Was konnte es Schöneres geben, als die nächsten Tage auf einem mächtigen Ozeanriesen zu verbringen?

Dieser hatte in den Morgenstunden überpünktlich angelegt. Es war das neueste und größte Schiff der Flotte einer italienischen Rederei. Dass das Unternehmen vor ein paar Jahren auf genau dieser Route einen furchtbaren Unfall hatte, versuchten die Frauen zu verdrängen. So etwas passierte schließlich nur ein Mal.

Dort lag er nun, der imposante Koloss: über dreihundert Meter lang. Auf vierzehn Stockwerken konnte er fast fünftausend Gäste unterbringen. Auf dem Seekreuzer gab es sieben Restaurants, elf Bars und eine Shoppingmeile. Besonders beindruckend sollte der Wellnessbereich sein, der sich über mehrere Stockwerke erstreckte. Auf diesen freuten sich die Freundinnen besonders, da ihn alle Frauen täglich nutzen konnten. Auch bei ihrem Getränkepaket hatten sie sich nicht lumpen lassen. Der Genuss der besten Weine und der edelsten Cocktails war auf ihrer Reise inklusive. Wenn schon, denn schon …

Gerade beobachtete Anna, wie unzählige Lieferungen von frischem Obst und Gemüse an Bord gebracht wurden. Das war etwas, was sie fast am meisten bei dieser Reise faszinierte: die ganze Logistik, die hinter dem gigantischen fahrenden Hotel stand. In vielen Dörfern Deutschlands lebten weniger Menschen als bald auf diesem Schiff.

Insgeheim hoffte Anna, dass sie eine Tour machen konnte, um sich die ganzen Arbeiten unter Deck anzuschauen, die diesen Koloss am Laufen hielten. Fünfzehnhundert Bedienstete mussten schließlich auch untergebracht und versorgt werden. Sie hatte schon einmal in einem Fernsehbericht gesehen, dass auf den untersten Decks eine andere, nicht ganz so edle Welt für die Angestellten existierte. Zu gerne würde sie sich dort einmal umschauen.

„Du bist ja so still“, unterbrach Bianca in diesem Moment ihre Gedanken und biss genüsslich in ein Buttercroissant.

„Ich finde das alles einfach so beeindruckend“, gestand Anna, während sie weiterhin ihren Blick auf das Geschehen am Hafen richtete.

„Das ist es auch“, bestätigte Bianca, die ihrem Blick gefolgt war. „Und wir sind bald mittendrin. Komm, wir sollten uns beeilen, auschecken, Eva in Empfang nehmen und so schnell wie möglich an Bord gehen.“

Zustimmend nickte Anna und leerte ihren Latte macchiato in einem Schluck. Nichts lieber als das!

Die Schulkameradinnen hatten ausgemacht, sich kurz vor dem Ablegen in der Empfangshalle des Kreuzers an der Bar zu treffen und dann von einem Sonnendeck aus zu beobachten, wie der Ozeanriese ins Meer stach.

Anna und Bianca waren die einzigen ihrer kleinen Reisegruppe, die eine gemeinsame Kabine gebucht hatten. Zum einen waren sie sich sicher, dass sie sich auch auf engem Raum gut verstehen würden, zum anderen war gerade für Anna der Preisvorteil wichtig.

Bianca hatte sie zwar anvertraut, dass sie und Simon gerade getrennte Wege gingen, hatte dabei allerdings nicht die ganze Wahrheit erzählt. Gelinde ausgedrückt, hatte sie nur das Nötigste von ihrer Trennung preisgegeben. Weder hatte sie verraten, dass die Scheidung bereits eingereicht war, noch dass Simon eine junge Geliebte hatte. Erst bei ihrem Besuch in München musste Anna feststellen, dass sie die Wahrheit wohl vor sich selbst nicht eingestehen konnte.

Immerhin hatte sie Bianca auch mit der halben Wahrheit klarmachen können, dass sie nicht zu viel Geld für die Reise ausgeben wollte.

Bianca hatte dies zwar nicht ganz nachvollziehen können, da Simon alles andere als am Hungertuch nagte und sie sich nicht vorstellen konnte, dass Anna nicht genug Geld hatte. Trotzdem stimmte sie als gute Freundin zu, ohne lange zu überlegen. Schließlich würde es bestimmt sehr amüsant in einem Doppelzimmer, ganz wie in alten Zeiten.

Den wahren Grund, warum Anna ihr Geld zusammenbehalten wollte, hatte sie ihr nicht verraten: ihren heimlichen Plan, bald auszuwandern. Sie musste feststellen, dass es nicht viele Menschen gab, denen sie sich bedingungslos anvertrauen wollte.

Clara, Daniela und Eva hatten jeweils eine Kabine für sich. Daniela hatte sogar eine Suite gebucht, wie sie es aus Hollywood wahrscheinlich gewohnt war. Ihre Unterkünfte befanden sich alle im hinteren Teil des Schiffes. So waren sie nicht zu weit voneinander entfernt und hatten es besonders nah zum Pool und dem Wellnessbereich.

Bereits um kurz nach zehn Uhr standen die beiden Freundinnen mit gepackten Koffern vor dem Hotel. Nun konnten sie einfach zur Anlegestelle hinüberlaufen, um mit den ersten Passagieren an Bord zu gehen. Anna und Bianca beschlossen, noch auf Eva zu warten, die nur noch wenige Kilometer von Savona entfernt war.

Als Eva Messner dann auf den Parkplatz fuhr, staunten die beiden nicht schlecht. Ihre langjährige Freundin saß in einem feschen, knallroten Alfa Romeo Cabriolet aus den Sechzigerjahren und ließ sich den Wind durch die Haare wehen. Die waren allerdings das Zweite, das für Erstaunen sorgte: Evas Haare. Ihr rotbrauner Lockenkopf war mittlerweile sichtlich ergraut. Die beiden wussten nicht, wo sie zuerst hinschauen sollten, auf das schicke Auto oder den grauen Schopf. Kein einziges braunes Haar war darin mehr zu sehen.

„Mann, ist die alt geworden“, murmelte Bianca halblaut eher zu sich selbst, als sie ihre Freundin erkannte.

„Aber echt!“, stimmte Anna ihr entsetzt zu, während beide automatisch ihre Hände zu einem fröhlichen Gruß erhoben.

„Da hast du aber einen flotten Flitzer“, fand Bianca als Erste Worte, nachdem Eva direkt vor ihnen angehalten hatte.

„Ja, das war Konstantins absoluter Augapfel“, erklärte Eva und wirkte dabei eher stolz als traurig.

„Schöner Wagen“, lobte Anna und betrachtete ihre Schulkameradin genauer. Diese hatte gerade ihre Sonnenbrille abgesetzt und beäugte sie genauso neugierig. Eva hatte noch immer ihre frechen grünen Augen, die sie jünger wirken ließen. Allerdings schien sie von Faltencreme oder Ähnlichem noch nie etwas gehört zu haben.

Ein „Gut siehst du aus“ kam weder Anna noch Bianca über die Lippen. Kurz wurden einige Floskeln ausgetauscht, dann deutete Anna auf die Schlange der wartenden Autos.

„Dort musst du dich anstellen, um einen Parkplatz zu bekommen. Wir gehen schon an Bord. Wir sehen uns dann spätestens um sechzehn Uhr an der Bar, okay?“

„Prima“, bestätigte Eva gut gelaunt. „Welche Kabinennummer habt ihr noch mal?“

„9204. Und du?“

„9194. Das ist wohl ganz in eurer Nähe.“

„Melde dich einfach kurz, wenn du eingecheckt hast“, meinte Bianca und alle machten sich auf den Weg.

Einen Moment hingen beide ihren Gedanken nach, bis Bianca sich bei Anna einhakte und aufmunternd meinte: „Du siehst aber mindestens zehn Jahre jünger aus als Eva.“

„Etwas Ähnliches wollte ich dir auch gerade sagen.“

Hierauf mussten beide herzlich lachen und starteten bestens gelaunt in ihr Abenteuer. Beim Älterwerden hatten die beiden Freundinnen eher andere Probleme, die wahrscheinlich nicht ganz so offensichtlich waren wie Evas graues Haar.

Anna hatte sich über die Jahre hinweg immer weniger aus ihrem Äußeren gemacht. Mittlerweile wirkte sie tatsächlich wie die berühmte graue Maus. Immer in dunklen Tönen gekleidet, hatte sie nichts Auffälliges oder Peppiges an sich. Auch ihre Frisur war immer gleich. Man konnte fast sagen, Anna war geradezu bemerkenswert langweilig. Dabei war ihr dies durchaus bewusst, sie wusste nur nicht, wie sie es ändern konnte. Auch ahnte sie, dass das der Grund war, warum ihr Mann sich nach etwas Neuem umgeschaut hatte. Sie hatte seine neue Flamme zwar noch nicht gesehen, konnte sich aber denken, dass diese in knalligeren Tönen daherkam.

Bianca hingegen legte nach wie vor großen Wert auf ihr Äußeres. Zwar nicht mehr ganz so viel wie als Teenager und Studentin, aber im Gegensatz zu Anna konnte sie sich eine Ewigkeit im Spiegel betrachten und fünfmal umziehen, bevor sie ihr Outfit als passend empfand. Bianca hatte in den letzten Jahren allerdings ein wenig mit den Pfunden zu kämpfen. Mit Kind und Job hatte sie einfach nicht mehr die Zeit, so viel Sport zu treiben wie früher. Außenstehenden mochte dies kaum auffallen. Bianca sah immer noch blendend aus: Groß gewachsen, mit ihren langen braunen Haaren hätte sie auch den ein oder anderen Laufsteg erobern können … in früheren Jahren.

Bianca hingegen störten zwar die kleinen Veränderungen an ihrem Körper, aber trotzdem war ihr ihre kleine Familie und die Zeit mit ihrer Tochter wichtiger, als ins Fitnessstudio zu gehen.

Im Großen und Ganzen konnten die beiden aber durchaus zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild sein. Vor allem jetzt – nachdem sie Eva gesehen hatten.

Das Wetter in Savona war herrlich: Sonne pur und es wehte ein angenehmes Lüftchen. Überhaupt hatten sie sich die Stadt und vor allem die Hafengegend nicht so anziehend vorgestellt. Anderseits fanden sie in ihrer Vorfreude gerade so ziemlich alles fantastisch.

Bis Anna und Bianca an Bord gehen durften, dauerte es noch eine halbe Ewigkeit. Lange mussten sie in einer Wartehalle Platz nehmen, bis ihre Boardingnummer aufgerufen wurde, trotz ihrer Nummer 1. Dann standen sie erneut Schlange für die Untersuchung ihres Handgepäcks. Danach galt es wieder zu warten, bis sie endlich über einen Steg mit rotem Teppich in das Innere des Luxusdampfers durften. Für das Warten wurden sie aber sofort reichlich belohnt.

Im Inneren des Schiffes fühlte man sich gleich wohl. Ein bisschen sah es hier aus wie in Las Vegas, überall blinkte und glitzerte es. Die Empfangshalle, in der man vierzehn Stockwerke nach oben blicken konnte, war sehr farbenfroh eingerichtet. Vier gläserne Fahrstühle beförderten die Gäste von hier aus in die verschiedenen Stockwerke. Viele der Reisenden standen nur da und blickten sich um: erstaunt, überrascht, hingerissen. Auch Anna merkte erst nach einem Moment, dass sie mit offenem Mund dastand.

„Worauf wartest du?“, wollte Bianca neben ihr wissen. Die hatte sich wohl schon satt gesehen oder fand den ersten Eindruck nicht ganz so berauschend wie Anna.

Andächtig stiegen die beiden Frauen in den Glasaufzug und schwebten in die neunte Etage. Zuvorkommend stand überall Bordpersonal bereit, das ihnen half, die richtige Kabine zu finden. In dieser angekommen, waren sie angenehm überrascht, wie geräumig sie war.

Das Beste war allerdings der Balkon. Wohlweislich hatten sie eine Kabine am Heck des Schiffes genommen. Von hier aus bot sich ihnen ein umwerfender Blick auf die Hafenstadt und, verglichen mit den seitlichen Verandas, war ihr Balkon eine richtige kleine Sonnenterrasse. Sogar zwei Liegestühle hatten darauf Platz. Bianca ließ sich genüsslich auf einen sinken und seufzte zufrieden.

„So kann ich es die nächsten Tage aushalten“, schwärmte sie und fing gleich an, ihre Schuhe und ihr Oberteil auszuziehen. Anna staunte etwas über die Freizügigkeit ihrer Freundin, gönnte ihr diese aber. Sie hingegen würde ihre Kleidung anlassen.

Bis Anna sich entblößen würde, musste schon etwas Gravierendes passieren. Etwas, wie ihren absoluten Traummann zu treffen, den sie in dem Moment schemenhaft vor sich sah. Ein tarzanartiger Adonis, der ihr die Hand reichte, um mit ihr in den Pool zu steigen …

„Du siehst aus, als würdest du gleich ohnmächtig“, ließ Bianca leider in dem Augenblick ihre hübsche Gedankenblase platzen. „Ist dir schlecht?“

„Nein, nein, alles okay“, gab Anna etwas peinlich berührt zurück und flüchtete ins Kabineninnere. An ihrem Gesichtsausdruck musste sie wohl noch etwas arbeiten, sollte sie denn ihrem Zukünftigen wirklich einmal begegnen.

Genervt schüttelte sie die aufkommenden Gedanken ab und schaute sich neugierig in ihrer neuen Behausung um. In der Kabine gab es zwei Schlafgelegenheiten, ein breites Doppelbett und ein schmaleres Einzelbett. Da Anna bereits beschlossen hatte, die kleinere Schlafgelegenheit zu nehmen, stellte sie ihre Handtasche dort ab. Seit Jahren war sie gewohnt, zurückhaltend zu sein. Auf die Idee, einfach das größere Bett zu nehmen, wäre sie nie gekommen.

Sie fand ihre Unterkunft für die nächsten sieben Tage richtig gemütlich. Den Textnachrichten zufolge waren die anderen beiden Freundinnen inzwischen auch am Hafen von Savona angekommen. Ihrer gemeinsamen Reise stand nun nichts mehr im Wege.

Die Zeit bis zum ersten Treffen wollten die beiden Freundinnen praktisch nutzen und sich auf dem Kreuzfahrtschiff umschauen. Als Erstes besichtigten sie den Wellnessbereich und waren begeistert: Mehrere Jacuzzis und verschiedenste Saunen warteten auf sie. Auch der Pool mit Sonnenwiese bestand ihre Begutachtung mit Bravour.

Erst als Anna und Bianca bei dem Mittagsbuffet ankamen, das sich über ein ganzes Stockwerk hinzog, merkten sie, wie hungrig sie waren. Seit dem Frühstück hatten sie nichts mehr gegessen und nun war es bereits 14 Uhr. Sie waren allerdings nicht die einzigen Hungrigen.

Massen von meist italienisch sprechenden Menschen drängelten sich vor den Speisen. Diese waren sicherlich zu Beginn des Buffets sehr hübsch angerichtet gewesen. Nun zeugten nur noch vereinzelte Verzierungen auf den verschmierten silbernen Tabletts von ehemals kunstvoll drapierten Speisen. Teilweise konnte man sie gar nicht mehr erkennen.

Die Freundinnen entschieden sich vorerst für das Salatbuffet. Das wurde gerade wieder aufgefüllt und von den meisten Mitreisenden eher gemieden. Mit ihren ordentlich gefüllten Salattellern konnten sie sogar einen Fensterplatz ergattern.

Befriedigt stocherten sie in ihrem Essen herum, das durchaus lecker war, und ließen das Gesehene noch einmal Revue passieren. Alles in allem waren sie zufrieden mit dem, was sie bisher gesehen hatten.

„Nur zum Buffet sollten wir in Zukunft früher kommen“, meinte Anna.

„Oder einen großen Bogen darum machen“, konterte Bianca kauend. „Es gibt ja genug andere Restaurants.“

Da hatte sie recht. Für den Moment reichte das Buffet aber vollkommen, denn sie wollten ihren Rundgang so schnell wie möglich fortsetzen.

Beide beschlossen, den Hauptgang auszulassen, hauptsächlich, weil es immer noch so überfüllt war am Buffet, und gleich zum Dessert überzugehen.

Auch beim Nachtisch mussten sie hinter vielen Hungrigen warten. Die meisten Passagiere schienen Angst zu haben, dass es auf dem Rest der Reise nichts mehr zu essen geben könnte. Mit gnadenlos überfüllten Tellern liefen sie zurück zu ihren Tischen und präsentierten das Essen stolz ihrer Großfamilie. Wenn dies nur eine Person in der Familie getan hätte, wäre es ja okay gewesen, aber es sah so aus, als würde jedes Familienmitglied den Rest der Familie mitversorgen wollen. Dementsprechend groß waren auch die Mengen, die einfach stehen blieben, wieder zurück in die Küche gebracht wurden und sehr wahrscheinlich im Müll landeten.

Was für eine Verschwendung, dachte Anna gerade, als sie eine dickliche Dame vor sich beobachtete, wie diese sich ihren Nachtisch auf den Teller lud. Ein süßes Teilchen nach dem anderen fand Platz. Zum Schluss kamen noch Eis, Sahne und Schokoladensoße obenauf.

Anna wurde fast schlecht bei dem Anblick. Sie entschied sich für eine gesunde Obstschale mit einem Hauch von Zitronensorbet. Wenn sie nur zu dem Eis gelangen könnte …

Die füllige Frau stand immer noch vor der Eisauswahl und schien ernsthaft zu überlegen, sich noch mehr auf den Teller zu laden.

Gerade überlegte Anna, ob sie der Dicken raten sollte, Löffelbiskuits als seitliche Stützen für ihren Eisturm zu benutzen, als sich die Frau umdrehte. Anna glaubte ihren Augen nicht zu trauen, fast wäre ihr ein entsetzter Schrei entwichen.

„Clara!“, schrie sie ihr Gegenüber dann doch an. Diese zuckte zusammen, sodass die Kalorienbombe auf ihrem Teller beinahe auf dem Boden gelandet wäre.

„Anna“, wisperte Clara hierauf völlig perplex. Natürlich war sie erschrocken. Wobei der Zufall, sich hier auf dem Schiff zu treffen, auch nicht so außergewöhnlich war.

Aber da war noch etwas anderes. Clara wirkte peinlich berührt. Offensichtlich schämte sie sich wegen des voll beladenen Tellers.

Das kann sie auch, fand Anna.

In dem Moment blickte Bianca über ihre Schulter und musste ähnlich entsetzt sein wie Anna.

„Machst du FDH?“, fragte sie ironisch und nicht sehr taktvoll. Aber so war sie halt: immer eine Spur zu ehrlich. Bianca sagte stets direkt, was sie dachte, meist ohne sich vorher darüber Gedanken zu machen. Oft hatte sich Anna gefragt, wie sie mit ihrer unverblümten Offenheit in ihrem Anwaltsjob ankam.

Dass Clara in den letzten Jahren ordentlich an Gewicht zugelegt hatte, sah ein Blinder mit Krückstock.

„Es sieht alles so verlockend aus“, entschuldigte sich Clara und wirkte, als würde sie gleich losheulen.

„Das ist es auch!“, schlichtete Anna. „Komm mit. Wir haben einen schönen Platz am Fenster!“

Clara fühlte sich sichtlich unwohl, als sie ihr Dessert auf den Tisch stellte und sich zu ihnen setzte. Sie hatte sich wahrscheinlich völlig unbeobachtet geglaubt und nur deshalb so zugeschlagen. Wobei sie dies öfter tun musste, ihrem Umfang nach zu urteilen.

Die Arme, dachte Anna und beobachtete, wie ihre Schulfreundin erst langsam, dann aber immer zügiger, fast hektisch, den kompletten Nachtisch verputzte.

Unglaublich, staunte Anna und sah an Biancas entsetztem Blick, dass sie Ähnliches dachte. Anna konnte ihr ansehen, dass Claras Verhalten sie anwiderte, da Bianca bald starr aus dem Fenster blickte, anstatt die Völlerei ihrer Schulkameradin zu beobachten. Anna hingegen konnte den Blick kaum abwenden, wahrscheinlich öffnete sie bei jedem Happen auch den Mund, wie man es tat, wenn man ein Baby füttert. Im Schneckentempo aß sie ihre lächerliche Portion Nachtisch, um Clara nicht noch mehr bloßzustellen. Aber so war Anna halt, immer auf das Wohl der anderen bedacht.

Nebenbei sprachen die Frauen über Belanglosigkeiten wie die Anreise, das Wetter, das Schiff und ihre Ziele in den nächsten Tagen.

Clara freute sich sichtlich auf die Reise, sie schien lange nicht mehr verreist zu sein. Auch fand Anna, dass sie schlecht aussah. Claras Haut wirkte fahl und sie selbst antriebslos und schwach.

Vielleicht würde sie ja in den nächsten Tagen erzählen, was sie bedrückte.

Da Clara nicht den Umweg über ihre Kabine gemacht hatte, sondern gleich zum Restaurant gestürmt war, wollte sie erst einmal auf ihr Zimmer, um sich noch etwas auszuruhen.

Beide Freundinnen stimmten ihr eifrig zu, was für eine fantastische Idee das sei. Ihnen war jetzt schon klar, dass es schwierig sein würde, Clara in den nächsten Tagen zu irgendetwas zu motivieren. Der berühmte Klotz am Bein, das konnte ja heiter werden.

„Was ist denn mit der passiert?“, echauffierte sich Bianca wenig mitfühlend, als Clara verschwunden war.

„Ach, das wird schon“, beschwichtigte Anna. „Immerhin ist sie hier, was bestimmt nicht einfach für sie war. Wir müssen ihr eine Chance geben …“

„Da hast du recht, du Gute“, gab Bianca schon sanfter zu und hakte sich bei ihrer Freundin ein.

Gemeinsam erkundeten sie nun das fünfte Deck, auf dem die Shoppingmeile, einige Restaurants, Bars und das Casino lagen. Auch warfen sie einen Blick in das Theater, das sich über drei Stockwerke ersteckte.

Bereits jetzt wurde deutlich, dass sie etwas Zeit brauchen würden, um sich auf dem Ozeanriesen zurechtzufinden. Jede von ihnen deutete in eine andere Richtung, als sie zurück zur Empfangshalle laufen wollten. Kurz entstand eine hitzige Diskussion.

„Das Heck ist doch in diese Richtung und da ist auch der Empfang“, war sich Anna sicher.

„Nein, da ist der Bug. Wie müssen hier lang und dann in den dritten Stock!“, bestimmte Bianca.

„Wie du meinst…“, wollte Anna gerade klein beigeben, als sie einen Steward sahen und fragten.

Anna hatte recht gehabt, was sie etwas mit Stolz erfüllte.

„Grins nicht so selbstgefällig“, fauchte Bianca sie von der Seite an.

In dem Moment wurde Anna zum ersten Mal klar, dass es eventuell gar nicht so einfach sein würde, fünf völlig unterschiedliche Frauen eine Woche lang unter einen Hut zu bekommen.

Windstärke 4

20–28 km/h. Mäßiger Wind. Wellen noch klein, werden aber länger, weiße Schaumkronen treten ziemlich verbreitet auf.

Etwas verspätet kamen Anna und Bianca in der Empfangshalle an, um genau zu sein, drei Minuten zu spät. Neugierig blickten sie sich um. Die Empfangshalle war nun festlich mit goldenen Girlanden geschmückt und ein in einem schwarzen Frack gekleideter Pianist spielte auf einem Flügel. Gemächlich klimperte er ein Lied von Elton John, was, bis er anfing zu singen, eine durchaus nette musikalische Untermalung war.

In dem Augenblick entdeckten sie ihre Freundinnen. Clara und Eva saßen bereits an der Bar, allerdings nicht zusammen, sondern jede für sich. Kein Wunder, denn die beiden sahen wirklich nicht mehr so aus wie damals.

„Sie haben sich nicht erkannt“, prustete Bianca los und schüttelte ungläubig den Kopf.

Anna blickte sie streng an. Sie fand die Situation gar nicht komisch, vor allem Clara tat ihr leid. Sie musste sich völlig fehl am Platz vorkommen.

„Geh du zu Eva, ich zu Clara. Dann setzen wir uns an einen der Tische da drüben“, entschied Anna ungewohnt bestimmt.

Bei dem Tisch angekommen, begrüßten sich Eva und Clara überraschend herzlich. Entweder zeigten die Cocktails, die beide tranken, schon ihre Wirkung oder es war die Erleichterung darüber, dass noch jemand in der Gruppe ähnlich verändert aussah.

Nachdem sie sich hingesetzt hatten, quatschten alle aufgeregt durcheinander, bis Eva sie aufforderte: „Lasst uns Ausschau nach Daniela halten. Nicht, dass wir sie verpassen!“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752103281
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
romantische Komödie Freundschaft Mittelmeer Italien Frauengeschichten Spannung Midlifecrisis Kreuzfahrt Reise Humor Frauen Krimi Thriller Liebesroman Liebe

Autor

  • Mimi J. Poppersen (Autor:in)

Mimi J. Poppersen ist das Pseudonym einer deutschamerikanischen Schriftstellerin, deren Romane sonst im Krimi-und Thrillerbereich angesiedelt sind. Mimi J. Poppersen ist freie Journalistin, und wenn sie nicht gerade auf der Suche nach einer spannenden Geschichte um die Welt reist, lebt sie mit ihrer Familie in Santa Cruz in Kalifornien oder in ihrer Heimatstadt Heidelberg. Instagram: mimij.poppersen Kontakt: mimijpoppersen@gmail.com
Zurück

Titel: Windstärke 10