Lade Inhalt...

Maskenball des Todes

von Manuela Tengler (Autor:in)
261 Seiten

Zusammenfassung

Bei einer Bürgerversammlung gerät die alleinerziehende Polizistin Alessandra Fornati unvermittelt in die Fronten zwischen Kreuzfahrtlobby und aufgebrachten Venezianern, die um das Überleben ihrer Stadt fürchten. Alessandras Engagement schürt neue Hoffnung und tatsächlich scheint bei der nächsten Protestaktion in der Lagune eine Trendwende möglich. Dabei droht Alessandra zu ertrinken und wird von einem geheimnisvollen Mann gerettet, doch bald muss sie sich fragen, ob Fabio wirklich ihr Retter und auf ihrer Seite ist. Die neue Jeanne d Àrc Venedigs wird in ihrem Kampf immer mehr zur Marionette mächtiger Konsortien. Verzweifelt versucht sie ihre Unschuld zu beweisen, aber niemand glaubt ihr. Am Höhepunkt der Feierlichkeiten des Carnivale di Venezia warnt Alessandra ihre Kollegen, doch niemand glaubt ihren Prophezeiungen. Inzwischen bahnt sich vor dem Dogenpalast eine Katastrophe an. Gelingt es Alessandra rechtzeitig, die Drahtzieher zu entlarven und ihre Stadt vor dem sicheren Untergang zu retten? FÜR WEN IST DAS BUCH GEEIGNET: MASKENBALL DES TODES ist für alle, die Venedig lieben, hassen oder neu entdecken möchten! Für Kreuzfahrer, die gern mal hinter die Kulissen schauen möchten. Für Bücherfreunde, die spannende, emotionale Bücher schätzen. FÜR WEN IST DAS BUCH NICHT GEEIGNET: Für Leser, die nach der letzten Seite gleich zum nächsten Buch greifen. Ich würde mich freuen, wenn die Charaktere und ihr Schicksal in den Lesern etwas nachschwingt. AKTUELLER STOFF - BRISANT WIE NIE Die Diskussionen, ob und in welcher Größe die Kreuzfahrtschiffe durch den Guidecca-Kanal fahren dürfen, sind nach wie vor präsent in der Lagunenstadt. Es geht um viel Geld, um Arbeitsplätze - dagegen steht jedoch die Gesundheit der Venezianer - UND die der Touristen, die Venedig besuchen oder an Bord eines Kreuzfahrtschiffes stehen. Nach den Beinahe-Katastrophen in den letzten Jahren ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Unglück geschieht ... Nach Interview mit den Aktivisten von "No Grande Navi" verfestigte sich meine Buchidee. Ich hoffe, dass ich damit auch zum Nachdenken anrege. Wir alle haben es in der Hand, Venedig LEBENSWERT zu erhalten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG – Un grande disastro

Die Dienststelle der Serenissima, die Questera, war längst abgeschlossen. Aus dem kleinen Haus nahe der Piazzale Roma klangen weit nach Feierabend gedämpft Stimmen nach draußen. Dunkle Schatten tanzten hinter den verdunkelten Scheiben. Sie erinnerten an Figuren der Commedia dell`Arte. Giuseppe, der Dienstälteste der Carabinieri, feierte seinen 60. Geburtstag im Kreise der Kollegen – und mit ihr, seiner einzigen weiblichen Kollegin. »Du schuldest mir einen Tanz, cara mia«, flüsterte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Alessandra lächelte, während sie ihm auf die imaginäre Tanzfläche folgte. Wie konnte sie diesem Mann, der alles für sie tat, einen Wunsch abschlagen? Zwischen Schreibtisch und Kaffeeautomat wiegte er sie sanft hin und her. »So tanzten wir schon einmal. Erinnerst du dich?« Er lächelte.

Sie nickte, schmiegte den Kopf an Giuseppes Brust. Hundert Augen waren damals auf das attraktive Brautpaar gerichtet. Mit Paolo an ihrer Seite fühlte sie sich unverwundbar und stark. Gemeinsam trotzten sie den unregelmäßigen Dienstzeiten bei der venezianischen Polizei, die ihrer Liebe in den folgenden Jahren einiges abverlangen sollten.

Giuseppes Herzschlag beschleunigte sich. Auch er verlor sich in Erinnerungen und kämpfte wohl wie sie um Fassung. Die Kugel zerstörte nicht nur Paolos Leben. Auch Giuseppes Leben wurde an diesem Tag ein anderes. »Dein Sohn hätte dir eine solche Kalorienbombe von Torte nie geschenkt.« Sie zeigte auf die Schokoladentorte am Tisch und spürte den unregelmäßigen Herzschlag des alten Mannes. Ein Kloß steckte in ihrem Hals. »Nun schnell! Geh zurück ans Buffet, bevor sie dir deine Geburtstagstorte wegessen.« Bevor sie beide endgültig von den quälenden Erinnerungen überwältigt wurden, strich sie über Giuseppes Rücken. Das blaue Diensthemd war zerknittert. Sie lächelte. Der Witwer wäre verloren ohne sie, und sie ohne ihn. Stefano und Antonio, ihre Kollegen, lümmelten auf Giuseppes vollgeräumten Schreibtisch und feixten, wer von ihnen der bessere Tänzer wäre. Giuseppe löste sich nur ungern aus der Umarmung und deutete ihnen ihr Talent zu beweisen. Mit unsicheren Schritten folgte er einer unhörbaren Musik und grinste, als Alessandra zum Ausgang zeigte. Sie überließ die Männer ihrem eigenen Programm. Sie sprachen an diesem Tag nicht wie sonst über die neuesten Waffen, ihre Bambini oder den wachsenden Groll gegen unbezahlte Überstunden. Sie klärten heute Nacht keine Streiche venezianischer Jugendlicher auf, die auf der Piazzale Roma die Wände beschmierten oder mahnten Touristen wegen Bagatellen ab. Heute übertrumpften sich die betrunkenen Männer mit Plattitüden der Politik, über das Ausscheiden bei der Fußball-WM. Sie schimpften über ihre eifersüchtigen Frauen daheim, während sie ihren Ärger mit einem Grappa nach dem anderen hinunterspülten. Sie wollten feiern und Wetten abschließen, wer von ihnen die Nachfolge von Giuseppes Platz in der Questera antrat.

Alessandra schüttelte den Kopf, als Giuseppe sie zu sich winkte. Sie brauchte dringend Sauerstoff. Der Gestank kubanischer Zigarren und der steigende Alkoholspiegel unter den Kollegen lockten sie ins Freie. »Männer, also wirklich.«

Eine milde Nacht erwartete sie in der Serenissima. Sie tippte auf das vertraute Gesicht am Display ihres Handys und lächelte, als sie die verschlafene Stimme hörte. »Ich weiß, du bist noch wach. Ich sehe Licht.« Das war eine glatte Lüge, aber bei einem achtjährigen Jungen funktionierte das blendend.

»Ein paar Minuten, mamma, bitte! Ich helfe dafür nonna beim Einkauf, die ganze nächste Woche, versprochen!«

Funkstille. Ein Grinsen, das sie ohne Ton verstand. Aurelio wusste wie er sie überzeugte. »Einverstanden. Ich bleibe noch eine halbe Stunde und bringe noch Giuseppe nach Hause, okay? Ich hab dich lieb, schlaf gut.«

»Buona notte mamma!« Schon brach die Verbindung ab.

Unschlüssig, ob sie zu dem ausgelassenen Männervolk dazu stoßen sollte, entschied sich Alessandra für die knallrote Bank vor der Dienststelle. Ein paar Minuten, um die in ihrem Leben rar gewordene Stille in der Serenissima genießen, die Alltagssorgen vergessen. Es ging nicht um die verspätete Weinlieferung für Giuseppe, den Dienstplan während Aurelios Schulferien. Endlich allein mit ihrem heimlichen Geliebten. Ihr geheimnisvoller Liebhaber, der spärlich beleuchtete Canal Grande, zog viele Jugendliche magisch an. Sie tanzten ausgelassen auf den fondamente der rivoletto und rii. Ihr schrilles Lachen schwappte über das Wasser und steckte an. Offenbar ertrugen die Männer die stickige Luft in den Arbeitsräumen selbst nicht länger. Aus einem gekippten Fenster lauschte sie mit einem unterdrückten Grinsen Giuseppes Vorliebe für Verdis Opern, Antonios Bariton zu Gianna Nannini und Stefanos Lachen. »Ihr seid verrückt«, flüsterte sie. In diesem Moment war ihr die Polizei-Familie so nah wie niemals zuvor. Nach Paolos Tod waren Stefano und Antonio nicht anders mit ihr umgegangen als vorher. Sie hätte kein Mitleid, keine Vorzugsbehandlung ertragen und war dankbar, die plötzliche Leere in ihrem Leben mit Arbeit füllen zu können. Bis Giuseppe ein Machtwort gesprochen hatte. Sein Enkel hat seinen Vater verloren, das ist genug Schmerz für ein Kind. Ohne ein weiteres Wort passte er ihre Dienstpläne an, sodass sie nach Schulschluss daheim war. Giuseppe hatte wie sie Paolos Tod bis heute nicht verwunden, aber ihr gegenüber tat er, als stünde er über allem und jedem.

Verträumt blickte sie zur Seite. Sie liebte Venedig. Anfangs war es eine Hassliebe gewesen, aber nun konnte sie sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Hier war Aurelio geboren, hier trösteten ihn Erinnerungen an seinen Vater. Ein paar Biegungen abwärts warfen die beleuchteten Säulen und Arkaden des Dogenpalastes gespenstische Schatten auf die Böden. Nur noch wenige Touristen schlenderten zu der späten Stunde durch die dunklen, engen Gassen im San Marco sestriere. Sie bewunderten die mit Scheinwerfern beleuchteten Pferde der Quadriga an der Westseite der Basilika San Marco, die bereit schienen, loszutraben. Die marmornen Statuen auf der Längsseite der Biblioteca Nazionale Marciana zeugten von der ruhmreichen Vergangenheit der venezianischen Seemacht. Unaufmerksame Besucher unterließen es sträflich, den auf den einst mühsam aufgestellten Säulen mit über vier Meter langen Löwen auf der Plattform ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sie musste nicht auf der anderen Seite des Hafenbeckens stehen, um sich darüber wie Giuseppe und andere zu entrüsten. Wie viele Venezianer verurteilte auch sie, dass ihre Heimatstadt zu einem Vergnügungspark für Tagestouristen verkam. Die Schätze der einst reichen Seemacht des 14. Jahrhunderts fanden sich aber auch an unscheinbaren Orten. Sie waren allgegenwärtig, aber im 21. Jahrhundert zählten ein stabiler W-LAN-Empfang, getaktete Besichtigungen dank QR-Code und ein hastiges Selfie beim Carnivale di Venezia mehr. Grauenhaft, wie schamlos sich manche Besucher gebärdeten und sich ihnen damit die Schönheit verborgener Ecken fernab des Reiseführer-Klischees oder gut erhaltene Reliefs verschloss.

Ein Lichtstrahl aus der mit blauen Lettern ausgeschilderten Questera, dem Polizeipräsidium Venedigs, erhellte den Granitboden und schreckte sie jäh aus den Gedanken. Hastig trat sie aus dem Schatten eines ausrangierten Polizeibootes und wischte rasch die Tränen fort.

»Ist alles in Ordnung?« Giuseppes fülliger Körper warf deutliche Umrisse auf den Boden.

Ein Brummbär mit viel Herz, der mehr als nur ein Vorgesetzter für sie war. Mit Paolos Tod vertiefte sich ihr Verhältnis. Vom trauernden Schwiegervater wandelte sich Giuseppe zu ihrem engsten Vertrauten. Er stand ihr in langen Nächten bei, in denen Aurelios Weinen ihr das Herz zerriss. Ihr Sohn sei viel zu jung, um das Schreckliche zu verstehen. Paolos vertraute Stimme, die den Jungen abends in den Schlaf sang, fehlte von einem Tag auf den anderen.

»Bene, ich komme gleich. – Wirklich, Giuseppe.«

Giuseppe blieb stehen und sah sie eindringlich an. Er traute ihr nicht. »Die Lagune stirbt nicht, wenn du eine Sekunde nicht auf sie achtest. Deine Kollegen hingegen kommen morgen nicht zur Arbeit, wenn du mir nicht hilfst, sie aus dem Büro zu jagen. Es dauert nicht mehr lange, bis du deinen Kontrollzwang ohne mein Einwirken ausleben wirst.«

Mit gespielt grimmigem Gesichtsausdruck eilte sie mit Giuseppe als Verstärkung ins Dienstzimmer zurück. »Die Party ist vorbei, Jungs«, erklärte sie und wollte gerade das Radio abstellen, als ein Jingle eine Sondermeldung verkündete. »Seid still!« Hastig drehte sie am Lautstärkeregler.

»Noch ist unklar, wie viele Tote durch das Unglück des Kreuzfahrtschiffes der Reederei OCEANDREAMS tatsächlich an der italienischen Küste zu beklagen sind. Experten halten vorzeitige Spekulationen über den Unfallhergang für gefährlich. Sie warnen …«

»Mamma mia!« Antonio hatte den Fernseher eingeschalten. Bilder des in Havarie geratenen Luxusliners ließen die ausgelassene Stimmung im Dienstquartier der Questera verpuffen. Kameras von Hubschraubern, die über der Unglücksstelle kreisten, zeigten auf der aufgepeitschten Wasserfläche leblos treibende Körper, bunte Koffer und zerborstene Wrackteile. Ein kleines Rettungsboot trieb mit dem Kiel nach oben.

Langsam kehrte Leben in die betrunkenen Männer. »1240 Passagiere, doppelt so viel wie die Mannschaft«, meldete Giorgio tonlos, als er den Hörer aufgelegt hatte. Das schreckliche Ereignis löschte seine Trunkenheit mit einem Schlag.

Stefano nickte bestätigend und wedelte mit einem Fax. »Die Küstenwache ist auf dem Weg zur Unglücksstelle, aber die Lage des Schiffes sei instabil. Wie viele Menschen betroffen sind, scheint derzeit unklar. Es herrscht pures Chaos.«

1240 Menschen, die sich auf eine Kreuzfahrt durch das Mittelmeer gefreut hatten, erlebten unvorstellbares Leid. Und niemand wusste Genaueres. Alessandra wartete angespannt auf aussagekräftigere Fakten, Informationen über mögliche Gründe für das Unglück, das in wenigen Minuten das Leben vieler dramatisch verändert hatte. Die Nachrichtenticker rund um die Welt überschlugen sich im Minutentakt mit Meldungen, während sich die Pressemeldungen der Reederei auf den möglichen Schaden des Schiffes konzentrierten. Der human factor wurde ausgeklammert. Vonseiten der Reederei hieß es, man sei bestürzt und versuche alles, um die Angehörigen rasch zu informieren. Die eingerichteten Hotlines brachen angesichts der vielen Anrufe verzweifelter Angehöriger nach wenigen Minuten zusammen. Alessandra verfolgte die einströmenden Nachrichten mit wachsendem Entsetzen. Sie konnte sich nicht vom Bildschirm losreißen, obwohl ihr das Schicksal der Menschen viel zu sehr naheging. Heute gelang es ihr nicht, Job und Gefühle zu trennen. Für die Eltern, Ehepartner, Kinder und Freunde jener Menschen an Bord des Schiffes musste die Ungewissheit schier unerträglich sein. Vor Tagen verabschiedeten sich die aufgeregten Kreuzfahrer mit einem glücklichen Lächeln und voller Vorfreude auf eine Traumreise ins Glück. Niemand kalkulierte in einem solchen Moment die Kosten einer Bergung, wenn es um Menschenleben ging, dachte an mögliche Abwrackzahlen oder gar Entschädigungszahlungen.

Offenbar befand sich bereits das Fernsehteam eines lokalen Senders an der Unglücksstelle. Hinter einer jungen Reporterin, die mit ihren Kollegen in dem kleinen Hafen ein provisorisches Mediencenter bezogen hatte, kauerten gerettete Passagiere des Schiffes auf notdürftig aufgestellten Feldbetten. Sie starrten teilnahmslos vor sich hin. Begriffen sie die Tragweite des Unglücks? Viele hüllten sich in Decken und versuchten verstört, den erbarmungslosen Kameralinsen auszuweichen. Abgehacktes Weinen, verzweifelte Rufe nach den Liebsten, die noch immer als vermisst galten, brachten die leiderfahrenen Männer der italienischen Küstenwache zum Verstummen. Hektische Kamerabewegungen, das Meer schwankte – oder war es die Kamera, die unter dem Grauen des Gezeigten erbebte? Die junge Frau in einem unschuldig wirkenden weißen Kleid trat vor die Kamera. Carlotta Neri. Der Einspieler machte den Namen der bisher unbekannten TV-Reporterin schlagartig bekannt. Der Wind riss an ihren glänzenden Haaren, während sich Neri mit einem kurzen Blick auf die Unglücksstelle unweit des Festlandes zu vergewissern schien, dass es stimmte. Das war kein Blockbuster aus Hollywood, sondern live. Europa. Italien. Schon mehrfach hatte es Zwischenfälle mit Kreuzfahrtschiffen auf der ganzen Welt gegeben. Seitens der Reedereien fand man stets nachvollziehbare Gründe für die Unglücke. Unbekannte Strömungen, plötzlich aufkommender Wind, ein defektes Bugstrahlruder. Man zahlte horrende Summen, um negatives Material nicht nach außen dringen zu lassen. Es floss viel Geld.

Man entschädigte die Passagiere mit der Übernahme entstandener Unkosten und lockte mit fulminanten Rabatten für die nächste Kreuzfahrt. Es gab so vieles, das angesichts von Abertausenden Tonnen Stahl binnen Minuten zu einer tödlichen Gefahr werden konnte. Wurde man als Passagier auf Sicherheitsmängel hingewiesen, darauf, dass die Karabiner und Seile der an Deck verstauten Rettungsinseln verrostet waren? Vage erinnerte sie sich an einen Techniker, den sie bei einem Zwischenfall im Guidecca Kanal im Hafen kennengelernt hatte. Selbst er bestätigte, es könne kein Restrisiko in Aussage gestellt werden. Das wäre so fahrlässig wie die Aussage, die Titanic wäre unsinkbar.

»… Ein technisches Versagen wird derzeit nicht ausgeschlossen …« Die junge Reporterin suchte nach den passenden Worten, um den Zuschauern in ihren warmen Wohnzimmern fern des Unglücksortes das Ausmaß dieser Tragödie zu verdeutlichen. Sie bemühte sich, die schrecklichen Nachrichten mit viel Herz zu vermitteln und kämpfte selbst mit den Tränen, als die Kamera auf einen tropfnassen Teddybären zoomte. Neri schien nicht so sensationslüstern wie ihre Kollegen zu sein. Sie winkte hektisch in die Kamera. Das harte Business des Journalismus forderte an diesem Tag genügend Opfer. War Neri resolut genug, sich zu behaupten? Inzwischen trafen weitere TV-Sender ein und berichten nun ebenfalls live vor Ort. Unerbittlich hielten sie verzweifelten Überlebenden das Mikrofon vor die Nase, zoomten mit ihren Kameralinsen auf rot unterlaufene Augen, auf traumatisierte Kinder. Quote zählte, Tragödien pushten, perfetto. Je größer das Leid, desto höher die Zuschauerzahlen.

Alessandra schauderte vor Entsetzen, während Stefano sich durch die Kanäle zappte. Jeder größere Sender unterbrach das Programm oder hielt die Zuschauer mit einem eingeblendeten Liveticker auf dem Laufenden. Bekannte Gesichter aus den Nachrichten und der Politik verkündeten ihre Anteilnahme. Das Gesicht mit einem Wimpernschlag auf ‚Unser aufrichtiges Beileid’ getrimmt. Carlotta Neri dagegen überforderte die grauenhafte Situation. Ihre Augen waren gerötet, fieberhaft glitt ihr Blick aus dem Fokus des Kameramannes. Eine Familie verließ eben einen Rettungswagen. Das Gesicht verquollen von Tränen umklammerte die Frau die Hand ihres Mannes, während dieser fassungslos auf den Unglücksort zurückblickte. Seine Hand zitterte, während er auf das – vor Stunden noch hell erleuchtete – Kreuzfahrtschiff zeigte. »Mein Sohn«, stammelte er und packte einen Sanitäter an der Jacke. »Sie werden ihn finden, nicht wahr? Mein Sohn ist auf diesem Schiff, retten Sie ihn.«

Die Kamera näherte sich dem Familienvater. Plötzlich erschien Neri im Bild. Mit hektischen Bewegungen drängte sie den Kameramann ab und verharrte neben dem traumatisierten Mann. Dieser taumelte und blieb teilnahmslos liegen.

Die Kamera schwenkte weiter, folgte überforderten Mitarbeitern des Roten Kreuzes. Sanitäter verteilten hektisch Wasserflaschen, die sie aus lächerlich bunten Plastikkörben zogen, die in dieser Situation wie blanker Hohn wirkten. Es war zu bunt dort. Zu laut. Zu schrecklich. Zu unrealistisch.

Schalt weiter, wollte sie Stefano bitten, aber alle in der Dienststelle waren zu geschockt. Niemand konnte den Blick von diesen Bildern lösen.

Alessandra schüttelte benommen den Kopf. Die Katastrophe passierte nicht weit entfernt von Venedig, wenn sie die kaum lesbare Karte, die der Sender in diesem Moment eingeblendet hatte, korrekt erkannte. Kaum auszudenken, wenn diese Katastrophe hier -

»Alessandra, dein Handy läutet«, bemerkte Giuseppe und drückte sanft ihren Arm. »Die armen Familien. Da freut man sich auf eine Kreuzfahrt und spart, um dann so zu enden? – Unfassbar, was für eine Tragödie!«

Sie nickte fassungslos. Ein Blick aufs Display verriet den Anruf ihrer Mutter. »Was ist denn schon wieder? Du hast mich doch erst vorgestern …« Nach einem kurzen Zögern drückte sie den Anruf weg und starrte wieder auf den Bildschirm. Wie ein Mahnmal ragte der Bug des einst so imposanten Schiffes von fast 300 Metern Länge aus dem Meer. Was geschah an Bord, wenn sich Hunderte Menschen panisch und mit letzter Kraft über Bord zu retten versuchten? Noch immer harrten Dutzende Menschen auf dem Schiff aus. Frauen in eleganten Abendkleidern eilten ans andere Ende des Schiffes. Wie von ihren Schnüren befreite Marionetten taumelten sie umher. Das Captainsdinner war wahrhaftig ein unvergessliches Ereignis geworden. Die sorgfältig hochgesteckten Dutte hingen herab, verdeckten panisch große Augen. Schrille Stimmen gellten über die Decks, als das Schiff sich plötzlich mit einem Ruck auf die Seite neigte. Um Hilfe rufende Menschen rutschten auf dem schräger werdenden Deck ab, ihre Körper wurden brutal gegen die Reling geschleudert.

Die ersten Live-Aufnahmen auf RAI Uno und anderen Sendern von der Amaryllis of the Ocean trieben Alessandra Tränen in die Augen. »Sie springen!« Sie schrie entsetzt auf, packte Giuseppes Arm. »Das ist doch Irrsinn. Wie hoch ist so ein Schiff?«

»40, 50 Meter?« Antonio stand neben ihr. »Das wäre Selbstmord. Es gibt keine Chance zu überleben.«

Wieder nickte sie. Stumm vor Entsetzen. Wie verzweifelt musste dieser Mann in seinem schwarzen Anzug sein, der versuchte, sich mit einem Sprung ins kalte Wasser zu retten? Er klammerte die Reling und versuchte hochzusteigen. Sie meinte, seine Angst zu spüren. Es war sein Puls, der ihr Herz in einen gefährlichen Rhythmus versetzte, seine Angst, die ihr den Atem raubte. Dann ertönte ein schauriges Geräusch über den eben noch taghell beleuchteten Decks des Kreuzfahrtschiffes. Ein Teil des Schiffes schwand jäh in der Schwärze des Meeres.

»Mio dio! Das Schiff bricht auseinander wie die Titanic! Das ist nicht möglich. Da sind noch Menschen …« In Giuseppes Gesicht war die Bräune eines leidenschaftlichen Seglers einem bleichen Ton gewichen.

Wieder läutete ihr Handy. Abgelenkt nahm Alessandra das Gespräch an. »Mamma, es ist etwas Schreckliches passiert. Du … Wo bist du? Es dröhnt markerschütternd …« Sie sah die Bilder, die surreal mit den Geräuschen im Fernsehen harmonierten. Spürte den viel zitierten Flügelschlag des Schmetterlings auf der anderen Seite der Welt. Dann katapultierte die brutale Wirklichkeit sie in derselben Sekunde in ihr eigenes Schicksal. Hörte sie nicht das unmenschliche Stöhnen und Weinen ihrer Mutter, während sich das Schiff mit einem überraschend sanften Ruck weiter zur Seite neigte? Hörte sie den kollektiven Aufschrei der Menschen, die auf dem Schiff ausharrten und vergeblich um Hilfe schrien – aus ihrem Handy. »Mamma?« Ihre Lippen zitterten, Tränen verschleierten ihren Blick. Sie griff ins Leere. Taumelte. Ihre Ohren vibrierten. »Mamma

»Ich liebe dich, principessa, hörst du. Gib Aurelio einen Kuss von seiner nonna.« Die letzten Worte ihrer Mutter gingen in dem unheilvollen Krächzen und Kreischen von blankem Stahl unter. Den Ton der schrecklichen Ouvertüre erbarmungslos im Ohr, lieferten die dramatischen Bilder die noch schrecklichere Gewissheit. Ihre Mutter war dem Tod ausgeliefert. Teile des Oberdecks gaben unter dem Druck nach. Die stählernen Streben barsten wie morsches Holz und begruben alles unter sich. Die Erschütterung, einem Erdbeben gleich breitete sich über den gesamten Schiffsbau aus und zog ringförmige Kreise um das Schiff.

In diesem Moment gellte ein morbider Schrei in Alessandras Ohren. Sie hielt sich die Ohren zu, erschrak über die verzweifelte Kraft dieser Stimme, ihrer eigenen Stimme, die ihr gleichzeitig versagte, Giuseppe zu rufen. Es erschien ihr wie Erlösung, als sich alles schwarz färbte und sie im Kreis ihrer Kollegen zusammenbrach.

1 – No grande navi basta!

Sie bahnen sich unbarmherzig einen Weg, um zu töten. Sie raffen weit weniger Menschen dahin wie die Pest, töten langsam und qualvoll. Todesengeln gleich tanzen die dunklen Rußpartikel grazil über deinem Kopf, dringen in deine Lunge und warten dort geduldig auf deinen Tod. Dieses Unglück kann jeder sehen, aber niemand tut etwas, um es aufzuhalten. La morte è vicina. Der Tod ist nah.

Tränenblind sah Alessandra von ihrem Notizbuch auf. Sie rang nach Atem, brauchte ein paar Sekunden, um ins Jetzt zurückzufinden. Wie so oft in den letzten fünf Jahren versank sie an manchen Tagen in eine tiefe Trauer, die sie vor Aurelio verbergen musste. Sie las in seinen Augen, wie besorgt er war. Der kleine Mann, der seinen Vater würdig vertreten wollte. Vergeblich versuchte sie bis heute diese unheilvolle Welt aus Profitgier, wirtschaftlichen Interessen skrupelloser Stakeholder zu verstehen. Akribisch suchte sie seitdem nach der Wahrheit hinter all den Lügen und Ungereimtheiten, die diese schreckliche Schiffskatastrophe ausgelöst hatte. Einem Sumpf gleich, der sie tiefer und tiefer hinabzog, ohne dass sie sich wehren konnte, wiederholte sie immer wieder die Fakten. Mit lautem Knall klappte sie das vollgeschriebene Buch zu. Nach vorn sehen lautete die Devise. Das musste sie Giuseppe versprechen. Sie musste endlich aufhören, nach einem Schuldigen zu suchen. Zu viel stand für manche auf dem Spiel, um ein Opfer auf die Schlachtbank führen zu wollen, dessen Blut niemand auf sich schütten wollte. Es ging um viel Geld. Vor allem um Macht und die Gewissheit, den ungebrochenen Trend mit noch größeren Kreuzfahrtschiffen von Venedig oder Genua aus in See zu stechen. Jeden Tag kämpfte sich Alessandra von Neuem ins Leben zurück, suchte nach einem Weg, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen, Aurelio zuliebe. Jedes Schiff, das in die Lagune einfuhr, zerriss ihre Hoffnungen wie die Rußpartikel die Lungen ihrer Freunde und Nachbarn.

Unheilschwanger färbte sich der Himmel über der Lagune tiefrot, dann pestschwarz. Wie dunkle Dämonen tauchten diese Kreuzfahrtschiffe auf, drangen ungebeten in die Idylle der Serenissima ein und setzten sich über das Leben anderer hinweg. Getrieben von Neugier, unstillbarer Gier nach Profit warfen sie unheilverkündende Schatten auf die bröckelnden Mauern und Hausfassaden der Serenissima. Verdunkelten das Licht in den Palazzi am Canal Grande beim Einlaufen. Verdrängten Tonnen von Wasser, sodass die Boote in den Seitenkanälen gut 20 Zentimeter höher lagen. Frästen sich mit riesigen Bugstrahlrudern durch die seichte Lagune. Töteten unbewusst in jeder Sekunde, die das Dröhnen der Motoren tief in das kollektive Bewusstsein von Meeresbewohnern, Fundamenten und Venezianern drang. Sie waren alle längst dem Untergang geweiht! Es gab kein Entrinnen mehr.

Bis es in der Serenissima zur Katastrophe kam, war es nur eine Frage der Zeit. Es war unvermeidbar.

Alessandra schauderte. Jedes Mal, wenn die Schlepper ein Kreuzfahrtschiff in die Lagune zog, wurde ihr bewusst, was für eine schreckliche Zeitbombe an ihr vorbeifuhr. Seit dem Morgengrauen kauerte sie schon am Kai auf der kleinen Insel San Giorgio, abseits des Touristenrummels im San Marco Sestriere. Auf San Giorgio und dem Canale della Guidecca ging es beschaulicher, stiller zu. Die Touristen eroberten den Campanile des kleinen Eilandes nur, um das atemberaubende Panorama auf dem Markusplatz gegenüber zu erleben. Sie knipsten hastig ein paar Selfies vor der Kirche, bis das nächste Vaporetto kam und sie von dem verschlafenen Eiland rettete.

Vor dem Palazzo Ducale versammelte sich in den frühen Vormittagsstunden eine dichte Menschentraube, die sich das Spektakel eines einlaufenden Ozeangiganten nicht entgehen ließ. Alessandra meinte begeisterte Rufe, aber auch Schreie der Entrüstung zu hören. Oh ja, sie wusste, wie klein und unbedeutend, wie ungeschützt man sich auf der anderen Seite des Markusbeckens fühlte. Der Boden vibrierte. Nur leicht, kaum spürbar angesichts der Menschenmassen, die zu Hunderten, gar Tausenden täglich über den unebenen Platz wogten. Die regelmäßigen Erschütterungen von Schiffen, Menschen und Wasserbussen bildeten Risse auf dem Pflaster der Piazzetta. Teile der Fundamente, die den Kai, den Canal Grande sowie die vielen ri säumten, gaben dem beständigen Ein- und Auslaufen des vermehrt salzigen Lagunenwassers nach. Das allein zeigte doch deutlich, überlegte sie, dass nicht allein die Umweltverschmutzung ihren Tribut forderte. Experten versuchten seit Jahren, die Bevölkerung und die Regierung aufzuklären, woher diese Verwerfungen kamen. In tieferen Bereichen richteten sie weitaus größeren Schaden an, unsichtbaren Schaden. Manche der unzähligen Campanile Venedigs neigten sich bedenklich zur Seite und boten den Besuchern pittoreske Aufnahmen. Sollte Venedig als die Stadt der schiefen Türme neue Geschichte schreiben? Die nahe stehenden Häuser harrten würdevoll aus und hielten auf den ersten Blick dem schädigenden Einfluss von Motoren und verheerenden Schadstoffemissionen stand. Es gab allerdings belegbare Zahlen, anerkannte Studien und medizinische Gutachten, dass die Zahl der Krebserkrankungen in Venedig deutlich gestiegen war. Zahlen, die bei den Reedern sowie den großen Playern in der Politik und bei den investierenden Konzernen auf Desinteresse stießen. Die steigenden Buchungszahlen und Vorbestellungen neuer Schiffe hingegen, die profitable Gewinne brachten, noch bevor sie Wasser unter dem gigantischen Kiel verspürten, waren vorrangiger.

Die Kälte des nahenden Herbstes spürend, trotzte Alessandra ihrem Wunsch, dem verhassten Schiff den Rücken zu kehren. Stattdessen blieb sie, kauerte vor dem blendend weiß gestrichenen Leuchtturm der Insel und biss sich auf die Lippen, um nicht ihren Zorn hinauszuschreien. Sie schmeckte Blut. Die Kälte fraß sich tiefer unter ihre Jacke, aber sie konnte sich von dem schrecklichen Anblick nicht lösen. Jede Passage zog sie magisch an: Erfüllt von Angst, was passieren könnte, wenn niemand kontrollierte und gleichzeitig mit einem Hoffnungsschimmer, diesem ignoranten Treiben irgendwann ein Ende zu setzen. War sie denn wirklich die Einzige, die erkannte, wie gefährlich es war, diesen Ungetümen nicht die Zufahrt zu entsagen? Fast 60 Meter hoch, gut 300 Meter lang und 31 Meter breit enterte die Freedom of the Sea das Hafenbecken. Unbeeindruckt von Alessandras Zorn demonstrierte das Schiff bei der Einfahrt in den Canale della Guidecca seine imposante Größe. Diabolisch und unüberhörbar heulte das Schiffshorn auf. Verhöhnte der Kapitän auf der Brücke sie? Seit ein paar Dutzend engagierter Venezianer seit Monaten Widerstand zeigten, kam es ihr vor, als ertönte das Horn länger als früher. Seht nur, wir sind stärker!

Venedig. So viele liebten diese Stadt, kehrten gerne wieder. Ließen sich von der Kulisse einer pittoresken Stadt gefangen nehmen, ohne zu ahnen, dass die Müllentsorgungskosten der Stadtverwaltung und die Lebenskosten horrende Preissteigerungen erlebten. Verfallene Palazzi spiegelten sich im von den Vaporetti aufgewühlten Wasser des Canal Grande. Für 600.000 Euro und mehr wurden sie an ausländische Investoren verkauft, um als Einkaufstempel oder 5-Sterne-Hotel in neuem Glanz aufzustehen. Eine Suite für 3.000 Euro die Nacht in Venedig galt unter den Neureichen der Welt en vogue. Ihre 50 Quadratmeter große Wohnung kostete 800 Euro kalt. Früher kaufte sie ihre Brötchen beim Bäcker ums Eck, ihr Fleisch beim Fleischer nebenan. Heute reihten sich Souvenirläden von Chinesen aneinander, Designerläden für diejenigen, die sich den luxuriösen Aufenthalt im Hotel Danieli mit Blick auf das San Marco Becken leisten konnten. Lebenswichtiger Wohnraum für die Venezianer wurde in teure Apartments umgewidmet, deren Vermieter fernab der Lagune agierten. Das von Chinesen für eine Art Disneyland gehaltene Paradies stand auf hölzernen, zu versinken drohenden Füßen. Die von Algen gesäumten Pfähle reichten einige Meter vertieft ins Erdreich. Seit Jahrhunderten sorgten die Pfähle dafür, dass die prachtvollen Gebäude sich bis heute wie Perlen an einer Kette aneinanderreihten und nicht im Wasser versanken. Allerdings fraß sich der gemeine Holzwurm im wahrsten Sinn des Wortes seinen Narren an der Stadt. Die Idylle musste erhalten bleiben, um jeden Preis. Die Tausenden Touristen, die Tag für Tag Venedig besuchten, dachten keine Sekunde darüber nach, was der Massenansturm für Stadt und Bevölkerung bedeutete. Alessandra stöhnte leise auf. Erreichten die Proteste der zahllosen Bürgerinitiativen in der Stadt irgendwann eine Wende?

Nun, wo sich die Sonne dem Horizont näherte und das letzte Kreuzfahrtschiff des Tages das Terminal verließ, ebbten die Touristenströme ab. Tausende Menschen saßen bei Tisch auf den schwankenden Kreuzfahrtschiffen oder in einem Hotel, das früher Dutzenden Familien ein Zuhause geboten hätte. Endlich wurde es ruhiger in den Gassen von Cannaregio bis zum Arsenale. Für die kommenden Stunden herrschte in der Serenissima fast Normalität. Aber eben nur fast. Der Protest der No grande Navi basta-Organisation war nicht verständlich genug. Nicht schockierend genug, um zu erkennen, dass es fünf Minuten von zwölf war. La morte è vicina.

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Es war ein außergewöhnlich warmer Oktobertag. Die Luft flirrte über die ohnehin erhitzten Gemüter der Anwesenden. T-Shirts und Hemden klebten an verschwitzten Körpern, Schweißperlen liefen über gerötete Gesichter. Das Veranstaltungszentrum im Palazzo Carlotti in der Nähe des Markusplatzes füllte sich bis auf den letzten Platz. Hierher wagten sich kaum Touristen. Zu verworren waren die engen Gassen, zu unspektakulär, um das wahre Venedig abseits der bekanntesten Sehenswürdigkeiten kennenlernen zu wollen. Abgeschlagener Putz, Wäscheleinen quer zwischen den Fensterläden, der Gestank des brackigen Wassers, das sich in die Mauern sog und selbst mit viel Lüften nicht verschwand: Das veranschaulichte nicht das romantische Idyll Venedigs. Alessandra bezog vor einem der gotischen Fenster des geschichtsträchtigen Palazzos Position und neigte ihren Kopf der spärlich kühlenden Brise entgegen. Auch hier blätterte das Mauerwerk, das an der Südseite dem salzgeschwängerten Wind der Lagune ausgesetzt war. Die weiß gestrichenen Fensterrahmen rosteten und drohten aus den Angeln zu fallen. Niemand kümmerte das. Es fehlte in der Stadt an Geld für Reparaturen, aber vor allem an der Sinnhaftigkeit, diesen Verfall aufzuhalten. Besser nichts anrühren, bevor es zu größeren Schäden käme. Der morbide Palazzo teilte mit vielen historischen Gebäuden in der Serenissima dasselbe Schicksal: Ein unvergleichlich trauriges Ende folgte dem triumphalen Leben, sofern nicht ein ausländischer Konzern einen Einkaufspalast oder überteuerte Appartements plante. Die miseria, das Elend fernab der Kuppel der Basilika San Marco, wurde wie so oft in Venedig verleugnet. Der finale Untergang ihrer Stadt und die zunehmende Erblindung der verantwortlichen Stellen erzürnten Alessandra immer mehr.

»Hat er es tatsächlich geschafft. Ich weiß nicht, woher Eduardo die Kraft nimmt.« Stefano zeigte auf einen untersetzten Mann mittleren Alters, dessen schwarzes Shirt um den abgemagerten Körper schlotterte.

Alessandra sah ihren Kollegen scharf an. »Es ist tröstlich, dass es Leute wie Eduardo gibt, die nicht tatenlos zusehen, wie unsere Heimat zerstört wird. Aber wie solltest du das verstehen?« Sie begriff nicht, warum Stefano sich von Rom nach Venedig versetzen ließ. Dabei mochte er genau wie sie das Wasser nicht. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

»Nicht jeder kommt in diesem Paradies auf die Welt«, gab Stefano beschämt zurück. »Ich wollte nicht … Konzentrieren wir uns auf den Job, okay?«

Alessandras zorniger Blick brachte ihn zum Verstummen. Wehmut ergriff ihr Herz. Natürlich war Venedig nicht ihre Heimat, aber davon musste Stefano nichts erfahren. Ihr Herz fand ein neues Zuhause. Ein Refugium, das keine Fragen stellte über ihre Vergangenheit oder ihre Melancholie, die sie an manchen Tagen wie eine geborene Venezianerin mit sich trug. Basta! Sie musste sich zusammenreißen, bevor die Vergangenheit die Übermacht gewann. Nicht jetzt und nicht hier, wo sie wachsam sein musste. Sie erwiderte die herzlichen Begrüßungen von Nachbarn und Freunden. Vereint im Kampf gegen die Kreuzfahrtschiffe versammelten sich heute viele in dem kleinen Saal, erwartungsvoll, einen Funken Hoffnung zu finden. Dutzende Gesichter in dem Saal waren auch Aurelio von klein auf vertraut. Ihr Sohn kannte nichts anderes außer diesen unzähligen Inseln. Eduardo Carisi, der die Organisation der heutigen Veranstaltung übernommen hatte, stand ganz in Schwarz gekleidet zwischen aufgebrachten Venezianern vor dem Rednerpult. Er war eine der wenigen treibenden Kräfte der Stadt, um Protestaktionen und Bürgerversammlungen zu planen. Mit müdem Lächeln, aber ungebrochener Leidenschaft versuchte er die bereits vor Beginn der Versammlung deutlich aufgeladene Stimmung unter den Anwesenden zu beruhigen. Er war dünn geworden, sah verhärmt aus. Der einst attraktive Gondoliere verwandelte sich in ein Wrack aus Schmerz und Leid. Alessandra schluckte heftig und ließ ihren Blick über die Menschen im Saal gleiten. Wohl jeder hier ertrug sein eigenes Schicksal. Eines verband sie alle: Sie wollten Venedig retten, vor profitgierigen Immobilienhaien, der italienischen Mafia und den Interessen der Kreuzfahrtindustrie. Investitionen in Millionenhöhe, von denen kaum ein Cent in die venezianische Stadtverwaltung floss. Wie denn, wenn das Kreuzfahrtterminal über Strohmänner fest in der Hand der Reedereien lag? Alessandra holte tief Luft. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln verhärteten, als ihre Hände zu Fäusten geballt in den viel zu engen Hosentaschen ihrer Dienstuniform verschwanden. Heute gab es keinen Platz für ihren eigenen Zorn. Von Minute zu Minute kämpfte sie gegen die steigende Unruhe, die sie ergriff angesichts der beifallheischenden Werbeplakate, die die Reedereien aufgestellt hatten.

Sie vergewisserte sich ein letztes Mal, dass ihre Waffe entsichert war, und nickte Stefano zu. »Ich habe keine Lust, auch nur einem einzigen dieser Halsabschneider den Kopf zu retten!«, zischte sie wütend und wandte ihre Aufmerksamkeit der linken Seite des Saales zu. An den Wänden hingen Transparente mit eindringlichen Parolen wie »No Grande Navi Basta!« – »Venezia siamo noi!« – »Geldsäcke verschwindet aus der Lagune!«

Just in diesem Moment betraten mehrere Männer in eleganten Anzügen den Saal. Das Raunen unter den Einheimischen und Alessandras Kollegen verstärkte sich. Nicht alle eingeladenen Gäste kannte Alessandra vom Namen her. Manche der stoischen lächelnden Gesichter glänzten auf Wirtschaftsmagazinen oder wurden im Zusammenhang mit Korruption oder nie vollendeten Projekten wie M.O.S.E genannt.

Stefano bezog auf der gegenüberliegenden Seite des Saales Position und nickte ihr zu. Alessandra besann sich mühsam auf den eigentlichen Zweck ihres Daseins. Warum hatte sie nicht abgelehnt, als Giuseppe sie bat, für Giorgio einzuspringen? Jeder ihrer Kollegen stand jetzt an dem ihm zugewiesenen Platz. Alles lief wie bei der Einsatzbesprechung geplant. Der breitschultrige Antonio bewachte den Eingang, während Giuseppe mit hochrotem Kopf einen Platz in der letzten Stuhlreihe erkämpft hatte. Vergeblich versuchte er, sein Funkgerät zum Schweigen zu bringen. Sie lächelte. Dabei hatte er selbst auf eine Modernisierung der Dienststelle bestanden, obwohl sie ihn gewarnt hatte.

Alonso Vitali, der sein Amt als Bürgermeister der Stadt mehr für private Interessen auskostete, wartete ungeduldig, bis die bissigen Kommentare seiner Mitbürger verstummten. Als alle Sprecher ihre Plätze auf der schmalen Bühne eingenommen hatten, ergriff er ungewohnt dynamisch das Mikrofon. »Verehrte Gäste, liebe Freunde und Bewohner Venedigs. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind.« Er umklammerte das Mikrofon. Die Haut über seinen Knöcheln verfärbte sich weiß.

»Spar dir die elende Quatscherei. Was ist mit dem neuen Terminal?«, fragte ein Mann aus dem Publikum erbost.

»Letzte Woche hätte ein Ungetüm von Schiff beinahe unseren Palazzo Ducale zerstört. Ein ungeheuerliches Verbrechen, ein Schiff bei einem schweren Gewitter passieren zu lassen!«

Alessandra nickte heftig. Wenige Meter hatten nur gefehlt, viele Menschen gerieten in Panik und versuchten, das Vaporetto zu verlassen, das am Riva dei Schiavoni neue Passagiere aufnehmen wollte. Aus der Presseabteilung der Reederei hatte es nur ein kurzes Statement gegeben, mehr nicht.

Vitalis Adamsapfel sprang auf und ab. Mit einer beschwichtigenden Geste versuchte er, die kreuz und quer auf ihn einstürmenden Fragen und Beschuldigungen abzuwehren. Hilflos wandte er sich zu seinen Begleitern, die regungslos sitzen blieben. Alessandra lächelte zufrieden. Komm ins Schwitzen, Vitali! Seit Langem forderten die Venezianer seinen Rücktritt, nicht alle hießen gut, was er trieb.

Da erhob sich Eduardo. Er verneigte sich kurz, weil viele ihm ermutigend Beifall klatschten. »Alonso, deine Reden in allen Ehren. Wir möchten konkrete Fakten hören, von dir, deinen Konsorten und allen, die vorgeben, das Wohl unserer Serenissima im Sinne zu haben.«

Buhrufe begleiteten Eduardos letzte Worte. Um das Wohlergehen der venezianischen Bevölkerung ging es Vitali, der auf dem Festland lebte, schon lange nicht mehr.

Ein Mann mit einer bulligen Statur trat hinter den hilflosen Bürgermeister und starrte mit blitzenden Augen auf Eduardo, der sich nicht einschüchtern ließ. »Genug der Reden. Stellt uns eure Pläne vor, nichts anderes wollen wir. Und Gott bewahre, wenn sich das wie bei M.O.S.E um weitere Jahre verzögert.«

»Raus mit den Touristen, die nichts bezahlen und unsere Stadt zerstören!«, skandierten mehrere Frauen in der ersten Reihe. Schwarze Spitze verbarg ihre grauen Haare.

Alessandra kannte die Frauen. Früher saßen sie vor ihren Häusern und bestickten zierliche Tücher. Auf dem Heimweg von Aurelios Schule war Alessandra von deren flinken Händen fasziniert gewesen. Auch weil ihr die schwarz gekleideten Frauen mit ihren verkniffenen Gesichtern Angst eingejagt hatten. Sogar dieses Kunsthandwerk war aus den Gassen Venedigs verschwunden. Stattdessen trieben Nigerianer mit gefälschten Handtaschen wie so manche unredliche Gondolieri ihr Unwesen.

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, aber es braucht seine Zeit, Signor Carisi.« Der Bürgermeister, der bis zu diesem Tag regelmäßig mit Eduardo im Café Florian nachmittags einen Aperol Spritz getrunken hatte, kehrte vor den heutigen Zuhörern so demonstrativ seinen Status hervor, dass Alessandra übel wurde.

»Wer ersetzt uns den Lohn? Die Touristen bleiben für ein paar Stunden und kaufen in billigen chinesischen Souvenirläden ein, während wir von der Hand im Mund leben müssen. Die Mieten steigen! Bald müssen auch wir unsere Koffer packen und aufs Festland ziehen! Genug ist genug!«

»Du hast dein Geschäft verkauft, Camillo. Und du, Eduardo, wolltest deine Lizenz für die Gondel nicht verlängern«, verteidigte sich Alonso. Er begriff wohl, dass er bei seinen Zuhörern mit jedem weiteren Wort an Gewicht und Stärke seiner bislang leeren Versprechungen verlor. Längst war ihm die Vielzahl seiner zu eifrig ausgesprochenen Zugeständnisse über den kahlen Kopf gewachsen.

»Mein Sohn starb an Lungenkrebs, das weißt du. Es gibt niemanden in meiner Familie, dem ich mein Geschäft weitergeben kann«, erklärte Eduardo resigniert. Seine Schultern sackten nach vorn.

So ging es Minuten hin und her. Jeder suchte nach Ausflüchten, forderte Entgegenkommen vom anderen, aber in Wahrheit warteten alle auf die angekündigten Mitteilungen der eingeladenen Sprecher. Es ging um die versprochenen Veränderungen für die Kreuzfahrtindustrie durch das geplante Terminal Venis Cruise 2.0 in Maghera. Die Versammlung drohte zu einer Farce zu werden. Einige standen verärgert auf und wollten den Saal verlassen. Antonio trat ihnen in den Weg und bat sie, zu bleiben. Da meldete sich ein Mann zu Wort, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. Der nicht vor den zunehmend nervöser werdenden Vitali trat, sondern diesem entschlossen das Mikrofon aus der Hand nahm. Er strahlte Zuversicht und Ruhe aus. Tatsächlich verstummten die Protestrufe, zumindest vorerst. Gab es tatsächlich eine Chance, die Situation zu retten und ein nachhaltiges Konzept auf die Beine zu stellen, das allen Seiten gerecht wurde?

»Ich verstehe Sie absolut. Sie alle hier haben ein Recht darauf zu erfahren, was das Konsortium plant, keine Frage. Bevor ich dazu Stellung nehme, habe ich eine Frage an Sie. Wer von Ihnen arbeitet im Hafengelände oder hat Angehörige, die in einem Hotel angestellt sind oder bei Dienstleistungen für Kreuzfahrttouristen aktiv mithelfen?« Seine buschigen Augenbrauen zuckten, während sein Blick durch das Publikum glitt.

Zögernd hoben immer mehr Anwesenden ihre Arme. Die wenigen, die nicht aufzeigten, zuckten ratlos mit den Schultern.

Der Mann nickte. »Sehen Sie die Problematik? Sie fordern, dass die Kreuzfahrtschiffe der Lagune fernbleiben sollen. Es gibt allerdings allein in diesem Saal eine deutliche Mehrheit jener, die ohne die Grande Navi kein Einkommen mehr hätten!«

Eduardos Gesicht glich vor Zorn einer Fratze. »Sie verfluchter Mistkerl! Meine Familie wäre noch am Leben, wenn Ihre Schiffe nicht unsere Luft verpesten würden!« Er wirbelte aufgebracht herum und sah hilfesuchend um sich. »Andere Frage: Wie viele von euch haben ihre Kinder, Ehepartner oder Geschwister verloren, ihre Eltern und Freunde, weil sie an Krebs oder einer Lungenkrankheit starben?« Innerhalb weniger Sekunden fand sich Eduardo in einem Meer aus erhobenen Armen wieder. Langsam drehte er sich zu seinen Kontrahenten um. »Ich gäbe mein Leben dafür, wenn Sie nur einen Moment diesen Schmerz des Verlusts spüren könnten, den wir tagtäglich erleben. Wir wachen mit der Gewissheit auf, dass unsere Lieben nie wieder an ihren Arbeitsplatz oder nach Hause zurückkehren und stellen uns dann die große Frage, wann wir sterben.«

Der dunkelhaarige Mann, vielleicht ein Römer oder was auch immer, heuchelte lediglich Interesse für die Nöte des kleinen Eilandes inmitten der Lagune und ließ sich von Eduardos Gefühlsausbruch nicht beirren. Er winkte Vitali, der mit einer dicken Mappe herbeieilte. »Bevor Sie die Reederei beschuldigen, sollten Sie sich mit den Fakten auseinandersetzen. Hier die neuesten Gutachten, ärztliche Atteste, Beglaubigungen.« Zentimeterdicke Gutachten und Unterlagen knallte der Mann auf einen Tisch vor Eduardo. »Glauben Sie mir: Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, bevor ich hierher kam. Vitali, ich habe Sie gewarnt, wie sinnlos dieses Treffen ist. Meine Herren, wir gehen.«

In Alessandra brodelte es. Dieser Mann hatte nicht die geringste Ahnung, wie grauenhaft es war, abends allein in das große Bett zu steigen. Wie man den Partner vermisste oder Aurelio die vertraute Stimme seiner geliebten nonna. Sich zu fragen, wann der Albtraum ein Ende hatte und die Vaporetti und Gassen nicht von Februar bis Oktober vollgestopft mit Touristen waren. Oh nein, sie war es leid! Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Mit weichen Knien und klopfendem Herzen stürmte sie zum Podium. »Ist das euer Protest? Ein paar Transparente und Eduardo allein gegen diese profitgierige Meute da vorne?«

Die Augen des Bürgermeisters wurden zu schmalen Schlitzen.

»Mäßigen Sie sich, Signora Fornati, Sie sind im Dienst. Muss ich Ihre Kollegen anweisen, Sie aus dem Saal zu entfernen?«

»Wenn Sie glauben, mich damit zum Schweigen zu bringen, Alonso, uns alle hier, ja!« Sie streckte beide Arme aus und deutete allen aufzustehen. »Wehrt euch! Protestiert! Jeden Monat, jede Woche, bis sie euch zuhören, die feinen Herren der Politik aus Rom oder Mailand, wo sie sich den feinen Zwirn auf unsere Kosten finanzieren lassen.«

Zögernd standen einige Nachbarn auf und erhoben die Fäuste.

»No Grande Navi Basta!«, rief Alessandra und erwiderte stoisch Alonso Vitalis wütenden Blick.

Einige Venezianer, die ihr Leben lang hier wohnten und den horrenden Mieten mühsam trotzten, waren aufgestanden. »No Grande Navi!«, skandierten sie. Immer mehr Menschen folgten ihrem Beispiel.

Der Bürgermeister verlor die Fassung. Verzweifelt winkte er seinem Leibwächter, bis Giovanni, so schnell es ihm mit seinem Leibesumfang gelang, nach vorn hastete. »Ruhe! Alessandra, Liebes. Komm da runter!«

Die restlichen Redner, die bislang noch nicht eine einzige Silbe verschwendet hatten, standen – wie einstudiert – gleichzeitig auf. Einer von ihnen sammelte die Unterlagen ein, bevor Eduardo überhaupt fähig war, einen Blick darauf zu werfen. Der gebrochene Mann brüllte auf vor Schmerz, als er auf den Gutachten das Emblem jenes Krankenhauses erkannte, in dem seine Frau verstorben war. Er packte einen Stuhl und schleuderte ihn dem Mann hinterher, der sein Vorgehen durch Firmenpolitik und höhere Interessen gerechtfertigt hatte. Alessandra stand am nächsten und riss den Mann geistesgegenwärtig zur Seite. Mit einem lauten Knall zerschellte der knallrote Holzstuhl auf dem Marmorboden des Saales. Schockiert starrten sich alle an.

Seine blitzblauen Augen schenkten ihr ein Lächeln. »Grazie mille, Signora. Ich stehe in Ihrer Schuld«, flüsterte er und ließ dabei noch immer nicht ihre Hand los.

Wie gebannt starrte Alessandra in seine meeresblauen Augen, die sie so sehr an Paolos erinnerten. »Das ist mein Job.«

»Ich wünschte alle meine Mitarbeiter wären so loyal«, erklärte er seufzend und sah zurück. »Halten Sie mich nicht für herzlos, aber ich kann und darf nicht gegen die Interessen meines Unternehmens arbeiten.«

Alessandra nickte irritiert. Diese Augen. Eine Welle der Sehnsucht überwältigte sie. Der Mann löste sich aus ihrem Schutzgriff und putzte sich seelenruhig imaginäre Fusel von seinem Armani Anzug.

»Flavatore, wir müssen hier weg«, sagte Vitali mit unsicherer Stimme und blickte besorgt auf die entrüstete Menschenmenge, die ihnen nachdrängte. Wahrscheinlich bereitete ihm bereits die nächste Wahl Sorgen, für die er heute gewiss weitere Stimmen eingebüßt hatte.

»Flavatore Brioni?«, flüsterte Alessandra erstickt. Die Stimme versagte ihr beinahe, als sie den Namen aussprach.

»Mir scheint, mein Ruf eilt mir voraus.« Der attraktive, gepflegte Mann fühlte sich geschmeichelt und genoss die zunehmende Aufmerksamkeit der umstehenden Personen.

Alessandras Hände zitterten. Ihr Verstand arbeitete präzise. Ihre rechte Hand glitt zum Halfter und zog die Waffe. Klack. Entsichert.

»No cara

In letzter Sekunde drückte Alessandra dem geschockten Giuseppe ihre Pistole in die Hand. Dann übergab sie sich über Flavatores Designerschuhe.

Brioni wurde von Vitalis Bodyguard zum Ausgang dirigiert.

»Sie sollten auf der Piazzetta hängen wie die Verräter im Mittelalter!«, schrie sie außer sich vor Verzweiflung Brioni nach. Wie konnte sie dieses Gesicht vergessen? Flavatore Brioni, der während der Trauerfeier an der Unglücksstelle in der ersten Reihe gestanden hatte und den Angehörigen schwor, den Kreuzfahrtschiffen den Kampf anzusagen. Jener Mann, der bis heute im Aufsichtsrat dieser Reederei saß.

Lautes Klatschen erfüllte den Raum. Dutzende Hände schüttelten Alessandras schweißnasse Hand, Freunde und Nachbarn, auch Fremde umarmten sie, küssten sie.

»Endlich! Alessandra, du bist unsere neue Heldin. Eduardo ist zu erschöpft, um den miesen Schweinen den Kampf anzusagen.« Schulterklopfen, Mitleidsbekundungen, Anfeuerungsparolen. Dazwischen böse Blicke von Giuseppe.

2 – Schatten der Vergangenheit

Den Lauf auf das Ziel gerichtet, drückte Alessandra den Abzug. Ein Schuss nur. Ein kurzer Moment, bis die Kugel den Schusskanal verließ und jemandem das Leben kostete. Wie Brionis blaue Augen geblitzt hatten. Für ihn war das ein Spiel, um Geld, Macht. Für sie jedoch ging es um die Zukunft Venedigs, um das Leben ihres Sohnes.

Der Schuss musste tödlich sein. Anders hatte sie keine Chance, ihren Verfolgern lebend zu entkommen. Ein einziger Schuss konnte ein unschuldiges Leben auslöschen, aber sie durfte nicht zögern. Niemals. Für ihn. Tu es für Aurelio.

Alessandra holte tief Luft und setzte nochmals an. Aurelio. Seinetwegen ging sie so ein hohes Risiko ein. Sie tat es, um ihren Sohn zu beschützen. Peng. Peng. Sie schoss, bis das Magazin beinahe leer war.

»Va bene. Du hast lang genug nachgedacht, bella

Erschrocken über Giuseppes Stimme unmittelbar neben ihrem Ohr verriss Alessandra ihre Smith & Wesson und schoss. Sie erschrak noch immer – nach all den Jahren – über den wütenden, protestierenden Rückstoß ihrer Dienstwaffe und drückte auf den Auslöseknopf der Schusskanaltafel. Stockend setzte sich der Seilzug in Bewegung. »Bist du verrückt?«, fauchte sie den älteren Mann an.

»Ich bete darum, dir niemals in die Quere zu kommen.« Er zeigte mit einem zufriedenen Lächeln auf die Tafel, ignorierte ihren Protest. Triumphierend, als wäre es sein eigenes Schussblatt, hielt er es in die Höhe. Respektvoller Applaus erfüllte die kleine Kammer, in der die Beamten der Lagune ihre monatlichen Schießübungen abhielten.

Trotz der Irritation hatte Alessandra genau ins Schwarze getroffen. Damit führte sie weiterhin die Rangliste an und zog sich mittlerweile nicht mehr nur die Akzeptanz ihrer männlichen Kollegen, sondern auch den Neid einiger zu.

»Es wird Zeit, dass du einen Mann findest, der dich hinter den Herd verbannt«, zischte Antonio und riss sein Schussblatt ab.

Giuseppe, der alle Blätter einsammelte, grinste, als er Antonios Ergebnis sah. »Vorsicht Antonio. Alessandra wird dir vermutlich sogar mit einer Bratpfanne gefährlich.«

Die anderen Kollegen klopften ihr aufmunternd auf die Schulter. »Dafür gibst du uns im Fragile einen Drink aus.«

»Nicht heute, Jungs, ich habe ein wichtiges Date und sollte mich beeilen, damit mein Verehrer nicht ohne mich ins Bett fällt.« Sie lächelte bei dem Gedanken an Aurelio, der seit einer Stunde am Kai vor dem Palazzo Ducale auf sie wartete. Ungeduldig und aufgeregt. Wie immer, wenn sie ihr Ritual vollzogen und an Alessandras verstorbenen Mann erinnerten. Paolo war wie sie Polizist gewesen. Er erlag vor zwei Jahren einem Schusswechsel in Mestre, einem Vorort Venedigs. Seitdem war sie für Aurelio Vater und Mutter zugleich, was nicht immer leicht war. Jungs mit 13 Jahren sind wissbegierig. Vor allem glaubten sie nicht mehr alles, was eine besorgte Mutter erzählte, um Sorgen zu zerstreuen.

»Du hattest Glück, dass Brioni den Vorfall auf sich beruhen ließ.« Giuseppes Blick glitt unruhig hin und her. »Keine Ahnung, was dich gestern getrieben hat, aber dein Hass auf die Kreuzfahrtschiffe ist nicht … normal.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich? Eduardo ist der gutmütigste Mensch auf Erden, das weißt du genau. Er hat nichts mehr zu verlieren und trotzdem ist dieser Brioni so dreist, einem Witwer derart zuzusetzen? In einem Punkt irrt sich Brioni gewaltig, Giuseppe. Eduardo versteht mehr über die Schiffe und die Schäden in Venedig als mancher Wissenschaftler in der Ca`Foscari Universität. Und selbst die profunden Untersuchungen von diesem Professore reichen Vitali nicht als Beweis!«

»Halt dich zurück, Alessandra. Das ist alles, was ich dir raten kann. Als dein Vorgesetzter und Freund.«

Gedankenverloren blickte sie auf das zerfetzte Loch in der schwarzen Zielscheibe. Tat sie das Richtige? Sie könnte sich in den Innendienst versetzen lassen, auf Streife gehen oder andere Aufgaben übernehmen. Diesen Anzugträgern das Leben leichter zu machen, dafür ging sie nicht zur Polizei! Wichtiger war es ihr, das Leben der Menschen zu beschützen. Darin sah sie ihre Aufgabe. Riskierte sie zu viel, um Aurelios Zukunft unbeschwert zu halten?

»Lass den Jungen nicht zu lange warten. Irgendwann ist Aurelio erwachsen und braucht dich nicht mehr. Dann geht er vielleicht wie viele andere fort und du sitzt allein daheim.« Giuseppe lächelte, aber sein Blick war wachsam.

Ein lautes Dröhnen vom Canale della Guidecca ließ Alessandra erschauern. Wie sie diese riesigen Kreuzfahrtschiffe, die regelmäßig durch das Markusbecken pflügten, verabscheute. 18.11 Uhr. Die Freedom of the Seas verließ Venedig.

»Dein Schussblatt heute war eindrucksvoll. Deine Gegner fürchten dich, glaub mir. Schade, dass du diese Schiffe nicht mit einem gezielten Schuss außer Gefecht setzen kannst. Dann hätte das da draußen rasch ein Ende.«

Alessandra nickte und betrachtete Giuseppe aufmerksam. »Ich kümmere mich um meinen Hass und du dich um mehr Schlaf, einverstanden?« Durch die Ereignisse vor fünf Jahren traumatisiert, konnte Alessandra nicht die Nachfolge antreten, weshalb Giuseppe seinen wohlverdienten Ruhestand kurzerhand verschoben hatte. Wann war der alte Mann derart gealtert? Seine Wangen wirkten eingefallen, der Hosenbund quoll über seinen Buddha-Bauch. Nur sein Herz war an der richtigen Stelle geblieben. Sie lächelte. »Wenn es durch die offizielle Polizeiarbeit nicht funktioniert, Brioni das Handwerk zu legen, muss es andere Wege geben, oder? Ich will nicht, dass Aurelio seine Heimatstadt in wenigen Jahren verlassen muss, weil wir den Kampf gegen die Ozeanriesen endgültig verloren haben. Gegen diese Umweltterroristen kann ich allein nichts ausrichten. Hast du vom Festland gehört?«

Giuseppes Augen röteten sich. »Es ist nicht allein dein Kampf, meine Liebe. Und noch weniger der richtige Ort und genügend Zeit, um dir ins Gewissen zu reden. Geh jetzt lieber. Mein Enkel wartet. Ich wünsche euch Kraft und Mut.« Er umarmte sie liebevoll und schob sie sanft, aber entschlossen in Richtung Ausgang.

»Es ist nicht vorbei, Giuseppe. Noch lange nicht«, gab sich Alessandra siegessicher und griff nach ihrer Handtasche. Die Dienstwaffe verschwand in den Untiefen der schwarzen Michael-Kors-Tasche, bis sie die Waffe in einem sicheren Versteck in ihrem Zuhause wegschließen würde. Sie schaltete noch ihr Funkgerät ab und streifte sich die Dienstjacke über. Ein kalter Wind wehte über das Gelände und kündigte Sturm an. Vorsorglich holte sie ihre Gummistiefel aus dem Schrank, um für den erwarteten Acqua Alta Hochwasseralarm gewappnet zu sein.

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Aufgewühlt verließ Alessandra das Dienstzimmer und machte sich auf den Weg zum Palazzo Ducale. Für die kurze Überfahrt blieb sie auf dem Mitteldeck des Vaporettos stehen. Dutzende Touristen versuchten sich angesichts des fantastischen Sonnenuntergangs in einem Wettstreit um das lustigste Selfie zu übertrumpfen. In den stilleren Wintermonaten ging sie gern im Sestrieri Arsenale spazieren. Sie erinnerte sich an die langen Gespräche mit ihrem geliebten Paolo, der die Fahrten auf dem Vaporetto geliebt hatte. Nach besonders stressigen Einsätzen träumte er davon, den Dienst zu quittieren und Vaporetto-Fahrer zu werden. Er war wie sie an so vielen Dingen interessiert. Obwohl sie sich seit mehr als zehn Jahren kannten, gab es kaum eine Gesprächspause zwischen ihnen. Selbst als Aurelio auf die Welt gekommen war, fanden sie im Alltag Zeit für Zärtlichkeiten, liebevolle Gesten – und der gegenseitigen Versicherung, einander zu lieben bis in die Ewigkeit. Zu romantisch? Vielleicht, aber nur sie kannte den wahren Grund, warum Paolo diese Intensität zwischen ihnen so wichtig war. Nach seiner Versetzung von Rom wachte er nachts ständig mit Albträumen auf. Diese Angst, sie am nächsten Tag nicht mehr in seinem Leben zu wissen, war nur eines von vielen Traumata. Zu viel hatte Paolo gesehen, erlebt und zu oft Menschen verloren, die ihm wichtig waren. Erst später hatte sie verstanden, warum. Seine Verfolgungsängste, gerade Paranoia waren Spätfolgen seiner verdeckten Ermittlertätigkeiten gegen die Mafia, über die er nicht sprechen durfte.

»Endlich! Du hast versprochen …«

Alessandra schrak aus ihren Gedanken. Die Vergangenheit hatte sie auf der Überfahrt in den Bann gezogen. Das Gedränge der Menschen, die an der Station San Marco aussteigen wollten und Aurelios Stimme holten sie jäh in die Realität zurück. Ungeduldig wartete ihr Sohn bereits am Ponton der Haltestelle, wachsam wie einst sein Vater. Schon von Weitem hatte er sie erspäht und war ihr auf dem Holzsteg entgegengelaufen. Nun fiel er ihr ungestüm und mit leuchtenden Augen um den Hals. Als Alessandra ihn milde tadelte, weil er sich unter die Barriere durchgemogelt hatte, lachte er bloß. Er ähnelte Paolo in dieser Sekunde so sehr, dass ihr Herz zerbrach.

»Ich habe alles mit, mamma.« Mit kindlichem Eifer zog Aurelio am Henkel ihrer Tasche und suchte aufgeregt nach den versprochenen Gegenständen, die sie für ihr Ritual benötigten.

»Finger weg!«, schrie sie und bereute sogleich den scharfen Ton, als sich Aurelios Mundwinkel nach unten verzogen. »Du weißt, ich mag das nicht.« Ihre Hand glitt in die Tasche. Schleichend schwand die Sonne, schwarze Schatten glitten über die Lagune. Die Laternen auf der Piazzetta warfen dunkle Schemen auf den Boden, während Alessandras Finger die kalte Waffe berührten. Der Tod war allgegenwärtig in ihrem Leben. Sie wollte nicht, dass er auch ein Teil von Aurelios jungem Leben wurde. Schlimm genug, dass er ohne Vater aufwuchs. Mit einem entschuldigenden Lächeln hielt sie ihm Kerze und Streichhölzer entgegen, die Aurelio ihr behutsam aus der Hand nahm.

»Ich habe alles vorbereitet, mamma«, erklärte der Junge eifrig und eilte voraus.

Tatsächlich hatte ihr Kind bestens vorgesorgt. Im Schutz einer Säule breitete Aurelio ihre Lieblingsdecke aus weichem Kaschmir aus. Die Laterne vor ihnen war beschädigt, sodass sie erst im leuchtenden Display von Aurelios Handy bemerkte, mit welcher Aufmerksamkeit er diesen Abend vorbereitet hatte. Die Decke würde nie wieder sauber werden, aber das war egal. Warme Fitole, die Paolo so geliebt hatte, eine Flasche Montepulciano aus Giuseppes Weinkeller. Ein goldener Fotorahmen mit einer der letzten Aufnahmen von einem Familienausflug nach Florenz stand in der Mitte der Decke. Aurelio drückte ihr das Handy in die Hand und entzündete die Kerze, wischte mit dem Handrücken über seine Wangen.

»Er hat dich geliebt, mein Schatz, und er wäre stolz, was für ein großer Mann du inzwischen geworden bist.« Im schwachen Lichtschein sah sie Aurelios Nicken. Paolos Lächeln weckte Erinnerungen, die sie ihr Leben lang nicht vergaß. Blieb er für immer in ihrem Herzen? Aurelio zuliebe wünschte sie sich das. Sie wollte nicht, wie die Witwen in schwarzen Kleidern bis an ihr Lebensende trauern, als verbitterte alte Frau sterben. Es gab Verehrer, sogar auf der Dienststelle, aber dort trauten sich die Kollegen nicht mehr mit ihr zu flirten, seit Giuseppe Antonio vor der gesamten Belegschaft zurechtgewiesen hatte. Der väterliche Freund wusste, dass sie Antonio nicht ausstehen konnte und ihr seine Vertraulichkeiten unangenehm waren. Bei einer günstigen Gelegenheit war Giuseppe Zeuge geworden und reagierte, ohne zu zögern. Seitdem war das Verhältnis zwischen den beiden Männern deutlich unterkühlt und beschränkte sich auf das Dienstliche. Alessandra gegenüber verhielt Antonio sich eher feindselig, aber damit kam sie in der ohnehin männerdominierten Dienststelle gut klar.

»Lassen wir ihn jetzt steigen, damit Papa unsere Briefe bekommt und sich über das Licht freut?«

Alessandra nickte. Während Aurelio den kleinen Heißluftballon entfaltete und zum Abheben vorbereitete, suchte sie in der Tasche nach den Briefen, die sie und Aurelio am Vorabend geschrieben hatten. Ein paar Zeilen nur waren es in diesem Jahr geworden. Zu viel passierte und zeigte ihr deutlich, wie sehr ihnen Paolos Zuversicht und Besonnenheit fehlten. Sie wollte für eine Zukunft der Lagune, für sich und Aurelios Leben hier kämpfen. Allerdings siegten eher die Interessen der Politiker in Rom. Der Ruf der Euros stand über der Gesundheit der Venezianer und deren Lebensqualität. Es interessierte niemanden außer ein paar Menschen, was in Venedig langfristig an Schaden entstand. Nun. Gestern Nacht hatte sie beschlossen, den Kampf, den sie bei dem Treffen eingefordert hatte, selbst weiterzuführen, auch wenn das ihre Arbeit als Polizistin nicht erleichtern würde. Lieber für etwas Einstehen als Kneifen. Diese Botschaft wollte sie Aurelio vermitteln.

»Wünsch dir was, mamma!« Aurelio band geschickt ihre Briefe an den Lampion und entzündete die ausgegangene Kerze neu. Mit beiden Händen hielt er den Lampion und wartete ungeduldig, dass sie den blassgelben Lampion mit stummen Gebeten in den Himmel zu Papa schickten.

Alessandra schloss ihre Augen. Plötzlich stieß jemand sie nieder. Unsanft stürzte sie auf den kalten Boden. Die Rotweinflasche zerbrach. Sie hielt erschrocken den Atem an und stöhnte, als die Scherben in ihre Handflächen schnitten. Rasch saugte sich ihre Hose mit Flüssigkeit schwer. Der unbekannte Angreifer hatte den Lampion zertreten. Die Kerze erlosch, ihr lang ersehntes Ritual fand ein jähes Ende. Aurelio schrie und verstummte blitzartig. Es dauerte, bis sich Alessandra an die Dunkelheit gewöhnt hatte und Aurelios Umrisse neben sich wahrnahm. »Alles okay? – Aurelio?« Beunruhigt tastete sie nach ihrem Sohn, der seltsam still war. »Sag etwas, Aurelio, was ist mit dir?« Ein böses Gefühl der Vorahnung überkam sie. Als sie endlich Aurelios Smartphone fand, hielt sie die Taschenlampe direkt auf die Stelle, wo sie Aurelio zuletzt gespürt hatte. Dann erkannte sie entsetzt, warum ihr Sohn nicht geantwortet hatte. Die Botschaft war angekommen. Sie hatte mächtigere Feinde als einen eifersüchtigen Antonio. Tränenblind starrte sie auf das Klebeband auf Aurelios Mund, auf dem in schwarzen Buchstaben »HALTE STILL« geschrieben stand. So behutsam wie möglich versuchte sie, den Klebestreifen an den äußeren Ecken zu lösen. Aurelio heulte dennoch auf vor Schmerz.

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

»Du musst aufhören, cara.« Giuseppe versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. Sie standen ratlos im Flur. Aus Aurelios Zimmer fiel ein sanfter Lichtschein auf den Marmorboden. Es war weit nach Mitternacht, aber Alessandra dachte nicht an Schlaf. Es dauerte quälend lange, bis sie mit dem geschockten Aurelio ihre kleine Wohnung erreicht hatten und sie Giuseppe anrufen konnte.

»Aufgeben? Du verlangst von mir, dass ich einknicke und stillschweigend gutheiße, wie sie unsere Heimat zerstören? Ich bin auf dem richtigen Weg, begreifst du das nicht? Sie bekommen Angst. Angst, dass ich nicht wie Eduardo kampflos aufgebe. Nur deshalb bedrohen sie mich und meine Familie.«

Giuseppe packte sie an den Schultern und schüttelte sie aufgebracht. »Was, wenn es tatsächlich ein Warnschuss sein sollte? Sie haben Aurelio einen ordentlichen Schrecken eingejagt und du tust so, als wäre das okay?«

»Sie haben ihm nichts getan.«

»Unser Junge hat Angst. Reicht das nicht? Was muss geschehen, damit du kapierst, mit wem du dich anlegst? Ich will … Euch nicht verlieren. Paolos Tod …« Giuseppes Stimme brach.

»Es war ein Unfall, eine Laune des Schicksals.« Alessandra barg ihr Gesicht an Giuseppes Schulter. Sein Schmerz verschmolz mit ihrem Zorn. Wie ein Feuer breitete sich ihre Lust auf Widerstand aus, brannte ihre letzten Zweifel aus. Sie schürte die Glut der Zuversicht, die Kreuzfahrtriesen aus der Lagune zu verbannen. »Ich verspreche, aufzupassen, Giuseppe, verlange aber nicht von mir aufzuhören. Brioni und alle anderen büßen für nonnas Tod«, flüsterte sie. Sie verlor sich in Aurelios unschuldigem Gesicht, das im Schein der Nachttischlampe wie das eines Engels leuchtete. In ihrem Innersten wusste sie, dass sie nicht so tapfer war, wie sie Giuseppe vorgaukelte. Sie musste weitermachen, konnte Aurelio nicht fortschicken und brauchte neue Verbündete. Um das zu erreichen, musste sie vorsichtiger vorgehen. Niemandem vertrauen, neue Menschen aus ihrem Leben verbannen. Es gab nur sie und Aurelio. Und Giuseppe. Ihre Arbeit. Sie nickte, als Giuseppe eine Flasche Rotwein schwenkte und zwei Gläser auf den runden Mosaiktisch in der Küche stellte. »In vino veritas.«

»Tut es sehr weh?«

Sie blickte auf ihre Hand, die unter einem dicken Verband verborgen war und schüttelte den Kopf.

Nach dem Einschenken erhob Giuseppe sein Glas. »Auf uns!«

Lächelnd hielt Alessandra mit ihrer Linken das Glas gegen das von Giuseppe. Die samtfarbene Flüssigkeit erinnerte sie an den brutalen Übergriff. Aurelios Gesicht brandete in ihrer Erinnerung an diesen schrecklichen Abend auf. Scherben, der Wein, rot wie Blut, mitten darin das Antlitz ihres Kindes. Tat sie tatsächlich das Richtige, oder war sie dabei, einen schweren Fehler zu begehen? Unterschätze niemals deine Gegner, lehrte Paolo sie, als sie frisch in den Polizeidienst der Serenissima aufgenommen worden war. Als direkter Vorgesetzter war er für ihre Sicherheit verantwortlich. Schon bald wurde deutlich, dass sie mehr als gute Zusammenarbeit verband. 24 Jahre war sie damals gewesen, naiv und frisch verliebt. Mehr als einmal kamen sie verspätet zum Dienst. Zum Glück war Giuseppe Paolos Vater, der seine Strafpredigt stets mit einem verständnisvollen Grinsen beendete.

Während sich Giuseppe hingebungsvoll dem Wein widmete und eine Arie aus Tosca summte, stand Alessandra auf und ging in den Flur. Sie vergewisserte sich, dass Giuseppe nicht hersah, und öffnete eine Schublade in der dunkel gebeizten Kommode. Der hintersten Ecke entnahm sie einen dicken Umschlag und blickte auf einen Stapel von Briefen an sie adressiert.

»Du wirst für deinen Leichtsinn büßen, principessa!«

»Wir sorgen dafür, dass dein Durst nach Gerechtigkeit seine gerechte Strafe findet. Hüte dich nachts allein auf der Piazza di San Marco zu sein!«

Worte, die sie nicht ängstigten, denn diese Drohungen waren viele Jahre alt. Sie behielt sie dennoch bis heute als Warnung. Ja, wohl als Mahnmal für eine Zeit, in der sie größerer Gefahr als jetzt ausgesetzt war und dennoch auf ihr Bauchgefühl vertrauen konnte. Wie damals, als sie Paolo das Ja-Wort gab und wusste, alles wird gut. Du wirst geliebt, ohne Forderungen und Erwartungen, ohne Lügen.

»Paolo hat dir immer vertraut.« Leise war Giuseppe ihr gefolgt. Falls er den Wortlaut auf den mit dicken ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzten Drohgebärden gesehen hatte, ließ er sich nichts anmerken. »Nenne mich dumm, alt, sentimental, aber ich will nur das Beste für dich und meinen Enkel. Und für Venedig. Das liegt mir ebenso am Herzen wie dir, aber ich kann dich in dieser Sache offiziell nicht unterstützen.«

»Si. Grazie.« Giuseppes Zugeständnis, sein Versprechen, ihr trotz aller Sorge beizustehen, berührte sie sehr. Nach einem Glas Grappa tippte sich Giuseppe auf die Stirn und verabschiedete sich leicht schwankenden Schrittes.

»Bleib hier heute Nacht«, schlug sie vor.

»Ich lasse meine Apollonia nicht allein zuhause, das weißt du«, säuselte er mit einem verzückten Lächeln. »Sie schimpft, wenn ich mich nachts herumtreibe. Auch wenn sie weiß, ich bin bei dir und Aurelio.«

Alessandra nickte verständnisvoll und blickte auf Paolos Foto auf der Kommode. Er war wie seine Mutter Apollonia auch an vielen Ecken in Giuseppes Wohnung präsent. An manchen Tagen forderte der Anblick der vielen Erinnerungen ihren Schmerz heraus. Dann wuchs diese unstillbare Sehnsucht. Vor dem Einschlafen fühlte sie sich sicher und beschützt, wenn Paolos Bild vom Nachttisch aus über sie wachte. Morgen würde sie einen neuen Lampion kaufen und ihn am Abend mit Aurelio in den Himmel steigen lassen.

Die Tür fiel leise ins Schloss. Giuseppes Schritte verhallten in der schmalen Gasse, die von den breiten Toren vom Arsenale abzweigte. Am Ende traf sie auf den schwarzen Strom des Canal Grande.

3 – Falsche Freunde

In den folgenden Wochen verringerte sich die Zahl jener, die ihre gemeinsame Sache unterstützen wollten. Das kleine Lokal, das Fragile mitten im Stadtviertel Cannaregio, glich immer mehr einem Seniorenheim. Zumindest der Enthusiasmus der vorher so protestwilligen Teilnehmer erinnerte an die zahlreichen Rentner, die aus der Lagune flohen. Die meisten konnten sich den Lebensabend aufgrund der überteuerten Mieten in ihrem gewohnten Umfeld nicht mehr leisten. Alle vier Jahre wurden Mietverträge verlängert, vorausgesetzt, der Vermieter spekulierte nicht mit einer Umgestaltung zur viel lukrativeren Ferienwohnung. Alessandra kannte Unzählige, die aufgeben mussten – der Gesundheit oder Vernunft zuliebe. Enttäuscht betrachtete sie die mittlerweile überschaubare Menge von Umweltaktivisten, mit denen sie seit Wochen an neuen Maßnahmen gegen die Bedrohung durch die Kreuzfahrtriesen arbeitete. Wo war denn der Kampfgeist geblieben? Die wenigen Plakate, die für die nächste Demonstration vorbereitet worden waren, erinnerten an einen Kindergeburtstag. Bunt, plakativ, aber ohne Aussagekraft. »Kreuzfahrtschiffe raus – wir brauchen Luft zum Atmen!«

»Wollt ihr eure Kinder retten oder vor den Verantwortlichen auf Knien rumrutschen? Ist das unsere Art aufzubegehren?« Alessandra zeigte auf die weichgespülten Slogans und schüttelte den Kopf. »Dann können wir gleich unsere Koffer packen. Wollt ihr miterleben, wie die Stadt untergeht? Und das wird sie mit eurer Hilfe schneller, als uns allen lieb ist!« Ihr flammender Blick traf einen der Männer, die abseits standen und vermieden, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Innerlich betete Alessandra, dass der einflussreiche Mann sie unterstützte. Mit festem Blick tangierte sie den Mann, dessen Mithilfe sie Paolo zu verdanken hatte. Und ihr hilfesuchender Blick fand fruchtbaren Boden.

»Alessandra hat recht. Ihr müsst euch wehren, bevor es zu spät ist. Die Grandi Navi zerstören eure Häuser, eure Zukunft, aber ihr lasst sie gewähren. Die Touristen, die uns ein paar Stunden überfallen wie die Heuschrecken, fahren nach Hause. Sie denken nicht eine Sekunde darüber nach, was diese Belastung für euch bedeutet! Ihr lasst täglich 14.000 Autos in die Serenissima!«

»Du übertreibst, De Luca!«

Franco De Luca hielt inne und sah den Mann, der seine flammende Rede unterbrochen hatte, fassungslos an. »Dein Sohn starb an Lungenkrebs. In einer Stadt, die keine Autos kennt. Willst du mir sagen, dass ich übertreibe?«

Die schmerzende Stille wurde von dem Bild eines Kindes getragen, das mit gerade mal 14 Jahren an der schrecklichen Krankheit verenden musste. Der Hinterbliebene wandte sich ab und verließ mit raschen Schritten das Lokal. An der Tür drehte er sich um und maß Alessandra hasserfüllt. »Das bringt dir deinen Paolo nicht zurück!«

Das tat weh, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, entschied sich für den Angriff nach vorne. »Wir müssen zu drastischeren Mitteln greifen. Zeigen wir den Touristen, was sie damit anrichten! Drucken wir Fotos von unseren Lieben, die wegen dieser enormen Abgase krank geworden sind! Direkt auf die Plakate wie auf den Zigarettenpackungen.«

Eine heiße Diskussion entbrannte. Jeder sprach, niemand verstand etwas. Hitzige Wortgefechte heizten die Stimmung im Lokal auf. Viel zu spät bemerkte Alessandra mittendrin in dem Aufruhr Antonio, der am Tresen stand und das Treiben interessiert verfolgte. Vergeblich versuchte sie, die hitzigsten Verfechter zu beruhigen, dennoch drohte die Situation zu entgleisen.

»Wir brauchen die Arbeit. Jede Reede sichert Essen und Kleidung für meine Familie. Für deine auch, Silvestro. Giorgios Tochter müsste ihr Studium in Rom abbrechen! Wenn die Kreuzfahrer ausbleiben, verlieren wir alle unseren Job. Dann können wir uns nicht mal mehr die Miete in Mestre leisten«, erboste sich einer der neu dazu gestoßenen Männer, ermutigt von Antonios Rückhalt. Der wies den Wirt an, auf seine Kosten auszuschenken.

Aufgebracht drängte sich Alessandra durch ihre einstigen Mitverschwörer, die dem Ruf des billigen Rotweins nachgaben. »Was tust du hier?«

»Ich sorge für Recht und Ordnung, wohlgemerkt in meiner Freizeit.« Er trat bedrohlich näher. »Mir schreibt niemand vor, was ich tun und lassen muss.«

Sie ignorierte seine Anspielung und suchte nach De Lucas Blick.

»Es ist ebenso in deinem Sinne, wenn die Kreuzfahrer der Lagune fernbleiben.«

De Luca übernahm inzwischen ihre Argumente und schleuderte sie wutentbrannt über die Köpfe jener, die in diesem aussichtslosen Kampf mehr und mehr verzweifelten. »Die Fundamente werden durch den Wellenschlag deutlich beschädigt. Ihr könnt die neuesten Studien von Professore Tattara nicht verleugnen. Was passiert, wenn so ein Riesenschiff die Kontrolle verliert und wie letztens im Canale della Guidecca treibt, weil die Maschinen ausgefallen sind?«

Antonio grinste verächtlich. »Mir gefällt, was ich sehe. Wie du vor Leidenschaft sprühst und dich vergisst, mach weiter so.« Er nahm einen großen Schluck.

Etwas in seinem Blick beunruhigte sie. »Akzeptiere, dass wir nur Kollegen sind. Und halt dich hier raus.«

»Du wirst es mir eines Tages danken, Bella«, zischte Antonio und stieß sie unsanft beiseite. »Deine Bodyguards sind nicht immer zur Stelle. Eines Nachts, wenn du auf Streife bist …« Seine Augen blitzten vor Zorn.

Sie blickte sich um. Niemand bemerkte in dem Tumult ihren Disput mit dem gleichaltrigen Kollegen. Drohte ihr Antonio wahrhaftig oder übermannte ihn sein verletzter männlicher Stolz? Erst jetzt bemerkte sie seine Alkoholfahne und wich unwillkürlich zurück.

Blitzschnell packte er sie und drängte sie unbemerkt von den anderen in Richtung Hintertür. Im dunklen Hinterhof angekommen, erkannte sie, dass Antonio nicht nach Reden zumute war. Als er sie grob an den Armen packte und gegen eine Wand drängte, versuchte sie sich zu wehren, schlug mit den Fäusten nach ihm, trat Antonio nach Leibeskräften, aber sein alkoholgefärbter Atem kam immer näher. Seine Hände glitten unter ihr Shirt, strichen begehrlich über ihre Brüste. »Du hättest es so einfach haben können. Ich war Wachs in deinen Händen und du.« Er packte sie hart am Kiefer, sodass sie ihm direkt in seine hasserfüllten Augen blicken musste. »Du denkst, du bist etwas Besseres, aber da irrst du dich, principessa

Ihr stockte das Blut. Niemand hatte sie so genannt, seit … Das Pochen in ihrem Kopf lähmte sie. Wie in Zeitlupe kamen Antonios Lippen näher, wulstig, vor Lust bebend. Principessa! Das Rumoren in ihrem Bauch übernahm die Kontrolle. Im selben Moment, als Antonios Wollust ihren Höhepunkt erreichte und er sie zwang, auf die Knie zu gehen, erbrach sie sich heftig.

»Du verdammte Hure! Himmelst deinen Paolo an und glaubst, es gäbe keinen Besseren als ihn! Das tut dir irgendwann leid!« Er versetzte ihr einen heftigen Schlag gegen den Kopf. Benommen hörte sie Antonios Worte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. »Er freut sich, zu erfahren, wo du dich herumtreibst.«

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Am nächsten Morgen starrte Alessandra benommen in ihren Tee. Sehnsüchtig wartete sie darauf, dass Aurelio das Haus verließ und zur Schule ging. Unbeschwert wie Kinder waren, hatte er den Vorfall auf der Piazzetta gut überstanden und war energiegeladen wie eh und je. »Machen wir das mit dem Lampion heute, mamma? Bitte.«

Sie konnte ihm nichts widersetzen und nickte. Er hatte die Wunde oberhalb ihrer Stirn und ihr blasses Gesicht nicht bemerkt. Wenn sie ihm heute ruhiger erschien, hielt er das für eine ihrer üblichen Monatslaunen, wie sie ihr regelmäßiges Unwohlsein erklärte. »Pünktlich um 21 Uhr lassen wir den Lampion steigen, versprochen. Jetzt mach dich auf den Weg.« Sie konnte es kaum erwarten, allein zu sein. Nach quälenden Minuten stand sie vom Tisch auf und blieb vor dem Spiegel im Schlafzimmer stehen, zog ihr Shirt tief über die Schultern. Am Rücken und im Nacken erkannte sie Schürfwunden und Quetschungen, ein Andenken an Antonios Übergriff in der gestrigen Nacht. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die bangen Minuten. Hätte er sie vergewaltigt, um sich schadlos zu halten für die Entbehrungen in den letzten Monaten? Tränen stiegen ihr in die Augen. Kein Mann hatte sie seit Paolo angefasst. Nun musste es ausgerechnet Antonio sein, der sich vergessen hatte und glaubte, sich mit Gewalt nehmen zu können, was sie ihm verwehrte! Ihre sonst so ruhigen Hände zitterten, als sie sich entkleidete und unbeholfen ihre Dienstuniform anlegte. Die Dienstwaffe lag schussbereit in der Hand. Sie würde sich wehren, immer und immer wieder. Gegen diejenigen, die den Canal Grande zerstören wollten, gegen jeden, der ihre Familie bedrohte. Die Geister ihrer Vergangenheit, von denen sie glaubte, dass sie ihnen entkommen war, waren zurückgekehrt. Sie erschrak beim Blick in den Spiegel. Da war keine Angst, sondern purer Hass in ihren Augen. Die Waffe wog schwer in Alessandras Hand, entsichert, schussbereit. Kommt und ihr werdet merken, ihr legt euch mit der falschen Person an. In diesem Moment ertönte der Klingelton ihres Smartphones, das auf dem Nachttisch lag. Wie ein ertapptes Schulkind, das Süßigkeiten gestohlen hatte, hob Alessandra ab. »Ciao, Giuseppe, ich bin schon unterwegs. Ich …«

»Ciao principessa. Wie geht es dir?«

Ihre Stimme erstarb. Das Smartphone glitt ihr aus der Hand, die Dienstwaffe. Ein Schuss löste sich, traf die Türrahmen zum kleinen Balkon vor ihrem Schlafzimmer. Das Holz zerbarst mit einem knirschenden Geräusch, das an zerschmetternde Knochen erinnerte. Sie hatten sie gefunden.

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Der Tatort glich einer Fete. Karnevalsmasken und Konfetti waren säuberlich um den Leichnam verteilt, als lege der Mörder Wert auf eine gelungene Komposition. Die bunten Absperrbänder flatterten im Wind, als Alessandra wenige Meter davor um ihre Fassung kämpfte. Noch am Vorabend hatte der Mann sie persönlich angegriffen. Er hatte seinen Sohn verloren, und nun lag er selbst vor ihr. Tot. Die Augen weit aufgerissen angesichts des unerwarteten Todes. Sie fühlte sich schuldig.

»Hat er seinen Mörder erkannt?« Giuseppe begrüßte sie mit einer liebevollen Umarmung, was an diesem schrecklichen Tatort tröstlich war. »Ich wüsste einen schöneren Start in den Tag, aber Antonio ist verhindert. Am Festland gab es einen Zwischenfall mit unseren besonderen Freunden.«

Die besonderen Freunde. Sie waren nicht nur in Rom, Sizilien oder Sardinien aktiv, die Männer, deren Namen niemand auszusprechen wagte. »Wo?«

Fanden sie zu Weg zu ihr? Fieberhaft versuchte Alessandra, einen klaren Gedanken zu fassen. Konzentrier dich auf den Toten, dann auf alles andere. Sie ballte ihre Hände in die engen Taschen der Diensthose. Reiß dich zusammen. Sie können dich nicht finden. Du lebst unter anderem Namen. Kein Gesicht.

»Zwei Touristen fanden ihn. Genau hier. Ich habe auf dich gewartet. Meine Augen sind nicht mehr so gut. Das bin ich Carisi schuldig. Wenn wir etwas übersehen, wirft das kein gutes Licht auf unsere Arbeit.«

Alessandra nickte und deutete auf den Gerichtsmediziner, der gemächlich über die Piazza schritt, als hätte er alle Zeit der Welt. Die Sonne stieg höher. Waren die Spuren vernichtet, wäre ihre Chance, den Täter zu ermitteln, weitaus geringer. Sie umrundete die Leiche und konnte ihre Trauer nicht verbergen. Obwohl Eduardo ihre Vorgehensweise kritisiert hatte, zählte er zu den wenigen Menschen, die ihr nach Paolos Tod viel Unterstützung gegeben hatten. Außerdem verdankte sie ihm die neuen Verschwörer gegen die Kreuzfahrtschiffe. War es Zufall, dass er gerade jetzt den Tod gefunden hatte? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand diesem hilfsbereiten, trauernden Mann Böses wollte.

»Da habt ihr es aber heute besonders eilig gehabt mit der Arbeit«, feixte der eingetroffene Gerichtsmediziner. Dann hielt Carlo betroffen inne. Auch er kannte das Opfer und hatte Mühe, professionell zu bleiben.

Alessandra blieb abseits stehen und beobachtete das morgendliche Treiben am Canal Grande. Taxis, Gondeln, Vaporetti, so viele Menschen waren unterwegs und niemand ahnte von dem schrecklichen Verbrechen, das hier geschehen war. Nach eingehender Untersuchung kam der Mann zu dem nicht überraschenden Schluss, dass der Mord einer Hinrichtung glich. Die Waffe wurde aus nächster Nähe abgefeuert, gezielter Kopfschuss mit Schalldämpfer. Carlo Franchese blickte zu Alessandra und ihrem Vorgesetzten. »Was hat Carisi getan, um so zu sterben?«

Angewidert vom brutalen Auslöschen des Freundes zog Carlo behutsam das Leichentuch über den leblosen Körper und empfahl sich. »Ich schicke euch den Autopsiebericht, was allerdings vergebene Liebesmüh ist. Angesichts der Tatsache, wie gezielt Eduardo getötet wurde, lebte sein Mörder einen besonderen Genuss an der Art der Zurschaustellung aus. Und was soll das mit dem A?«

Alessandra schreckte aus ihren Gedanken. Erst dann begriff sie. Die verstreuten Blumen um Eduardos Körper bildeten tatsächlich einen Buchstaben. Es brauchte keine große Fantasie, um ihn zu erkennen. Wie konnte ihr dieses wichtige Detail entgehen? Eine bleierne Faust schloss sich um ihren Hals. Sie sah zu Giuseppe, der unbeholfen auf die Knie sank und eine der Blüten aufhob. »Yasmin.«

Ihre Blicke trafen sich. Paolo hatte ihr immer ein Parfüm mit Yasmin geschenkt. Zufall? Das hatte sicher nichts mit den seltsamen Vorkommnissen der letzten Tage und Nächte zu tun. Antonio wartete auf eine günstige Gelegenheit, sie zu demütigen, und Eduardos Mörder besaß eine frivole Vorliebe für Rätsel.

»Es kann Zufall sein«, sagte Giuseppe, als könne er ihre Gedanken lesen. »Halte dich mit deinen Aktivitäten in nächster Zeit zurück. So lange, bis wir mehr über die Hintergründe erfahren, okay?«

Alessandra nickte nachdenklich. Eduardos Tod konnte nichts damit zu tun haben. Eine Sekunde lang zögerte sie, Giuseppe in die Ereignisse der letzten Nacht einzuweihen, doch sie schwieg. Antonio musste ihr bei der nächsten Dienstbesprechung in die Augen sehen. Danach würde sie ihren väterlichen Freund informieren, falls die Zusammenarbeit mit Antonio unter seinem nächtlichen Aussetzer leiden sollte. Es war unmöglich, dass er irgendetwas gegen sie in der Hand hatte. Die Fäden sind von ganz oben geschickt geknüpft. Das Konstrukt an Unternehmen und Verbindungen undurchsichtig gewoben. Wie sollte ein Provinzpolizist wie Antonio ihr gut gehütetes Geheimnis ausgegraben haben? Deutlich entspannter glitt ihre Hand von ihrer Waffe. »Ich muss zurück zur Dienststelle, Berichte abschließen«, erklärte sie und verabschiedete sich von Giuseppe.

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Erleichtert, allein auf der Dienststelle zu sein, drückte Alessandra einen Latte macchiato aus der Maschine und genoss den verführerischen Duft, der sich im Raum verteilte. Ihre Anspannung ließ weiter nach, als sie auf ihrem Smartphone ein witziges Selfie von Aurelio empfing. Frisch motiviert rief sie die Mails ab und freute sich auf die Routine des Tages. Abgesehen von dem schrecklichen Mord, was hier in der Lagune selten vorkam, würde alles gut werden, dachte sie.

» … Neue Erkenntnisse – Grande Navi …« Der Dringend-Pfeil der Mail alarmierte Alessandra. Sofort klickte sie auf Öffnen und las mit wachsendem Interesse die neuesten Daten über die Belastung Venedigs durch die Kreuzfahrtschiffe.

»Jetzt dürfen sie uns nicht länger ignorieren«, flüsterte sie. Gebannt überflog sie die erschreckenden Zahlen. Aus offiziellen Studien, vertrauenswürdigen Quellen, die keinerlei Lobby angehörten oder Schmiergelder von finanzkräftigen Investoren annahmen, um sich über Wasser zu halten. Die Verwarnung der UNESCO, der Stadt den Weltkulturerbe-Status abzuerkennen, war ein hilfreicher Joker. Rasch griff sie zum Smartphone und wählte die vertraute Nummer. »Wir müssen uns sehen. Ich habe neue Zahlen. Damit zwingen wir sie … ah, verstehe, du kneifst. Ich wusste nicht, dass ausgerechnet du die tatsächlich letzte Ratte bist, die das sinkende Schiff verlässt. Basta.« Wütend brach sie das Gespräch ab und schleuderte das Smartphone auf den Schreibtisch. Der Mord an Eduardo war bereits das Gesprächsthema in der Lagune. Empfanden die anderen es ebenfalls als Warnung? Das war an den Haaren herbeigezogen, denn dann müssten noch andere außer ihr in Gefahr sein. So groß war ihre Organisation nicht, dass sie derartig ins Fadenkreuz gerieten mit ihren Aktionen. Doch sie musste erneut ein Exempel statuieren.

Stunden später rieb sie sich zufrieden die Hände. Am Wochenende belagerte ein halbes Dutzend Kreuzfahrtschiffe die Lagune. Die kommenden Nächte brauchte sie dringend Hilfe von den anderen, denn die neuen Plakate machten sich nicht von allein. Sie zögerte kurz, dann drückte sie auf Senden und der Auftrag an die Druckerei war unterwegs. Bis zum Karneval würde ihre Mission einen wichtigen Meilenstein erreicht haben. Weit über die Grenzen Italiens sollte ihre Botschaft vernommen werden, koste es, was es wolle. Siegestrunken vor Hoffnung überhörte sie das Quietschen der Eingangstür. Ausgelassen schwang sie die Hüften und fühlte sich zum ersten Mal seit Langem lebendig – und glücklich. Alles wird gut.

»Da komme ich ja genau zum richtigen Augenblick.«

Antonios Stimme ließ ihre gute Laune zerbersten wie Muranoglas. Entgegen ihrer Hoffnung, dass er wieder bei klarem Verstand war, erkannte sie, dass sie sich seit gestern einen weitaus größeren Feind eingehandelt hatte. Einen Gegner, der erst aufgab, wenn einer von ihnen am Boden lag. Ihr Blick wanderte zum Schreibtisch, zu ihrer Waffe.

Antonio lachte. »So sehr verabscheust du mich?«

Bevor sie ihren Arbeitsplatz erreichen konnte, versperrte ihr der breitschultrige Mann den Weg und hangelte nach ihrer Waffe. Er zog sie aus dem Halfter und hielt sie sich gegen die Schläfe, dann auf ihre. »Ich tue alles, was du willst. Soll ich abdrücken, deinem traurigen Leben ein Ende bereiten?«

Bevor Alessandra antworten konnte, hörte sie von draußen Giuseppes durchdringende Stimme. Mit einem enttäuschten Lächeln legte Antonio ihre Dienstwaffe zurück. »Schade, aber wir bekommen sicher noch Gelegenheit, uns intensiver zu unterhalten.«

Als Giuseppe das Dienstzimmer betrat, lief sie ihm hilfesuchend entgegen. »Hast du kurz Zeit?«

Beflissen zog Giuseppe seine Uniformjacke aus und hängte sie an die Garderobe. »Vorher muss ich mit Antonio reden. Es gibt da ein paar Ungereimtheiten, was den Tatort angelangt. Du warst als Erster dort, nicht wahr?«

Antonio schlug die Fersen zusammen. »Sì, Commissario, romantischer geht es wohl kaum mit diesen grauenhaft stinkenden Blüten. Das wäre was für unsere Alessandra.« Mit einem charmanten Lächeln zog er sie näher und raunte ihr ins Ohr. »Ich soll dich grüßen lassen. Aurelio hatte ja einen aufregenden Abend an Paolos Sterbetag. Du solltest besser auf ihn aufpassen.« Dann ließ er sie unvermittelt los und folgte Giuseppe ins Büro.

4 – Widerstand!

Seit dem frühen Morgen war Alessandra unterwegs. Die frisch gedruckten Plakate waren direkt zur Piazzetta geliefert worden, von wo aus Alessandra mit ihrer Aktion im Hafenbecken starten wollte. Sie hoffte auf zahlreiche Teilnehmer. Nur so erreichten sie ihr Ziel: Die Aufmerksamkeit der Verantwortlichen gewinnen, aber auch die der Touristen und Nachbarn, der Weltpresse und allen Menschen, denen das Schicksal der Serenissima nicht egal war. Es gelang ihr nicht, wichtige Medien wie die Gazette di Venezia zu informieren. Matteo Rossi, einer der angesehensten Journalisten des Blattes, ließ sich seit Wochen verleugnen, wenn sie versuchte, ihn zu erreichen. Unermüdlich hetzte sie seit Stunden von Haus zu Haus, um Werbung in eigener Sache zu machen. Sie lächelte zufrieden, als sie kurz vor Beginn der Protestaktion den Letzten von ihrer Liste streichen konnte. In zwei Stunden war es soweit. Bis dahin musste sie Aurelio untergebracht haben.

Der Junge nörgelte seit dem frühen Morgen. Er merkte, dass etwas Wichtiges vor sich ging und fühlte sich ausgeschlossen. »Verfluchte Grande Navi«, schimpfte er und spuckte auf den Boden.

»Aurelio!« Entsetzt über sein Verhalten blieb Alessandra unvermittelt stehen. »Ich versteh deinen Ärger, aber ich dulde nicht, wie du schimpfst und spuckst! Damit hilfst du uns nicht.«

»In der Schule beschimpfen sie dich. Meine Schulfreunde sagen, du stiehlst ihren Eltern die Arbeit und sie müssten bald wegziehen.«

Betroffen hielt Alessandra inne. Sie hatte Aurelios Zurückhaltung in den vergangenen Tagen als Reaktion auf den nächtlichen Vorfall verstanden. »Es tut mir Leid, wirklich, Schatz. Es geht um mehr als Arbeitsplätze, verstehst du? Jedes Schiff ist eine Gefahr für die Lagune, für uns alle. Ich will nicht, dass dir oder Giuseppe etwas passiert, dass ihr von den Abgasen in der Luft krank werdet.«

»Es ist wegen nonna.« Aurelio ließ die Schultern hängen und schlenderte ihr hinterher. »Dann lass mich mithelfen. Du sagst doch selbst, jede Stimme zählt. Warum nicht auch meine?« Er wedelte aufgeregt mit seinen Händen und entriss ihr eines der Plakate. Ein ausgemergeltes Gesicht, aus dem sich die Wangenknochen deutlich abzeichneten, kam zum Vorschein. Entsetzen zeigte sich in Aurelios Gesicht, auch in dem der umstehenden Passanten. Wann hatte Aurelio seinen Freund Gustavo zum letzten Mal gesehen? Die Reaktion ihres Sohnes bestätigte allerdings ihre Hoffnung auf Publicity. Diese Fotos machten betroffen, schockierten. Dennoch wollte sie ihren Sohn damit nicht belasten. Rasch faltete sie das Tuch zusammen und zog Aurelio weiter. »Du wirst es verstehen, aber jetzt musst du mir auf andere Art und Weise helfen. Du bist mein Spion, ganz geheim, segreto, verstehst du?« Mit einem verschwörerischen Grinsen deutete sie ihm ihr in eine schmale Gasse zu folgen. Dort erläuterte sie ihm ihre spontane Idee in der Hoffnung, dass Aurelio freiwillig daheimblieb und von dem Aufruhr in der Lagune nichts mitbekam. Eine naive Fantasie, da er in der Schule bereits wegen ihrer Aktivitäten Streit mit seinen Freunden bekam.

Stunden später war Alessandra ganz in ihrem Element. Aufgeregt über die vielen Menschen, die ihrem Aufruf gefolgt waren, erklärte sie allen die Aktion und bat sie, in ihren Booten auf das Startzeichen zu warten. Dutzende Boote, darunter Gondeln, Vaporetti und Schnellboote, säumten den Kai vor dem Dogenpalast. Mit Giuseppes Hilfe und einigen anderen vertrauenswürdigen Mitverschwörern verteilte sie Plakate und Haltestangen an die beteiligten Boote. Immer wieder sah sie auf die Uhr. »Die Grande Principessa läuft in einer knappen halben Stunde ein. Versucht euch bis dahin zu positionieren, aber ohne Risiko, Leute. Wir sind nicht Greenpeace. Niemand hängt sich an Ankerketten, Brückengeländer oder macht etwas Unüberlegtes. Wir schockieren mit Fakten, unübersehbaren Tatsachen, nicht mit riskanten Manövern.«

»David gegen Goliath!« – »Viva Venezia – Schiffe raus!«

Die mitfahrenden Venezianer versuchten, sich mit Anfeuerungsrufen zu übertrumpfen. In kleinen Gruppen verließen sie mit ihren Booten den Kai und brachen in Richtung Canale della Guidecca und dem Markusbecken auf. Die ersten neugierigen Touristen blieben stehen und zückten ihre Smartphones. Hoffentlich verbreitete sich nicht bereits vor dem Start alles auf den sozialen Medien. Hastig stieg Alessandra in das letzte verbliebene Boot und zog sich eine Mütze auf den Kopf. Hinter der schwarzen Gucci-Sonnenbrille wähnte sie sich beim Ausfahren aus dem Hafenbecken geschützt und verwegen zugleich. Mit gemischten Gefühlen hielt sie eines der schockierenden Plakate mit dem Gesicht von Eduardos Sohn hoch, das sich im Fahrtwind blähte und Gustavo zum Leben erweckte. Gänsehaut lief über Alessandras Rücken. Die Stangen erschwerten ihr das Hantieren mit dem Steuer des Motors, aber sie wollte nicht aufgeben. Allein in ihrem kleinen schaukelnden Boot überwältigte sie plötzlich ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit. Von den übrigen Booten schallte über die Lagune Lachen herüber. Sie kannte nicht jeden, der sie heute unterstützte, aber in der nächsten Stunde waren sie famiglia, ein wichtiger Zusammenhalt für sie. Hielt auch Aurelio sein Versprechen und behielt daheim die Position? Er musste im Internet nachsehen, ob sich die Position des Schiffes ungeplant veränderte, aber bislang hatte sie nichts von ihm gehört. Alles schien nach Plan zu laufen. Einige Taxiboote, die aus dem Canal Grande fuhren, schlossen sich ihnen spontan an. Das halbe Hafenbecken und der Canale della Guidecca vom Campanile an erinnerten an einen Teppich mit bunten, schaukelnden Flecken wie bei der Red Regatta.

»Könntest du diesen Tag miterleben, Paolo«, flüsterte sie tränenerstickt. Wie oft hatten sie nach dem Tod ihrer Mutter über die wachsende Umweltkatastrophe gesprochen und darüber, was man als Einzelner tun könnte. »Du zeigst es ihnen, meine schöne Kriegerin«, hatte Paolo überzeugt von ihrer Stärke geflüstert und sie sanft geküsst. Der Tag schien ewig her, und doch fühlte sie Paolo in diesem Moment so nahe, dass ihr der Atem stockte.

Der Wind legte zu, als das wendige Boot Fahrt aufnahm und das schützende Hafenbecken verließ. Alessandra musste sich konzentrieren, Paolos altes Holzboot angesichts der stärkeren Wellen durch die Schnellboote und Fähren auf Kurs zu halten. Ihre letzte Ausfahrt lag schon länger zurück. Tränenblind von dem scharfen Wind oder ihrer Sehnsucht nach Paolo blickte sie nach hinten. Die vertraute Kulisse Venedigs schwand. Irgendwo in dem Gewirr aus Gassen und Kanälen harrte Aurelio tapfer aus, obwohl er gerne bei ihr gewesen wäre. Wenn er größer wäre, dürfe er mit, hatte sie ihm versprochen. Sie hoffte, dass der Kampf bis dahin ausgefochten war.

Laute Stimmen schreckten Alessandra aus ihren Gedanken. Eines der Schnellboote hatte zwei der Boote inmitten des Konvois aufgehalten und hinderte sie an der Weiterfahrt. Ein Polizeiboot. Hatte es sich Giuseppe überlegt und fuhr mit dem Dienstfahrzeug aus? Beim Näherkommen erkannte sie Antonios markante Statur. Der geduckte Stiernacken. Er durfte ihre Mission nicht sabotieren, nicht heute. Nicht er! Zum Teufel mit diesem Mann, der ihr die Hölle auf Erden bereiten wollte. Bis Alessandra eintraf, verjagten die Aktivisten Antonio, ohne zu zögern mit einem Ruder. Mit einem Satz rettete sich der Polizeibeamte auf das Deck des Polizeiboots. Wütend ließ er den Motor aufheulen und fuhr mit einer großen Welle davon.

»Was wollte er?«, schrie Alessandra über das aufgewühlte Meer zu ihren Mitstreitern, die stolz die Fahne hissten, im Sieg über Antonios Niederlage.

»Dich ins Wasser stoßen. So wütend war der Kerl noch nie«, antwortete Lucia, die Tochter des Fleischers. »Er hielt mich für dich und war ganz schön enttäuscht.«

Alessandra strich über Paolos Hemd, das ihre weibliche Figur wie erhofft verbarg und grinste. Es gab noch genug Boote, die Antonio absuchen konnte. Sie verdrängte ihre Unruhe, was passiert, wenn er sie ausfindig machte. Ihre Freunde und Nachbarn waren immer in ihrer Nähe. Es konnte nichts schiefgehen.

Längst geriet das Polizeiboot außer Sicht. Die dem Konvoi angeschlossenen Boote verteilten sich wie vereinbart über die Lagune und versuchten auf dem unruhigen Wasser ihre Position zu halten. Ein Blick auf die Uhr bestätigte Alessandra, dass der heute erwartete Kreuzfahrtriese einer neuen Reederei in Kürze am Horizont auftauchen sollte. Die Konturen überragten viele der Palazzi beim Einlaufen, das man meinte, der schwimmende Koloss wolle alles mit sich reißen. Auf allen Booten flatterten weithin sichtbar Plakate mit Appellen, Fakten und Fotos. Jemand feuerte alle an und rief Parolen in ein Megafon: »Rettet unsere Stadt, verjagt diese hässlichen Monster, die unsere Luft verpesten!«

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Alessandras Traum, die italienische Regierung, die Verantwortlichen zu einem Ultimatum zu zwingen, stand kurz vor seiner Erfüllung. Tatsächlich erkannte sie ein, zwei Boote, auf denen Reporter und Fotografen live berichteten. Das hatte sie wohl De Luca zu verdanken, der seine alten Kontakte zu den Medien spielen ließ. Hätte Eduardo diesen Tag nur miterlebt, um den sinnlosen Tod seines Sohnes zu rächen. Die Linsen der Kameras spiegelten sich im Sonnenlicht. Inzwischen schaukelten die Boote stärker auf den Wellen des aufgewühlten Kanals, dessen Fahrrinne unter den riesigen Schiffen litt wie die Fundamente der Gebäude. Das musste ein Ende finden. Heute gelang ihnen ein Meilenstein. »Der Tag ist für dich, mamma

»Das Schiff!« Ein multipler Aufschrei erschallte über der Lagune. Die unruhigen Wellen, die das Kreuzfahrtschiff ankündigten, zwangen Alessandra, sich hinzusetzen. Die Umrisse der Schornsteine des Schiffes zeichneten sich gegen den strahlend blauen Himmel ab. Die Grande Principessa nahm Kurs auf die Lagune Venedigs. In weniger als einer Stunde spülte sie Tausende Tagestouristen in eine Stadt, die ohnehin überging vor Menschen und Booten.

Alessandra gab mit der Hand Kommandos, und die Menschen auf den umliegenden Booten folgten ihr auf wundersame Weise. Einem Tanz gleich formierten sich die Boote, was angesichts der zunehmenden Wellen deutlich schwieriger wurde. Aus dem Megafon drangen unermüdlich Appelle an die beteiligten Umweltaktivisten. Die Aktion sorgte für Aufruhr. Immer mehr Menschen versammelten sich an der Reling und den unteren Decks des Ozeanriesen. Erkannten die Kreuzfahrer die schauerlichen Bilder auf den Plakaten von oben? Wurde ihnen bewusst, was die Abgase dieser gigantischen Transportmittel anrichteten? Entdeckten sie das SOS, das die Boote bildeten, um auf die zunehmende Umweltgefahr für die Lagune aufmerksam zu machen?

Alessandra vertiefte sich derart in ihre Beobachtungen, dass sie Zeit und Raum vergaß. Sie griff nach ihrem Smartphone, um die Ereignisse festzuhalten und sie im späteren Siegeszug zu genießen. Da bemerkte sie, dass ihr Akku leer war. Darum konnte sich Aurelio nicht melden. Unruhig fuhr sie weiter und studierte die Lage der Boote, die Alessandras Mission vertrauten. Das Kreuzfahrtschiff änderte plötzlich seinen Kurs und hielt direkt auf den kleinen Konvoi zu.

»Fahrt weiter zurück!«, schrie Alessandra und winkte so heftig mit den Armen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Niemand erkannte jedoch die drohende Gefahr. Alle winkten ausgelassen zurück, erleichtert über die gelungene Aktion, die bisher reibungslos ablief. Bis die erste große Welle brach. Wenn sie jetzt nicht zurücksetzten, gerieten sie in den Sog der gewaltigen Bugstrahlruder und Motoren, die das Kreuzfahrtschiff rund um die Uhr in Betrieb hielten. Die ersten Aktivisten reagierten. Hektisch wendeten sie ihre Boote und versuchten, den Abstand zwischen sich und dem Ozeanriesen zu vergrößern. Es erschien Alessandra wie eine Ewigkeit, bis es ihnen endlich gelang. Dabei verlor sie ihre eigene Position aus den Augen. Das Boot trieb ab, weil sie zu sehr auf die anderen geachtet hatte. Hektisch riss sie am Starter des Motors. Stille. »Mist, verfluchtes Ding, spring endlich an!« Erneut versuchte sie, den Talamax TM40 zu starten, doch der leistungsstarke Motor reagierte nicht. Ein riesiger Schatten fiel über sie. Durch die ersten Schlagwellen des Kreuzfahrtschiffes schaukelte ihr kleines Holzboot immer heftiger. Wechselte das Kreuzfahrtschiff erneut den Kurs oder wich sie soweit ab? Sie driftete direkt in die Fahrtroute des Schiffes ab. »Hilfe!« Sie schrie lauthals, aber ihre Hilferufe gingen in den markerschütternden Warntönen des Kreuzfahrtschiffes unter. Verzweifelt hielt sie sich an der Reling fest und maß von Angst gelähmt den schwindenden Abstand zwischen ihrer Nussschale und dem riesigen Kreuzfahrtschiff. Wo war Antonio mit dem Schnellboot? Wenn er sie sähe, gab es eine Chance, der Katastrophe zu entkommen. In Trance spürte sie den unwiderstehlichen Sog des Ozeanriesen, der um die Gunst des kleinen Bootes buhlte. Nur wenige Meter trennten sie von der tödlichen Gefahr, vor der sie heute in einer aufsehenerregenden Aktion warnen wollte. Nun bildete sie selbst eine Zielscheibe – und verlor. Tränenblind dachte sie an Aurelio und was sie ihm noch sagen wollte. Fasziniert und entsetzt zugleich legte sie ihren Kopf in den Nacken, überwältigt von der majestätischen Höhe des Schiffes und dessen Ausmaße unter dem Kiel. Die Schiffsmarke mit ihren riesigen Ziffern war gut lesbar. Oh Gott! Das Schiff war so brutal nah. Entsetzte Blicke trafen sie, sie hörte die warnenden Rufe der Kreuzfahrer über sich.

Alessandra war unfähig, sich der drohenden Katastrophe zu entziehen, zu reagieren. Wie erstarrt beobachtete sie, wie die Wellen immer höher wurden. Rettungsringe wurden ins Wasser geworfen. Einer traf sie heftig am Kopf. Mit einem Schmerzensschrei ging sie über Bord und schnappte nach Luft, als das aufgewühlte Wasser der Lagune in ihre von Panik gepeinigten Lungen drang. Ein Schatten riss sie in das kalte Wasser, tiefer und tiefer, bis es schwarz wie die Nacht wurde.

Mini Motivstempel Anker » Jetzt bei Stempel-Malter.de bestellen

Ihr war kalt. So unendlich kalt. Benommen drehte sich Alessandra zur Seite und verlor beinahe das Gleichgewicht, als sie merkte, dass sie auf einem schmalen Bett lag. Der Boden schwankte oder war es ihr Kopf, in dem sich alles drehte wie in einem Karussell? Schemenhaft stiegen Bilder hoch, Erinnerungen an … Das Schiff! Sie fuhr entsetzt auf, bis ein stechender Schmerz in den Schläfen sie auf das ungewohnt harte Bettlager zurückzwang. Langsam gewannen ihre Augen an Sehschärfe. Sie befand sich auf einem Boot, deshalb der schwankende Untergrund. Leise hörte sie das Tuckern eines Motors und erkannte die Umrisse eines Mannes, nachdem sie aus der Kajüte in das stechende Blau des Himmels blickte. Sie versuchte, sich verständlich zu machen, aber ihre Stimme versagte kläglich. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie musste warten, bis ihr geheimnisvoller Retter auf sie aufmerksam wurde. Sie versuchte, sich an die dramatischen Ereignisse zu erinnern, die sie in diese verworrene Lage gebracht hatten. Sie wollte die Grand Principessa nicht am Einlaufen hindern, sondern die Aufmerksamkeit nutzen. Wahrscheinlich hatte sie mit dieser leichtsinnigen Aktion nichts erreicht, außer sich und alle anderen in Lebensgefahr zu bringen. Das war‘s mit ihren hochtrabenden Plänen, Venedig vor dem endgültigen Untergang zu retten. Sie schämte sich, in ihrem Hass auf die Ozeanriesen derart unüberlegt vorgegangen zu sein. Die Prellungen an ihrer Hüfte erinnerten sie schmerzhaft an das abrupte Ende ihres erhofften Siegeszuges durch den Canal Grande. Stöhnend drehte sie sich zur Seite und keuchte vor Anstrengung.

Sie musste nach Hause. Aurelio sorgte sich, wie ging er wohl mit der Situation um? Sie biss die Zähne zusammen, versuchte erneut, sich aufzurichten. Schwerfällig, Zentimeter für Zentimeter, bis sie die Enge der Kabine erkannte, in der offensichtlich nicht nur gearbeitet, sondern auch gelebt wurde. Eine Socke lag vergessen unter dem Klapptisch gegenüber. Ein feuchtes Hemd hing an einem Bügel. Ihr Herz galoppierte ein paar Sekunden, dann atmete sie erleichtert aus. Sie hatte nichts von ihrer Kleidung eingebüßt, so roch sie auch. Angeekelt tauchte sie ihre Nase tiefer in den Stoff, roch das brackige Wasser der Lagune, bis die Übelkeit wie ein überlaufendes Fass in ihr hochstieg. Wie aus dem Nichts tauchte eine Schüssel vor ihr auf, in die sie sich übergab. Ein angenehm kühler Waschlappen glitt über ihr glühend heißes Gesicht. Endlich ließ die quälende Übelkeit nach, und Alessandra öffnete die Augen.

Ein Mann kniete vor ihr, betrachtete sie besorgt und lächelte. Ein erleichtertes Lächeln, das ihr Herz zum Schwingen brachte.

»Geht es Ihnen besser?« Der Fremde legte ihr, ohne zu zögern, die Hand auf die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Bleiben Sie im Bett. Ich bereite frischen Tee zu und eine Minestrone, damit Sie sich besser fühlen.«

Bevor er aufstehen konnte, hielt sie ihn am Arm fest, spürte seine Muskeln. »Was ist passiert? Wo bin ich?«

»Alles mit der Ruhe. Zuerst müssen Sie zu Kräften kommen. Ruhen Sie sich aus. Nach dem Essen erzähle ich Ihnen alles, was Sie in den letzten Tagen verschlafen haben.«

»Tagen? Oh Gott, ich muss zurück, mein Sohn …«

Der Fremde drückte sie sanft, aber entschlossen auf das schmale Kajütenbett. »Das übernimmt gewiss Ihr Mann, Sie bleiben liegen, versprochen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752136487
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Venedig umweltschutz serenissima mafia thriller overtourism romantik romantic_suspense Kreuzfahrtschiffe Liebesroman Liebe

Autor

  • Manuela Tengler (Autor:in)

Mit Herz und Leidenschaft Die freiberufliche Autorin und Lektorin liebt das Schreiben vor Ort, vor allem in Italien. Hier entstehen historische Romane und Liebesromane, von denen es noch einige zu lesen geben wird. Denn tatsächlich ist Manuela Tengler gern in Italien unterwegs, um sich inspirieren zu lassen oder an den Original-Schauplätzen zu schreiben. Besonders das Veneto, Apulien und Kalabrien haben das Herz der Autorin erobert.
Zurück

Titel: Maskenball des Todes