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Ein Feuer machen

von Jack London (Autor:in) Wolfgang Tischer (Andere)
52 Seiten

Zusammenfassung

Ein Feuer machen (To Build a Fire) ist die wohl bekannteste Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Jack London. Ein Mann kämpft sich durch Schnee, Eis und die klirrende Kälte in den unendlichen Weiten des kanadischen Yukon. Um zu überleben, muss er ein Feuer machen. Ein gnadenloser Wettkampf Mensch gegen Natur beginnt. Erstmals liegt diese bewegende und packende Geschichte anlässlich des 100. Todestages von Jack London in einer aktuellen Neuübersetzung vor. Ergänzt wird die Erzählung durch eine Reisereportage von Wolfgang Tischer. Im Winter 2016 reiste Tischer in die legendäre Goldgräberstadt Dawson City, wo heute noch die Blockhütte von Jack London zu finden ist. Der Goldrausch führte Jack London 1897 in den eisigen Norden Kanadas. Der Winter dort, den er fast nicht überlebte, inspirierte Jack London zu seinen bekannten Werken wie »Der Ruf der Wildnis«, »Lockruf des Goldes« oder »Ein Feuer machen«.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Jack London

Ein Feuer machen

Der Tag war kalt und grau angebrochen, außerordentlich kalt und grau, als der Mann den Hauptweg des Yukon verließ und den hohen Erdwall erklomm, wo ein schmaler und wenig begangener Pfad ostwärts durch den dichten Kiefernwald führte. Der Hang war steil, und oben hielt er inne, um zu verschnaufen, und rechtfertigte das vor sich selbst, indem er auf die Uhr schaute. Es war 9 Uhr morgens. Es gab keine Sonne oder die Ahnung von Sonne, obwohl keine einzige Wolke am Himmel stand. Es war ein klarer Tag, und doch schien ein unsichtbares Leichentuch über dem Antlitz der Dinge zu liegen, eine subtile Düsternis, die den Tag verdunkelte, was an der fehlenden Sonne lag. Doch das beunruhigte den Mann nicht. Er hatte sich an die fehlende Sonne gewöhnt. Es war einige Tage her, dass er die Sonne gesehen hatte, und er wusste, dass noch ein paar Tage vergehen würden, bevor das freundliche Rund in südlicher Richtung kurz über den Horizont blicken würde, um sofort wieder aus dem Sichtfeld zu verschwinden.

Der Mann warf einen Blick zurück auf den Weg, den er gekommen war. Dort lag der Yukon-Fluss, über eineinhalb Kilometer breit und verborgen unter meterdickem Eis. Auf dem Eis nochmals die gleiche Menge an Schnee. Alles war reines Weiß, das in sanften Wellen verlief, wo sich die gefrierenden Eisschichten übereinandergedrängt hatten. Im Norden und Süden war so weit das Auge reichte ein ununterbrochenes Weiß, bis auf eine dunkle haarfeine Linie, die sich um die mit Fichten bedeckte Insel im Süden wand und schlängelte und sich weiter in den Norden wand und schlängelte, wo sie hinter einer weiteren mit Fichten bedeckten Insel verschwand. Diese dunkle Haarlinie war der Weg – der Hauptweg –, der im Süden nach 800 Kilometern zum Chilkoot-Pass, zur Hafenstadt Dyea und zum Salzwasser führt und im Norden nach gut 100 Kilometern nach Dawson und immer weiter in den Norden 2.000 Kilometer nach Nulato und schließlich nach St. Michael an der Bering See, 2.000 Kilometer und nochmals 500 mehr.

Aber all das – der mysteriöse, weitreichende, haarfeine Weg, das Fehlen der Sonne am Himmel, die schreckliche Kälte, das alles erfassende Fremde und Unheimliche – beeindruckte den Mann nicht. Und das etwa nicht, weil er sich längst daran gewöhnt hätte. Er war neu in diesem Land, ein so genannter Cheechako, und dies war sein erster Winter. Das Verhängnisvolle an ihm war, dass er keine Vorstellungskraft besaß. Er begriff die Dinge des Lebens rasch und aufmerksam, aber eben nur die Dinge und nicht ihre Bedeutung. Fünfzig Grad Fahrenheit unter Null, bedeuteten 80 Grad irgendwas an Frost. Das waren rund minus 45 Grad Celsius. Solch eine Sache beeindruckte ihn, weil es kalt und ungemütlich war, aber das war es auch schon. Es führte nicht dazu, dass er sich Gedanken über die Schwächen warmblütiger Wesen machte und über die menschliche Vergänglichkeit im Allgemeinen, nur überlebensfähig in einem schmalen Grenzbereich zwischen Hitze und Kälte, und von dort führte es ihn auch nicht zu Mutmaßungen über die Unsterblichkeit und der Rolle der Menschheit im Universum. 45 Grad Celsius unter Null standen für beißenden Frost, der schmerzlich ist und gegen den man sich mit Fäustlingen, Ohrenschützern, warmen Schuhen und dicken Socken schützen musste. 45 Grad unter Null bedeuteten für ihn genau 45 Grad unter Null. Dass dies noch mehr bedeuten könnte, das war eine Vorstellung, die nicht in seinen Kopf drang.

Als er sich anschickte weiterzulaufen, spuckte er gedankenverloren aus. Es entstand ein scharfes, explosives Knacken, das ihn irritierte. Er spuckte erneut aus. Und wieder, noch in der Luft, bevor sie in den Schnee fiel, knackte die Spucke. Er wusste, dass bei minus 50 Grad die Spucke im Schnee knistern würde, aber die hier knisterte bereits in der Luft. Zweifelsohne war es kälter als 50 Grad unter Null – wie viel kälter, das wusste er nicht. Aber die Temperatur spielte keine Rolle. Er war auf dem Weg zum alten Goldgräbergrund am linken Arm des Henderson Flusses, an dem die Jungs bereits eingetroffen waren. Sie waren über die Kluft in der Indian-Creek-Region gekommen, während er den Umweg nahm, um zu schauen, ob man im Frühling Holz auf den Inseln des Yukon gewinnen könnte. Er würde gegen sechs Uhr abends im Lager eintreffen; ein klein wenig nach Einbruch der Dunkelheit, das mochte sein, aber die Jungs würden ja dort sein, ein Feuer wäre bereits entfacht und ein warmes Abendessen bereitet. Was das Mittagessen betraf, presste er die Hand gegen das hervorstehende Bündel unter seiner Jacke. Es befand sich auch unter seinem Hemd, eingewickelt in ein Taschentuch, direkt an der nackten Haut anliegend. Der einzige Weg, um das Brötchen am Gefrieren zu hindern. Er lächelte in sich hinein, als er an die Brötchen dachte, jedes aufgeschnitten und mit Fett bestrichen, jedes belegt mit einem großzügig geschnittenen Stück gebratenen Schinken.

Er tauchte zwischen den großen Fichten ein. Der Pfad war schwer auszumachen. 30 Zentimeter Schnee waren gefallen, seit der letzte Schlitten hier vorbeigekommen war, und er war froh, dass er keinen Schlitten hatte und mit leichtem Gepäck reiste. Tatsächlich trug er nichts bei sich außer dem ins Taschentuch eingewickelten Mittagessen. Allerdings war er dennoch etwas erstaunt über die Kälte. Ohne Frage ist es kalt, stellte er fest als er mit der behandschuhten Hand über die gefühllose Nase und die Wangenknochen strich. Er war ein Mann mit wärmendem Bart, aber die Behaarung im Gesicht schützte nicht die hohen Wangenknochen und die neugierige Nase, die in die frostige Luft ragte.

An die Fersen des Mannes hatte sich ein Hund geheftet, ein großer einheimischer Husky, der perfekte Wolfshund, grau meliert und ohne sichtbaren oder wesentlichen Unterschied zu seinem Bruder, dem wilden Wolf. Das Tier litt unter der enormen Kälte. Es wusste, dass es nicht die Zeit fürs Herumreisen war. Der Instinkt erzählte dem Tier eine glaubhaftere Geschichte, als sie sich der Mann basierend auf seiner eigenen Einschätzung erzählte. In Wirklichkeit war es nicht nur kälter als minus 50 Grad, es war kälter als minus 55. Es waren 60 Grad Celsius unter Null. In Grad Fahrenheit liegt der Gefrierpunkt bei 32 Grad über Null, sodass dies auf dieser Skala hundertundsieben Grad Frost bedeutete. Der Hund wusste nichts über Thermometer. Möglichweise gab es in seinem Hirn keine klare Vorstellung, was sehr kalt bedeutete, so wie im Hirn des Mannes. Doch das Tier besaß seinen Instinkt. Es hatte eine vage und unheimliche Vorahnung, die es überkam und die dazu führte, dass es sich an die Fersen des Mannes heftete und jede ungewöhnliche Bewegung des Mannes beäugte, als ob es nur darauf wartete, dass er sein Lager errichten oder irgendwo Schutz aufsuchen und ein Feuer machen würde. Der Hund wusste, was ein Feuer war, und er wollte ein Feuer haben, ansonsten würde er sich unter den Schnee einmummeln, um die Körperwärme der Luft zu entziehen.

Die gefrorene Feuchtigkeit des Atems hatte sich auf sein Fell gelegt wie feines Frostpuder, und insbesondere die Kinnpartie, die Schnauze und die Wimpern waren weiß von Atemkristallen. Der rote Bart und Schnurrbart des Mannes waren ähnlich gefroren, aber weitaus stärker. Die Ablagerungen wurden zu Eis, das mit jedem warmen, feuchten Ausatmen anwuchs. Außerdem kaute der Mann Tabak, und das Eis vor seinem Mund hielt die Lippen fest zusammen, sodass er sein Kinn nicht säubern konnte, wenn er den Saft ausspuckte. Und so wuchs ihm am Kinn ein stetig länger werdender Kristallbart, in Farbe und Festigkeit Bernstein vergleichbar. Fiele er hin, würde der Bart wie Glas zerspringen. Aber dieser Anhang störte ihn nicht weiter. Es war die Bürde, die alle Tabakkauer in dieser Gegend des Landes tragen mussten, und er war schon zweimal bei solchen Kältewellen hier draußen gewesen. Es war nicht so kalt wie jetzt, das wusste er, aber er wusste, dass sie am Alkoholthermometer bei der Sixty-Mile-Mine bereits 50 und 55 Grad gemessen hatten.

Er ging einige Meilen weiter unter den Fichten hindurch, überquerte eine weite Lichtung und sprang eine Uferböschung hinunter in das gefrorene Bett eines kleinen Flusses. Es war der Henderson-Fluss, und er wusste, dass er jetzt noch gut 15 Kilometer von der Gabelung entfernt war. Er schaute auf die Uhr. Es war 10 Uhr. Er schaffte sechs Kilometer in der Stunde, und er rechnete sich aus, dass er an der Flussgabelung um halb eins eintreffen würde. Er beschloss, dies dort mit einem Mittagessen zu feiern.

Der Hund heftete sich wieder an seine Fersen, den Schwanz enttäuscht herabhängend, als sich der Mann das Flussbett entlangschlängelte. Die Furche des alten Schlittenpfades war deutlich sichtbar, aber gut 30 Zentimeter Schnee bedeckten die Spuren des letzten Läufers. Seit einem Monat war niemand den verlassenen Flusslauf hoch- oder hinuntergekommen. Der Mann ging beständig weiter. Er war nicht gerade dem Denken verfallen, und insbesondere jetzt gab es nichts mehr als den verlässlichen Gedanken, dass er an der Flussgabelung zu Mittag essen würde und um sechs Uhr abends im Lager bei den Jungs wäre. Es war niemand da, mit dem er hätte sprechen können. Doch selbst wenn dort jemand gewesen wäre, hätte der eisige Maulkorb jedes Gespräch unmöglich gemacht. Also kaute er monoton weiter an seinem Tabak, sodass die Länge des Bernsteinbartes stetig anwuchs.

Ab und an dachte er daran, dass es schon sehr kalt war und dass er eine solche Kälte noch nicht erlebt hatte. Als er so weiterging, fuhr er sich mit der behandschuhten Hand über Wangenknochen und Nase. Er tat es automatisch, hin und wieder wechselte er die Hand. Aber so viel er auch rieb, in dem Moment, in dem er damit aufhörte, wurden seine Wangen taub, und einen Augenblick später war die Nasenspitze taub. Er würde sich Erfrierungen an den Wangen holen, das wusste er, und schmerzliches Bedauern überkam ihn, dass er sich keinen Nasenschutz gebaut hatte, wie ihn Bud immer während der Kältewellen trug. Ein solcher Schutz würde auch die Wangen bedecken und sie retten. Aber so schlimm war es nun auch wieder nicht. Was waren schon erfrorene Wangen? Etwas schmerzhaft, das war es auch schon. Nichts wirklich Ernstes.

Auch wenn es im Hirn des Mannes keine Bedenken gab, war er sehr aufmerksam und nahm die Veränderungen des Flusses, die Kurven und Krümmungen und das aufgestaute Holz wahr. Stets achtete er verschärft darauf, wo er den Fuß hinsetzte. Als er so um eine Biegung kam, wich er wie ein scheuendes Pferd abrupt zurück, machte einen Bogen um das Gebiet, auf dem er gegangen war und ging den Weg ein ganzes Stück zurück. Er wusste, dass der Fluss bis auf den Grund gefroren war – kein Fluss würde bei solch arktischem Wetter Wasser führen – aber er wusste, dass es Quellen gab, die an den Berghügeln entsprangen und unter dem Schnee und auf dem Fluss verliefen. Er wusste, dass diese Quellen selbst an den kältesten Tagen nie zufroren, und er wusste um ihre Gefahren. Es waren Fallen. Sie bildeten tiefe Lachen unter dem Schnee, die 10 Zentimeter oder einen Meter tief sein konnten. Oft waren sie mit einer millimeterdünnen Eisschicht bedeckt, die wiederum von Schnee bedeckt war. Oft türmten sich diese Wasserschichten mit Eishaut mehrfach übereinander auf, sodass, wenn man durch eine hindurchgebrochen war, man auch die anderen nach und nach durchbrach, und dann war man nass bis zur Hüfte.

Daher war er in solch einer Panik zurückgewichen. Er hatte gespürt, wie etwas unter seinen Füßen nachgab und hatte das Knistern einer schneebedeckten Eishaut gehört. Und bei solch einer Temperatur nasse Füße zu bekommen, bedeutete Unannehmlichkeiten und Gefahr. Im besten Falle hätte es eine Verzögerung bedeutet, denn dann wäre er gezwungen gewesen anzuhalten und ein Feuer zu machen, um unter seinem Schutz die Füße zu entblößen, während er Socken und Schuhe trocknete. Er hielt inne und studierte das Flussbett und das Ufer und entschied dann, dass der Wasserzufluss von rechts kam. Er überlegte etwas, rieb sich Nase und Wangen, schlitterte dann nach links, ging behutsam weiter und probierte die Trittsicherheit jedes Schritts. Nachdem er die Gefahrenstelle passiert hatte, nahm er einen frischen Bissen Tabak und nahm die Sechskilometerstrecke wieder in Angriff.

Innerhalb der nächsten zwei Stunden kam er an ähnlichen Fallen vorbei. Normalerweise wirkte der Schnee über den verborgenen Lachen leicht eingesunken und überzuckert, was auf die Gefahr hindeutete. Erneut war er der Gefahr nur knapp entgangen. Einmal, als es wieder gefährlich wurde, zwang er den Hund voranzugehen. Der Hund wollte nicht. Er ließ sich zurückfallen, bis der Mann ihn vorwärtsscheuchte, und dann lief er rasch über die weiße, unberührte Fläche. Plötzlich brach er ein, stampelte zur Seite und schaffte es auf festeren Untergrund zu gelangen. Die Vorder- und Hinterläufe waren nass geworden, und fast augenblicklich wurde das Wasser daran zu Eis. Er versuchte kurzzeitig, sich das Eis von den Beinen abzulecken, dann warf er sich in den Schnee und biss sich das Eis zwischen den Zehen weg. Es war reines Instinktverhalten. Das Eis dort zu belassen würde wunde Füße bedeuten. Das Tier wusste das nicht. Es gehorchte nur dem mysteriösen Antrieb, der aus den Tiefen seines Wesens kam. Aber der Mann wusste es, nachdem er ein Urteil über die Lage gefällt hatte, und er zog den Fäustling von der rechten Hand und half dem Hund, die Eisstücke loszuwerden. Er entblößte die Finger nicht mehr als eine Minute und war erstaunt über die fast schlagartig einsetzende Taubheit, die sie befiel. Es war definitiv kalt. Er zog den Fäustling hastig wieder über und schlug sich mit der Hand wild auf die Brust.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739367163
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Yukon Jack London Kanada Build Abenteuer Fire Goldrausch Erzählungen Kurzgeschichten

Autoren

  • Jack London (Autor:in)

  • Wolfgang Tischer (Andere)

Jack London (eigentlich John Griffith Chaney) wurde am 12. Januar 1876 geboren. London schrieb zahlreiche Erzählungen und Romane, die meisten davon autobiografisch von seiner Zeit als Seefahrer und Goldgräber geprägt (Der Ruf der Wildnis, Der Seewolf, Lockruf des Goldes, Martin Eden). Im Altern von nur 40 Jahren starb er am 22. November 1916 auf seiner Farm in Glen Ellen, Kalifornien.
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Titel: Ein Feuer machen