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Wer Schiffe klaut, kriegt nasse Füße

von Rega Kerner (Autor:in)
232 Seiten
Reihe: Die Schiffsdiebinnen, Band 1

Zusammenfassung

Zwei junge Frauen stehlen ein altes Schiff. Wer wegläuft, kommt auch irgendwohin. Oder ist der Fluss das Ziel? Karla will nur eins: Nichts wie weg, weg von zuhause. Ein scheinbar verlassenes Stahlboot im Museumshaven Vegesack zwinkert ihr mit rostigem Bullauge zu, sie klettert spontan an Bord. Die gut erzogene Lara folgt, wenn auch widerwillig. Völlig planlos, aber mit Mut zur Albernheit erforschen sie die Gewässer bei Bremen und umzu, stromabwärts lockt heimtückisch das ferne Meer. Unterstützung kommt vom Kapitän eines Binnenschiffs, doch sein Matrose sorgt für Liebesverwirrungen und stellt die Freundschaft der Mädchen auf eine harte Probe... Sind sie schon Piratinnen oder üben sie noch? Und du? Möchtest du manchmal ausbrechen, abhauen, ausreißen, weglaufen, irgendwie alles anders machen? Träumst du davon, mal grob auf den Tisch zu hauen oder zu fluchen, statt immer brav und höflich zu bleiben? Oder tust du es gelegentlich? Hast du noch nie so richtig Bockmist gebaut, oder andersherum, passiert dir das gar öfter? Darf man manchmal albern und kindisch sein, obwohl man kein Kind mehr ist? Könnte deine Freundin mit dir Pferde stehlen, äh, sagen wir Stahl-Seepferdchen? Kennst du das Gefühl, ständig einen Hafen zu suchen, aber nie anzukommen? Hast du zu einer dieser Fragen "ja" gedacht? Dann ist dies dein Reise-Roman: Ein Roadmovie auf dem Wasser, für jugendliche sowie junggebliebene Piratinnen (und Piraten), die ihre Träume noch haben oder an sie erinnert werden möchten. Und immer ein Handbreit Humor zwischen den Zeilen... Dieser Flussroman ist in sich geschlossen. Mögliche Fortsetzungen unter dem Serientitel "Die Schiffsdiebinnen" sind allerdings angedacht: Gerne höre ich auch eure Ideen, wie die Fahrt weitergehen könnte! Näheres dazu im Anhang. Und nun: Ahoi, alle Mädels an Deck, Leinen los und ... Klick!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Wer Schiffe klaut, kriegt nasse Füße


Ausgetrocknet glänzte der Wasserhahn über den Schluchten des Himalaya, Karlas Befehl übertönte den dröhnenden Dieselmotor von oben herab: »Bring mir endlich Saft!«

Laras Zähne knackten einen Fingernagel: »Nee.«

Verschneite Bergketten aus schmutzigem Geschirr türmten sich in der Spüle. Krümel, wildes Besteckmikado und bräunliche Kirschkerne belagerten den Tisch, an Tellern klebten vertrocknete Linsen. In den Tassen trieb, auf orangen und roten Getränkeresten, lebendiges Grün. Jenes fiese Graugrün, bei dessen Anblick selbst das sicherste Mindesthaltbarkeitsdatum umgehend Reißaus nimmt.

Lara drehte am Hahn, als hätte sie das nicht schon hundertmal erfolglos getan. Er spendete keinen Tropfen, um damit ihr ganz privates Gebirge zu bezwingen. Am Fingernagelstückchen im Hals krächzte sie vorbei: »Geht nicht. Wir haben keine sauberen Becher mehr.«

Der Küchenzustand markierte, nach allen noch zu erwähnenden Zuständen, den Gipfel ihrer so naiv wie illegal begonnenen Reise. Auf der Lara ein bisschen verloren ging und Karla ganz. Von hier konnte es, gemäß allen Naturgesetzen, nur noch …, Lara verdrängte das konkrete Wort samt Nagelsplittern aus der Kehle, nur noch … zum Gegenteil von Aufwärts gehen? Das Geschirrgebirge verschwamm vor ihren Augen, zum Glück oder Unglück sah das keiner. Wer hätte es auch sehen sollen, so allein zu zweit, wie sie waren. Karla kam ja höchstens zum Pennen runter in die Wohnung, die war schon wie Papa. Glotzte den ganzen Tag aufs Wasser, zerrte am Steuerrad und wollte bedient werden. Ließ ihre beste Freundin im tiefen Schiffsrumpf mit allem allein, auf irgendeinem Fluss, irgendwo in Deutschland – wo waren sie eigentlich?

 

Zwei Kühe und ein Baum zogen, kaum erkennbar, hinter verkalktem Bullaugenglas vorbei. Tolle Ortsangabe, konnten die keine Schilder aufstellen? Laras Stimme krabbelte die drei Stufen von der Schiffswohnung ins Steuerhaus hoch: »Wie heißt das hier?«

Sofort polterte Karlas Antwort dieselbe Treppe hinunter: »Wiese und Baum vermutlich. Ohne Trinken kann ich nicht denken!«

Statt reinigenden Gebirgsströmen aus dem Wasserhahn tropften Tränen auf einen Teller. Als wenn das ihr Geschirrgebirge erweichen könnte. Lara wischte nasse Linien mit einem Handtuch von ihren Wangen, der Stoff roch schmierig nach Thunfisch. Sie überwand den Aufgang zur Kommandozentrale und knallte eine Saftflasche neben den Gashebel: »Kehr um, ich will nach Hause.«

Ihre Freundin ließ das Steuerrad los, welches sogleich, wie von Geisterhand,

entsetzt herumwirbelte: »Was willst du denn da

Wie konnte eine einfache Frage nur so vernichtend klingen: »Ich, … Mama … also vielleicht …« Ein Grund, der überzeugend schien, fiel Lara nicht ein. Ich hab einfach keine Lust mehr würde nicht reichen. Sie brachte es auch nicht heraus, denn da quollen die Lider schon wieder über und das hilfreiche Handtuch lag noch unten in der Kochecke.


Das Schiff hatte auch keine Lust mehr.

Unbemerkt von beiden, entschied es sich für eine Richtung quer zum Fluss, der Bug zielte auf das steinige Ufer und tuckerte selbstmörderisch darauf los. Karla lächelte abwesend, sie zupfte Lara eine Thunfischfaser von der Wange: »Nun beruhig’ dich erst mal. Alles ist gut … Ohhhhhh Scheeiiiiiiiissse!«

Einen Steinwurf vor dem Zusammenprall mit der Böschung bemerkte Karla, dass sie ihre durchaus lebenswichtige Tätigkeit vergessen hatte. Sie packte das große, schwere Holzrad mit beiden Händen und hüpfte wie ein betrunkenes Kaninchen, um das Ruder dreimal herum zu drehen. Mit viel Kraft plus geringem Körpergewicht. Dann ein Stück zurück, dann wieder rum, zurück, zurück, rum, rum, rum …

Die Legenden vom Rum auf Schiffen hatte sie sich komplett anders vorgestellt, auch hüpfende Nagetiere waren darin nicht vorgekommen.

Der Bug wendete schwerfällig zurück in Fahrtrichtung. Harte Kanten kratzten mit Gänsehautgeräusch von unten am Rumpf, was das Karla-Kaninchen nicht nachhaltig in seinen Sprüngen am Rad beeindruckte. Es war schließlich nicht das erste Mal. Von der heftigen Ruderbewegung schwankend, suchte das Schiff im Zick-Zack die Flussmitte.


Während Karla ihr Boot rettete, konnte Lara nichts tun. Nichts tun war am schlimmsten. Vor untätiger Anspannung blieben ihr die Gebirgsbäche im Auge stecken. Was nicht hieß, dass der Himalaya in der Küche vergessen wäre. Im Gegenteil. Die aufgehaltenen Tränen gaben ihr Gelegenheit, ein paar trockene Worte hervorzustoßen: »Weil … zuhause gibt es einen Geschirrspüler«, stammelte sie, derweil sie heimlich dachte:

Und den Mann, den ich liebe.

Die Freundin antwortete nicht, sondern starrte schon wieder raus auf das Wasser. Sie steuerte konzentriert und hörte nichts mehr. Oder nur das Falsche: Zuhause. Da wollte die selbsternannte Kapitänin gar nicht mehr dran denken. Sie tat es jetzt aber doch und ärgerte sich darum maßlos über ihr einziges Personal.


Heimatspielhafen

Zuhause ist nur ein Haus, das zu ist, sinnierte Karla über das Wort, als sie die offene Wohnzimmertür im Vorbeigehen links liegen ließ. Es gab keinen Grund hineinzusehen, ihre Alten hockten vor der hörbaren Glotze. Klar, was war schon eine einzige Tochter, gegen die aktuelle Fernsehserie. Oder, wie jetzt, die Nachrichten. Eigentlich egal, was lief.

Unbeachtet erreichte Karla die schmuddelige Küche, zog eine Brotscheibe aus der Plastikverpackung und klatschte viel Marmelade darauf. Etwas Warmes nach der Schule wäre mal nett. Ihre Freundin Lara überlegte auf dem Heimweg täglich lauthals, was sie ihrer Mutter beim Mittagessen erzählen würde. Und vor allem, was nicht. Auch nicht nur toll, aber jedenfalls besser als selbst die Küche zu stürmen. Vom lästigen Abwasch ganz zu schweigen. Lara hatte es sowieso immer besser. In ihrem großen Haus an der Weser, in der Schule und alle Macker standen auf sie. Na gut, fast alle – außer Lukas. Aber von dem mal abgesehen, bekam Lara doch meist, was sie wollte. Typisch Weserstraßenkind, sagte Papa dazu, als läge es an den alten Kapitänshäusern dort.

Aus dem Nebenraum proklamierten Politiker, wie die Probleme der Erdbevölkerung zu lösen seien. Natürlich nur von ihnen persönlich. Karlas Vater wetterte gereizt dagegen an, wie sie es ganz anders machen sollten. Die Mutter schmatzte an ihrer Schokolade, sie stimmte ihm vollmundig zu. Die Tochter erklärte dem Marmeladenglas: »Politik ist blöd. Fernsehen ist blöd. Eltern sind blöd.«

Eine politische Frauenstimme machte sich wichtig: »Wenn ein Schiff sinkt, sucht man nicht den Schuldigen, sondern ein Rettungsboot.«

Verneinend drehte Karla den Marmeladendeckel auf dem Glas sowie ihren Kopf auf dem Hals, hin und her: »Das ist auch blöd.« Doch dann hielt ihr Kopf an, während die Worte sich darin weiter drehten: Schiff. Sinken. Schuld. Rettung. Zuhause ist zu. Dieses Haus ist zu. Haus ohne Ausgang. Alltag ohne Zukunft. Hier ging sie unter. Ihre Alten waren Schuld. Oder? Selbst suchen. Ein Rettungsboot …

Der Marmeladendeckel schabte ein letzte Mal über sein Gewinde, als sie ihn energisch festschraubte. Unsanft landete das Glas im Spülbecken:»Neeeee. Das ist ganz und gar nicht so blöd. Genau das mach ich!«

Ohne die Hilfe eines Messers, klappte Karla ihre Brotscheibe mit Gewalt zusammen. Erdbeermarmelade quoll auf beiden Seiten heraus und tropfte eine Spur, von der Küche über den Flur aus der Haustür heraus, bis in den Fahrstuhl. Der sauste die acht Stockwerke ohne Zwischenstopp hinunter; genug Zeit, ein Marmeladenherz auf die Schalttafel zu malen. Zum Abschluss nahm Karla noch einen dicken Finger voll vom Brotrand und zog damit kichernd eine rote Linie. Von oben bis unten, über alle Knöpfe für alle Etagen: »Ihr klebt hier doch fest! Und Tschüss.«

Die Fahrstuhltür wackelte unerträglich träge auf, Karla sprintete in ein neues Leben.


Von den Hochhäusern der Grohner Dühne war es ein Katzensprung zum Museumshaven Vegesack. Karla war berühmt für ihre Katzensprünge.

»Die Museumsheinis schreiben Hafen mit V, weil das so schön antik ist«, grinste die mittelmäßige Schülerin, das Ziel im Visier: Ihre geliebten Holzmasten ragten hinter der Straße in die Höhe. Als wären die alten Segelschiffe auf einem Parkplatz abgestellt. Erst als sie die Fahrbahn überquert hatte und fast ins Hafenbecken fiel, wurde die glitzernde Wasseroberfläche mitten in der Betonwelt erkennbar.

Daneben, auf dem Spielplatz mit dem großen Kletterschiff, war Karla quasi aufgewachsen und hatte ihre Freundin kennengelernt. Seitdem waren die beiden Mädchen unzertrennlich. Wären ihre Alten bloß öfter mit ihr rausgegangen, hätte sie hier bereits als Baby mit Lara im Sand spielen können. Die musste jedoch mit ihrer Mama alleine buddeln, bis Karla alt genug war, um selbst zu laufen und den Fahrstuhl zu bedienen. Alt genug war nicht gleichbedeutend mit groß genug, so fand sie schon als Kleinkind Mittel zum Zweck, noch ahnungslos dass man im Hochhaus alles an- oder abschließen sollte. Wie durch ein Wunder stahl nie jemand ihren bunten

Hocker aus dem Lift, sonst wäre sie für den Rückweg nicht mehr an den Knopf mit der Acht rangekommen. Wer weiß, wann ihren Eltern vor dem Fernseher dann aufgefallen wäre, dass sie gar nicht in ihrem Zimmer weilte.

Jetzt würde sie die Antwort auf diese uralte Kinderfrage herausfinden.


Karla kletterte auf das Spielschiff und kurbelte ein paarmal am Steuerrad, das erhabene Kinn zur Weser gerichtet. Das war unendlich vertraut, mit diesem Kahn hatte sie jahrelang alle Weltmeere umsegelt, Stürme durchstanden, Piraten abgewehrt und ihre beste Freundin vor dem Ertrinken gerettet. Aber heute wollte die große Freiheit sich nicht einstellen.

Sie hockte sich mit hochgezogenen Beinen auf die Holzreling, knabberte am Marmeladenbrot und ließ ihre Aufmerksamkeit über die echten Boote gleiten.

Das da.

Das kleine Blaue mit dem dreckig-gelben Deck und den vielen Bullaugen hatte es ihr schon lange angetan. Es sah so anders aus. Lang, schmal und ohne Schnickschnack fügte es sich nicht zwischen die behäbig breiten Fischkuttertypen mit all ihren Tauen und Leinen. Spaziergänger rätselten oft lautstark, was das früher wohl mal gewesen sein mochte. Manche lachten es aus, weil es nicht war wie die anderen: »Das hat ja noch nicht

mal einen richtigen Mast, was ist denn das für ein Streichholz!«

Karla wurde jedes mal wütend, wenn sie die Beleidigungen hörte, lenkte das Spielplatzschiff ins Zentrum eines Orkans und brüllte gegen den Wind: »Der Mast ist schön. Und überhaupt. Wozu braucht ein

Motorboot einen Mast.«

Das schönste an diesem Schiff aber war seine Einsamkeit.

Die schwarzen Bullaugengläser weinten bei Regen dicke Tränentropfen, nie erschien ein Licht dahinter. Keiner putzte das Deck, niemand schleppte Proviant an Bord, es lag da einfach total verlassen herum. Wie

lange schon? Schon immer, glaubte Karla.

Jedem anderen Schiff konnte sie Gesichter zuordnen: Der eine alte Mann gehörte zu dem mit den längsten Masten. Der andere alte Mann stapfte häufig bei jenem Weißen aus Holz an Bord. Noch ein anderer alter Mann polierte jede Woche die Glocke von der Barkasse. Das Feuerlöschboot wurde von einer kleinen Gruppe versorgt und auf dem großen Dreimaster tummelten sich ganze Rudel alter Männer. Nur zu dem kleinen Blauen fiel ihr keine alte Männervisage ein. Dafür hatte es selbst ein Gesicht: Der Bug war so lustig. Er reckte sich nach oben wie eine eigensinnige Nase und lockte: »Komm! Komm her! Komm zu mir. Erlöse mich. Ich bin so stark und behüte dich.«

Sie stopfte sich den Rest vom Brot in den Mund, glitt von der Reling und wählte die schnellere der zwei Rutschen vom Spielschiff hinunter. Die mit den Wellen, auf denen der Po bis zur Schmerzgrenze hochflog. Wenn man nicht mit den Füßen bremste. Karla bremste nie. Sie flog fast einen Meter über die Fläche der Rutsche hinaus und landete auf einem Bein im Sand, das zweite rannte gleich weiter.


Vom Hafen war es nur ein Karla-Katzensprung bis zur Weserstraße. An der Uferpromenade machte sie einen überflüssigen Schlenker durch den bronzenen Bogen, der einen Walfisch-Unterkiefer darstellte. Bei den Terrassen und Biergärten am Wasser erntete sie böse Blicke, weil ihr Satz über den einen oder anderen Stuhl die Touristen und Pausierenden in ihrer Mittagsruhe erschreckte. Als sie über die Steinkuppen der Findlinge vom Kriegsdenkmal hüpfte, schauten die Spaziergänger keineswegs freundlicher.

Die knallorange Autofähre legte gerade an. Dieser Vorgang war ihr, wie das Spielschiff, vertrauter als vertraut. Es gehörte zum nahezu täglichen Ritual mit Lara, locker an die Straßenpfeiler gelehnt, jedes Element des Ablaufs vorherzusagen. Die Kunst bestand darin, einen Bruchteil vor dem Geschehen, gleichzeitig das Gleiche auszusprechen. Und anschließend synchron zu zählen, wie lange die Überfahrt dauerte. Viele, viele Sekunden

machten ein paar Minuten. Der Anblick der Fähre legte ihr den gemeinsamen Standardtext auf die Lippen, doch heute blieb Karla dafür nicht stehen: »Schiff parkt ein, Klappe an Land, Schranken auf, Fußgänger und Radler runter, Autos runter, Fußgänger rauf, Autos rauf, Schranken zu, Klappe hoch, ausparken uuunnnnd rüber fahren!«, murmelte sie ansatzweise atemlos. Denn ohne Tempominderung ging es den Berg hinauf. Ihre im Geiste kommentierte Fähre und auch sie selbst waren schon weg, bevor das echte Fahrzeug angelegt hatte.


Die Weserstraße lag höher als die Umgebung, reiche Seeleute wollten schließlich schon zu Urzeiten bei Hochwasser keine nassen Füße bekommen. »Damals gab es bloß noch keine Hochhäuser, sonst hättest du noch höher gewohnt. Wie ich«, zog sie ihre Freundin gern auf. Unbeachtet flogen die stuckverzierten, alten Kapitänshäuschen und Villen an ihren Augenwinkeln vorbei. Mit einem geübten Sprung über den Vorgartenzaun landete sie zielsicher in den Osterglocken von Laras Mutter. Auf dem direktesten Weg zur Tür hatten noch ein paar Tulpen das Nachsehen. Eine Absicht dahinter könnte Karla jederzeit widerlegen; nicht zu leugnen war jedoch, dass sie trotz aller Ermahnungen grundsätzlich Sturm klingelte.


»Wie war es in der Schule?«

»Ganz gut«, lautete Laras allgemeine Antwort auf die allgemeine Frage. Sie lüftete einen Porzellandeckel nach dem anderen. Kartoffeln, Schweinefilet an Sahnesoße und Rosenkohl lagen appetitlich drapiert in ihren weißen Schüsseln. Schon wieder … »Mama, ich will doch kein Fleisch, das ist schuld am sauren Regen.« Sie schaufelte jede Menge Kohlköpfchen plus eine halbe Kartoffel auf ihren Teller, dabei prophezeite sie unhörbar »Jaja«.

Da kam es auch schon: »Jaja, habt ihr heute eine Arbeit geschrieben?«

»Nö.«

Kunstvoll schnitt die Mutter ein winziges Kartoffelstück sowie einen viertel Rosenkohl, ihr Silbermesser schob beides zusammen auf die Gabel. Dieses Gourmethäppchen war schnell aufgekaut: »Mit wem hast du in der Pause gespielt?«

Gespielt, dachte das Mädchen, wie das klang. Sie war doch kein Wickelkind. Und mit wem, war hinlänglich bekannt. Diese Frage war einzig dazu da, um sich aufzuregen. Sie pikste zwei Rosenkohle zugleich auf die lange Silbergabel, stopfte einen dritten hinterher und tat achselzuckend so, als könne sie wegen des übervollen Mundes nicht antworten. Eine Weile kauten beide stumm.

Es klingelte Sturm. Besser gesagt, Orkan. Laras Mutter stöhnte – dieses ungehobelte Kind! Sicherlich war es auch wieder wie ein Bagger durch den Vorgarten gewalzt. Sie öffnete den Mund, ihre Tochter kam ihr zuvor: »Nein, ich kann mir keine nettere Freundin suchen. Karla ist die netteste auf der Welt.«

Ordentlich legte Lara ihre Serviette neben den halbvollen Teller und erhob sich, gespielt phlegmatisch. Sie schob den Stuhl unter den Tisch und zog ihre Schuhe an. Ganz langsam. Langsamer ging nicht. Die Mutter hielt sich die Ohren zu und brüllte gegen die schon heisere Klingel an: »Larissa! Mach endlich die Tür auf!«

Wenn Laras Taufname fiel, lagen Mutters Nerven blank. Jetzt fehlte nur wenig, um sie mit eigenen Waffen zu schlagen. Hämisch grinsend hielt das gut erzogene Kind zwei Jacken hoch: »Was meinst du liebe Mama, kann ich die Schicke nehmen oder ist es noch zu kalt dafür?«

Wie erwartet, sprang die Besiegte auf, riss ihr die edle Sommerjacke aus der Hand, entriegelte selbst die Tür und schob ihre Tochter eigenhändig hinaus.


Kichernd knirschten die Mädchen über den weißen Kies in der Einfahrt schlurfend, zur Straße.

»Du bist zurück bevor Papa kommt!«, klang es aus dem Vorgarten hinterher. Sie brauchten sich nicht umsehen, um zu wissen, dass nun die Kieselsteine sortiert und die beschädigten Blumen auf Knien umsorgt würden.

Auf dem Rückweg zum Hafen passte Karla ihr Tempo mit sichtlicher Mühe an das gemütliche Schlendern ihrer Freundin an. Den Berg hinunter zwang sie ihre Füße bei jedem Schritt, dem beschleunigenden Abwärtsdrang nicht nachzugeben. Als ihre Begleitung jedoch an der Fähre gänzlich stoppte und anfing, die Sekunden bis zum Ablegen zu zählen, hielt sie es nicht mehr aus: »Heute nicht. Ich will dir was zeigen. Komm schon.«

Sofort vibrierte Laras Herz eine Oktave höher. Wenn Karla eine eilige Idee bekam und deswegen an ihrem Jackenärmel zog, hatte das meistens unabsehbare Folgen. Diesen unabsehbaren Folgen folgten sehr absehbare Folgen: Stress mit Eltern oder Lehrern. Trotzdem war es den Spaß immer wert, sie ließ sich also im Schnellschritt von der Fähre wegzerren. An den Terrassen musste sie sich noch mehr sputen. Unauffällig. Sie schüttelte die nachhelfende Hand vom Ärmel. Keiner durfte merken dass sie zusammengehörten, da Karla springend die Abkürzung über Steine und Stühle nahm. Das Meckern der Gäste war soooo peinlich!


Bei Niedrigwasser versteckten sich die Museumsschiffe in der Tiefe, nur die höchsten Mastspitzen ragten über die Kaimauer. Lara steuerte automatisch auf den Spielplatz zu, doch Karla griff wieder ihre Jacke, führte sie bis an das Geländer vom Hafenbecken und wies nach unten: »Hör doch. Die leeren Bullaugen, so kalt, so allein, die farblos zerfetzten Fähnchen am kleine Flaggenmast, über den alle lachen, das Schiff ruft uns. Hörst du es?«

Lara lauschte gehorsam. Auf dem Spielplatz jammerte ein kleines Kind, Autos brummten vorbei, Männer lachten, ein paar Vögel stritten in den Bäumen. Einsame Boote hörte sie nicht: »Wie rufen Schiffe?«

»Du kapierst auch echt nichts.«

Mamas ständige Enttäuschung und Papas Wut – meist weil Lara ständig Mama enttäuschte – taten ihr oft weh. Ebenso weh tat ihre unerwiderte Liebe zu Lukas, jeden Schultag aufs Neue. Er riss seine Witze für alle anderen und bemerkte ihr anerkennendes Lachen gar nicht. Aber nichts davon konnte so weh tun, wie dieser stets wiederkehrende Satz ihrer Freundin. Dass sie nichts kapieren würde. Wobei die sich auch noch bockig abwandte. War das Absicht? Wollte sie ihr weh tun? Fieberhaft suchte Lara den Hafen ab, welches Schiff gemeint sein könnte und kämpfte um einen trockenen Blick: »Da, jetzt. Ich glaub ich hör was.«

Warum weinte Karla nie?

Die wandte sich ihr wieder zu und lachte sie an oder aus: »Ist schon gut. Ich zeig es dir.«


Dann stiefelte sie erneut voran. Ohne die Hand vom Geländer zu nehmen. Festhalten ist gut, dachte Lara und folgte, ebenfalls mit den Fingern über das Metall gleitend. Bis zum anderen Ende des Hafenbeckens. Hier führte eine Rampe auf den Steg, an dem die Schiffe festgebunden waren. Dieser Anlegesteg schwamm mit dem wechselnden Wasserstand hoch und runter; die Rampe passte sich dank Rollen seiner Höhe an. So war sie mal steiler, mal flacher. Jetzt, mit Wasser und Schiffen ganz unten wirkte sie bedrohlich steil.

Die Mädchen hielten ihre linken Hände nebeneinander und verglichen, welche vom Stadtstaub am Geländer schwärzer geworden war. Großzügig befand Karla, das sie selbst verloren hatte und öffnete das unverschlossene Tor. Erschrocken sicherte die Gewinnerin sich nun mit beiden Händen am Geländer: »Da darf man nicht rein.«

»Du hast schon gewonnen, die zweite Hand zählt nicht«, feixte Karla und versuchte, Laras Griff vom Zaun zu lösen, die protestierte: »Jetzt machst du die Oberseiten auch noch schwarz. Dann hab ich doppelt gewonnen und darf bestimmen, dass wir da nicht runtergehen.«

»Mensch Lara. Es ist doch so. Wir können weiterhin auf unsere Alten meckern. Oder etwas ändern. Ein Rettungsboot suchen. Das ist es doch. Komm schon …«


Was hatten meckernde Eltern mit rufenden Schiffen zu tun? Die Neugier siegte und allein zurückbleiben wollte sie nicht. Die zögerliche Lara trat durch das Tor, während die schnelle Karla schon wie mit Siebenmeilenstiefeln

die halbe Rampe hinunter gestapft war.

Das Aluminium glitschte noch rutschiger und steiler unter ihren Stiefeletten, als Lara gefürchtet hatte. Netterweise hatte man eine Seite der Rampe mit diesen Hühnerleiterstäben ausgestattet, um Menschen mit ungeeignetem Schuhwerk wie sie vor einer Rutschpartie zu bewahren. Sie klammerte sich an den Handlauf und schlitterte von Querverstrebung zu Querverstrebung. Jetzt war auch noch die rechte Hand total schwarz. Ihre Freundin wartete am Fuß der Rampe trippelnd, bis sie fast unten war. Karla war ihr überall ein paar Schritte voraus.


Auf waagerechten Planken angekommen, zog sich der Steg endlos in die Länge. Nachdem sie hinter Karla her tapsend an vermeintlich hundert Schiffen vorbeigelaufen war, sah Lara sich um. Zwischen den Mädchen und der Rampe lagen in Wahrheit nur zwei Segelboote und ein Kutter, mehr passten auch nicht. Wo war der lange Weg mit den anderen siebenundneunzig? Sich selbst Mut zulächelnd, zählte Lara die verbleibenden Fahrzeuge bis zum Schlussrand vom Steg an den Fingern einer Hand ab. Es konnte also, wo auch immer Karla hinwollte, höchstens nochmal gefühlte hundert Schiffe weit dauern. Umgerechnet auf das bisher zurückgelegte Stück. Also weiter.

Hoch über ihren Köpfen ertönten Stimmen. Laras Beine verweigerten den nächsten Schritt. Sie legte den Kopf in den Nacken, die Kaimauer ragte bis in den Himmel. Wer da am Hafen spazierte und quatschte, blieb von hier unten beängstigend unsichtbar. Nur der Mast des Spielplatzschiffs kratzte an den Wolken.

»Du blöder alter Holzstock bist nicht so allein wie du tust«, murmelte Lara. Wo Stimmen über die Kante wehten, würden Augen folgen. Dies war schließlich ein Museumshafen: »Da oben sind Leute. Wir werden erwischt!«

Zurück in einem Karla-Katzensatz stand die Freundin dicht neben ihr und fauchte: »Quatsch. Nur, wenn du andauernd stehenbleibst und dich so viel umsiehst. Oder nachts hier rumschleichst. Das geht genauso wie

im Einkaufszentrum, weißt du noch?«


Bullaugenball

Logisch wusste sie noch. Die Mädchen hatten einen Riesenspaß, in den Umkleidekabinen die teuersten Klamotten anzuprobieren. Die Anregung dazu kam aus dem Fernseher von Karlas Eltern, Lara hatte den Film natürlich nicht gesehen. Ahnungslos wie die Geschichte ausgehen würde, tanzte sie ausgelassen mit Röcken und Tüchern vor den Spiegeln, durchwühlte die Kleiderständer nach den schönsten Stücken und reichte sie durch den Vorhang an Karla. Doch mitten im schönsten Spiel, erklang es plötzlich ernst aus der Kabine: »Wir treffen uns am Steuerrad.«

Der Vorhang flog auf, die Freundin schlenderte zügig davon. Nur Karla konnte zügig schlendern. Im Vorbeigehen hatte sie noch hier und da Kleiderbügel verschoben, eine Jeans entfaltet und war in der Menge verschwunden. Anklagend türmte sich die hingeworfene Jeans auf dem Hosenstapel.

»Du hast vergessen die …« Mist. Das hatte sie bestimmt gar nicht vergessen! Zügig ganz ohne schlendern steuerte Lara einen anderen Ausgang des Einkaufszentrums an und ergänzte: »… Jacke auszuziehen.«

Auf dem Spielplatz saß Karla schon triumphierend neben dem Mast, gab dem Steuerrad einen nachhaltigen Schwung und klopfte sich auf ihr nagelneues Lederoutfit: »Siehst du? Nur auffallen ist echt unauffällig.«

Lara schmollte, weil sie einfach stehengelassen wurde: »Du spinnst.«

»Nee. Man muss nur ganz selbstverständlich sein. Letztes Jahr wurde vorm Schützenfest das ganze Bierzelt geklaut. Am helllichten Tage. Mit Tischen, Tresen, Zapfanlage und allem. An einem Tag wurde es aufgebaut und am nächsten bauten andere es einfach wieder ab.«

»Unsinn.«

»Nee eeecht!! Gaaanz viele gingen vorbei, aber keiner dachte sich was dabei. War halt ein LKW und Männer in blauen Overalls, gaaanz normal. Bei der Beschreibung wurden sie nie erwischt. Pech gehabt, Zelt weg, Fest

ausgefallen.«

Die Jacke war wirklich schön und ein Zelt zweifellos teurer. Lara erinnerte sich, dass sie gar keine Lust gehabt hatte, ihre Eltern auf das langweilige Schützenfest zu begleiten. Wo all die schnell besoffenen Nachbarn nervten und lärmten. Noch dazu im geblümten Ballkleid. Wie froh war sie, als es ausfiel. Darum also! Schreck und Wut wichen einer ihr selbst unheimlichen Bewunderung. Als hätte Karla das Zelt geklaut, nur für sie.


Aber hier und heute auf dem Steg war keine Zeit für unheimliche Bewunderung. Das erinnerte Bierzelt klappte sich selbst zusammen, segelte in den LKW und verließ fluchtartig ihre Gedanken. Denn neben ihr sprang Karla auf ein Schiff und rüttelte an der Holztür. Lara zählte nach. Es war das vierte Schiff von der Rampe aus, dies ersparte wenigstens den Gang entlang der übrigen neunundneunzig, nachgezählt nochmal vier. Sie wagte nicht mehr, an der Kaimauer nach oben zu schauen. Sicherlich lehnten zweihundert Menschen am Geländer, unzählige Augen brannten in ihrem Rücken. Ganz selbstverständlich sein, jetzt nur ganz selbstverständlich sein – wie war man selbstverständlich, dort, wo man gar nicht sein durfte? Ach ja, auffallen. Leicht gesagt, auffallen klappte

noch nicht einmal, wenn sie ganz legal ein Eis bestellen wollte. Selbst nach dem fünften gehauchten »Entschuldigung?« fiel sie der Bedienung im Eissalon nicht auf. Auffallen lag einfach nicht in ihrer Natur. Von aufdringlichen Männern mal abgesehen, manchmal kaufte einer von denen dann ihr Eis.

Auffällig war allerdings, dass sie Karla nicht mehr sehen konnte. Die gerade erträumte Eiskugel blieb ihr im Hals stecken, es kam nur ein eisgekühltes Flüstern daran vorbei: »Wo bist du?«

Das Schiff antwortete dumpf: »Hiiieeer! Das ist toll!«

Der Steg war schon sehr, sehr verboten, aber sowas ging gar nicht. »Toll ist anders. Da gehe ich niemals rein!«, krächzte Lara. Ein sprechendes Schiff war kaum geeignet, die Eiskugel in ihrem Hals zu schmelzen. Obwohl es die Stimme ihrer Freundin hatte.

Das Schiff konterte: »Du weißt nicht, was du verpasst. Dann bleib doch wo du willst.«

Bleiben war nicht, was Lara wollte. Insbesondere nicht allein: »Karla?«

Das Schiff schwieg. Über den Wänden des Hafenbeckens wuselte das Leben einfach weiter. Autos brummten, Männer lachten, eine Frau zeterte. Vermutlich mit ihrem Kind auf dem Spielplatz. Alles wie normal. Nur nicht hier unten. In Zeitlupe wand sie den Kopf, nach rechts, nach links, nach hinten, nach oben. Zu gerne hätte sie sich unauffällig unter die zweihundert Leute gemischt. Da war aber nirgends keiner niemand. Noch nicht einmal alte Männer auf Schiffen. Ihre Freundin hatte sie schon wieder stehengelassen.


Ein Bullauge knarrte, der gelbe Ringrahmen schwang nach innen, hinter dem schwarzen Loch erschien Karlas brauner Scheitel, dann wand sich ihr ganzer Kopf heraus: »Da rumstehen und zittern, das ist nun echt

auffällig!«

»Na und? Ich soll doch auffallen? Nur wem?«

Das Gesicht in der runden Öffnung drehte sich vorsichtig hin und her, da heftiges Kopfschütteln im Stahlrahmen unweigerlich Kopfschmerzen zur Folge gehabt hätte: »Egal. Ich gehe nicht mehr ins Hochhaus. Ich bleibe hier schwimmen.«

Fenster sollten von Rechts wegen größer als Schädel und nicht kreisförmig sein. Das Mädchen auf dem Steg war froh, direkt mit Karla, statt dem Schiff zu sprechen. Auch wenn sie nur ihr Gesicht sah, das, wie sie zugeben musste, erstaunlich gut zum Boot passte. Beziehungsweise exakt aus dessen Bullauge heraus. Sie versuchte, das absurde Bild in irgendetwas einzuordnen, dass sie kannte; dabei kam nur Blödsinn heraus. Der optische

Witz war zu gut, um ernst zu bleiben: »Ich rede mit einem Ball, der in einer Torwand schwebt, rotiert und schwimmen lernen will?«, prustete sie.

»Ich kann schon schwimmen. Das Schiff auch. Passt perfekt«, meinte der Karla-Kopfball und verschwand im schwarzen Loch der Schiffstorwand.

Lara vergaß vor Lachen ihre Erziehung und kletterte an Bord.

Dort rüttelte sie, wie Karla zuvor, am Türgriff, aber die Holzhütte war auf dieser Anlegerseite verschlossen. Gegenüber erahnte sie durch die ganz normal viereckigen Fenster einen offenstehenden Eingang. Um den Aufbau zu umrunden, zwängte sie sich dahinter an einem hohen, silbernen Auspuff und einem liegenden Fass vorbei. Kurz vorm Ziel stolperte sie über ein Kabel und ruderte mit den Armen in der Luft. Rettend spürte sie die metallene Reling am Hintern, mit dem schubste sie sich energisch in Gegenrichtung, Hauptsache von der drohenden Wasserseite weg: »Aaah, ja Mama, kleine Sünden straft …«

Polternd fiel Lara durch die zweite Tür ins Steuerhaus. Vor lauter vergessener Erziehung verging ihr unterwegs das Lachen.

»Auffallen muss nicht unbedingt so laut sein«, rief das Schiff, respektive der Ball, respektive Karla irgendwo von unten. Wieso noch weiter unten? Lara schmerzten Knie und Hände, von beiden richtete sie sich gar nicht erst auf. So konnten die zweihundert Leute sie zumindest nicht durch die Fenster der Hütte entdecken. Sie krabbelte am schäbigen Steuerrad vorbei, der Messingring, der es notdürftig zusammenhielt, funkelte

sie warnend an.

»Das ist nicht verlassen, hier putzt jemand! Das glänzt!«, rief sie und schielte auf Bodenhöhe zwischen zwei Handgriffen des Rades durch um die Ecke. In einen Durchgang.

Drei Stufen tiefer, im erstaunlich hellen, offenen Raum, wippte Karla in einem überdimensionalen Schaukelstuhl, wischte mit zwei Fingern über die Armlehne und zeigte das Ergebnis. Die beiden Fingerkuppen waren noch schwärzer als der Rest der Handfläche: »Quatsch. Alles Staub. Siehste?«

»Und jetzt?«

»Jetzt stehst du erst mal auf und kommst runter.«

»Und dann?«

»Dann machen wir es uns hier gemütlich.«

»Ich stehe nicht auf, meine Knie tun weh.«

»Weil die nicht zum Laufen da sind«, grinste Karla und steigerte auffordernd die Schaukelstuhl-Wippfrequenz. Lara schüttelte den Kopf, dadurch stieß sie gegen einen Steuerradgriff: »Aaah, selber Quatsch. Mir reichts. Wir treffen uns am Steuerrad, wenn du hier fertig bist.«

Rückwärts krabbelte sie den gleichen Weg zurück durch die Hütte, bis ihre Füße auf zwei leere Plastikkanister in einem Hohlraum unter der Tür trafen. Die ungehalten rumpelten. So selbstverständlich wie möglich, zog Lara sich am Türrahmen hoch sowie hinaus, umrundete erst Fass, dann Auspuff und stand wieder auf dem Steg. Sie rieb sich die Knie. Der Ballkopf erschien in der Torwand: »Hier ist doch ein Steuerrad! Das ist

viel besser!«

»Nein, ich warte bei unserem. Das ist erlaubter.«


Die hundert Schiffe segelten an Lara vorbei, die zweihundert Zuschauer applaudierten, ihre Stiefeletten klapperten von Querstrebe zu Querstrebe die Rampe hinauf und glitten auf festen, legitimen Boden. Das Türchen vom Anlegesteiger knallte hinter ihr zu. Auf der Flucht konnte sie fast so schnell werden wie Karla. Nur würde die danach nicht so keuchen. Lara erklomm das Spielschiff und hielt sich am wohltuend unechten Steuerrad

fest. Ein letztes Kind quengelte, eine Mutter schimpfte und zog es fort. Der Spielplatz lag ihr verlassen zu Füßen. Sicher würde Karla gleich kommen, zumal deren geliebte Lederjacke hier noch über der Reling hing. Allein auf dem Boot müsste sie ja merken, dass sie diesmal wirklich zu weit ging. Lara drehte belanglos am Rad, steuern war eigentlich Karlas Ding – es regte sie trotzdem ab. Rutschen wie früher half auch. Und die Taugerüste

erklettern. Rutschen, klettern. Rutschen, klettern. Steuern.

Die Sonne verkroch sich hinter dem historischen Speicher des Hafenvereins, Feuchtigkeit verlieh dem Sand Geruch, Dämmerung färbte die Spielgeräte einheitlich grau und raunte: »Bevor Vater kommt. Vater

kommt. Vater kommt.«

Da war noch stets keine Karla, um sie, wie sonst, nach Hause zu begleiten. Wenn man sie wenigstens anrufen könnte. Bei deren fernsehsüchtigen Erziehungsberechtigten gab es ja kein Geld für ein Handy. Dafür aber auch kein zu spät kommen. Recht hatten die, andere aus der Klasse gingen um diese Zeit erst los, in die Disco. Karla könnte das auch tun. Keiner achtete darauf. Die begriff einfach nicht, wie gut sie es hatte. So frei zu sein. Dann eben nicht. Vom blaugelben Boot lugte nur der mickrige Mast über den Hafenrand, er winkte minimal auf den Wellen. Lara winkte zurück, klemmte sich die vergessene Jacke ihrer Freundin unter den Arm, stapfte durch den

Spielsand und nahm Kurs auf die Weserstraße.


Das Bullauge schlug zu. Karla schraubte den Messingknebel, der es wasserdicht verschloss, so fest sie konnte. Allein. Frei. Mein Rettungsboot, mein Königreich. Den Schaukelstuhl ernannte sie zu ihrem Thron. Von hier eroberte ihr Blick jedes Detail.

Der runde, braune Dieselofen hatte eine Kochplatte. Daneben lag eine ganze Sammlung bunter Streichholzschachteln. Auf der anderen Seite der Wohnküche gab es aber auch einen stinknormalen Herd, sowie ein scheinbar ebenso alltägliches Spülbecken. Unter den Bullaugen liefen Ablagebretter entlang, auf denen jemand maritime Deko-Artikel und Gebrauchsgegenstände hübsch arrangiert hatte. Nur der Staub verriet das erlahmte Interesse hieran. Da standen Öllampen und ein dreiarmiger Kerzenleuchter, eine kleine Schiffsglocke, Vorratsdosen und Büchsen, bestimmt leer oder vergammelt. Ein Stapel Schiffstagebücher mit Jahreszahlen auf dem Buchrücken, das Jüngste datierte drei Jahre zurück. Eine ehemalige Sanduhr ohne Glas und ein Porzellanaschenbecher, mit einem zierlichen Flötenspieler auf dem Rand sitzend. Der war sicher teuer. Lang und dünn wie sie selbst, schlug diese Peter Pan Figur die Beine elegant übereinander. Quer durch den Aschenbecher.

Karla versuchte, die Haltung nachzuahmen: Sie legte die Füße auf einen der drei hochgeklappten Kinosessel, die, eingeklemmt zwischen Tisch und Wand, auf bessere Zeiten hofften. Ein Handfeger, wohl einst unter den Sesseln bei der Arbeit eingeschlafen, ersetzte die Flöte, ihre Lippen pfiffen »Boat on the river« an den Borsten entlang: »Lass mich doch fort, in meinem Boot hier auf dem Fluss …«

Der Raum umhüllte sie wie eine Gebärmutter das Baby, behaglich gluckernd und schwankend. Zeitlos und geborgen. Es gab kein draußen mehr, Karla gab sich ihren Liedern und Träumen hin. Ein wenig zu zeitlos. Sie blieb sitzen, bis die Nacht alle Details verwischte und schließlich aufaß. Es wurde saudunkel. Mist.


Zuhausverbot

Karla ertastete den Kerzenständer und stellte ihn auf den Tisch. Durch das Fenster im Dach, über der Sitzecke, gelang es einer Hafenlaterne, schwachen Glanz auf den Rand vom Ofen zu werfen. Das verriet die ungefähre Position der Streichhölzer. Sie holte eine Schachtel, stellte sich an den Tisch, fummelte ein Holz heraus und fühlte nach dem Köpfchen. Das Erste versagte auch nach mehreren Versuchen. Das Zweite brach. Das Dritte rutschte gleich, inklusive ein paar Kollegen, aus der Schachtel auf den Boden. Das Vierte zischte überlaut, gleißend hell reflektierte die gelb lackierte Holzverkleidung das Licht in alle Richtungen. Wilde Schatten tanzten über die Dinge auf den Ablagen, die vorher so freundlich wirkten.

Karla schüttelte das Streichholz sofort wieder aus. Was für eine Scheißidee, dreiarmiges Kerzenleuchten wäre eine kurze Freude. Durch die vielen kugeligen Bullaugen und die Dachluke strahlend, sähe das Schiff von draußen sicher aus wie ein glänzender Christbaum. Nur, heilige Könige mit Geschenken würden kaum kommen. Andere Besucher wollte sie lieber nicht anlocken.

»Hättest du mal ein Bett gesucht, statt Stunden auf dem Schaukelstuhl zu meditieren«, meckerte das Mädchen auf sich selbst und schnipste ihre Streichholzschachtel weg. Die segelte über die Tischplatte in den Abgrund

und knurrte wie ein Wolf. Karla stierte ihr hinterher in die Finsternis. Seit wann knurren Streichhölzer wie Wölfe? Die Schachtel grummelte noch mal lang und böse, doch die Drohung endete in kümmerlichem Blubbern. Das bewies ihre Unschuld, Karla begriff die wahre Geräuschquelle und schlug sich auf den Bauch. »Halt die Klappe, Magen«, gähnte sie: »Mit Wölfen rede ich morgen. Jetzt suche ich Schafe. Die will ich zählen.«

Denn, wo es eine Küche gab, müsste es doch auch Kojen geben? Sie schaukelte mit zwei Schwüngen aus dem Stuhl heraus und machte sich auf, in die noch unbekannten Räume des Schiffes. Einen schmaleren Bereich, der wie ein Gang an die offene Wohnküche anschloss, hatten wenigstens ihre Augen vorhin schon betreten. Dessen Anfang wiesen ihr zwei antike sich gegenüber hängende Spiegel, dank leichtem Widerschein der Hafenlaterne. Von dort ging es immer an der Wand lang.

Ferse an Zehen, Ferse an Zehen, ohne Licht konnte Karla so langsam sein wie Lara. Jetzt bloß nicht über einen der drei Waggons jener bekloppten Holzeisenbahn stolpern, die hier ungefähr stehen müsste. »Welchen Sinn hat so ein Kinderspielzeug auf einem Schiff?«, hatte sie sich gefragt, als das Ding noch sichtbar war. Jetzt fluchte sie und vertagte die Sinnfrage des Spielzeugs ebenso auf morgen wie den knurrenden Wolfsmagen.

Ihre Finger lenkten sie über Ecken und Kanten der Holzverkleidung, den Rand eines, eines was? Aha, eines großen Bullauges, dessen Glasfläche, den anderen Rand. Die Fußspitze tickte gegen den Zug und schob ihn beiseite, dessen Holzräder quietschten empört. Auf das erste Bullauge folgten Wandleisten, Vorsprung, Leisten, das zweite Bullauge. Dann ertastete sie eine stehende Sammlung von losen Brettern. Konnten die hier keine geraden Wände bauen? Jetzt sollte theoretisch gleich der Türrahmen kommen. Mit dem blaugestreiften Vorhang davor. Dahinter wartete das Niemandsland.

Karla klammerte sich an ein wackelndes Brett und schwenkte die andere Hand vor sich aus. Da. Ja. Ein Hauch von Stoff. Sie packte zu und zog das sachte Material zur Seite. Die Rädchen in der Vorhangschiene klammerten

sich ängstlich fest, erst unter dem Zwang beider Hände rasselten sie nachgiebig. Karla wünschte vergeblich, der Durchgang würde die Sicht auf irgendetwas freigeben. Vor ihr war es noch schwärzer als schwarz. Ein hell flackernder Fernseher hätte hier durchaus Vorteile. Aus rein praktischen Gesichtspunkten. Umkehren und nach Hause gehen schien gar nicht mehr so blöd.


Noch voll bekleidet, schlüpfte Lara unter ihre Federdecke. Gerade rechtzeitig. Wenige Minuten nach dem alarmierenden Kiesknirschen und Schlüsselklimpern vor dem Haus, stand der Vater schon in ihrer

Zimmertür: »Gute Nacht, mein Schatz.«

»Gute Nacht, Papa.«

Damit hatten beide ihre Abendpflicht erfüllt, nun würde er noch eine halbe Stunde bei Mama sitzen, über zu viele oder verkehrte oder sinnlose Arbeit schimpfen und dann schlafen gehen. Sie streckte eine Socke unter der Decke hervor, zog sie aber schnell wieder zurück, denn die schon halb geschlossene Tür öffnete sich erneut: »Es sind wieder Blumen im Vorgarten kaputt. Warum tust du deiner Mutter das an?«

»Entschuldige Papa.«

»Nein, ich entschuldige das nicht länger, such dir gefälligst anständige Freunde. Karla hat ab jetzt Hausverbot!«

Kurz erlag Lara der Versuchung, sich zu freuen, weil ihr Vater mehr Worte als gewöhnlich für sie übrig hatte. Erst mit der energisch geschlossenen Tür kam die Bedeutung des Gesagten bei ihr an. Mechanisch trat sie die Bettdecke ans Fußende, zog sich aus und suchte das Nachthemd. Dessen rosa Blümchenmuster ragte verräterisch unter dem schneeweißen Kopfkissen hervor. Gut, dass Papa es nicht bemerkt hatte! Sie streifte sich die flatternden Blümchen über, ordnete die zerknüllten Daunen, zog sie bis unter ihre Nase und starrte auf ihre Tapete. Diesen Wandbehang hatte garantiert Mama ausgesucht: Noch mehr kitschige Blümchen. Von wegen gut. Nichts gut. Besser, Papa hätte das unangezogene Nachthemd gesehen, sie mit voller Straßenmontur im Bett erwischt und vor Ärger Mamas Blumen total vergessen. Die interessierten ihn sonst ja auch nicht.

»Mir kann er wohl kaum Hausverbot erteilen«, erklärte sie der Tapete und zweifelte, ob sie selbst ein blödes Blümchen sei.


»Lieber dunkel als Fernseher«, beendete Karla ihre Heimkehrzweifel zugunsten des nächtlichen Schiffes. Sie kniff Mund und Augen zu, für beides gab es hier doch nichts zu tun. Weiter. Entschlossen schickte sie ihre schnelle Hand um die Ecke, der Vorhang streichelte ihre Schulter. Da war etwas glattes, eiskaltes. Auf keinen Fall ein Bett. Über die kühle, gerundete Fläche glitten ihre Finger abwärts. Ein Stückchen weiter plätscherten sie in Flüssigkeit. Flüssigkeit?? Das war verkehrter als verkehrt. Nass ist gleich Wasser ist gleich … Hilfe! Sofort war auch ihr Rücken nass, aber von Schweiß. Wasser gehörte nicht nach drinnen. Klarer Fall. Das Schiff sank!

Sie riss ihre Hand zurück und blieb dabei mit dem Ellenbogen an einem harten Rand hängen, der Bruchteile von Sekunden ihrer Bewegung aufwärts folgte. Als wolle er sie festhalten. Dann glitt er über ihren Unterarm zurück an seinen Platz, ein heftiger Knall erschütterte Boot und Mädchen. Sie schaute in alle Richtungen, als könnte sie in der Schwärze jemand sehen, der sie hören könnte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ertrinken ist sicher kein schneller Tod. Bei Einbruch erwischt zu werden, wäre vergleichsweise weniger schlimm. Sie stampfte zwei Schritte rückwärts, die Holzdielen knarrten trocken. Wieso trocken? Das passte nicht zusammen. Sinkende Schiffe

sind nass, wie ihre Finger. Die knarren nicht trocken. Eine Schweißperle stoppte irritiert auf Karlas Rücken und verdampfte.

Plötzlich hatte ihr angespanntes Gehirn das knallende Geräusch zugeordnet: Das war kein explodierender Stahl, sondern jenes typische Klappern einer Klobrille, die runter fällt. Leichter Geruch von Urinstein

bestätigte ihre Vermutung.

»Scheiße! Voll ins Klo gefasst. Wieso steht das so hoch?«, blaffte sie in die Stille und schüttelte ihre nasse Hand. Der Wolfsmagen knurrte, dazu meldete sich noch ein anderes, dringenderes Bedürfnis im Bauch. Na, das Timing stimmte wenigstens. Todesmutig tastete Karla sich erneut um den Vorhang herum und erspürte die Formen eines Podests, mit der Toilette obenauf. Das war tatsächlich ein besonders erhabenes Ding. Kein banaler

Schaukelstuhl, wie der, dem sie die königlichen Eigenschaften vorhin nur andichtete – sondern ein echter Thron. Auf dieses höhergelegte Exemplar wäre jeder Kaiser zu allen Zeiten stolz gewesen. Ganz für sich, versteht sich.

Sie erstieg die Stufe zum Thron, drehte sich balancierend auf dem schmalen Absatz vor der Schüssel um und ließ die Hose sacken. Dann stemmte sie ihre Hände gegen Wände an beiden Seiten und suchte mit dem Hinterteil die gefährliche Brille. Welche zu ihrer Verwunderung weder biss noch klapperte.

War Pinkeln immer so laut? Ob man es draußen hören konnte? Rechts eine Wand, links eine Wand, hinten eine Wand, verdammt: Wieso hing da nirgends Klopapier? Hatte diese Brille auch einen Deckel? Immerhin, das Eckige hinter ihr war, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, ein ganz normaler Wasserkasten, aber auf Knopfdruck folgte kein Rauschen. Egal. Über Spülung, sowie diverse andere

Fragen, denken wir morgen nach. Nur beten, dass andere vor ihr nicht dasselbe gedacht hatten und vor allem jetzt nicht wieder rein fassen. Sie stolperte über ihre Jeans vom Podest und ruckelte sie wieder hoch.

Der Griff ins Klo machte Karla stark. Was konnte das toppen? Noch so eine lächerliche Lebensgefahr? Demonstrativ gegen sich selbst, verklemmte sie ihre Hände in die Gesäßtaschen und ging tiefer in die Finsternis. Beim vierten Schritt lief sie mit dem Bauch gegen die Wand. Seit wann sind Wände auf Bauchhöhe? Ohne Hände ging es doch nicht. Sie holte eine aus der Tasche, die Wand endete tatsächlich mitten in der Luft. Also wieder eine Art Podest. Unten hart, oben weich.

»Bittebittebitte nicht noch so was Fieses!«, sprach Karla zur Schwärze und schickte die zurück gezuckten Finger erneut vor. Das nachgebende Material hatte eine waagerechte Oberfläche mit vielen kleinen Beulen, weiter als ihr Arm reichte. Sie drückte darauf, es federte zurück.

»YesYesYes!«, folgerte Karla, ermahnte sie nach dem Ausruf kaum leiser: »Pssssst!«, und streifte die Schuhe ab. Sie hievte ihren erschöpften Körper die halbe Wand hoch, oben sank sie auf die ertastete Matratze: »Über Bettdecken denken wir ebenfalls morgen nach«, nuschelte sie einschlafend.

Die frühlingskühle Nacht gönnte ihr eine kurze Ruhe, dann saugte sie die letzte Tageswärme aus dem Stahl, kroch über das Bett und schubste das Mädchen. Karla zitterte, rollte sich ein, umklammerte ihre Zehen mit beiden Händen und fror vor sich hin.


Wenn die Blümchen stolze Palmen wären. Oder Eichen zum Anlehnen. Oder wilde Dschungellianen. Mit solchen Pflanzen könnte ihr Zimmer ganz erträglich sein und kein Vater würde sich rein wagen, um Hausverbote zu erteilen. Wegen der Schlangen in ihrem Dschungel. Lara fand keinen Schlaf. Es war auch viel zu warm unter der Federdecke. Was, wenn Karla ernsthaft nicht nach Hause ging? In diesem Land war alles geregelt. Man würde sie holen. Und bestrafen. Vielleicht einsperren. Hierher durfte sie ja schon nicht mehr kommen. Wie sollten sie sich jemals wiedersehen?

Die Tapete wurde lebendig, ihre Muster schnitten bösartige Grimassen: »Such dir anständige Freunde!«, sangen die aufgedruckten Blümchen im Kinderchor. Selbst schuld, was redete sie auch mit hässlichen Tapeten. Da half nur Schokolade.

Lara schlich sich aus Bett und Zimmer in die Küche. Wo hatte Mama ihre Pralinen versteckt? Noch im Schrank vom Winter oder schon auf Eis? Die Dichtungen der Kühlschranktür schmatzen auseinander, schuldbewusst wandte sich das Mädchen um, doch da kam keiner. Gut. Käsearomen waberten ihr entgegen, sie nahm ein paar der eng gepackten Lebensmittel heraus und schob andere zur Seite. Hinter der Butter verbarg sich keine Pralinenschachtel. Auch nicht unter dem Gemüse. Während sie versuchte, alles wieder genau so anzuordnen, wie es vorher stand, stieg eine ungekannte Gegenwehr in ihr hoch. Jedes Ding hatte seinen festen Platz und wehe wenn nicht. Nur das interessierte Mama. Als wenn es nichts wichtigeres gab. Mit voller Absicht stellte Lara den Käse ins falsche Fach und legte noch eine unverschämte Tomate obenauf. Mit welchem Recht verbot der Vater ihre Freundschaft! Mit welcher Anmaßung hetzte die Mutter ihn dazu auf! Und vor allem, mit welcher Unterwürfigkeit ließ sie sich das gefallen!

Die Wut wuchs über Lara hinaus, schwebte zwischen Kühlkombination und Wand, betrachtete die Szene von oben und lachte gehässig: Da stand sie, von Nachthemdblümchen umweht und knabberte am schlechtem Gewissen, bloß weil sie heimlich an den überquellenden Kühlschrank ging. Derweil Karla womöglich, ganz allein, auf einem fremden, sehr, sehr unerlaubten Schiff schlief. Mit nichts als einem Marmeladenbrot vom Mittag im Bauch.

»Wer hat jetzt wen stehengelassen?«, fragte sie sich und richtete ihre Empörung auf eine Zimmerpalme, die nonchalant gegen einen Küchenstuhl lehnte. Lara kickte den Stuhl weg. Die biegsame Pflanze stürzte daraufhin keineswegs sofort, wie sie gehofft hatte, sondern neigte sich zentimeterweise. Das schwere Tongefäß, in dem die Palme wurzelte, leistete erstaunlich lange Widerstand. Erst als die obersten Blattspitzen den Boden berührten, kapitulierte der tapfere Blumentopf. Er fiel als Mutters Held mit dem denkwürdigen letzten Wort: »Krack.« Und schüttete Erde auf die polierten Fliesen.

Hatte sie jetzt auch Hausverbot? Eine Palme war schließlich keine Osterglocke.


Im Traumland lag die Karla-Katze eingerollt am Ofen. Wohlige Wärme erhitzte ihren Bauch, der Rücken trotze der Kälte. Nicht mehr lange: »Hallo, aufwachen!«, maunzte das Ofenfeuer.

Wie bitte? Die verwirrte Katze drehte sich um, ihr Rücken blieb kalt, der Bauch wurde es nun auch. Sie blinzelte in grelles Licht und versuchte herauszufinden, wer und wo sie war: Katze. Ofen. Kein Ofen. Keine Katze. Keine Wärme. Sondern kalte Matratze. Schiff. Sie war keine Katze, sie war auf dem Schiff. Ihr Schiff, aber nicht ihr Schiff. Da war Licht. Licht durfte nicht sein. Dann leuchteten Bullaugen wie ein Tannenbaum … Erwischt, scheiße!

Karla schoss hoch, knallte mit dem Kopf gegen das Dach und zischte durch die Zähne. Stimmt, da war noch was. Halbe Wand, Podest: Der Raum über ihr reichte gerade mal zum Sitzen und das auch nur in der Mitte. Also setze sie sich, rieb ihren Scheitel und identifizierte das Licht als Taschenlampe.

Hinter Taschenlampen, die in der Schwärze schwebten, standen gewöhnlich Menschen und das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Es konnte der Eigentümer des Schiffes sein, der sie gleich von Bord prügeln würde. Mit dem Handfeger, mit einem herumliegenden Brett, Taschenlampengriffe waren ebenso hart. Vielleicht hatte er gar einen Hammer dabei. Oder war es ein Einbrecher? Der gerade seine Pläne änderte, weil hier ein Mädchen ganz allein im Bett lag? Der sich diebisch über diese perfekte Gelegenheit zur Vergewaltigung freute? Wäre ein Polizist das kleinere Übel? Der sie in Handschellen abführen, über Nacht einsperren und morgen ihren Alten ausliefern würde? So oder so, der Traum war vorbei, der Ofen war aus, die Katze hatte verloren.

Eine Frauenstimme lockte hinter der Taschenlampe: »Mmmmh, leckerleckerleckerlecker!«

Immerhin, kein Mann. Kein Vergewaltiger. War das eine Polizistin? Mit seltsam vertrautem Ton? Sie kannte doch

keine Polizistinnen? Nee, das war … Karla stieß ein erleichtertes »Hä!« hervor und fiel rückwärts auf die Matratze. Eine Tüte knisterte: »Fieses Schweinesahnefilet, das liebst du doch?«

Katzenschnell vergaß Karla, jemals Angst gehabt zu haben: »Du … Lara … War deine Stimme immer so schön?«

»Hey, Katze, gut geschlafen?«, säuselte ihre Freundin daraufhin, übertrieben sanft, hinter der Lampe.

»Fühl’ mich grad’ gar nicht als schnelle Katze.«

»Bist du aber und bleibst du. Siehst auch aus wie …«, die Taschenlampe inspizierte blendend ihr Gesicht, »… wie, naja. Wohl eher ’ne verpennte Katze.«

»Mach das verdammte Licht aus!«

Der Lichtkegel schwenkte abwärts und erleuchtete eine seitliche Stufe, über die Lara ganz unkompliziert auf das breite Bett stieg. Sie setzte sich neben Karla und leuchtete durch die Tüte. Deren zerknittertes Plastik funkelte verheißungsvoller als tausend Edelsteine, die Sahnesoße erstrahlte in cremigem Schein. Der Wolf in Karlas Bauch jaulte laut vor Freude. Dieses Mal rappelte sie sich bedachtsamer, sprich kopfschonender, hoch, schnappte die Tüte, riss sie auf und fingerte ein tropfendes Fleischstück heraus.

»Wieso Licht aus. Jetzt ist doch kein Hund mehr im Hafen«, widersprach Lara, drückte trotzdem den Lampenknopf und schimpfte gleich: »Mann ist das finster hier.«

Aus der Finsternis mampfte es zurück: »Ja, schon komisch, dicht nebeneinander zu sitzen und sich nicht zu sehen. Aber gut, drüber zu reden.«

Die Tüte knisterte, Karla kaute. Für eine stille Weile unterbrach nichts weiter die Schwärze, nur ihr knistern und kauen, knistern, kauen. Dann raschelte Stoff. Das erinnerte sie unheilvoll an Einbrecher und Polizisten: »Bist du noch da?«

»Hab mich nur hingelegt.«

»Ah. Gib mal das Ding.«

Klebrige Finger suchten Laras Hand und entzogen ihr die Lampe. Mit ihren sahneglitschigen Händen tastete Karla das Objekt ab, nach einem Schalter. Da, das musste er sein: Klick. Es wurde nicht ganz so hell wie erwartet – der cremige Schein war der Tüte entsprungen und tropfte vom verschmierten Lampenglas. Ein sahnegedämpfter Lichtkreis wanderte über die Matratze zu Karlas gefalteten Beinen: »Überall Soße!«, fauchte die verpennte Katze. Sie leckte ihre Krallen sauber und dippte mit dem Zeigefinger einen Fleck nach dem anderen von Taschenlampe, Bett und Hose. Direkt in den Mund.

Lara lag langgestreckt auf dem Rücken daneben und überlegte, ob das jetzt ihre Schuld sei. Weil man Soßen nicht in Tüten füllte. Der Lampenkegel löste sich von den Flecken, untersuchte Lara von unten bis oben, blendete sie und zeichnete einen Kreis um das Bett.

»Sooo sieht das hier aus!«, staunte Karla. Die Matratze war breit genug für ein Ehepaar, an drei Seiten gerahmt von einer tiefer liegenden Ablagefläche. Und daran anschließend Wände, hinter denen wohl das Schiff endete. Oder anfing. Sie war ja am vorderen Ende, wenn sie sich richtig erinnerte.

»Blau, blau, blau! Welcher Idiot streicht denn oben und rechts und links und überall ein ganzes Zimmer dunkelblau? So ein winziges noch dazu? Kein Wunder, dass man nichts sieht«, motzte Karla und entdeckte noch ein blaues Wunder. Am Fußende, halb auf einen überdimensionalen, löchrigen Teddybären geknüllt, ragte eine blaugemusterte Steppdecke hämisch über den Matratzenrand. Zum Greifen nah. Sie war, verdammt nochmal, direkt daran vorbei geklettert und hatte sich frierend daneben gelegt. Wie ein blöder Köter, der vor einem gefüllten Napf verhungerte.

»Dann hol ich die jetzt doch mal. Dir wird ja viel schneller kalt als mir«, vertuschte sie ihre peinliche Blödheit, sortierte die Decke, legte sie sorgfältig über Lara und kroch dabei.

Die Mädchen lagen Schulter an Schulter, die wärmende Hülle bis unter das Kinn gezogen, Karla taute allmählich auf. Sie leuchtete nach oben: »Blau.«

»Sagtest du schon.«

»Blödblau.«

»Ich find’s mal was anderes. Alles so schön bunt hier. Und kein einziges Blümchen.«

»Naja, schon. Aber draußen blaugelbes Schiff, drinnen blaue oder gelbe Zimmer, man weiß ja kaum noch, ob man drinnen oder draußen ist«, sage Karla und meinte weniger die Farben als die Temperatur. Dann bewegte sie Daumen und zusammengelegte Finger im Lampenkegel gegeneinander. Ein happendes Schattenmaul zog über den blauen Holzhimmel: »Wölfe gibt es hier übrigens auch.«

»Schattenwölfe, seh’ ich.«

»Nee, knurrende Hungerwölfe.«

»Ach so. Aber jetzt bist du satt?«

»Mmmh.«

Lara holte ihre Hand ebenfalls unter der Decke hervor ins Licht und erzeugte damit ein zweites Schattentier, welches sich auf das erste zu fraß. Diese beiden blauschwarzen Wölfe trafen sich und kämpften kichernd.

»Bisschen albern ist das schon«, schämte Lara sich plötzlich: »Wir sind doch nicht mehr im Schullandheim.«

»Siehst du jemand, der es sieht?«, brachte Karla ihre zweite Hand ins Spiel und drehte sie hin und her. Der Schatten wirkte wie ein ängstlicher Hund, der sich umsah.

»Nö. Stimmt auch wieder«, gluckste Lara und schubste den Hund weg. Dann tanzten beider Schattentiere ungeniert über den Schiffshimmel: Ein Raubtier mutierte zum hüpfenden Hasen, der andere Wolf verschluckte ihn. Der Hase reinkarnierte als Flugzeug, fegte den Wolf vom Himmelszelt und stürzte selbst jaulend ab. Ein schwankendes Ding fuhr ins Licht: »Tschu Tschu Tschu Tschu Tschu!«

»Was soll das jetzt sein?«

»Blubbberblubberdiblubb«, das unidentifizierte fliegende Objekt landete auf der Taschenlampe und verdunkelte den Raum: »Das war ein sinkendes Schiff«, lachte Lara.

Sinkende Schiffe erinnerten Karla an nasse Hände, an Wasser, an … oh nein! Zwischen dem Griff ins Klo und dem Griff in die Sahnesoße fehlte eine entscheidende Handlung. Handlung im wahrsten Sinne des Wortes, weil es ihre Hände betraf. Die wischte sie jetzt hektisch an der Decke ab, als wäre es dafür nicht zu spät. Sie war ja nicht so zimperlich wie Lara, aber wenn die Spülung schon länger nicht funktionierte, wenn tatsächlich jemand vor ihr … Leichte Übelkeit kitzelte ihre Kehle hoch. Sie suchte ein Rettungsboot, in dem ihre Gedanken schnellstens vom Thema Hygiene wegfahren konnten: »Ob dieses Boot auch noch echt fahren kann?«

»Das werden wir nie erfahren«, meinte Lara.

»Doch«, murmelte Karla. Ihre Augen fielen plötzlich zu wie Stahlklappen. Nur leiser.


Schwimmende Aufgaben

»Ist deine Zwillingsschwester krank?«, fragte die Frau zwischen Pult und Tafel schnippisch. Lara tauchte ab, nutzte die Schulbank als Schutzwall und wühlte darunter geschäftig ihn ihrer Tasche. Der Stuhl neben ihr gähnte gelangweilt vor Leere. Sie fühlte die Blicke ihrer Klassenkameraden – ohne sie zu sehen – und wünschte, die wären alle ebenso imaginär wie die vielen Leute im Hafen. Insbesondere Lukas. Die Tischplatte bot leider keinen zuverlässigen Schutz und dämpfte den Schritt der Lehrkraft nicht ausreichend. Unerbittlich näherte sich das Absatztrippeln. Dann verstummte es neben ihr. Was konnte Lara nur antworten, ohne zu lügen? Sie zog ein beliebiges Heft hervor, tauchte zögernd wieder auf und versuchte Zeit zu gewinnen: »Wir spielen nicht mehr Zwillinge. Karla ist jetzt größer und dünner.«

»Ihr seid euch doch noch stets sehr ähnlich«, log die Lehrerin und zwang sich, nicht auf Laras übermäßig keimenden Busen zu starren, der ihr selbst sowie Karla völlig fehlte. Neid auf eine Schülerin wäre schrecklich unpädagogisch, dachte sie und ihre Augen glitten stattdessen an sich selbst hinab. Erschrocken vor diesem schrecklich unpädagogischen Vergleich, wich sie in einem Trippeln zum Fenster aus.

Kurz war es ihr, als sähe sie Lara und Karla dort über den Schulhof rennen, wie einst, als zwei blasse, zierliche, noch fast geschlechtslose Wesen. Immer etwas abseits der anderen, von weitem kaum zu unterscheiden. So viele Kinderfreundschaften hatte sie über die Jahre auseinanderwachsen sehen. Wahrhaftig, die selbsternannten Zwillinge waren keine mehr. Außer einer gewissen Namensähnlichkeit vereinte die beiden nur noch die Haarfarbe. Bald würde die erste Liebschaft sie völlig entzweien, so waren die Mädchen nun mal. Das ›Karlara‹ trennte sichzurück in die Karla und die Lara.

»Danach werden sie in die Welt ziehen und sich aus den Augen verlieren, nach der ersten oder zweiten Scheidung vielleicht mal kurz aneinander denken, auf irgendeinem Klassentreffen stehen sie dann peinlich berührt herum und haben sich nichts mehr zu sagen«, formulierte die Erzieherin lautlos.

Draußen tanzten die zwei erinnerten Kinder um einen Fahrradständer, dabei lösten sie sich in feuchte Luft auf. Der Fahrradständer rostete im Zeitraffer. Die Schüler kamen und gingen durch ihr Leben, die Zeit ging nur. Wozu mache ich das alles, dachte sie und fragte: »Weißt du jetzt, ob Karla krank ist oder nicht?«

Während der Denkpause ihrer Lehrerin hatte Lara eine ausweichende Formulierung gefunden: »Kann ja sein, bei der Kälte. Die war gestern schon total woanders.«

Anschließend huschte ihr Blick verstohlen zu Lukas, ob er die Situation nicht mit einem seiner Sprüche auflockern, oder sie wenigstens einmal ansehen würde. Aber der tuschelte desinteressiert mit seinem Banknachbarn.

»Dann bringst du Karla nachher bitte die Hausaufgaben«, verfügte die Frau am Fenster, klapperte zu ihrem Pult und leierte den Unterricht herunter.


Ganz selbstverständlich über einen rechtswidrigen Steg gehen klappte viel besser, wenn man einen Auftrag hatte. Dank der Lehrerin. Lara hielt sich bis zum Boot an der Schultasche mit den Hausaufgaben fest und sah

zaghaft ins Steuerhaus.

Drinnen strahlte Karlas Gesicht aus einem großen, viereckigen Loch im Boden: »Hier unten sind zwei Motoren. Der Große ist bestimmt zum Fahren«, rief sie ihr entgegen.

Lara öffnete die Tür einen Spalt: »Kannst du mal aufhören, aus Löchern zu gucken? Würde ja fast gern reinkommen, aber wo ist der Fußboden?«

Karla tickte hinweisend auf eine dicke Metallklappe, die am Steuerrad lehnte. Sie stemmte den Oberkörper aus der Vertiefung, schwang die Füße zu beiden Seiten auf den verbliebenen Bodenrand und stand, breitbeinig über dem Abgrund balancierend, unter Verrenkungen auf. Beim Schließen unterschätzte sie das Gewicht der Klappe, der Ringgriff rutschte ihr weg.

Stahl donnerte auf Stahl.

Karla duckte sich katzenreflexartig unterhalb der Fenster in die Hocke. Lara sprang vor Schreck über die Schwelle in die Hütte, also einen halben Meter tiefer. Sie machte sich ebenso klein. Mäuschenstill kauerten die Mädchen auf dem so knallend wiederhergestellten Fußboden. Der Metalldonner verhallte, das Schiff zitterte vor Schmerz noch eine Weile nach. Die folgende Stille wartete auf Entdeckung. Sie wartete lange. Ein Kind lachte, ein Vater schimpfte.

Irgendwann tastete Lara an ihre Hüfte, aber dort hing kein Auftrag zum Festhalten mehr: »Neeee, die Matheaufgaben! Die sind da drin!« Sie hob die Stirn über die Türschwelle, dann folgten zwei vorsichtige Zentimeter bis an die Nasenspitze: Nichts lag an Deck. Ein Rand aus blauem Stahl versperrte die weitere Sicht, erst auf Knien halb aufgerichtet konnte sie hinüber spähen. Da sah sie das Gesuchte: Die vollgestopfte Schultasche, welche eben noch an ihrer Seite hing, war dem Fluchtsprung nicht gefolgt und trieb jetzt im Hafen. Nur eine Armlänge entfernt. Oder etwas mehr. Und Karla verfügte über etwas mehr Armlänge: »Kommst du da

noch ran?«, hoffte Lara.

Doch anstatt mit ihr danach zu angeln, zog die schnelle Katze mal wieder an ihrem Ärmel: »Komm. Lieber runter.«

Lara folgte widerwillig durch den Niedergang in die Wohnung: »Da sind die neuen Formeln drin. Ich hab versprochen, dir zu erklären, was wir heut’ gemacht haben.«

Da Karla auf dem schulischen Ohr taub schien, probierte sie das private Gehör: »Und deine Jacke ist in der Tasche. Die wollte ich dir in der Schule geben.«

»Wieso?«

»Die hattest du auf dem Spielplatz vergessen. Meine Jacke ist übrigens auch da drin. Falls dich das interessiert.«

»Es gibt jetzt wichtigeres. Vielleicht wollte ich die Jacke gar nicht

mehr.«

»Oh toll, und dafür lässt du mich dann im Kaufhaus …« Lara stockte und besann sich auf die davon treibenden Hausaufgaben. Sie unternahm einen letzten Versuch, Karla auf irgendeinem Ohr zu erreichen: »Aber Schweinefilet hatte ich auch für dich eingepackt. Das magst du doch so.«

Karlas Ohr zuckte getroffen, doch statt zur Taschenrettung zu stürmen, staunte sie ihre Freundin sprachlos an: Noch mehr Filet? Hatte Laras Mutter für ein ganzes Regiment gekocht? Oder war ihr nächtlicher, mutiger Besuch hinter der Taschenlampe nur ein Traum? Sie wagte nicht zu fragen. Es war viel zu schön gewesen, um als Fantasie entlarvt zu werden. Trotzdem schlenderte sie mit ihrer professionellen Selbstverständlichkeit schnell ins Vorschiff.

Da lag die ausgebreitete Bettdecke. Eindeutig Realität. Wäre Lara nicht real in Wirklichkeit da gewesen, hätte die doch noch zerknüllt auf dem Teddybär gelegen, oder? Sie untersuchte die Matratze darunter auf Flecken. Aber die hatte so viele, manche könnten Sahnesoße gewesen sein, oder auch nicht. Kann man im Traum Decken finden und satt werden, ohne sich zu erinnern?


In der Wohnküche zurückgelassen, fielen Lara die sonnengelb lackierten Wände auf. Das war tatsächlich toll. Insbesondere freute sie sich über die völlige Abwesenheit von Blümchen und Palmen. Aber nicht über die verlorenen Aufgaben. Sie schaute durchs Bullauge. Ihre Schultasche hatte sich ziemlich vollgesogen; sie ragte nur noch mit der Schnalle über die Wasseroberfläche und dümpelte gerade vor dem Bug eines Holzschiffes, das an einem anderen Steg lag. Sie rief Richtung Vorhang: »Dein Mittagessen hat schon den halben Hafen durchquert. Traust du dich, hinzurennen und es vom Mittelsteg aus raus zu fischen?«

Der Vorhang ging auf. Karla kam zurück und dachte vorwärts: »Mag sowieso kein Filet in Wassersoße. Und die Schule kann mich mal. Bringt also nix. Oder … stand in deinen Heften etwa, wie man Schiffsmotoren startet?«

Lara entschied, weder selbst die Tasche zu retten, noch näher auf Motoren einzugehen: »Wie war deine Nacht?«

»Ich bin gegen die Wand gelaufen und hab ins Klo gefasst.«

»Also ganz normal.«

»Wölfe gibt es hier übrigens auch«, testete Karla, ob ihre Freundin antworten würde: »Das hast du nachts schon gesagt.« Tat sie aber nicht.

Sie tat so, als hätte sie nichts über Wölfe gehört und erzählte von der Schule. Um ihren Auftrag dann eben ohne Papiere zu erfüllen: »Mathe kann ich nicht auswendig. Aber wir hatten heute noch ein neues Thema. Elektrolyse, ich soll dir das erklären. Also – der Mensch ist eine isolierende Hülle, gefüllt mit elektrisch leitender Salzlösung. Stell dir vor, da ruft Lukas, saucool wie immer: ›Also ein Plastiksack mit Seewasser!‹«

»Was ist daran witzig?«

»Ist doch klar, Salzlösung, Seewasser, verstehst du das nicht?«

»Nee. Das ist nicht witzig. Aber wenn Lukas die Uhrzeit sagen würde, fändest du das auch saucool.«

»Quatsch.«

»Gib’s doch zu. Wenn ich mich mal verliebe, was so bald nicht passiert, aber ich würde es jedenfalls nicht vor dir verheimlichen«, prophezeite Karla, ohne zu ahnen, wie falsch sie mit beidem lag.

»Naja, alle anderen fanden es zumindest witzig und haben gelacht. Mann war die Alte wieder sauer, wenn alle lachen. Du weißt ja, wie sie auf ihren Klapperabsätzen toben kann, so mit Verwarnung und Ruhegebrüll. Dabei guckt sie auf deinen leeren Stuhl, als wenn du Schuld wärst! Dann fängt sie an über Zellwände, wo was durch geht. Stromteilchen und so. Brüllt Lukas dazwischen, das wäre bei ihr so, bei ihm aber nicht, weil nur uraltes Plastik faltig und undicht würde. Das verstehst du doch? Er hat ihr damit ja knallhart gesagt, sie wär’ uralt und nicht ganz dicht. Also, Lukas war danach natürlich vor der Tür, was ich aber erklären wollte, die Zellmembran …«

Während Lara dozierte, fummelte Karla gedankenverloren an einem Metallnippel. Vorn am gelben Holzschrank unter dem Herd. Sie drehte ihn hin und her. Auf der anderen Seite des grob zusammengezimmerten Kastens gab es noch so einen Nippel. Beide zusammen hielten anscheinend eine dicke, wie aufgesetzt wirkende Tür. Was mochte da drin sein, Töpfe oder Geschirr sicher? Oder ein Mülleimer? Nee, der stand ganz offensichtlich daneben. Wenn Lara ausgelabert wäre, könnten sie ja mal gemeinsam rein schauen. Also in den Kasten, nicht den Mülleimer. So

überlegte Karla noch, derweil, nach dem ersten, plötzlich auch der zweite Haken unter ihren Fingern nachgab. Das gemeine Brett schwang nicht, wie sie es von einer Schranktür erwartete, zu einer Seite auf, sondern rutschte komplett aus seinem Rahmen. Genau auf Karlas Fuß. Ihr Aufschrei beendete Laras elektrolytische Erklärungen. Karla stellte das Brett zur Seite und sank beeindruckt auf die Knie.

»Schon wieder blau«, hauchte Lara.


Schlüssel zur Freiheit

»Mann, ist der schön … mächtig … groß«, stöhnte Karla und rieb sich die schmerzenden Zehen. Ihre Freundin hatte Schwierigkeiten mit den Zusammenhängen: »Wieso steht der Motor jetzt im Küchenschrank? Vorhin war der doch unter dem Steuerhaus?«

»Darum ja. Booh. So groß. Das ist die andere Seite.«

»Ist die andere Seite auch blau angemalt?«

»Unterm Steuerhaus?«

»Ja da.«

»Ja klar.«

Karla streichelte den doppelten Keilriemen, folgte seinem Verlauf um mehrere Rädchen herum und patschte dann auffordernd gegen das kalte Metall: »Wenn das da sich dreht, kommen wir weg.«

»Wo willst du denn hin?«

»Weg.«

Die Bestimmtheit ihres Tones jagte Lara mehrere Schauer über den Rücken, von denen einer als Fluchtreflex in den Beinen ankam. Sie zwängte sich an Karla, die noch ehrfürchtig zwischen Tisch und Motorküchenschrank kniete, vorbei: »Ich will auch weg. Und zwar von hier, wir sollten nicht hier sein. Wir treffen uns am Steuerrad.«

Im Steuerhaus zögerte sie. Wer lässt jetzt wen stehen, mahnte eine Stimme in ihrem Kopf, die mit Blümchen zu tun hatte. Und einer Palme, die umfiel. Sie sollte nicht hier sein, aber wollte sie dort sein? Zuhause war doch nur Hausverbot. Es reichte also, vor Papa da zu sein. Wie spät war es? Auf der Suche nach einer Uhr studierte sie die Armaturen hinter dem Steuerrad. Neben den vielen Zeigern und Zahlen standen kryptische Worte: ›Oil, Temp, Batt, Amp‹. Nirgends ›Zeit‹ oder ›Time‹ oder ›Clock‹. Ein kleiner Plastikdeckel lockte geheimnisvoll. Gab es solche Miniuhren? Sie klappte den Verschluss auf. Darunter blitzte es silbrig. Lara streckte ihren Rücken und atmete dreimal tief durch, bevor sie hinunter fragte: »Wenn das Ding dreht oder nachweislich nicht dreht, hast du endlich genug? Wir können dann weg?«

»Klar.«

»Na denn. Also. Hier oben ist ein Schlüsselloch. Wie beim Auto. Wir müssen nur den Schlüssel finden.«


Die Mädchen stellten das ganze Schiff auf den Kopf. Schubladen voller Werkzeug, Flaggen, die ihre Farben noch nicht verloren hatten und rätselhafte Metallteile kamen ihnen halb oder ganz entgegen. In Nischen gelagerte Taue, Rettungsringe und Schwimmwesten wirbelten jede Menge Staub auf. Unter der Spüle verbarg ein Türchen die Miniaturausführung eines Kühlschranks. Das war, durch ein zusätzliches Mittelscharnier, mit sich selbst senkrecht zusammenklappbar – sonst hätte man es auf dem begrenzten Raum gar nicht öffnen können. Ein lustiges Türsystem, das Karla mehrmals und ausgiebig klappernd erforschte. Die zuvor an Stelle des Motors vermuteten Töpfe standen verschachtelt in einem Schränkchen neben den Kinosesseln. Aus keiner hochgehobenen Pfanne und keinem umgedrehten Topf fiel ein Schlüssel, der dadurch entstandene Kochgeschirrhügel war doppelt so groß wie das Schränkchen.

»Waren die echt alle da drin?«, zweifelte Lara und puzzelte ein paar Teile ineinander, Karla winkte ab: »Selbst wenn – die passen da unmöglich wieder rein.«

Sie hoben gemeinsam die Matratze hoch und öffneten fast leere Schränke im Schlafraum. Lara faltete die darin enthaltenen Einzelteile – einen Männeroverall mit Mercedeswerbung, mehrere Socken ohne adäquaten Lebensabschnittsgefährten, eine Schiffermütze, zwei vergilbte, knubbelige Kopfkissen, vier Babybadewindeln und eine knallbunte Leggins – auf einen Stapel neben dem Bett: »Hier stinkt aber auch alles nach Diesel. Sogar die ollen Strümpfe in Schubladen.«

Karla hievte die Bodenklappe im Steuerhaus wieder hoch und krabbelte in jede Ecke des engen Maschinenraumes, doch weder hinter Plastikkisten mit Farbdosen, noch in schmierigen Eimern oder gar im Öl

unter den Motoren versteckte sich ein Schlüssel.

Am ganzen Körper mit Fett und Staub geschminkt, plumpsten sie

schließlich erschöpft nebeneinander auf die Kinosessel:

»Nichts.«

»Nee. Nichts.«

Karla schloss die Augen. Lara musterte das Topfpuzzle auf dem Boden, den Kühlschrank mit aufstehender Doppelklappenklappe, den Motor unter dem Herd. Rund um die Kochplatten lief ein Holzrand. Sicher, damit auf See nichts runter fiel. Lara blinzelte zweimal, ja, sie hatte richtig gesehen – da war wieder so ein Blinken. Zwischen Herd und Holz. Gar nicht versteckt, halb in der Rille lag er, die ganze Zeit direkt vor ihrer Nase! Sie schielte schnell zu Karla. Die sah nur ihre eigenen Augenlider von innen. Wenn Lara jetzt still aufstand und den Schlüssel, ganz selbstverständlich im Vorbeigehen, in ihre Jeans steckte, könnte Karla ihn nie finden und keinen Unsinn damit machen. Aber wenn sie dann ewig weiter suchen würde? Nie mehr nach Hause ging?

Sie stieß die Freundin in die Seite und wies auf den Herd: »Da, guck mal. Was da liegt.«

»Was liegt denn da?«

»Was wohl.«

»Wo … ja, tatsächlich!«, jauchzte Karla und benötigte nur drei Katzensprünge, um vom Kinosessel beim Schlüssel und mit dem Schlüssel im Steuerhaus zu stehen. Die Plastikklappe sprang auf, der Schlüssel glitt wie

geschmiert in sein Loch: »Mein Schlüssel zur Freiheit! Er paaaaasst!«

Mit beiden Händen klammerte Lara sich an die Armlehnen ihres Kinosessels, bereute Loch samt Schlüssel verraten zu haben, fixierte den Motor und bettelte: »Sei kaputt, sei kaputt, sei kaputt …«


Karla drehte den Schlüssel. Er sagte leise: »Klick.«

Beide lauschten, eine oben, eine unten, auf jene besondere Stille, die vor allem aus der Abwesenheit von Maschinengeräusch bestand. Eine Mutter rief ihr Kind. Ein Mann lachte. Ein Auto brummte. Karla drehte den Schlüssel ein Stückchen weiter.

Piiiiiiiiiiiieep – Rrrrrrmmmmmmh! Der Herd wackelte. Der schwere Motor schüttelte sich, hustete lauter als der schlimmste Kettenraucher. Die Armaturen fiepten hoch und schrill, Lämpchen leuchteten, von hinten schoss jemand mit einer Pistole. Der Knall tötete selbst Karlas Mut. Sie drehte den Schlüssel sofort zurück auf Anfang. Das interessierte die Maschine jedoch nicht.

Bombrrrbombom, Brroop, Brroop, Brroop, Brroop, Brroop, Brroop hatte sie den Husten überwunden, ihren Rhythmus gefunden und war nicht mehr bereit, damit aufzuhören. Dunkle Rauchwolken umkreisten das Steuerhaus, Abgasgeruch drang durch die Ritzen unter den Türen.

»Sei still!«, flehte Karla, aber der Schlüssel schaltete nur das Piepen mit den Lämpchen an und aus. An, aus. Beim dritten und vierten Versuch leuchtete noch ein Symbol auf. Dann keines mehr. Mit dem letzten Lichtlein

verschwand auch das Piepen.

Brroop, Brroop, Brroop, Brroop, ungerührt von Lämpchen, Schlüsseln oder Piepen erfreute das Herz des Schiffes sich seines erwachten Lebens. Die Auspuffdüfte jahrelanger Ablagerungen verwehten mit dem Qualm vor den Fenstern, zu freier Sicht.


Der drehende Keilriemen hypnotisierte Lara auf dem Kinosessel. Bleich wie das Filet in Mutters Sahnesoße, würde sie sich keinen Zentimeter rühren, bis der Spuk vorbei war. Karla erschien ihr im Niedergang,

ebenso geisterhaft weiß: »Wie geht das Scheißding wieder aus??«

»Äh, so wie es anging?«

»Nee. Geht nicht.«

Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt Karla den Schlüssel hoch. Laras Pupillen flogen zwischen drehenden Rädern unter dem Herd und abgezogenem Schlüssel hin und her: »Oh!«

Brroop, Brroop, Brroop jubelte die Maschine. Karla setzte sich wo sie stand, auf die Treppenstufe. Der Motorschrankkasten verbarg ihren Körper vor Lara, nur der Kopf überragte den Herd, wie ein Topf auf den Kochplatten. So ein ratloses Gesicht kannte Lara nicht von der resoluten Freundin. Warum unternahm sie nichts? Der Krach hämmerte durch Laras Gedanken. Brroop, Brroop, Brroop, wann war Karla über dem Herd gar gekocht? Brroop, Brroop, Brroop, wo blieben die Karla-Ideen? Brroop, Brroop, Brroop, sitzen und warten bis jemand der Krach auffiel? Brroop, Brroop, Brroop, kein guter Plan. Brroop, Brroop, Brroop, aus und nach Haus. Brroop, Brroop, Brroop, und zwar sofort!

Mit jedem weiteren Brroop löste Lara einen ihrer zehn verkrampften Finger von den Armlehnen. Beim elften Brroop erhob sie sich. Im Takt der folgenden Brroops schob sie ihren Po am Tisch entlang, auf größtem Abstand zu den drehenden Teilen der Maschine. Behutsam zog sie den Schlüssel aus Karlas Fingern, die schlapp zwischen angezogenen Beinen hingen. Lara kletterte umständlich auf den Stufen um die Freundin herum, steckte das Metall der Freiheit wieder ins Schlüsselloch und drehte in alle Richtungen.

Drei einrastende Positionen änderten gar nichts. Nur ganz nach rechts gedrückt, kreischte die Maschine gequält auf. Losgelassen, sprang der Schlüssel ein wenig zurück: Brroop, Brroop, Brroop. Räääääärh, Brroop, Brroop, Brroop, Rääääääääääääärh, Brroop, Brroop, Brroop, Brroop, Brroop, Brroop, Räääääääääääääääääääääääääääärh, Brroop, Brroop …


»Du tust ihm weh!«, Karla hatte sich wiedergefunden. Sie drängte Lara zur Seite, legte eine Hand ans Steuerrad und inspizierte die Armaturen. Von fünf Zeigern hatten drei sich über die Null erhoben, die anderen beiden waren wohl kaputt. Chromglänzend funkelte daneben ein hochstehender Hebel, obenauf eine dunkelrote Kugel. Viel zu modern für so ein altes Schiff. Mehr gab es anscheinend nicht, um das Schiff zu bedienen. Ein Rad und einen Hebel. Das konnte nicht so schwer sein. Mit abgespreizten Fingern strich Karlas Handfläche sanft kreisend über die Kugel, dann griff sie zu. Energisch und fest.

Lara prustete: »Du willst nicht wissen, wie das aussieht.«

»Weiß ich. Wie ein Kapitän am Gashebel.«

»Nee. So wie du den streichelst … eher wie … naja, also wie eine, die ’nen Pimmel anfasst.« Sie umfasste den Hebel unterhalb Karlas Hand und rieb anstößig auf und ab. Jetzt kicherten beide. Karla rubbelte die Kugel und seufzte: »Oh, oh, oh … ich liebe dich.«

Brroop, Brroop, Brroop tuckerte das Schiff ungerührt, Lara stimmte in den Rhythmus ein: »Oh, oh, oh, oh du, du … Schiff du!«

Der Hebel wich unter den heftigen Liebkosungen beider Mädchenhände leicht nach vorne, dadurch verschnellte der Motorklang: Brop, Brop, Brop.

»O,o,o,o,o«, passten sie sich im Chor dem neuen Tempo an. Wobei es vor lauter Lachen nicht so leicht war, den Takt zu halten. Dann wurde Lara restlos übermütig und schlug den Hebel: »Mehr! Härter! Oooooh.«

Broppbroppbroppbroppbropp stöhnte die Maschine. Die Mädchen simulierten einen Orgasmus, lauthals durcheinander schreiend. Der vergewaltigte Hebel wurde dabei bis an den Anschlag flachgelegt. Brpbrpbrppbrpbrpbrpbrp jauchzte das Schiff ohne Unterbrechungen, spritzte rauschende Wasserschwälle gegen den Steg und zerrte erregt an seinen Fesseln. Der Anlegesteg schwankte mitgerissen.

Energisch unterbrach Karla ihren gespielten Akt, indem sie den Hebel in seine Ausgangsposition stellte: »Ahhhhh. Mach die Taue los. Er will fahren.«

Brroop, Brroop, Brroop klopfte der Motor, wieder langsam. Aber irgendwie erwartungsvoll.

»Nix er. Schiffe sind weiblich.«

»Dieses ja wohl eindeutig nicht«, Karla streichelte den Hebel.

Lara gluckste albern. Hinter dem Steuerrad erkannte sie mehrere Zahnräder. Dahinter, oder darüber, lief eine dicke, fettige Kette. Sie wackelte ein bisschen am Rad. Die Kette hing durch und klapperte, bevor Lara auf Widerstand traf, der die Zahnräder mitdrehte. Ausgeleierter, alter Kram, wie soll man damit ein Schiff steuern, überlegte sie und warnte: »Das ist lose.«

Doch Karla grinste nur, derweil sie das Steuer, ebenso klappernd, testete: »Na und? Es dreht doch? Es dreht doch alles. Alles!« In ihren Augen lag ein Leuchten von tausend fernen Sonnen, die sich im Hafen spiegelten: »Mach … die … Taue … los!«


Hafenausfahrtbrücke

Ja, es drehte alles, vor allem in Laras Hirn. Und das Schiff sang ein Lied von Friede und Freiheit dazu, einen beruhigenden, alles beherrschenden Rhythmus, dem sich ihr Herzschlag unwillkürlich anpasste: Brroop, Brroop, Brroop, Hausverbot. Blümchen. Rosenkohl. Verdammt.

Brroop, Brroop, Brroop, Fahrstuhl, Marmeladenbrot, Fernseher. Verdammt.

Brroop, Brroop, Brroop, Verdammt, verdammt, verdammt noch mal.

Wenn das alles ist, was wir verlieren können?, dachte Lara und ging auf den Steg. Da standen keine zweihundert Leute um den Hafen herum. Sie hörte keine Kinder, Mütter, Autos oder Männer mehr. Nur noch Brroop, Brroop, Brroop. Wie in Hypnose gehorchte sie Karla und Motor.

Der Knoten auf dem ersten Poller war ausgesprochen widerspenstig. Das Mädchen fummelte mit zitternden Fingern, zog und zerrte, schwitzte und fluchte, bis sie ein gelöstes Tau in Händen hielt und an Deck schob. Von wo es direkt zurück rutschte und gänzlich ins Wasser plumpste. Mist. Sie kniete sich auf die Stegplanken, bekam ein schwimmendes Ende zu fassen, sammelte das triefende Tau auf dem Schoß zusammen, stand auf und warf den verknoteten Haufen aufs Schiff. Etwas weiter als zuvor, aber nicht weit genug: Platsch, ein kleiner Sprühregen kitzelte ihr Gesicht; Ärmel sowie Oberschenkel waren schon komplett durchnässt. Karla könnte ruhig helfen. Doch die stand seelenruhig in der Hütte, eine Hand am Gashebel, die andere am Steuerrad und schaute interessiert zu.

Der zweite Knoten gab schon schneller nach, beim dritten hatte Lara den Bogen raus. Es fing an Spaß zu machen. Sie wunderte sich über sich selbst und trat auf dem Anleger zurück, der Bug guckte sie an. Echt. Er guckte. Aus seinen schönen, dunklen, Bullaugen. Und zwar genauso herausfordernd wie wohlwollend. Vorausgesetzt, sie konnte ihrer soeben erworbenen Sachkunde bezüglich der Mimik von Fahrzeugen vertrauen. Über zwei starken Stahlplatten wies eine spitze Nase trotzig nach oben. Auf beiden Seiten davon hing das gleiche Schild, Lara strich über die hervorstehenden Buchstaben. Kühle, schwarzgrüne Patina. Die Linien des Namens hatten alle Farbe verloren, Lara entzifferte die Formen: »Es ist doch eine Frau, sie heißt NOORTJE !«

Brroop, Brroop, Brroop, das konnte Karla, drinnen über dem Motor, natürlich nicht hören. Aber Lara hörte von jetzt an. Wie Karla schon von Land aus gehört hatte: Was rufende Schiffe sind. Ein Bullauge blinzelte ihr zu. Sie blinzelte zurück. Das vierte und letzte Tau flog an Deck. NOORTJE war frei.


Vielleicht nicht ganz dumm, dass Karla stand, wo sie stand. Dämmerte es dem Mädchen auf dem Steg, als leichte Bewegung in die Sache kam. Oder auch nicht. Was hatte sie nur getan! Was könnte Karla am Steuer schon tun, um es ungeschehen zu machen? Vorläufig tat Karla anscheinend nichts. Sie stand still und schaute. Also stand Lara auch still und schaute: Das Boot dicht vor ihrem war bunt gepflegt und aus weichem Holz, wirklich schade drum. Weil sie es jetzt unweigerlich versenken würden. Mit der spitzen, harten Stahlnase. Oder doch nicht? Näher, ferner, näher, ferner rückte der Zusammenstoß, dann blieb es bei ferner. Irgendetwas stimmte mit der erwarteten Richtung nicht. Konnte sie ihrer Wahrnehmung noch trauen? Unendlich langsam trieb das gelöste Schiffchen vom Steg weg. Ganz von selbst, seitwärts aus der Parklücke. Seitwärts? Das müsste ein Auto erst mal nachmachen!

Im Steuerhaus wedelte Karla wild mit den Armen. Was wollte sie Lara damit sagen? Oh Shit. Das seitwärts ausparkende Auto hatte, Zentimeter für Zentimeter, nun fast einen Meter zurückgelegt. Leider war dieses Auto kein Auto auf festem Boden, sondern ein Schiff in flüssigem Element. Dem konnte man nicht zu Fuß hinterher gehen! Lara war im Begriff, sich selbst stehen zu lassen. Oder die Freundin im Stich zu lassen. Oder das gerade erhörte Schiff allein zu lassen. Oder alles zugleich zu lassen. Nein. Heute wollte sie endlich einmal nichts auslassen. Und vor allem nicht stehen bleiben.

Sie streckte die Hände nach vorne, nahm zwei Schritte Anlauf, wagte den Sprung übers Wasser und landete mit dem Bauch auf der Holzreling. Blätternder Lack knisterte unter ihren Fingern, Splitter probierten stechend, ihre Handfläche zu verjagen. Ein Bein hinüber geschwungen, das andere hinterher, erleichtert richtete sie sich auf dem Balkon auf. Oder wie nennt man Balkone auf Schiffen? Beziehungsweise auf diesem? Lara verglich es mit den umliegenden Fahrzeugen. Die hatten keine Balkone, bei denen ging ein Weg mit Reling vom Bug bis zum Heck. Aber hier nicht. Jemand hatte den Weg weg gemacht.

Vorne gerades, plattes, gelbes Deck, hinten gerades, plattes gelbes Deck bis ans Steuerhaus, nur in der Mitte beidseitig Einbuchtungen, mit Geländer, naja, Balkone eben. Wie kam man vom Balkon zu Karla? An beiden Seiten vom Steuerhaus könnte sie vorbei klettern, aber das war so schmal und dicht am Wasser, dass Lara entschloss, erst mal zu bleiben, wo sie war. Sicher hinter der Reling. Nach dem erstaunlicherweise gelungenen Sprung wollte sie das Schicksal nicht zu sehr herausfordern.

Karla hatte, ganz gegen ihre Art, augenscheinlich die Ruhe weg. Sie tat immer noch nichts. Lara setzte sich rückwärts auf das gelbe Deck, die Füße in den Balkon baumelnd, zog einen langen Splitter aus ihrer Hand, saugte das Blut heraus und bewunderte ihre Freundin. Sie selbst hätte schon längst wild am Rad gedreht, in alle Richtungen Gas gegeben und die Schiffe vorne und hinten gerammt. Aber Karla wartete einfach und alles ging gut. Als wenn die NOORTJE allein am besten wüsste, wie man ausparkt. Seitwärts. Absurd. Wie das Ganze, was sie hier gerade taten. Irgendwer müsste doch schimpfen.

Über den hohen Kaimauern konnte Lara noch stets niemanden ausfindig machen. Kein einziger Zuschauer, geschweige denn zweihundert. Wo war jenes Holzschiff, das eben noch so gefährdet vor ihnen lag? Sie verrenkte den Rücken: Es war nicht mehr vorn, sondern hinten. Weit weg. Die Mädchen trieben mitten im Hafenbecken.


Karla grinste breit, nie zuvor hatte sie solche Macht gefühlt. Seitwärts war vorbei. Es wurde Zeit, nach vorne zu schauen. Und etwas zu tun.

Sie streichelte die rote Kugel und drückte leicht dagegen. BropBropBrop beschleunigte der Motor, daraufhin zog das Steuerrad stärker nach rechts als zuvor schon. Als wolle es ihre Kraft und ihren Willen testen. Sie erwiderte den Druck in Gegenrichtung. Wahnsinn, es klappte. Das schwere Schiff reagierte auf ihren Befehl. Karlas Handflächen kribbelten vor Stolz. NOORTJE richtete die vorwitzige Nase Richtung Hafenausfahrt.

Besser, ich schau nach vorne, dachte Lara ebenso. Was sollte sie auch sonst tun. Vorwärts schauen. Gut. Schön. Nicht gut. Gar nicht schön: Da lag eine Sperre quer über den Hafen. Weiter würden sie nicht kommen. So eine Scheißaktion! Lara schaute hilfesuchend zu Karla, die hinter den Fenstern mit beiden Händen am Steuerrad durch sie hindurch blickte. Sie musste die Freundin aufhalten! Vielleicht war es noch möglich, unbemerkt und ohne Schäden, zurück an den Steg zu gelangen.

Der einzige Weg zu Karla und hoffentlich nach Hause verlief via einen der beiden schmalen Übergänge, neben dem Steuerhaus. Lara verabschiedete sich vom Scheinschutz des Balkons und balancierte mit ausgebreiteten Armen, über das abschüssig gerundete, gelbe Deck, dessen Kante ein knöchelhohes, blaues Metallgeländer zierte. Wessen Rutschpartie ins Wasser sollte das bloß aufhalten? Die eines Kaninchens vielleicht? Streichholzmast und Kaninchengitter. Wer sich dieses Schiff ausdachte, hatte tierische Probleme mit Proportionen. Sie erreichte die Engstelle. Es wäre gar nicht so eng, nur ein Schritt, vom gelben aufs rote Deck runter. Ungefähr ein halber Meter. Wüchse nicht genau da, wo man vorher den Fuß hinstellen sollte, ein blauer Metallpilz auf dickem, gelben Stiel. Von diesen unsinnigen Dingern gab es auf dem gelben Deck noch ein paar, nicht höher als das Kaninchengeländer, aber rund. Darauf treten schrie nach abrutschen. Sie klammerte sich an das glatte Dach des Steuerhauses und wunderte sich, Plastik anstatt Stahl zu fühlen. Das sah doch genauso gelb aus? Egal. Andere Baustelle. Behutsam schob sie einen Schuh, so dicht es ging, an den Pilz, hob den anderen weit hinüber und tastete damit nach dem roten Deck. Als die Zehen Fühlung meldeten, wagte sie den Schritt und blieb mit der Schuhspitze unter dem Pilzdeckel hängen.

Das Kunststoffdach glitschte weg, die Wasseroberfläche huschte dunkel durch ihr Sichtfeld, durchbrochen von der stabilen, hüfthohen Metallreling, die freundlicherweise das Heck einrahmte. Und sie schon einmal vor dem kühlen Bad bewahrt hatte: Gesehen und gefasst. Gleichzeitig fing ihre andere Hand den Türgriff, der seine bestimmungsgemäße Funktion sofort ausführte: Die aufschwingende Tür zog Lara mit. Eine Schulter vorneweg polterte sie, noch einen halben Meter tiefer, ins Steuerhaus.

»Kannst du nicht mal normal rein kommen?«, empfing Karla sie.

Angesichts der bevorstehenden Katastrophe hatte Lara keine Zeit für blaue Flecken oder schnippische Antworten: »Kehr um! Die Hebebrücke geht doch nicht auf! Man kann hier kein Schiff klauen. Die Brücke sperrt den Hafen ab, hast du das vergessen? Glaubst du, die Hafenmeisterin lässt uns raus?«

»Vielleicht? Wenn sie nicht sieht, wer steuert?«

»Hä, du weißt doch, wie knallhart die ist. Wie sie dich früher verjagt hat, als du auf dem Steg spielen wolltest. Die klappt die Brücke niemals hoch! Wir knallen nur dagegen und versaufen. Oder prallen ab und versenken andere Schiffe. Oder alles gleichzeitig!«

Mageres Lächeln verbarg Karlas Zweifel schlecht: »Die ganzen Segelschiffe passen nicht unter der Brücke durch. Dieser kurze Mast schon. Glaub ich … ungefähr.«

Ungefähr beruhigte Lara unheimlich wenig. Sie griff ins Steuerrad: »Umkehren!!«

Karla stemmte sich mit beiden Händen an den Pinnen der anderen Radseite dagegen: »Lass los! So versenken wir echt was!«

Der Bug schwankte unschlüssig hin und her, die Mädchen rangelten am Rad um entgegengesetzte Richtungen. Ein Kind blieb auf der Brücke stehen, wies auf das taumelnde Boot und klatschte in die Hände. Eine Frau hockte sich daneben.


Knapp vor dem Brückenpfeiler setzte Karla sich durch, gewaltsam stieß sie Lara weg und fauchte: »Wenn das so losgeht, bevor es losgeht, dann geht hier gar nichts los.«

Die Gestoßene griff vergeblich nach einem Halt an den Fensterrahmen, keifte: »Toll, aus welchem Film stammt das?«, und landete platt sitzend auf dem Boden.

»Ist von mir«, die Steuernde versicherte sich im Vorbeisehen der Unversehrtheit ihrer Freundin, welche giftig zu ihr auf schielte: »Glaub ich nicht.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Nee.«

»Stimmt auch nicht.«

»Sag ich doch. Stimmt alles nicht. Außer dass nichts los geht. Kehr um.«

»Aber ich hab dich lange genug abgelenkt. Guck, passt!«, triumphierte Karla.

Lara sah schräg von unten ein Geländer am Himmel schweben. Sie rappelte sich hoch. NOORTJE fuhr unter der Brücke hindurch. Zwischen dem Lämpchen auf der Mastspitze und den Brückenplanken klafften mehrere Meter freier Raum.

Karla staunte: »Passt sogar dicke! Das hätte ich jetzt auch nicht gedacht.«

»Blöde Kuh. Glauben und Schubsen. Und noch Lügen. Echt. Wenn das so losgeht, geh ich.«

»Fühl dich frei zu gehen«, lächelte Karla mit ausladender Handgeste über die umgebende Wasserfläche, die nicht mehr so still glänzte. Um die Biegung der Hafenausfahrt krabbelten weiße Krönchen, die Wellen des Flusses.


Dann lag er vor ihnen. Der mächtige Weserstrom. Ehrfurcht erstickte Laras Wut: »Vom Ufer sah das nie so breit aus.«

Die kurzen Haare schüttelten nicht ganz so wild, wie Karla sich fühlte: »Klar, und die Brücke nicht so hoch. Jetzt wird alles anders. Quatsch. Ist alles anders. Rechts oder Links?«

Knallorange löste sich die Fähre vom gegenüberliegenden Ufer, so fern, so klein wie eine vergehende Erinnerung.

»Dreiundzwanzig, vierundzwanzig, ausparken uuuuuuunnnnd rüberfahren …«, rezitierte

Karla.

Lara wandte sich noch einmal um. Auf der Brücke stand eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, beide winkten ihnen hinterher. Automatisch winkte sie zurück. Selbstverständlich sein konnte man also üben: »Mach

das nie wieder.«

»Okay. Aber greif du nicht ins Rad.«

Die Strömung drückte den Bug nach Backbord, die beginnende Steuerfrau nahm es als Omen und lenkte in die gleiche Richtung. Laras lange Haare schüttelten beeindruckend wild, obwohl sie sich gar nicht so fühlte: »Gebongt. Aber Rechts, Rechts, Rechts!«

»Ich will links, siehst du doch.«

»Eben. Tolle Aussicht. Einmal durch die Innenstadt, die Promenade in Aufregung versetzen und am Weserwehr ist die Welt zu Ende.«

»Wieso?«

»Da ist doch die Schleuse. Glaubst du, die lassen uns durch?«

»Warst du da schon mal?«

»Logisch, oft, ganz früher, als Papa noch nicht so viel arbeitete, Wochenendausflug und so. Du nicht?« Beim letzten Wort biss Lara sich auf die Lippen, die Frage war sowas von blöd. Sie wollte gar nicht gemein

sein – als ob es am Weserwehr Fernseher gäbe.


BropBrop, Brpbrpbrpbrpbrp, Karla hatte glücklicherweise nicht bis zum Schluss zugehört, sondern bemerkt, dass sie seitwärts auf die Mauerecke der Hafenausfahrt zusegelten und erschrocken Gas gegeben. Mit hektischen Verbeugungen zwang sie das Ruder beidhändig rechtsrum, schwerfällig gab der Bug seine Linksdrift auf. Erleichtert beobachtete Karla die wendende Spitze, bis das unbeachtete Heck gegen die Mauer krachte und abprallte. Pang!

Die Holzplanken unter ihren Füßen bebten. Lara kreischte wie eine sterbende Möwe, Karla auch, dabei riss sie panisch am Rad, ohne sich für eine Richtung entscheiden zu können. Den Bug interessierten die widersprüchlichen Impulse kaum, der Aufprall hatte ihm den Rechtsbefehl nachhaltig verleidet. Er wandte sich konsequent wieder nach links. Zur Mauerecke. Gleich würde auch er sie küssen. Karla zerrte den Hebel auf

Null und ließ gänzlich los. Steuern sinnlos. Raum ausweglos.

Die zwei Möwenmädchen flatterten planlos schreiend durchs Steuerhaus. Bruchteile von Sekunden vor dem nächsten Aufprall, flogen sie mit den Köpfen gegeneinander, jaulten noch einmal, nun vor Schmerz,

umarmten sich fest und verstummten. Pangkrrrr!

Vom Stoß taumelte das Menschenbündel gegen eine Tür. Die Augen fest zusammen und den Körper an Karla gepresst, wartete Lara auf den Tod. Sie erinnerte sich an schöne Klänge, um dieses furchtbare Geräusch zu verdrängen. So wunderbar gewohnte Melodien wie quietschende Kreide auf der Schultafel, Vaters Rasenmäher am Samstagmorgen um sieben oder Mutters akribisch auskratzender Löffel im Stahltopf.

Krrrrrrrrrrrrrrrrrr. Das Schiff klebte an der Wand, der Rumpf kratzte von vorne bis hinten an den Ausbuchtungen der Mauer entlang.

Karla öffnete ein Auge: Eine Wand. Ein Knall. Wassereinbruchangst. Das hatten wir irgendwie schon mal. War alles schlussendlich nur ein Klo? Das Steuerrad schaukelte verloren hin und her. Broop Krrrrrrrrr Broop Krrrrrrrrr. ›Augen zu und durch‹ würde nicht weiter führen. Augen auf vielleicht. Immerhin war es hell.

Behutsam löste sie sich aus Laras Armen, dirigierte die zitternde Freundin zur Kommode an der Steuerhausrückwand und setzte sie darauf wie eine willenlose Puppe. Dann kehrte Karla zurück an ihren

neuen Arbeitsplatz. Ganz ruhig. Etwas Gas geben. Etwas nach rechts lenken. Nur ganz ruhig bleiben. Naja, etwas ruhig.

Krrrrrrschschsch BroppBroppBropp, das Schiff löste tatsächlich seine Verbindung zur Wand und legte sich quer vor die Hafenausfahrt. Jetzt fuhren sie zügig auf die andere Ecke zu. »MistMistMistMistMist!«, zuviel rechts – mehr links, mehr links …

Die Steuerfrau focht um die Herrschaft. Mit dem ganzen Körper kurbelte sie am Rad, als würde sie sich vor dem Fluss verneigen, um ihn zu bezwingen: Verbeugung, Verbeugung, viermal linksrum gedreht, wieder rechts, wieder links.

Auf der Kommode klemmte Lara ihre Knie unters Kinn und klammerte sich, mangels Karla, an ihre eigenen Beine. Schlingernd wichen die Mauern in den Hintergrund, zu beiden Seiten erstrahlte breite Wasserfläche in mannigfaltigen Lichtreflexen.


Großes und kleines Schulschiff

»Wir sind draußen!«, jubelte Karla und versuchte, mit kleineren Verbeugungen als zuvor, den unschlüssigen Bug zu überzeugen, dass er bitte geradeaus fahren möge.

»Rechts ist woanders. Und eben sah die Weser breiter aus«, nuschelte Lara in ihre Knie, während ihre Freundin besänftigend zu NOORTJE sprach: »Jetzt hab ich dich, Süße. Brav. So geht es vorwärts. Nein! Bisschen mehr links. Jaaa. Guuut.«

Das Schiff entspannte sich, Karla entspannte sich. Lara ließ ihre Beine vorsichtig los, die Fußspitzen glitten hinab und trafen festen Schiffsboden. Sie saß gar nicht so schlecht auf dem Schränckchen.


Mächtige gelbe Masten erschienen in den vorderen Fenstern und spiegelten sich in den hinteren. Das Mädchen auf der Kommode reckte den Hals, um über den Holzrahmen das prächtige Segelschiff zu erspähen, an dem sie gleich vorbeifahren würden: »Dumm gelaufen, du kommst doch nicht weit.«

Karla übte, die Distanz zu den rechts von ihr wandelnden Bäumen einzuschätzen: »Das dachtest du bei der Brücke auch. Stell dich nicht an mit dem blöden Wehr, geht schon irgendwie weiter.«

»Phhh, Wehr, nix Wehr, höchstens Wehrchen. Guck mal gut, wo wir sind!«

Die Bäume lernten allmählich, in Reih und Glied zu marschieren: »Wo schon. In einer Holzhütte, die auf einem Schiff steht, das auf der Weser fährt.«

»Zweidrittel richtig.«

»Blödsinn.«

Genervt von der ewig quengelnden Freundin, ließ Karla die Bäume laufen und schaute sich um. Haushoch zerschnitt ein scharfer, schneeweißer Bug die Aussicht nach links, sowie Karlas Orientierung. Der einst, beim Spielen am Ufer, so häufig bewunderte Schriftzug prangte goldumschnörkelt durch alle drei Seitenfenster: ›Schulschiff Deutschland‹.

»Oh Neeeeeeee!! Was macht das denn hier!«, Karla suchte Fehler äußerst ungern bei sich. Ihr Restoptimismus bestand darauf, dass der bereits vor ihrer Geburt hier stillgelegte, stolze Rahsegler seinen festen Liegeplatz gewechselt hätte. Von gestern auf heute. Womöglich mitsamt Hotelgästen. Überdimensional leuchtete die Schiffsglocke auf dem menschenleeren Deck. Ob es ohne Besatzung gefahren war? Einfach

woanders hingeflogen? Als Geisterschiff ins Leben zurückgekehrt? Genauso wie NOORTJE .

Lara sah die Erscheinung des letzten, deutschen Vollschiffes neben ihrem kleinen Boot realistischer, ihre gespannten Nerven genossen den Triumph: »Siehste! Gehen Sie nicht über Los. Nix Weser. Du bist voll in die Lesum gefahren!«

Es dauerte eine Kette aus BropBrops und Bäumen, bis Karla bereit war einzugestehen, dass nicht das Schulschiff, sondern sie selbst auf dem verkehrten Fluss weilte: »War so froh, dass wir raus sind, hab ich gar nicht drauf geachtet. Mensch.« Unschlüssig wackelte sie am Rad, NOORTJE schlingerte, Lara suhlte sich in Überlegenheit: »Klaro Karla, kann ja jeeedem mal passieren, dass er die Existenz einen ganzen Gewässers vergisst. Vor allem, wenn man nur mal sein Leben lang an dessen Mündung aufgewachsen ist. Und nur fast täglich über den Zusammenfluss von Lesum und Weser geschaut hat, mit der besten Freundin auf der Hafenbrücke. Oder da drüben am Ufer. Bist du dumm, oder was?«


Der letzte gelbe Mast verließ ihre Fenstersicht, das elegante Heck des Seglers schwebte über dem Wasser wie ein Dach, unter das sie ihr ganzes Boot legen könnten. Sofort fühlte Lara sich wieder kleiner: »Warum ist heut’ alles größer als immer?«

»Weil wir was Großes machen.«

»Dann müsste das andere doch kleiner werden.«

»Wird es auch. Nach hinten wird das Schulschiff immer kleiner und nach vorne wird, mmh, leider der Fluss immer kleiner. Wo geht die Lesum eigentlich hin?«

Lara wandte sich um. Umspült von ihrem Schraubwasser, schrumpfte das schwebende Heck von dannen, die Flussbiegung voraus gab ihre Geheimnisse noch nicht preis: »Nirgends.«

»Wo ist nirgends?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739443201
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Männerberuf Freiheit Roadmovie Abhauen Bremen Piratenschiff Jugendträume Weser Boot Frauenbuch Roman Abenteuer Humor

Autor

  • Rega Kerner (Autor:in)

Als norddeutsche Seemannstochter wollte ich bücherschreibende Binnenschifferin werden, stattdessen verschlugen die Lebenswellen mich zu diversen Tätigkeiten bei Film, Theater/Musical und Multimedia/Internet. Als „Fährfrau von Köln” fand ich endlich zum Wasser. Es folgte Fahrgastschifffahrt bei Koblenz, danach rund zehn Jahre als Steuermann sowie Kapitänsfrau auf einem Binnenschiff. Zurück im Norden, bin ich jetzt alleinerziehende „Autorin auf der weiblichen Seite des männlichsten Berufs”.
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Titel: Wer Schiffe klaut, kriegt nasse Füße