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Die Tränen der Einhörner I: Die Versuchung

von Stephanie Rose (Autor:in)
122 Seiten

Zusammenfassung

Der Engel Caylen wird damit betraut, Eliya zurück auf die Pfade des Lichts zu führen, doch als sein Auftrag für beendet erklärt wird, nimmt sie sich aus Verzweiflung das Leben. Er verkraftet den Tod seines Schützlings nicht und sucht verzweifelt nach einem Weg, sie wiederzubeleben. Hierbei stößt er auf den Heiligen Gral, der seine unglaubliche Macht in Verbindung mit Einhornblut zu offenbaren scheint. Miriel, Caylens Schwester, wird wegen ihrer Gabe, die Zukunft vorhersehen zu können, damit beauftragt, den Gral zurückzubringen, den dieser gestohlen hat. Unterstützung findet sie in dem Magier Sirion. Eine abenteuerliche Reise voller Gefahren beginnt, denn es steht weitaus mehr auf dem Spiel, als es zu Beginn den Anschein hat … Stephanie Rose ist es gelungen, eine fantastische Welt zu schaffen, die fesselt und begeistert. Seite um Seite baut sich ein Spannungsbogen auf, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Mit Mystik und Dramatik schafft die Autorin eine zunehmend dichte Atmosphäre, die sich in einem überraschenden Ende entlädt. Wird es Miriel gelingen, ihren Auftrag zu erfüllen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

„Ich bin wieder an diesem wundervollen Ort gelandet … Seltsam …“

Verwundert sah sich Eliya um und sog die frische, reine Luft tief in ihre Lungen ein.

Die Ebene, die vor ihr lag, reichte soweit das Auge sehen konnte und schien dort in der Ferne mit graublauen Bergen zu verschmelzen.

Unter ihren nackten Füßen konnte sie das weiche grüne Gras fühlen, das ihr mit jeder Bewegung sanft über die Fußsohlen streichelte.

Eliya sank zu Boden und ließ sich auf dem Gras zurückfallen, die Augen geschlossen.

Der sanfte, süße Duft von Blumen drang an ihre Nase und ließ sie lächeln.

Sie blieb einige Augenblicke reglos liegen und genoss das angenehm beruhigende Gefühl, das sie durchfloss und das wärmende Streicheln der Sonne auf ihrer Haut.

„Obwohl es nur ein Traum ist, erscheint alles so real. Ich wünschte, ich könnte für immer an diesem Ort bleiben. Hier fühle ich mich zu Hause, hier möchte ich leben …“, murmelte sie schließlich und blickte in den tiefblauen Himmel hinauf. Keine einzige Wolke war an ihm zu erkennen. Ein sanfter Wind wehte ihr entgegen und trug das leise beruhigende Rauschen von Wasser an ihre Ohren. Woher kam dieses Rauschen? Eliya wollte es wissen und diesen Ort besuchen.

Wieder schloss sie die Augen und stellte sich vor, über die weite grüne Ebene, die vor ihr lag, zu wandeln um dort in der Ferne der Quelle des Rauschens, die sie anzog, zu begegnen.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie daran dachte, dort vielleicht die Person anzutreffen, die sie immer wieder an diesen Ort brachte.

Der Wind frischte schließlich auf und Eliya öffnete verwundert die Augen. Wollte ihr der Wind etwas sagen? Sie runzelte die Stirn und dachte nach, doch ihr kam nichts in den Sinn.

Langsam schloss sie wieder die Augen. Ihre Gedanken glitten letztlich erneut davon und durchwanderten diese wundervolle Welt, die sie umgab. Jetzt besuchte ihr Geist die hohen grauen Berge in der Ferne, deren Spitzen mit Schnee bedeckt schienen, und den einsamen Wasserfall, der dort in die Tiefe donnerte. Sein Wasser verlor sich schließlich in einem kleinen, klaren Fluss, der am Horizont verschwand.

Wohin Eliya auch blickte, herrschte Leben. Das grüne Gras zu ihren Füßen und die bunten Blumen, die sich über dieses erhoben, strotzten nur so vor Lebensenergie und trieben ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen. So stellte sie sich das Paradies vor.

Seltsame verschwommene Schatten tanzten plötzlich über dem Fluss auf und ab und jagten Eliya einen Schauder über den Rücken. Ihr Herz begann zu rasen.

Wer waren sie, diese Schatten?

Ihr Blick schweifte in die Ferne, als sie nun eine leise vertraute Stimme vernahm, die nach ihr zu rufen schien.

Eliya warf einen letzten Blick zu den Schatten hinüber, dann setzte sie ihre Reise fort und folgte dem Lauf des Flusses in die Ferne. Vielleicht konnte sie ja dort die Person finden, die nach ihr gerufen und sie an diesen Ort gebracht hatte.

„Wo bist du?“, flüsterte sie schließlich kaum hörbar und schlug die Augen auf. Sie war wieder zurück auf der weiten, grünen Ebene, wo sie ihre Reise durch diese Welt begonnen hatte.

Eliya setzte sich auf und sah sich um.

„Ich fühle deine Präsenz doch kann ich dich noch immer nicht sehen … Wer bist du nur?“, murmelte Eliya und setzte sich auf.

Jene Präsenz hatte sie schon bei ihren letzten Besuchen in dieser Welt in ihrer Nähe verspürt, doch diesmal schien sie ihr noch näher; sie schien fast greifbar zu sein.

„Bitte … zeig dich mir …“, bat sie traurig, doch blieb ihr Wunsch unerfüllt.

Oder war dieser Gedanke nur ein Produkt ihrer Fantasie, in der Hoffnung, ihrer Einsamkeit irgendwie zu entfliehen?

Ein leiser Seufzer entwich ihrer Kehle, als sie schließlich daran dachte, dass es wohl bald an der Zeit sein musste, wieder zu erwachen und dem trüben Alltag aufs Neue entgegen zu sehen und all dem Leid, das dieser für sie bereithielt.

„Ich will nicht fort von hier …“, sagte sie betrübt, wohl wissend, dass ihr letztlich doch nichts anderes übrigbleiben würde.

Wann immer sie jenen magischen Ort in ihren Träumen aufsuchte, fühlte sie sich seltsam unbeschwert und völlig frei. Ein Gefühl, das sie in der wirklichen Welt – ihrer Welt – vermisste und Kummer und Schmerz in ihrem Herzen keimen ließ.

Plötzlich konnte sie fühlen, wie eine große Kraft in ihrem Innern erneut nach ihr zu rufen begann. Eine zerstörerische Kraft …

KAPITEL 1

Es war dunkel, als Eliya nach Hause kam, und es regnete.

Ihre langen, hellbraunen Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht und verdeckten ihr die Sicht, doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, es war gut so, denn so konnte sie die Blessuren verstecken, die ihr Gesicht zierten.

Sie zog den Hausschlüssel aus ihrer Hosentasche und öffnete vorsichtig die Tür; doch statt einzutreten und der Kälte zu entfliehen, drehte sie sich ein letztes Mal um.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie hielt entgeistert den Atem an, als sie eine dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite hinter einem Baum bemerkte. Doch statt Angst empfand sie plötzlich eine unbeschreibliche Wärme, die sogar die Kälte in ihren Gliedern vertrieb. Sie erschauderte und schüttelte den Kopf.

Als sie den Blick noch einmal in Richtung der Gestalt wandte, war diese verschwunden. Hatte sie sich die Gestalt nur eingebildet? Sie runzelte die Stirn und sah die Straße auf und ab. Nichts.

Langsam ging sie schließlich ins Haus und schloss die Tür so leise sie konnte. Sie wollte keinen Laut von sich geben oder gar ihre Anwesenheit verraten, denn ihren Eltern war es in der Zwischenzeit egal geworden, ob und wann sie nach Hause kam. Manchmal sogar glaubte sie, dass es ihnen lieber war, sie würde gar nicht zurückkehren.

Diese Erkenntnis trieb ihr jedes Mal aufs Neue die Tränen in die Augen.

Und doch flüsterte sie Tag ein Tag aus – wie auch heute – ein leises Hallo!, wenn sie das Haus betrat, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort; dabei war sie sich sicher, dass man sie gehört hatte, denn für einen Moment war Stille eingekehrt im Wohnzimmer. Keine zwei Sekunden später wurde das Gespräch allerdings in weitaus lauterem Ton fortgesetzt, um alle Geräusche außerhalb des Zimmers zu übertönen.

Das unsägliche Gefühl der Einsamkeit, das sich in ihrem Herzen breitmachte, wurde von Tag zu Tag stärker, und es schien nichts auf der Welt zu geben, das ihr diese Einsamkeit nehmen konnte.

‚Ich hätte wissen müssen, dass es eine Falle ist …‘, dachte sie schließlich resigniert und ging die Stufen hinauf auf ihr Zimmer.

Sie stellte sich vor ihren Spiegel und strich sich die feuchten, langen Haare aus dem Gesicht.

Ein langer Schnitt zog sich über die linke Hälfte ihres Gesichts bis hinunter zum Kinn. Es blutete zwar nicht mehr, doch konnte sie noch immer das Pochen ihres Herzens in dieser Wunde spüren.

Sie strich mit ihrer linken Hand über die Wunde und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz diese bei ihrer Berührung durchfuhr.

„Dummkopf“, murmelte sie leise. Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen, das mehr einer Grimasse glich. Dann kamen ihr die Tränen.

„Ich weine? Wieso?“, fragte sie ihr Spiegelbild verwundert und blinzelte, doch eine Antwort erhielt sie nicht. Also starrte sie schweigend das Mädchen im Spiegel an, das nicht daran zu denken schien, die Tränen aufhalten zu wollen; es ließ sie einfach gewähren.

Eliya schüttelte den Kopf.

„Was soll das? Tränen machen keinen Unterschied, das weißt du doch! Hör endlich auf!“, befahl sie ihrem Spiegelbild, doch statt zu gehorchen, weinte es nur noch mehr.

Etwas Glänzendes stach ihr plötzlich ins Auge und sie wandte den Blick von dem Mädchen im Spiegel ab, um zu sehen, was es war, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Spiegel lag ein Rasiermesser.

Eliya dachte kurz nach, wie es in ihr Zimmer gelangt war.

Dann fiel es ihr wieder ein.

Es lag nun schon seit gut einer Woche an eben diesem Platz. Sie hatte es aus dem Bad ihrer Eltern mitgehen lassen, in der Hoffnung, ihr Vater würde es nicht bemerken. Immerhin wollte er sich einen Bart wachsen lassen, da brauchte er es nicht mehr.

Und ihr Vater hatte es wirklich nicht bemerkt, aber zu allem Übel ihre Mutter. Zu ihrer Überraschung hatte ihr Vater allerdings gesagt, er habe es weggeworfen und ihre Mutter hatte es dabei belassen.

‚Ist ja auch egal …‘, dachte sie traurig und griff nach dem Rasiermesser. Ein seltsamer Gedanke machte sich in ihr breit.

„Es wäre gleich vorbei …“, flüsterte sie kaum hörbar und ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie überlegte, wie es sich wohl anfühlen musste zu sterben. „Aber ich habe Angst … große Angst …“

Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen, als sie langsam und vorsichtig über das scharfe Ende der Klinge strich.

„Was kommt danach? Endet alles oder beginnt der Schmerz von Neuem … das wüsste ich zu gerne …“ Sie führte das Rasiermesser an ihr Handgelenk, zuckte dann aber erschrocken zurück. „Ich kann nicht …“, murmelte sie von sich selbst enttäuscht und fing wieder an zu weinen.

Sie ließ das Rasiermesser fallen und zuckte, als es mit einem lauten Kliiing! zu Boden fiel, zusammen.

Erschrocken hielt sie den Atem an und wagte es nicht, sich zu rühren.

Doch vor ihrem Zimmer blieb es still. Keine schnellen Schritte, keine besorgten Seufzer, nichts.

„Was habe ich auch erwartet?“, flüsterte sie mit einem gequälten Lachen. „Dass Ma gerannt kommt und mich besorgt ansieht?“ Eliya schüttelte den Kopf und seufzte resigniert. ‚Was denke ich nur? Sie kann unmöglich etwas gehört haben! … Doch selbst wenn … würde es sie überhaupt kümmern?‘

Traurig kniete sie neben dem Rasiermesser nieder und betrachtete seine im Licht glänzende Klinge.

Da war etwas Rotes an der Spitze der Klinge.

Neugierig hob sie das Rasiermesser auf und betrachtete es eingehend. Erst jetzt bemerkte sie die kleinen roten Tropfen, die neben dem Messer auf dem Boden waren.

Woher kamen sie?

‚Das ist doch … Blut!‘, dachte sie überrascht und ihr Blick glitt zu ihrem Arm.

Ein dünner, roter Strich zog sich über ihren Unterarm. Blut quoll hervor.

Ihr Atem stockte. „Aber wie kann das sein?“, fragte sie sich verwundert. „Ich habe doch gar nichts gespürt … nichts … keinen Schmerz. Seltsam …“ Vorsichtig strich sie über die Wunde und betrachtete sie eingehend. Das Blut, das der Wunde entwich, war noch immer warm und ein schwacher metallischer Geruch breitete sich aus. ‚So riecht also mein Blut … Das ist mir vorher noch nie aufgefallen, dabei ist es doch schon so viele Male passiert … so viele Wunden, so viele Schmerzen … und nie habe ich es bemerkt?‘

Eliya kniff die Augen zusammen und zuckte schließlich die Schultern. Wieder blickte sie das Rasiermesser in ihrer Hand an und runzelte die Stirn. Dann wischte das Blut vom Boden weg und tupfte mit einem sauberen Tuch vorsichtig über den Schnitt an ihrem Arm.

Als es Augenblicke später aufhörte zu bluten, wandte sie sich wieder dem Rasiermesser zu und säuberte die Klinge.

Sie beschloss, es zu behalten und versteckte es an einem sicheren Ort. Vielleicht konnte es ihr noch einmal nützlich sein.

Dann entledigte sie sich ihrer Kleidung, die, wie sie erst jetzt bemerkte, völlig durchnässt war. Ihr selbst war seltsamerweise überhaupt nicht kalt, auch wenn sich ihre Haut eisig anfühlte.

Lange war sie nicht mehr so froh gewesen, ein eigenes Bad in ihrem Zimmer zu haben und ganz für sich allein zu sein.

Sie stieg in die kleine Dusche und drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf.

Als das kalte Wasser endlich warm und schließlich heiß wurde, durchfloss sie ein Gefühl der tiefen Ruhe und des Friedens. Ein Gefühl, das ihr im Laufe der Zeit fremd geworden war.

Eliya duschte lange und ausgiebig, um die Strapazen des vergangenen Tages so gut es ging zu vergessen; und für einen Moment gelang ihr dies auch. Doch sobald sie sich im Spiegel betrachtete, war alles wieder da, denn die Wunde, die ihr Gesicht zierte, erinnerte sie aufs Neue daran, was man ihr angetan hatte.

Und sie würde sich ein Leben lang daran erinnern müssen, denn eine Narbe würde zurückbleiben, da war sie sich sicher.

Gedankenverloren verließ sie die Dusche wieder, trocknete sich ab und zog ihren Schlafanzug über.

Ehe sie allerdings in ihr warmes, weiches Bett kroch, warf sie einen letzten Blick nach draußen.

Und da war sie wieder, diese Gestalt hinter dem Baum und ihr Blick schien Eliyas genau zu treffen. Sie zuckte erschrocken zusammen und wich zurück.

Dass man sie immer noch verfolgte und beobachtete, machte ihr Angst. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie schluckte hart.

Sie zog die Vorhänge zu und legte sich aufs Bett. Tränen rannen ihre Wangen hinab und sie schluchzte leise.

War es ihr denn nicht vergönnt in Frieden zu leben?

Da war ein Licht. Ein helles, warmes Licht.

Eliya öffnete die Augen und blickte in das wunderschöne Gesicht eines Mannes. Er lächelte sie an und flüsterte etwas, das sie nicht hören konnte.

Der Mann schien von innen heraus zu leuchten und das Licht, das ihn umgab, strahlte warm und hell, selbst in die dunkelsten Winkel ihres Herzens. Alles war erleuchtet und von Licht durchflutet.

Eliya setzte sich auf und betrachtete den Mann eingehender.

Er hatte Flügel. Schneeweiße Flügel, die ebenso strahlten wie der Mann selbst. Seine langen goldenen Haare tanzten im sanften Wind, von dem Eliya nicht wusste, woher er kam. Sie hatte ihr Fenster geschlossen.

„Bist du … ein Engel?“, fragte Eliya zögerlich und genoss das wohlig warme Gefühl, das seine Gegenwart in ihr auslöste.

Wieder flüsterte der Mann etwas und wieder konnte sie seine Worte nicht hören.

„Ich … ich kann dich nicht verstehen …“, murmelte sie traurig und senkte schließlich betrübt den Blick. Tränen brannten in ihren Augen und sie wollte nicht, dass er sie sah.

Der Mann setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Dort, wo er sie berührte, durchströmte sie eine unglaubliche Wärme und Frieden machte sich in ihr breit. Die Tränen verschwanden und einen Moment später wusste sie nicht mehr, warum sie geweint hatte.

Und plötzlich konnte sie ihn hören. Es waren keine Worte, mit denen er sprach, es war sein Herz, das zu dem ihren sprach.

Jetzt, da sie sich wieder beruhigt hatte und der Aufruhr in ihrem Herzen zur Ruhe gekommen war, konnte sie ihn verstehen und wieder fragte sie: „Bist du ein Engel?“, doch statt zu antworten, lächelte der Mann nur und strich über ihr Gesicht.

Einen Moment später konnte Eliya fühlen, wie sich etwas an ihr veränderte. Die Wärme, die seine Berührung mit sich brachte, ließ sie erschaudern und gab ihr gleichzeitig das Gefühl, das sie all die Jahre vermisst hatte: Geborgenheit.

Sie wollte diesen Moment für immer festhalten und hoffte inständig, die Zeit würde stehen bleiben. Doch ehe sie sich versah, war der Engel verschwunden und eine unglaubliche Müdigkeit legte sich über sie …

Am nächsten Morgen war alles wieder beim Alten.

Eliya stand im Morgengrauen auf und bereitete sich auf die Schule vor.

Ihre Hausaufgaben erledigte sie grundsätzlich erst am Morgen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als in aller Frühe aufzustehen.

Als sie diese beendet hatte, blickte sie argwöhnisch aus dem Fenster. Etwas sagte ihr, dass sie beobachtet wurde.

Sie blickte zu dem Baum hinüber, an dem sie jene dunkle Gestalt am vergangenen Abend gesehen hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand zu sehen war. Das Gefühl beobachtet zu werden, wurde sie allerdings nicht los und sie runzelte nachdenklich die Stirn. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich?

Ein wenig nervös ging sie schließlich ins Bad, um sich zu waschen.

Als ihr Blick allerdings in den Spiegel ging, zuckte sie erschrocken zusammen und ein erstickter Laut entwich ihrer Kehle.

Die Wunde, die man ihr am vergangenen Abend zugefügt hatte, war verschwunden und nichts schien darauf hinzudeuten, dass sie jemals verletzt worden war.

Sie hielt den Atem an. „Was … wie kann das sein? Ich hab‘ mir das doch nicht alles nur eingebildet? Aber der Schmerz fühlte sich so echt an … es hat weh getan.“ Langsam strich sie sich über die Wange.

Eliyas Herz schlug höher und die Angst, als ihr der Gedanke, verrückt zu werden in den Kopf schoss, ließ sie erschaudern. „Was passiert mit mir …“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Lag es an ihrer kaputten Familie und ihrer Umgebung, dass ihre Wahrnehmung anfing, ihr nun Streiche zu spielen?

Es dauerte eine Zeit lang, bis Eliya wieder klar denken konnte und sich einigermaßen beruhigt hatte.

Und dann erinnerte sie sich an den Traum.

„War dieser Engel Wirklichkeit? Hat er mich geheilt?“ Sie versuchte sich an sein Gesicht zu erinnern, aber alles, was ihr in den Sinn kam, war das warme Licht, das von ihm ausging und das Gefühl der Geborgenheit. Es war lange her, dass Eliya dieses Gefühl verspürt hatte und beinahe hätte sie vergessen, wie es sich anfühlte.

Dieser Engel hatte ihr tatsächlich das Gefühl gegeben, geliebt zu werden und eine sanfte Röte legte sich auf ihre Wangen.

Sie dachte wieder und wieder darüber nach, während sie sich wusch und sich die Zähne putzte. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass ihr Traum doch real gewesen sein musste, auch wenn sie es immer noch nicht glauben konnte. Eliya konnte nicht glauben, dass es so etwas wie Engel wirklich gab und schon gar nicht, dass es einen Gott gab. Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen, als sie daran dachte. Hatte sie sich geirrt?

Sie seufzte schließlich und starrte ihr Spiegelbild an, als sie sich das Gesicht abtrocknete.

‚Ich möchte ihn wiedersehen …‘, dachte sie dann und ein verträumtes Lächeln ging über ihre Lippen.

Sie wandte den Blick von ihrem Spiegelbild ab und sah zu der kleinen runden Uhr hinüber, die an ihrer Wand hing und leise tickend die Sekunden zählte. Allmählich wurde es Zeit zu gehen, bemerkte sie.

Als sie ihr Zimmer wieder betrat, um sich anzuziehen, warf sie noch einmal einen forschenden Blick nach draußen und wieder stellte sie erleichtert fest, dass niemand zu sehen war.

Eliya packte ihre Schulsachen zusammen und verließ das Zimmer.

In der Küche richtete sie sich noch schnell ein Brot, das sie auf dem Schulweg essen wollte.

Ihre Eltern schienen noch zu schlafen, als sie das Haus verließ.

Wie immer warf sie einen traurigen Blick zurück. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass ihre Mutter des Morgens an der Haustüre stand und sie verabschiedete.

Unterwegs begegnete sie ihren Klassenkameraden, die sich, wie jeden Morgen, am Supermarkt verabredet hatten, um den Schulweg gemeinsam zu gehen. So sehr sie auch dazugehören wollte, es blieb ihr verwehrt.

Ein einziges Mal hatte sie es versucht und sich der kleinen Gruppe genähert, doch mehr als ein abwertendes Schnauben und die Worte: Geh weg, so was wie dich brauchen wir hier nicht!, hatten sie davon abgehalten, es wieder zu versuchen.

Es stimmte, sie war anders als ihre Klassenkameraden – anders als alle, die sie kannte – und das wusste sie, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was es war, das sie von ihnen unterschied. Sie wusste nur, dass es da war und sie auf andere irgendwie abstoßend wirken ließ.

Als die kleine Gruppe sie bemerkte, wandten sie sich ab und begannen leise miteinander zu tuscheln.

Eliya war diese Reaktion bereits gewohnt, trotzdem traf es sie jedes Mal aufs Neue und sie seufzte enttäuscht.

Und wieder fragte sie sich, was es war, das sie so sehr von ihnen unterschied. Was es war, das sie dazu veranlasste, sie zu ignorieren und zu demütigen. Den Mut, sie danach zu fragen, hatte sie aber auch nicht.

Sie warf einen letzten traurigen Blick zurück, als sie die Gruppe passierte, und setzte ihren Weg dann alleine in Richtung Schule fort.

Wenn sie so darüber nachdachte, brauchte sie niemanden. Sie war ihr ganzes Leben lang allein gewesen und hatte es überlebt, warum also nicht auch jetzt? Doch etwas veränderte sich in ihr, sie konnte es fühlen.

‚Was soll‘s, ich kann mein Leben sehr gut alleine leben. Ich brauche niemanden!‘, dachte sie trotzig und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Einen Augenblick später ließ sie allerdings den Kopf wieder hängen und blinzelte sich die Tränen aus den Augen, denn tief in ihrem Unterbewusstsein wusste sie, dass sie es nicht konnte.

Der Schrei nach Liebe und Geborgenheit war all die Jahre auf taube Ohren gestoßen und Eliya hatte ihn letztlich in die hintersten Winkel ihrer Seele verbannt. Doch er war noch immer da, und nach dem wundersamen Ereignis vergangene Nacht war er erneut an die Oberfläche getrieben.

Eliya blieb stehen und blickte gen Himmel.

Gedankenverloren sah sie die wenigen Wolken an, die über ihren Kopf hinweg zogen, und seufzte innerlich.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und sie wusste, sie musste sich beeilen.

„Aber wozu eigentlich …“, murmelte sie dann betrübt und kam wieder zum Stehen. „Es macht ja doch keinen Unterschied, ob ich hingehe oder nicht …“

„Dürfte ich bitte mal vorbei?“, fragte eine genervt klingende Frauenstimme vor ihr und riss Eliya aus ihren Gedankengängen.

Eliya sah sie verwundert an.

Die Frau trug ein Kind auf ihren Armen, das sie fröhlich anlächelte. Als Eliya allerdings das Lächeln erwidern wollte, drehte die Frau den Kopf des Kindes zur Seite, so dass es sie nicht mehr sehen konnte.

„Also? Darf ich nun vorbei?“

Erst jetzt bemerkte Eliya, dass sie mitten auf dem Gehweg stand und zu ihrer Rechten ein dunkelblaues Auto parkte, das den Rest des Gehwegs blockierte.

„Oh, ja. Tut mir leid.“ Eliya lächelte verlegen und ging einige Schritte zurück, um den Weg freizumachen. „Bitte.“

„Tut mir wirklich leid …“, flüsterte sie noch einmal, als die Frau sich in Bewegung setzte.

„Statt in Gedanken zu sein, solltest du lieber auf die Menschen um dich herum achten und ihnen nicht im Weg sein“, meinte die Frau in einem scharfen Ton und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei.

Die Frau würdigte sie keines Blickes mehr und auch kein Wort des Dankes kam über ihre Lippen.

Eliya sah ihr traurig nach.

Das Kind erhaschte noch einen letzten Blick auf Eliya und wieder lächelte es voller Freude.

‚Danke …‘, dachte sie mit Tränen in den Augen. Warum schenkte ihr dieses kleine Kind ein Lächeln, wo sie doch alle anderen so abwertend behandelten?

Die Schulglocke riss Eliya schließlich aus ihren düsteren Gedanken.

Sie hielt erschrocken den Atem an und riss die Augen weit auf. Für einen Moment schien es ihr, als würde die Zeit stehen bleiben, bis sie schließlich realisierte, was die Schulglocke zu bedeuten hatte. „Verdammt, ich werde schon wieder zu spät kommen!“, rief sie entgeistert und rannte los, wusste allerdings, dass sie es niemals rechtzeitig schaffen würde.

Als sie das Schulgebäude endlich betrat, hatte der Unterricht bereits begonnen.

‚Verdammt …‘, dachte sie verzweifelt. ‚Mein Lehrer wird mich lynchen, wenn ich jetzt ins Klassenzimmer platze. Und die anderen werden wieder auf mir rumhacken …‘

Eliya blieb einige Minuten vor ihrer Klassenzimmertüre stehen und lauschte dem Unterricht. Sie wusste nicht, ob sie nun anklopfen oder einfach warten sollte, bis die Stunde zu Ende war.

„Am besten, ich gehe wieder. Bringt ja doch nichts …“

Gerade als sie sich zum Gehen wenden wollte, öffnete sich die Tür und ließ Eliya erschrocken nach Luft schnappen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Du bist schon wieder zu spät?“

Eliya blieb wie angewurzelt stehen und es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie sich schließlich der Person zuwandte, die sie angesprochen hatte.

„Ehm … ja … t-tut mir leid …“, stammelte sie und senkte den Kopf. „Na, schon gut. Jetzt komm schon rein, bevor ich‘s mir anders überlege.“ Er zwinkerte und trat einen Schritt zur Seite, so dass sie ihn passieren konnte. „D-Danke … Herr K-Kira.“

Eliya huschte mit hochrotem Kopf an ihm vorbei ins Klassenzimmer und setzte sich eilends auf ihren Platz.

Von ihren Mitschülern erntete sie nur kalte Blicke, als sich diese zu ihr umwandten, um zu zeigen, dass sie noch immer nicht willkommen war.

„Konntest du nicht früher kommen?“, fauchte ihre Sitznachbarin sie so leise an, dass es außer ihr keiner hören konnte. „Wegen dir hab‘ ich die Hausaufgaben nicht abschreiben können! Was glaubst du eigentlich, warum ich sonst neben dir sitze? Ich kann dich nicht ausstehen!“

Eliya senkte traurig den Kopf und wandte dann den Blick aus dem Fenster.

Es war immer dasselbe. Sie wusste sehr wohl, dass Nelli sich nur deshalb neben sie gesetzt hatte und trotzdem freute es Eliya jedes Mal aufs Neue, wenn sie ihren Klassenkameraden helfen konnte. Auch wenn es ihr niemand dankte.

Ein leiser Seufzer entwich ihren Lippen.

Je mehr sie sich wünschte dazuzugehören, desto mehr schien alles ins Gegenteil umzuschlagen. Manchmal glaubte Eliya sogar, dass man sie mit einem Fluch belegt hatte, der es ihr unmöglich machte, jemals von irgendeinem Menschen geliebt zu werden.

Oder hatte sie in einem früheren Leben etwas getan, dass sie dies als Strafe erdulden musste?

‚Wenn … wenn ich das nur wüsste, wäre alles einfacher zu ertragen … aber vielleicht gehört auch das zu meiner Strafe? Es muss einen Grund für all das geben …‘

Aber würde Gott die Menschen in einem späteren Leben für vergangene Dinge bestrafen?

Je mehr Eliya darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass Gott so etwas nicht tun würde. Immerhin erzählte man ihnen doch im Religionsunterricht, dass Gott in unendlicher Gnade über sie richten würde. Aber was wusste ihr Lehrer schon davon. Wenn sie ehrlich war, konnte doch kein Mensch wissen, was Gott nun wirklich für ein Wesen war und ob er überhaupt existierte.

‚Genau, Gott würde diese Ungerechtigkeiten und Kriege auf dieser Erde niemals gutheißen oder gar dulden …‘, dachte Eliya und nickte bestätigend. ‚Also gibt es keinen Gott. Da ist nichts, nur wir, die wir uns gegenseitig vernichten und verzweifelt an einen Glauben klammern, um unser Tun zu rechtfertigen. Und wenn wir sterben, verschwinden wir einfach. Wir hören auf zu existieren.‘

„Ja … als hätte es einen nie gegeben …“

„Wenn du schon zu spät kommst, dann pass wenigstens auf!“, fuhr Herr Kira sie an und ließ sie erschrocken zusammenzucken. „Deine Gedankengänge kannst du dir für die Pausen aufheben.“

Eliya nickte schuldbewusst und hielt den Kopf gesenkt.

Der Unterricht war so langweilig, dass sie es kaum schaffte, den Worten ihres Lehrers zu folgen, geschweige denn, sie sich zu merken. Im Moment gab es so viele Dinge, die sie beschäftigten; über die sie nachdenken wollte.

Als die Schulglocke zum Ende des Unterrichts läutete und sich Eliya langsam daran machte, ihre Bücher zusammenzupacken, baute sich plötzlich eine Gestalt vor ihr auf.

Eliya legte ihre Schulbücher fein säuberlich übereinander gestapelt vor sich auf den Tisch. Erst jetzt sah sie auf.

„Was bist du, ein Monster?“, fragte sie das Mädchen wütend, das sich vor ihr aufgebaut hatte. Hinter ihr hatte sich ihre gesamte Clique in einem Kreis um die beiden aufgestellt, um das nun folgende Schauspiel zur Genüge verfolgen zu können.

Leises Gelächter war zu hören, doch Eliya machte keine Anstalten, etwas zu erwidern.

Sie wusste, worauf sie anspielen wollte, denn sie war es gewesen, die sie am vergangenen Tag so zugerichtet hatte.

„Ich rede mir dir!“, rief sie nun etwas lauter und schlug wütend mit der Handfläche auf den Tisch.

„Ich habe dir nichts zu sagen, Liana“, meinte Eliya ruhig und wandte sich wieder ihren Büchern zu, die sie nun in ihre Tasche steckte.

„Was fällt dir eigentlich ein?“, fuhr diese sie zornig an. „Was hast du mit deinem Gesicht gemacht? Ich hab‘ dich entstellt, das weiß ich ganz genau!“ Ein Hauch von Furcht schwang in Lianas Stimme mit.

Eliya lächelte und lachte schließlich laut auf, woraufhin Liana erschrocken zurückwich.

„Ich bin eine Hexe und wenn du nicht aufpasst, verwandle ich dich in einen Frosch!“, rief sie mit funkelnden Augen.

Sie erhob sich, nahm ihre Tasche und bahnte sich einen Weg durch die Mädchen, die ihr eiligst versuchten, aus dem Weg zu gehen.

Mit einem triumphierenden Lächeln verließ Eliya das Klassenzimmer, doch wusste sie, dass sie einen großen Fehler begangen hatte, den sie in naher Zukunft würde büßen müssen. Ein leiser Seufzer entrann ihrer Kehle, als sie daran dachte, welche Gemeinheiten sie nun im Gegenzug wieder über sich ergehen lassen musste.

Sie blieb einen Moment an der Schwelle der Außentür stehen und blickte in den Himmel, ehe sie sich auf den Heimweg machte.

Es wurde Frühling, bemerkte Eliya, denn die Blüten der Bäume begannen allmählich aus ihren Knospen hervorzubrechen.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und sie beschloss, einen Umweg zu gehen, der sie durch den nahen Wald führen würde.

Eliya fühlte sich von der Natur angezogen, seit sie denken konnte.

Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas oder jemand, den sie nicht sehen konnte, sie zu rufen schien und jedes Mal, wenn sie jenem Ruf Folge leistete, fand sie sich in den Wäldern außerhalb ihrer Stadt wieder und der Ruf verstummte.

Manchmal fragte sie sich, ob ihr Verstand ihr nur einen Streich spielte, um so die Einsamkeit in ihrem Herzen zu vertreiben.

Sie hatte niemanden. Niemanden an ihrer Seite, dem sie vertrauen konnte; niemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte oder der ihr tröstende Worte spendete.

Sie war allein.

Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen.

„Warum zerbreche ich mir darüber immer wieder den Kopf?“, murmelte sie kaum hörbar und runzelte die Stirn. „Ich sollte mich lieber freuen und die Momente des Friedens genießen …“

Sie nickte, um ihre Worte zu bekräftigen und setzte ihren Weg durch den blühenden und nach Blüten duftenden Wald fort.

Das leise Rauschen der Blätter im Wind und das helle Sonnenlicht, das zwischen den dichten Bäumen vereinzelt den Erdboden erreichte, gaben Eliya das Gefühl, in eine andere Welt abzutauchen. Der sich ihr bietende Anblick hatte etwas Magisches an sich, fand sie und je mehr sich ihre Gedanken bei diesem wundervollen Bild verloren, umso befreiter fühlte sie sich. Sie sog die süße Frühlingsluft tief in ihre Lungen und atmete sie langsam wieder aus.

Ihr Blick ging gen Himmel und ein erfülltes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Langsam drehte sie sich im Kreis und genoss das unbeschreiblich befreiende Gefühl, das sie durchströmte.

‚Ich bin zu Hause‘, dachte sie verträumt und schloss die Augen.

Kein anderer Ort, den sie kannte, gab ihr so sehr das Gefühl willkommen zu sein als dieser Wald und sie wünschte, ewig dort verweilen zu können. Fern der Zivilisation, fern allen Kummers.

Doch als es schließlich zu dämmern begann, beschloss Eliya schweren Herzens nach Hause zu gehen. Sie hatte ja doch keine andere Wahl. Wohin sollte sie sonst gehen?

Sie schluckte schwer und ließ den Kopf hängen.

Je mehr sie an ihre Zukunft dachte, umso weniger wusste sie, wie sie in dieser ihr feindlich gesinnten Welt alleine überleben sollte. Sie dachte angestrengt nach, doch dann schüttelte sie nur den Kopf und lächelte gequält. Jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken.

Die Sonne verschwand langsam hinter dem fernen Horizont und schickte einen letzten Lichtstrahl in ihre Richtung. Vor ihr stand das kleine, weiße Haus mit dem bunten Blumenmeer in seinem Vorgarten, in dem sie mit ihren Eltern lebte und das darauf wartete, dass sie näherkam und schließlich eintrat. Auch wenn ihre Eltern sie nie willkommen hießen oder verabschiedeten, wenn sie des morgens zur Schule ging, das kleine Häuschen tat es, spürte Eliya.

Wie jeden Tag öffnete sie also die Haustür, warf einen letzten Blick die Straße entlang, ehe sie eintrat und schloss die Tür dann so leise sie konnte.

Sie horchte auf und runzelte die Stirn. Zu ihrer Überraschung schien niemand zu Hause zu sein.

Neugierig schritt Eliya Richtung Wohnzimmer. Ihre Schultasche ließ sie am Treppenabsatz zurück.

Vorsichtig spähte sie durch den schmalen Türschlitz ins Wohnzimmer hinein.

Nichts rührte sich und niemand war zu sehen. Eliya legte fragend den Kopf schief. Dann öffnete sie die Tür und trat ein.

Wo waren ihre Eltern, die sonst jeden Abend, wenn sie nach Hause kam, im Wohnzimmer saßen und sich unterhielten, abgeblieben?

Sie setzte ihre Suche fort.

In der Küche angelangt, fand sie einen kleinen Zettel auf dem Tisch vor und sie blinzelte verwundert.

Wir sind für ein paar Tage verreist.

Sieh zu, dass du kein Chaos anrichtest und alles in Ordnung hältst.

Eliya hob den Zettel auf und drehte ihn um, in der Hoffnung noch etwas darauf zu finden.

Nichts.

Enttäuscht ließ sie ihn zurück auf den Tisch gleiten und verließ die Küche. Der Hunger, der sie eigentlich nach Hause getrieben hatte, war verflogen und einer tiefen Traurigkeit gewichen.

Langsam stapfte sie die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Tränen brannten in ihren Augen.

Sie warf ihre Schultasche achtlos in die Ecke und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ein Zittern schüttelte ihren Körper.

‚Eigentlich sollte ich froh sein, alleine zu Hause zu sein … und doch … ich fühle mich einsamer als je zuvor …‘

Ein stechender Schmerz durchzuckte ihr Innerstes. Sie rollte sich zusammen und schluchzte leise.

Eliya wünschte sich an einen fernen Ort und hoffte, ihrer Einsamkeit und dem Schmerz dort entfliehen zu können.

Eine tiefe Müdigkeit brach plötzlich über sie herein und trug ihre aufgewühlten Gedanken mit sich in eine Welt, die ihr nur allzu vertraut war …

In der Ferne konnte Eliya eine leuchtend helle Gestalt erkennen.

Das Licht und die unbeschreibliche Wärme, die von ihr ausgingen, jagten ihr einen Schauder über den Rücken.

„Du bist erneut in diese Welt gekommen, um deiner Einsamkeit zu entfliehen …“, murmelte die Gestalt traurig und wandte sich ihr zu. Langsam kam sie näher.

Jetzt erkannte Eliya einen hochgewachsenen Mann. Sein langes, dunkles Haar wehte sanft im Wind. Das Licht, das ihn umgab, verblasste allmählich, je näher er ihr kam.

Ein sanftes Lächeln glitt über sein wunderschönes Gesicht und Eliya konnte nicht anders, als dieses zu erwidern. Eine tiefe Woge der Ruhe überkam sie und durchströmte ihren Körper. Ihre Gedanken, die noch immer aufgewühlt und völlig durcheinander durch ihren Kopf jagten, kamen allmählich zur Ruhe.

„Wer bist du?“, fragte sie fasziniert und strich sich nervös das Haar aus dem Gesicht. Sie konnte nicht glauben, dass der Anblick dieses Mannes allein genügte, um sie zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen.

Eliya sah sich um und mit einem Mal wurde ihr klar, wo sie sich befand.

Sie träumte. Sie träumte und war wieder an jenen wundervollen Ort gelangt, den sie schon so viele Male zuvor besucht hatte.

„Ich bin wieder hier …“, murmelte sie erstaunt und sah erneut zu dem Mann hinüber.

„Du bist es, dessen Präsenz ich all die Zeit in meiner Nähe verspürt habe, nicht wahr?“, fragte Eliya erstaunt. „Warum zeigst du dich mir erst jetzt?“ Sie runzelte die Stirn.

Es war ihr Traum. Sie hatte diesen Mann erschaffen. Es lag also an ihr, dass er sich ihr nie zuvor gezeigt hatte. Doch warum hatte sie ihm nun, nach so langer Zeit, ein Gesicht gegeben?

‚Ich bin alleine … das ist der Grund. Niemand ist an meiner Seite; niemand mit dem ich reden kann …‘, schoss es ihr dann durch den Kopf und sie setzte ein gequält wirkendes Lächeln auf.

„Ich bin Raphael“, stellte sich der Mann schließlich vor. „Ich kann den Schmerz sehen, der in deiner Seele wohnt und der dich immer wieder an diesen Ort treibt. Doch dürftest du nicht hier sein …“ Er hielt inne und sah traurig zu Boden.

‚Du dürfest gar nicht existieren‘, dachte er betrübt und seufzte innerlich, als er zurückdachte. Es war eine Ewigkeit vergangen, seit er zuletzt auf eine Nephilim getroffen war.

Um seine Welt zu schützen, musste er verhindern, dass Eliya sie erneut betrat. Es schmerzte ihn zutiefst, ihre Seele einem anderen zu ihrer Heilung zu überlassen, wo doch er, Raphael, der Engel der Heilung war; doch man hatte ihm diesen Auftrag nicht erteilt.

Er erweiterte seine Sinne und begann Eliyas Gefühle zu erforschen.

Tief in ihrem Inneren konnte er ihre Verzweiflung spüren und ebenso den Wunsch nach einer besseren Welt.

Doch da war noch etwas anderes.

Raphael kniff die Augen für einen Moment zusammen, als er erkannte, dass ihr Herz nach der Vernichtung allen Lebens schrie, in der Hoffnung auf eine neue, bessere Welt, die dieser folgen mochte.

Ein gequältes Lächeln ging über seine Lippen, als ihm klar wurde, dass sie kurz davorstand, die Macht in ihrem Innern zu erwecken und erkennen würde, was sie wirklich war.

„Geh zurück in deine Welt … dein Leid wird bald ein Ende haben. Ich gebe dir mein Wort“, meinte er dann traurig und kämpfte gegen den Drang an, ihr selbst zu erzählen, wer oder was sie war.

Doch durfte sie dies nie erfahren. Die Macht, die in ihrem Innern wohnte, überstieg die eines reinblütigen Engels um ein Vielfaches und das machte Raphael Angst. Niemand würde sie aufhalten können, sollte sie ihrem Wunsch nachgeben und die Vernichtung allen Lebens erstreben.

Er senkte den Blick und dachte nach. Nur sie allein vermochte es, ihre Magie zu bändigen.

Raphael konnte nur darauf hoffen, dass es gelingen würde, sie wieder auf die Pfade des Lichts zu führen und dass die Kraft in ihrem Herzen verschlossen blieb.

„Warum …“, flüsterte Eliya kaum hörbar und sah ihn verständnislos an. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und wich einen Schritt zurück. Durfte sie selbst in ihren Träumen keinen Frieden finden?

„Warum willst du mir diese Welt, die ich …“ Sie blinzelte und brach mitten im Satz ab, als ihr etwas klar wurde.

Obwohl sie all die Zeit gewusst hatte, dass dieser Ort real sein musste, so versuchte sie doch verzweifelt daran festzuhalten, eine Traumwelt vor sich zu haben. Eine Welt, die sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gestalten konnte; in die sie fliehen konnte, wenn sie keinen anderen Ausweg sah.

„Also ist es wahr …“, murmelte sie dann enttäuscht und trat einen weiteren Schritt zurück. Ihr Herz schmerzte und das Gefühl, etwas Mächtiges in ihrem Innern zu beherbergen, das nach draußen gelangen wollte, jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken.

„Du darfst ihr nicht nachgeben“, bemerkte Raphael ernst und holte Eliya wieder in die Realität zurück. „Du würdest uns alle vernichten und das Ende allen Lebens heraufbeschwören.“

„Wovon sprichst du?“, fragte sie ängstlich.

Sie konnte fühlen, dass sie die Kraft in ihrem Herzen nicht würde kontrollieren können, wenn sie sie freisetzte und das machte ihr große Angst. Aber was war das für eine Kraft in ihrem Innern? Woher kam sie?

Eliya hielt den Atem an. Sie wollte die Welt nicht vernichten, wie Raphael es gesagt hatte und sie schluckte hart, als ihr Blick den seinen traf und sie den Schmerz in ihm erkennen konnte, den sie selbst tief in ihrem Innern fühlte. Es schien ihr fast so, als besaß er die Fähigkeit, ihre tiefsten, innersten Gefühle nach außen zu kehren.

„Vergib mir …“, bat Raphael mit einem schmerzverzerrten Lächeln auf den Lippen und sah zu Boden. „Es ist mir nicht erlaubt, dir über deine Herkunft zu erzählen. Du dürfest nicht einmal existieren …“

Eliya sah ihn mit großen Augen an und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Du machst mir Angst“, murmelte sie schließlich mit schmerzverzerrtem Gesicht und versuchte das Zittern zu unterdrücken, das ihren Körper schüttelte, unter der Anstrengung, sich zu beherrschen und ihren kummervollen Gefühlen nicht freien Lauf zu lassen.

„Du wirst das Licht, nach dem du suchst, bald erkennen. Du bist ihm bereits begegnet. Gedulde dich noch ein wenig, ich bitte dich.“ Ein gequält wirkendes Lächeln huschte über Raphaels Gesicht und sie konnte spüren, dass ihm ihr Wohlergehen sehr am Herzen lag. Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, doch mehr als eine unwirklich erscheinende Grimasse brachte sie nicht zustande.

Raphael streckte seine linke Hand aus und berührte sie an der Brust.

Ein seltsames Gefühl durchströmte Eliyas Körper und sie fühlte sich plötzlich unendlich leicht; fast so, als würde sie schweben. Der Kummer, der sie geplagt hatte, entwich ihrem Körper und hinterließ ein tiefes Gefühl der Ruhe.

… und sie traf eine Entscheidung.

Sie würde diese Welt nie wieder besuchen, schwor sie sich und jetzt, da sie wusste, dass sie real sein musste, fühlte sie eine neue Kraft in sich erwachen, die das Dunkle in ihrem Innern in Schach hielt. Da gab es etwas, das größer war als sie alle und ein erfülltes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

Tief in ihrem Innern hoffte sie darauf, dass sich Raphaels Worte als wahr entpuppen und das Licht wirklich bald an ihrer Seite sein würde.

Sie blinzelte und ehe sie sich versah, begann die Welt um sie herum zu verschwimmen und vermischte sich mit den Mustern und Farben ihres Zimmers.

Sie war wieder zurück. Der Morgen brach herein …

KAPITEL 2

„Ich möchte euch euren neuen Mitschüler vorstellen. Er wird ab heute zu euch gehören. Seid nett zu ihm!“ Mit diesen Worten begrüßte sie ihre Klassenlehrerin lächelnd, als sie das Klassenzimmer betrat, gefolgt von einem jungen Mann mit langem hellblondem Haar, das ihm tief im Gesicht hing und im Nacken zu einem lockeren Zopf zusammengebunden war.

„Ist der süüüüß!“, hörte man einige der Mädchen in den hinteren Reihen flüstern, die daraufhin die Köpfe zusammensteckten und sich leise kichernd miteinander unterhielten.

„Stell dich bitte vor“, forderte Frau Merani ihn fröhlich auf und bedeutete ihm, nach vorne zu treten. „Nicht so schüchtern. Sie beißen nicht und sind alle ganz nett.“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

„Guten Morgen“, begann er zögerlich und blickte schüchtern in die Runde. „Mein Name ist Caylen und ich komme von weit her. Ich hoffe, dass wir uns alle verstehen und Freunde werden.“

Er deutete eine leichte Verbeugung an und blickte dann erwartungsvoll zu Frau Merani, die daraufhin entzückt in die Hände klatschte und ihm einen Platz zuwies.

Auch sie schien mehr als angetan zu sein von ihrem neuen Schüler.

„Hallo!“, flüsterte er lächelnd, als er sich an seinem Platz niederließ und seine Sitznachbarn begrüßte.

„Auch hallo“, meinte Liana, die eine Reihe vor ihm saß, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich geb dir gleich mal einen freundschaftlichen Rat“, ihr Blick verfinsterte sich. „Nimm dich vor der da in Acht. Das ist ein Monster.“ Mit einer Handbewegung deutete sie zu Eliya hinüber, die daraufhin zusammenzuckte und traurig den Kopf hängen ließ.

Caylen folgte Lianas Blick und lächelte freudig.

„Guten Morgen!“, flüsterte er dann zu Eliya hinüber, woraufhin Liana genervt den Kopf schüttelte.

„Was bist du, ein Idiot?“

„Ruhe dahinten!“, rief nun Frau Merani ein wenig verärgert. „Ich weiß, dass du keinerlei Interesse an meinem Unterricht hegst, Liana, aber andere tun es. Heb dir das für die Pausen auf.“

„Ja, ja“, entgegnete Liana schulterzuckend und rollte mit den Augen.

„Und nun zu den Hausaufgaben. Wer von euch hat sie vergessen? Sagt es mir lieber jetzt, ich krieg es ja doch raus.“

Ein Grummeln ging durch die Klasse, als Frau Merani durch die Reihen schritt und ihre Schüler kontrollierte.

Eliya warf einen vorsichtigen Blick zu Caylen hinüber. Zu ihrer Überraschung hatte er genau dasselbe getan und lächelte sie nun fröhlich an.

Überrascht über seine Reaktion wandte sie den Blick rasch ab und errötete leicht, besann sich dann aber wieder und lächelte zurück.

Etwas war anders an ihm, fand Eliya. Er war nicht wie die anderen, das konnte sie fühlen. Etwas Reines und Unschuldiges umgab ihn und es hatte den Anschein, als würde er von innen heraus strahlen. Etwas sagte ihr, dass sie nun vielleicht endlich einmal einen Freund gefunden hatte und ihr Herz begann höher zu schlagen.

„Eliya, deine Hausaufgaben bitte.“

Eliya zuckte erschrocken zusammen, als Frau Merani sie aus ihren Gedanken riss und in die Realität zurückholte. Ein unsicheres Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

„Was? Oh ja, natürlich, tut mir leid …“, stammelte sie entschuldigend und kramte eiligst ihren Ordner hervor, dann reichte sie ihn zögerlich ihrer Lehrerin.

„Vorbildlich, wie immer“, murmelte diese schließlich lächelnd, als sie ihr Zeichen unter die Aufgaben setzte. Dann ging sie weiter.

Alle Schüler hatten, zu Frau Meranis Erstaunen, ihre Hausaufgaben erledigt, und sie wandelte stolz zu ihrem Platz zurück.

„Ich kann gar nicht sagen, wie stolz ich auf euch bin“, begann sie lächelnd und ließ sich auf der Kante ihres Tisches nieder. „Es passiert so selten, dass ihr alle eure Hausaufgaben erledigt.“ Ein freudiges Raunen ging durch die Klasse. „Aber ich weiß, dass gut ein Drittel der Klasse voneinander abgeschrieben hat.“ Sie warf einen forschenden, ernsten Blick in die Runde und musterte einzelne ihrer Schüler eingehend. „Trotz allem bin ich froh und als Belohnung werde ich euch heute keine Hausaufgaben aufgeben.“

Ein lauter Jubelsturm ging durch die Klasse, und Frau Merani musste die Stimme heben, um ihre Schüler zu beruhigen und sich Gehör zu verschaffen.

„Allerdings nur, wenn ihr euch auch benehmt und mitarbeitet!“

Keiner sagte mehr etwas dazu und Frau Merani begann mit dem eigentlichen Unterricht.

„Heute machen wir weiter mit dem Satz des Pythagoras. Wer rechnet mir Aufgabe 5 auf Seite 137 vor?“

Erwartungsvoll blickte sie in die Runde und wartete geduldig darauf, dass sich einer ihrer Schüler freiwillig meldete.

Mathematik war eines von Eliyas Lieblingsfächern.

Es beruhigte sie irgendwie, sich mit Zahlen zu beschäftigen und lenkte sie von der Realität ab. Jedoch besaß sie nicht den Mut, sich freiwillig zu melden und die Aufgabe der Klasse an der Tafel vorzurechnen, aus Angst zu versagen und dem Spott ihrer Klassenkameraden ausgesetzt zu sein.

„Keiner? Letzte Chance, sonst suche ich mir wen aus.“

„Ich mache es“, meinte Caylen dann lächelnd und erhob sich von seinem Platz. „Als Dank, dass wir keine Hausaufgaben aufbekommen.“

Frau Merani lächelte und hob die Hand, um ihre Klasse zum Schweigen zu bringen, die Caylen freudig Beifall klatschte.

Er trat nach vorne an die Tafel und begann, eine Skizze des zu berechnenden Dreiecks anzufertigen und mit den vorgegebenen Maßen zu versehen. Dann berechnete er wie verlangt die Strecken AC und BC im Dreieck, um zu beweisen, dass C einen rechten Winkel besitzen musste.

Frau Merani war begeistert und lächelte ihn entzückt an, als er ihr im Eiltempo seine Lösung präsentierte.

„Hervorragend! Nun wieder zurück auf deinen Platz und der Nächste bitte. Ein paar Aufgaben haben wir noch auf der Seite und ich hätte zu jeder gerne einen Freiwilligen.“

Doch in dem Moment läutete die Schulglocke zum Ende des Unterrichts und die Klasse atmete erleichtert auf.

„Nun gut, morgen ist auch noch ein Tag und vergesst nicht, euch um unseren Neuen zu kümmern.“ Sie zwinkerte Caylen zu und verließ dann das Klassenzimmer.

Frau Merani hatte Eliya gebeten, nach Unterrichtsende bei ihr vorbeizusehen. Also wartete sie, bis alle Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten, ehe sie in Richtung Lehrerzimmer davonschritt.

Eliya war neugierig, was sie wohl mit ihr zu besprechen hatte, denn sie hatte nichts Falsches getan, da war sie sich sicher.

Vorsichtig und leise klopfte sie an die Tür und errötete leicht, als das dumpfe Echo ihres Anklopfens von den kargen Wänden widerhallte. Sie hielt den Atem an.

Es dauerte einen Moment, ehe sich etwas rührte, dann öffnete jemand die Tür und bat sie herein.

Verwundert trat sie ein und sah sich um.

Zu ihrer Überraschung hatten sich einige ihrer Lehrer versammelt und schienen sie bereits erwartet zu haben.

Eliya runzelte die Stirn. Etwas schien seltsam.

„Ist … Frau Merani da?“, fragte sie dann zögerlich und sah sich nervös im Lehrerzimmer um.

Ein mulmiges Gefühl machte sich nun in ihrer Magengegend breit und irgendetwas sagte ihr, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Eine seltsame, angespannte Stimmung lag in der Luft und jagte ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken.

„Setz dich, sie wird gleich hier sein“, antwortete Herr Kira mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.

Nervös sank sie auf den dargebotenen Stuhl nieder und wartete geduldig.

Keine fünf Minuten später tauchte ihre Klassenlehrerin auf.

„Ah, da bist du ja, dann können wir ja beginnen“, meinte diese und setze sich Eliya gegenüber. Ein forschender Blick ging in Eliyas Richtung und ließ dieser das Herz bis zum Hals schlagen.

„Willst du es uns nicht selbst erzählen?“, fragte sie dann der Lehrer zu ihrer Linken mit kühler Stimme und sah sie erwartungsvoll an.

„Was erzählen?“, fragte Eliya verwundert und runzelte die Stirn. „Tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie …“

„Spiel nicht die Unschuldige! Es gibt Zeugen für das, was du getan hast!“, fuhr er sie an und räusperte sich dann verlegen, um seinen Gefühlsausbruch zu entschuldigen.

Eliya schüttelte verwirrt den Kopf. Sie verstand nicht, wovon er sprach.

Ihre Klassenlehrerin holte tief Luft.

„Liana kam heute Morgen zu mir und berichtete mir unter Tränen, dass du sie gestern Nachmittag bedroht hast und sie nun große Angst habe, überhaupt zur Schule zu kommen“, berichtete sie sachlich. Ihre Stimme klang ruhig und ihr Blick war noch immer forschend auf Eliya fixiert.

„Was?“, rief diese völlig perplex und blinzelte. „Sie ist es doch, die mich immer bedroht!“

‚Nein!‘, dachte sie entsetzt. Sie wusste, dass sie nun, egal was sie sagte, auf taube Ohren stoßen würde. ‚Warum habe ich das nur gesagt?‘

‚Weil es der Wahrheit entspricht‘, hörte sie eine andere, traurige Stimme in ihrem Geist antworten. Sie seufzte innerlich.

„Es … tut mir leid …“, flüsterte sie schließlich kaum hörbar und senkte den Kopf. Tränen brannten in ihren Augen.

„Glaubst du, das ist mit einer einfachen Entschuldigung getan?“, fragte Frau Kira, die Frau ihres Geschichtslehrers, kopfschüttelnd. Sie selbst unterrichtete Religion mit großem Eifer.

‚Ist es nicht …‘, dachte sie deprimiert und dachte nach, was sie tun oder sagen sollte.

„Ich erwarte von dir, dass du mit Liana sprichst und dich entschuldigst. Wenn sie dir vergibt, sei froh“, forderte Frau Merani. „Wenn mir so etwas noch einmal zu Ohren kommt, droht dir ein Verweis, ist das klar? Du hast Glück, dass Lianas Eltern uns damit beauftragt haben, dies zu regeln.“

Eliya kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, die sich ihren Weg nach draußen bahnen wollten, dann sah sie Frau Merani mit traurigem Blick an und nickte schließlich langsam. Sie hoffte inständig, dieses Gespräch schnell hinter sich zu bringen und verschwinden zu können.

‚Warum?!‘, dachte Eliya verzweifelt und wusste nicht, was sie tun sollte. ‚Was habe ich nur getan, dass ich all das ertragen muss? Gibt es denn niemanden, der Liana für das erkennt, was sie wirklich ist?‘

„Ich hatte mehr von dir erwartet“, meinte Herr Kira dann und schüttelte enttäuscht den Kopf. Eliya sah zu Boden und schluckte hart. Herr Kira war ein netter und überaus gutherziger Mensch, der sie immer freundlich behandelt hatte und auch gerne einmal ein Auge zudrückte, doch der kühle und bekümmerte Blick, den er ihr nun zuwarf, offenbarte eine ganz andere Seite seiner Selbst, die Eliya noch nie zuvor erblickt hatte. „Und nun sieh zu, dass du nach Hause kommst.“

Sie nickte zögerlich und erhob sich, dann schritt sie langsam aus dem Lehrerzimmer und den Gang entlang.

Sie fragte sich wieder und wieder, was sie Liana eigentlich getan hatte, dass diese sie fortwährend demütigte und ihr Steine in den Weg legte, wo sie nur konnte.

Eliya wünschte sich doch nichts mehr, als dazuzugehören und Freunde zu finden.

Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen, als sie über den leeren Pausenhof schritt. Ihr Blick ging in den Himmel und folgte einer kleinen, dunklen Wolkengruppe, die sich ihren Weg schnell Richtung Osten bahnte.

Plötzlich traf sie etwas am Kopf.

Eliya drehte sich verwundert um und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Jetzt wirst du für gestern bezahlen“, meinte Liana mit einem dämonischen Grinsen auf den Lippen und kam näher.

Eliya riss entsetzt die Augen weit auf und schluckte hart. Ihr immer schneller werdender Herzschlag hämmerte in ihren Ohren wider.

Liana hielt ein paar Steine von der Größe eines Golfballs in ihrer rechten Hand, die sie nun stückweise nach Eliya warf.

Eliya gelang es, einem Teil der Steine auszuweichen, was Liana nur noch wütender machte. Sie wollte sie leiden sehen; sie wollte sie vernichten, auch wenn sie nicht wusste, woher dieser Hass kam, der ihr Innerstes brennen ließ.

Liana hielt für einen Moment inne, ehe sie schließlich mit fanatischem Blick rief: „Hexen muss man jagen und steinigen, ehe man sie am Ende verbrennt!“

Schallendes Gelächter erklang hinter ihr und ehe sich Eliya versah, war sie umzingelt und der Schmerz, der ihren Körper peinigte, wich der Angst. Panisch sah sie sich um.

Wieder warf Liana einen Stein nach ihr und hielt sie davon ab, weiter nach einem Ausweg zu suchen.

Eliya versuchte auszuweichen, doch nun war es nicht mehr nur sie, die Steine nach ihr warf.

Tränen der Verzweiflung brannten in ihren Augen. War das ihr Ende? Würde sie hier und jetzt durch Liana und ihre Freunde ihr Leben verlieren? Ein angsterfülltes Zittern schüttelte ihren Körper und ein erstickter Laut entwich ihrer Kehle.

Sie wollte nicht sterben, doch sie wusste auch, dass sie ihnen nicht entkommen konnte.

Ihre Knie gaben nach und sie sank zu Boden, die Arme um den Kopf geschlungen, um wenigstens diesen vor Treffern zu bewahren.

‚Warum?‘, dachte sie voller Angst. ‚Was habe ich nur getan, dass ich das ertragen muss?‘

„Was tut ihr da?“, drang schließlich eine entgeistert klingende, klare Männerstimme durch die Luft.

Es war Caylen.

„Hört auf damit!“, rief er entsetzt und kam näher.

„Halt dich da raus!“, meinte Liana wütend und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Ihre Stimme bebte vor Zorn. „Das geht nur sie und uns etwas an. Du bist neu hier, deswegen vergebe ich dir heute noch einmal. Verschwinde!“ Sie hob den Arm, um den letzten ihrer Steine nach Eliya zu werfen.

„Schluss jetzt damit!“

Caylen schaffte es irgendwie, zwischen Eliya und Liana zu gelangen, einen langen, dicken Ast in die Hände zu bekommen und den Stein mit einem Schlag von seinem Ziel abzulenken.

Völlig perplex starrten Liana und die anderen auf Caylen.

„Das war cool“, hörte er eines der Mädchen zu seiner Rechten sagen.

„Warum tut ihr so was Grausames?“, fragte Caylen dann traurig.

„Sie ist ein Monster und sollte von dieser Erde getilgt werden!“, rechtfertigte Liana ihre Taten. Ihre Stimme bebte vor Wut.

Liana sah Caylen mit zusammengekniffenen Augen an, die Hände zu Fäusten geballt. Es fiel ihr so unendlich schwer, ihren Zorn im Zaum zu halten.

„Verschwinden wir von hier. Aber das ist noch lange nicht das Ende, verlass dich drauf! Eines Tages wirst du durch meine Hand sterben!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte wütend davon, gefolgt von ihren Freundinnen.

„Warum haben wir ihm nicht eine Lektion erteilt?“, meinte eines der Mädchen, an Liana gewandt.

Lianas Antwort jedoch konnte Caylen auf die Entfernung nicht mehr verstehen und die leisen Schluchzer hinter ihm erinnerten ihn schließlich daran, dass er nicht alleine war.

Caylen wandte sich Eliya zu, die zitternd am Boden kauerte.

Er sank vor ihr auf die Knie und legte eine Hand auf ihren Kopf. Bei der Berührung zuckte Eliya zusammen und verkrampfte sich noch mehr als sie es ohnehin schon war.

„Es ist alles okay. Sie sind weg. Du bist in Sicherheit …“

Caylen konnte fühlen, wie sie sich langsam wieder entspannte.

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Blut rann ihre rechte Wange hinab, das sich mit ihren Tränen vermischt hatte und ihr Shirt benetzte.

„Danke … ich danke dir so sehr …“, flüsterte Eliya mit zitternder Stimme.

Caylen drückte sie an sich und Eliya konnte ihr Leid nicht länger zurückhalten und weinte bitterlich. „Warum?“, rief sie verzweifelt. „Was habe ich getan, dass ich das verdient habe? Was habe ich nur getan? Sag es mir, bitte! Auch wenn es nur eine Lüge ist, bitte, sag irgendwas! Ich ertrage das nicht länger!“

Sie sah ihn tränenüberströmt nach einer Antwort suchend an.

Caylen holte tief Luft.

„Du hast nichts Falsches getan …“, entgegnete er mit einem sanften, traurig wirkenden Lächeln auf den Lippen. „Du bist ein Kind Gottes, mehr noch als sie es jemals sein wird … du …“

„Es gibt keinen Gott“, unterbrach ihn Eliya kopfschüttelnd. „Gott würde so etwas nicht zulassen und er würde alle Kriege beenden! Er würde niemals zulassen, dass seine Geschöpfe leiden müssen!“

Ein leiser, gequält wirkender Seufzer entwich Caylens Kehle und er wandte für einen Moment den Blick von ihr ab.

„Und was ist, wenn ich dir sage, dass er die Macht dazu nicht besitzt? Der Herr kann Leben schaffen und es wieder zu sich rufen … Er kann uns Frieden geben in unseren Herzen, wenn wir es zulassen, doch der Friede der Welt liegt in unseren Händen …“

Eliya sah ihn verwundert an und langsam beruhigte sie sich wieder.

„Es gibt einen Gott, glaube mir … Er denkt an dich, in jeder Sekunde deines Lebens und er nimmt Anteil an deinem Leid … er fühlt, was du fühlst, was alle Menschen fühlen. Hass, Trauer, Schmerz, Freude, Einsamkeit …“

„Das klingt fast so, als wärst du ihm schon begegnet, als würdest du ihn kennen …“ Sie sah ihn fasziniert an und der Schmerz, der ihren Körper durchzogen hatte, verschwand und gab dem Gefühl unendlicher Ruhe Raum. Etwas in ihrem Herzen sagte ihr, dass Caylens Worte der Wahrheit entsprachen und Gott wirklich an ihrer Seite war, auch wenn sie selbst nicht daran glauben konnte.

Plötzlich tat es ihr leid, ihn all die Jahre verleugnet zu haben.

„Nein … ich bin ihm noch nie begegnet, und ich werde es wohl auch nie …“, murmelte er betrübt und versuchte zu lächeln. „Du musst schon ein Mitglied der obersten Triade oder einer der vier Himmelswächter sein, um zu ihm gelangen zu können … Uns niederen … den niederen Rängen, ist das nicht gestattet und selbst die Sterblichen werden ihn nie erblicken.“

Eliya wusste für einen Moment nicht, was sie sagen sollte. So viele Fragen lagen ihr auf der Zunge und alle wollte sie zur selben Zeit stellen und eine Antwort erhalten.

Caylens Worte hatten sie in ihren Bann gezogen.

„Himmelswächter …“, begann sie dann nachdenklich und blinzelte verwundert. „Du meinst, Engel gibt es wirklich?“

Caylen strich ihr durchs Haar und erhob sich.

„Kennst du die Antwort nicht bereits?“

Eliya sah ihn überrascht an.

„Ich …“, flüsterte sie, doch Caylen schüttelte lächelnd den Kopf und bedeutete ihr mit einem Finger auf seinen Lippen nicht darüber zu sprechen.

„Du solltest nach Hause gehen, ehe es dunkel wird. Es ist spät.“

Eliya sah in den dunkler werdenden Himmel hinauf und nickte schließlich nachdenklich. Die Geschehnisse des langsam endenden Tages erschienen ihr plötzlich seltsam fremd, als entsprangen sie einem bösen Traum. Unwirklich, wie eine ferne Erinnerung.

Dann erhob sie sich langsam und stöhnte auf. Es fiel ihr schwer, aufrecht zu stehen, denn ihr ganzer Körper schmerzte und, da war sie sich sicher, war von blauen Flecken übersät. Ein schmerzverzerrtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. ‚Dummkopf‘, dachte sie nur und atmete tief durch, bis der Schmerz nachließ.

„Ich danke dir“, murmelte sie schließlich mit gesenktem Kopf, als Caylen sich abwenden und gehen wollte. „Und es tut mir leid …“

„Was denn?“, fragte er verwundert und wandte sich ihr wieder zu. „Liana wird dich jetzt bestimmt nicht mehr mögen, weil du mir geholfen hast … Sie hasst mich und alle, die sich mir nähern …“

Caylen lächelte und schüttelte sanft den Kopf.

„Mach dir deswegen keine Sorgen. Sie wird mir nichts anhaben können und dir in Zukunft auch nicht mehr. Ich werde dich beschützen, denn deswegen bin ich gekommen. Sie wird dich nicht mehr anrühren, darauf gebe ich dir mein Wort. Vertrau mir, alles wird gut werden.“

Mit diesen Worten ging er davon und ließ Eliya alleine zurück.

Sie sah ihm nach und nickte dankbar.

Mit einem Mal überkam sie wieder das Gefühl der Einsamkeit. Sie folgte Caylens Worten und ging nach Hause.

In den nächsten Tagen musste Eliya überrascht feststellen, dass Caylen seine Worte ernst gemeint hatte, denn keiner hatte es seither gewagt, ihr auch nur ein Haar zu krümmen.

Liana würdigte sie keines Blickes mehr und versuchte so zu tun, als würde Eliya nicht existieren, doch diese konnte fühlen, wie sie jedes Mal vor Zorn erbebte, wenn sie in ihre Nähe kam.

Einerseits war sie froh darüber, doch auf der anderen Seite wurde ihr das Herz schwer und der Drang, Liana zu fragen, warum sie sie so sehr verabscheute, gewann beinahe die Oberhand. Der Mut dazu fehlte ihr allerdings nach wie vor.

„Wie kann ich dir jemals für deine Hilfe danken?“, fragte Eliya, als sie mit Caylen zusammen nach Hause ging. „Du hast mich aus der Dunkelheit zurück ins Licht geführt.“

Irgendwann hatte Caylen festgestellt, dass sie nahezu denselben Heimweg hatten und dann beschlossen, ihn von nun an gemeinsam mit ihr zu gehen.

„Du musst mir nicht danken“, entgegnete Caylen lächelnd. „Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen und es scheint, als würde ich dieser Aufgabe gerecht. Das ist Dank genug. Ich sehe, dass du wieder im Licht lebst und deine Flügel wieder weiß erstrahlen.“

„Flügel?“ Eliya blieb stehen und sah ihn verwundert an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Sie wusste ja, dass er hin und wieder seltsame himmlische Anwandlungen hatte, so dass sie das Gefühl bekam, einen Engel an ihrer Seite zu haben, doch daran gewöhnen konnte sie sich noch immer nicht. Heute war es nicht anders.

„Ja“, entgegnete Caylen schlicht und lächelte sie an. „Jeder Mensch hat Flügel, weißt du? Aber deine sind etwas Besonderes …“

„Wie kommst du darauf? Woher weißt du so viel? Es klingt fast so, als wärst du ein Teil dieser himmlischen Welt. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich dich für einen Engel halten.“ Eliya errötete und wandte den Blick eilends von ihm ab. Ihr Herz begann bei diesem Gedanken schneller zu schlagen und ein seltsames, ihr unbekanntes, Gefühl machte sich in ihr breit. „Aber wenn ich es recht bedenke, dann bist du ein Engel. Mein Engel, der mich gerettet hat. Du hast mir den Weg ins Licht gewiesen.“

„Wenn du es so empfindest, dann soll es so sein“, entgegnete er dann, doch in seiner Stimme schwang ein trauriger Unterton mit, den Eliya jedoch überhörte.

‚Ich wünschte, ich könnte dir alles erzählen …‘, dachte Caylen betrübt, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder, als er die Stimme seiner Schwester in seinem Kopf vernahm.

‚Du weißt, dass die Menschen nicht erfahren dürfen, wer du wirklich bist. Du würdest das Gleichgewicht der Welt aufs Spiel setzen, also denk nicht einmal daran, es ihr zu erzählen!‘

Ein wehmütiges Lächeln huschte über Caylens Gesicht. Er vermisste seine Schwester.

„Weißt du … du bist der erste Mensch, den ich einen Freund nennen kann. Ich habe solch eine Wärme und Vertrauen noch nie zuvor gefühlt. Ich danke dir von ganzem Herzen für all das, was du für mich getan hast. Ich kann das erste Mal, seit ich mich erinnere, von mir behaupten, glücklich zu sein und das verdanke ich nur dir.“

Eliya blickte nervös zu Boden. Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl in ihrer Brust, das ihr Herz schneller schlagen ließ.

„Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?“, fragte sie dann zögerlich nach einigen Augenblicken, den Blick noch immer auf den Boden vor sich gerichtet. Eine sanfte Röte lag auf ihren Wangen, von der sie nicht wollte, dass Caylen sie sah.

„Ich sagte doch, du musst mir nicht danken“, entgegnete er lächelnd und sah sie an. „Dein Glück ist mir wichtig und das ist alles, was zählt. Das ist der größte Dank, den ich erhalten kann: Dein Glück.“

Er blieb stehen und legte seine Hand auf ihre Schulter.

Ein seltsames, wärmendes Gefühl, das er nie zu vor verspürt hatte, stieg in ihm auf, als er sie berührte und sein Herz begann schneller zu schlagen.

‚Was ist das für ein Gefühl tief in meinem Herzen? Es schmerzt und erfreut mich gleichermaßen …‘, dachte er verwundert. ‚Oder ist es eine Vorahnung und etwas Schlimmes steht uns bevor? Was es auch sein mag … ich beschütze dich, auch wenn es mein Leben fordert.‘

Er nickte und sah sie mit festem Blick an, dann hob er ihr Kinn an und schob es sanft nach oben. Eliya sah ihn mit großen Augen an und die Röte kehrte auf ihre Wangen zurück.

„Doch wenn du möchtest …“, sagte er dann. „Erzähl mir mehr über dich und deine Vergangenheit.“

Eliya dachte nach.

Was konnte sie ihm schon Großartiges erzählen?

Sie konnte sich an nichts erinnern, was vor ihrem dreizehnten Geburtstag geschehen war, und in den letzten fünf Jahren war nichts passiert, das es wert gewesen wäre, erzählt zu werden. Alles, woran sie sich erinnerte, war Kummer und Leid und Einsamkeit. Sie erschauderte, dann senkte sie den Kopf und blickte betrübt zu Boden.

„Tut mir leid“, meinte Caylen traurig. Ihr Kummer war für ihn fast greifbar und jagte einen stechenden Schmerz durch sein Herz. „Ich wollte dich nicht an etwas Schlimmes erinnern.“

„Nein, nein“, entgegnete Eliya hastig und setzte ein gequält wirkendes Lächeln auf, als sie ihn ansah. „Es ist nur … ich kann mich an nichts erinnern, was vor meinem dreizehnten Geburtstag geschah und alles, was danach kam, ist …“ Sie schüttelte den Kopf. Caylens Blick suchte den ihren und ein stechender Schmerz durchzog sein Herz, als sich ihre Blicke trafen. Ihr Schmerz wurde zu dem seinen und er verstand, was sie ihm sagen wollte. „Ich verstehe, du kannst dich an nichts Positives in deinem Leben erinnern, das tut mir leid.“

Eliya nickte kaum merklich und blickte wieder zu Boden, den Tränen nahe.

Eine drückende Stille legte sich über die zwei und auch das Rauschen der Blätter im Wind schien plötzlich verstummt.

Eliya wandte sich von ihm ab. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, um jener unangenehmen Situation zu entfliehen. Einerseits wollte sie Caylen für alles, dass er für sie getan hatte, danken, doch auf der anderen Seite wusste sie nicht, wie sie dies tun sollte. Sie konnte ja nicht einmal über ihre Vergangenheit sprechen und hatte auch sonst nichts, das sie ihm geben konnte. Sie war ein Nichts; ein Niemand.

„Lass uns das Thema wechseln“, meinte Caylen schließlich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, als er bemerkte, wie sehr sie sich quälte. Er nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich.

Eliya sah ihn voller Dankbarkeit an und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.

„Hast du Lust auf ein Eis? Komm, ich lad dich ein. Bei solch einem schönen Wetter muss man einfach Eis essen!“

Eliya blinzelte verwundert und musste lachen.

„Du klingst wie ein kleines Kind“, rief sie aufgeregt und folgte ihm.

Caylen verstand es wie kein anderer, ihren Kummer ohne Umwege in echte Freude zu verwandeln und plötzlich spielte es keine Rolle mehr wer oder was sie war. Das unbeschreibliche Gefühl, das sie nun empfand und Caylen an ihrer Seite, waren alles, das sie brauchte und sie hoffte inständig, noch mehr Augenblicke wie diese zu erleben.

Etwas erwachte in ihr …

KAPITEL 3

„Es ist an der Zeit, zurückzukehren“, flüsterte eine sanfte, vertraute Stimme in Caylens Geist.

Er öffnete die Augen und ließ seinen Blick über den weiten Garten vor sich gleiten. Das grüne Gras und die bunten Blumen strahlten voller Lebenskraft und ließen eine unbeschreibliche Wärme in seinem Innern aufsteigen.

Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als ihm klar wurde, wie sehr er jenen Ort vermisst hatte.

Er war zu Hause.

Langsam durchschritt er das hölzerne Tor, das von Efeu überwuchert war, und betrat den Garten, der dahinter lag.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739454573
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
der Heilige Gral Licht und Dunkelheit andere Welten Fantasy Dämonen Engel Einhornblut Elementmagie Elementwesen Episch High Fantasy Romance

Autor

  • Stephanie Rose (Autor:in)

Stephanie Rose, am 15.05.1987 in Heilbronn am Neckar geboren und im beschaulichen Städtchen Gundelsheim aufgewachsen, wurde die künstlerische Begabung von ihrem Vater, einem Goldschmiedemeister und erfolgreichen Maler expressionistischer Werke, in die Wiege gelegt. Ausgestattet mit einer regen Fantasie und stets fasziniert von Mythen und fantastischen Geschichten verfasste sie bereits während der Schulzeit Gedichte und Kurzgeschichten.
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Titel: Die Tränen der Einhörner I: Die Versuchung