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Ein Licht in der Dunkelheit I

von Stephanie Rose (Autor:in)
211 Seiten

Zusammenfassung

Vor Tausenden von Jahren siegte das Licht über die Dunkelheit, doch nun schickt sich diese erneut an, die Macht an sich zu reißen. Cal entdeckt, dass er zur damaligen Zeit schon einmal gelebt hatte, um als einer der sieben Wächter ein mächtiges Wesen zu beschützen. Als er im Wald auf ein Mädchen trifft, das sein Gedächtnis verloren hat, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Ihm wird klar, dass es nun seine Aufgabe ist, die anderen Wächter und die Wiedergeburt jenes Wesens, das sie einst gerettet hatte, zu finden, um die Dunkelheit erneut aufzuhalten. Eine abenteuerliche und beschwerliche Reise beginnt, auf der das Mädchen langsam seine Erinnerung wiederfindet und immer deutlicher merkt, dass ihm eine Schlüsselrolle in dem bevorstehenden Kampf zugedacht ist ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

Seit Anbeginn der Zeit existierte ein Gleichgewicht zwischen den Mächten des Lichts und der Dunkelheit. Doch dann kamen die Menschen und störten dieses Gleichgewicht.

Einige verfielen den Verlockungen der dunklen Seite und begannen nach der Macht zu streben. Sie verließen die Pfade des Lichts und wurden zu Wesen der Dunkelheit, den Morva.

Ein erbitterter Krieg entbrannte, den die Mächte des Lichts zu verlieren drohten. Aber dann geschah etwas, das niemand für möglich hielt …

Ein Licht der Hoffnung erstrahlte ihn jener finsteren Zeit.

Es wurde ein Wesen geboren mit unvergleichlicher Macht.

Dieses Wesen sah den Menschen so ähnlich, dass es die Morva nicht zu finden vermochten. Einzig die Magie wusste um die wahre Identität des Wesens und entsandte sieben Wächter, Engeln gleich, zu dessen Schutze. Doch ihnen war es verboten sich dem Wesen zu zeigen bevor die Zeit reif war.

Als jene Zeit gekommen war, nahmen die Wächter die Gestalt einfacher Menschen an und offenbarten dem Wesen sein bevorstehendes Schicksal.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Das Wesen verliebte sich in einen der Wächter.

Es dauerte nicht lange und die Morva fanden einen Weg, das Wesen aufzuspüren. Ein bitterer Kampf entbrannte, den die Wächter verloren.

Die Morva beraubten sie ihrer Magie und Unsterblichkeit. Sie folterten die sieben Wächter, doch diese hielten ihren Schwur und gaben das Versteck des Wesens nicht preis. In ihrer Wut töteten die Morva die Wächter und nahmen deren Gestalt an, doch das Wesen konnten sie nicht täuschen.

In seiner Verzweiflung über den Tod des Geliebten, setzte das Wesen seine ganze Macht frei und vertrieb das Böse aus der Welt.

Das Gleichgewicht der Mächte war wiederhergestellt, doch den Preis für den Frieden musste es mit dem Leben bezahlen …

Jahrtausende später …

KAPITEL 1

Die Schatten der Bäume lagen lang und dünn auf dem Gras, als die Sonne hinter den fernen Bergen Celantis‘ emporstieg und den frühen Morgen ankündigte.

Ein Mädchen mit schneeweißem Haar irrte im Wald umher. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Angst wider. Die Angst, nicht zu wissen, wo man war.

Der Wind spielte sanft im Haar des Mädchens und gestattete der Sonne, einen goldenen Schimmer darauf zu legen, so dass es schien, als würde ihr Haar leuchten. Die Kleidung des Mädchens war zerrissen und ihr Gesicht von kleinen Kratzern übersäht.

„Wer bist du?“, fragte eine kindliche Stimme hinter dem Mädchen und ließ es erschrocken zusammenfahren. „Ich hab‘ dich hier noch nie gesehen“, meinte ein kleiner Junge und schenkte dem Mädchen ein fröhliches Lächeln, als es sich zu ihm umdrehte.

Ängstlich wich das Mädchen einen Schritt zurück und sah den Jungen mit großen Augen an. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Was ist los mit dir? Hast du dich verlaufen?“, fragte er neugierig weiter und betrachtete sie eingehend.

Sie schüttelte langsam den Kopf. „I-ich … weiß n-nicht … Es tut mir leid, aber ich glaube, ich kann dir auf keine deiner Fragen eine Antwort geben“, flüsterte sie leise und senkte verwirrt den Kopf. Ein dumpfer Schmerz hämmerte in ihrem Schädel wieder, als sie versuchte, sich zu erinnern.

Wo war sie und vor allem wer war sie?

Der Junge sah sie ungläubig an und blinzelte verwundert. Es war ihm unbegreiflich, wie man seinen Namen vergessen konnte.

„Ich heiße Cal“, sagte er, als er sich wieder gefangen hatte und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Freut mich, dich kennen zu lernen, auch wenn du deinen Namen nicht weißt!“

Das Mädchen sank zu Boden und schluchzte leise.

„Alles in Ordnung?“, fragte Cal nun ein wenig unsicher.

Warum weinte sie?

Ratlos kniete er sich schließlich neben ihr nieder und überlegte, ob er sie vielleicht in den Arm nehmen sollte, doch dann fiel ihm ein, was seine Schwester einst sagte und er blickte betrübt zu Boden.

‚Menschen ohne Erinnerung reagieren mitunter seltsam. Doch am allermeisten haben sie Angst. Versuche nie, dich einem solchen Menschen aufzudrängen, wenn du dir nicht sicher bist, was du zu tun hast.‘

Er seufzte und dachte darüber nach, was er nun tun sollte. Dann kam ihm eine Idee.

„Warte kurz, vielleicht weiß meine Schwester Rat! Sie ist ganz in der Nähe!“ Cal sprang auf und verschwand zwischen den dichten Bäumen.

Der Wind schien mit dem Mädchen zu weinen und auch die Vögel verstummten, als er ihr sanft durchs Haar blies.

Zwei kleine Vögelchen flatterten zu dem Mädchen hinunter, landeten auf ihren eingezogenen Knien und sangen für sie eines ihrer Liedchen.

Sie sah überrascht auf und ein kleines Lächeln umspielte ihr verweintes Gesicht. „Ihr habt recht …“, murmelte sie leise und strich vorsichtig über deren fliederfarbene Flügel.

In der Ferne konnte sie die Stimme des kleinen Jungen hören, wie er einen Namen rief.

Es dauerte einen Moment und dann erklang die klare, helle Stimme eines Mädchens. Cal hatte sie Yvannie gerufen.

Die beiden kamen allmählich näher und als sie den hohen Farn durchbrachen, flogen die beiden Vögel erschrocken zurück in die Baumkronen.

Yvannie, die eben mit Cal aufgetaucht war, sah mitfühlend auf das Mädchen mit den schneeweißen Haaren herab, wie es hilflos am Boden kauerte, und seufzte kaum hörbar.

Das Mädchen sah zu Yvannie auf und hielt den Atem an. Ihr Gesicht war wunderschön und ihre Augen strahlten eine unheimliche Ruhe und Frieden aus. Mit einem Mal verschwand die Angst und das Mädchen blinzelte verwundert.

Als Yvannie ihr verweintes Gesicht betrachtete, kam sie langsam näher und ein sanftes, mütterliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

„Was hast du?“, fragte sie liebevoll und sank neben ihr auf die Knie. „Cal hat mir erzählt, dass du dich an deinen Namen nicht erinnern kannst.“

Das Mädchen nickte langsam und ließ es zu, dass Yvannie sie in den Arm nahm.

„Deswegen brauchst du doch nicht zu weinen. Das wird schon wieder“, meinte sie beruhigend und strich ihr durchs Haar.

„Das haben mir die beiden Vögelchen auch erzählt“, flüsterte das Mädchen leise und schluckte hart. Es fiel ihr schwer, nicht erneut in Tränen auszubrechen.

„Ich bin Yvannie und wenn du mich lässt, dann werde ich versuchen, dir zu helfen.“

Das Mädchen sah sie dankend an und nickte schließlich kaum merklich, als ihr nun erneut Tränen in die Augen stiegen.

„Jetzt brauchst du doch nicht mehr zu weinen“, meinte Yvannie fürsorglich, als sie die frischen Tränen bemerkte, und strich ihr sanft über die Wange.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sah Yvannie mit großen Augen an. Warum wollte ihr diese Frau helfen? Sie kannte sie doch gar nicht.

„Es ist nur … warum wollt ihr mir helfen?“, fragte sie dann zögerlich und blickte bedrückt zu Boden. „Ihr kennt mich doch gar nicht. Was ist, wenn ich Böses getan habe und dafür bestraft wurde? Und wenn ich euch etwas antun werde?“

Cal fing an zu lachen. „Du und Böses getan? Nein, niemals!“

Yvannie warf ihm einen bösen Blick zu und er verstummte.

„An dem, was sie sagt, ist durchaus etwas dran, aber warum bist du dir so sicher, dass sie so etwas nicht tun würde?“ Yvannie sah ihren kleinen Bruder forschend an.

Cal dachte nach und errötete. „Nun ja, sie sieht nicht so aus, als könnte sie irgendeinem Lebewesen etwas zuleide tun.“

Yvannie schüttelte den Kopf. „Lass dich nie vom äußeren Erscheinen eines Wesens täuschen, Cal. Dämonen können sich auch hinter wunderschönen Wesen verbergen.“

Dann wandte sie sich wieder dem Mädchen zu. „Wir hoffen einfach darauf, dass du uns bis dahin genug vertrauen wirst und uns als Freunde ansiehst.“ Sie zwinkerte. Auch sie war davon überzeugt, dass sie von ihr nichts zu befürchten hatten, auch wenn sie sich dieses Gefühl nicht erklären konnte.

„Und nun komm, ich möchte nicht allzu lange in diesem Wald verweilen.“

„Aber …“

„Schon gut“, meinte Yvannie lächelnd. „Du kannst so lange bei uns wohnen, bis du dich wieder erinnerst. Cal wird sich über eine Spielgefährtin sehr freuen, da bin ich mir sicher.“ Sie warf einen kurzen Blick auf ihren kleinen Bruder, der über das gesamte Gesicht ein breites Grinsen trug.

Yvannie konnte sich nicht erklären warum, aber etwas an diesem Mädchen gab ihr das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein – vor langer Zeit. Stirnrunzelnd hielt sie für einen Moment inne und dachte darüber nach, besann sich dann aber wieder und half dem Mädchen auf. Sie würde sich zu gegebener Zeit noch einmal mit diesen Gedanken befassen, beschloss sie, doch für den Moment wollte sie einfach wieder nach Hause und sich um ihren Gast kümmern.

Gemeinsam machten sie sich schließlich auf den Weg, der Sonne entgegen. Unterwegs hob Yvannie noch ihren Korb auf, den sie dort hatte stehen lassen als Cal nach ihr rief.

„Oh, Erdbeeren!“, rief dieser erfreut, als er in den Korb lugte.

„Ja, aber die sind nicht für jetzt!“, entgegnete Yvannie mit Nachdruck, als Cal hineinlangen wollte, woraufhin er seine Hand augenblicklich zurückzog und betreten zu Boden sah. Er liebte Erdbeeren und konnte es nicht erwarten, sie zu essen.

Als sie das Ende des Waldes erreichten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und verbrannte das ohnehin schon vertrocknete Gras, das sie nun durchschritten.

„Wie sollen wir dich eigentlich nennen?“, fragte Yvannie nach einiger Zeit und sah das Mädchen nachdenklich an.

Dieses schüttelte nur den Kopf und senkte traurig den Blick.

„Wie wäre es mit Elea?“, schlug Cal schließlich vor und sah Yvannie und das Mädchen erwartungsvoll an.

„Wie kommst du denn auf diesen Namen?“, fragte Yvannie verwundert und blinzelte. „Ein Name sollte etwas über die Person aussagen, die ihn trägt. Elea kommt von eleann und das bedeutet Himmel. Der hat doch nun wirklich nichts mit ihr zu tun.“

„Warum nicht? Sie ist doch wie der Himmel! Ihre Augen tragen seine Farbe und ihr Haar leuchtet wie Sternenlicht“, erklärte er hartnäckig. „Das wäre doch der perfekte Name für sie! Bitte!“

Yvannie lächelte und nickte schließlich amüsiert.

„Na gut, was meinst du dazu, Elea?“ Sie sah sie erwartungsvoll an.

Elea entgegnete ihrem Blick mit leuchtenden Augen und ein freudiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Gerne!“, entgegnete sie glücklich und ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Das ist ein schöner Name. Ich werde ihn in Ehren halten.“

Yvannie nickte und sah zu Cal hinüber, der über beide Ohren strahlte. Sie zwinkerte ihm lächelnd zu und verdrängte das seltsame Gefühl, das sich in ihrem Innern breit machte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl überkommen, Cal würde seine Kindheit trotz seines jungen Alters in Kürze hinter sich lassen.

Vor ihnen kam ein See in Sicht und die Farbe des Grases wechselte allmählich wieder in saftiges Grün über.

„Ein schöner See“, bemerkte Elea verträumt und ihr Blick glitt in die Ferne.

Der See schien lang und oval zu sein, sein Wasser tiefblau. Trotz des schwachen Windes war seine Oberfläche glatt und unbewegt und das Gras fiel zu allen Seiten, zum Ufer hin, flach ab.

„Der See scheint etwas Besonders zu sein … nicht wahr?“ Für einen kurzen Augenblick erwachte ein seltsames Gefühl in ihrer Brust und eine sanfte Röte legte sich auf ihre Wangen. Was war das für Gefühl, tief in ihrem Innern? Eine Erinnerung? Sie wusste es nicht und schüttelte kaum merklich den Kopf, als sie den Gedanken nicht zu fassen bekam.

Dann sah sie Yvannie neugierig, nach einer Antwort suchend, an.

„Ja, sein Wasser ist immer ruhig und klar, egal wie das Wetter ist. Selbst der Regen scheint ihn nie zu erreichen“, entgegnete sie und folgte Eleas Blick.

„Ein letzter Rest der Magie dieser Welt …“, murmelte Elea schließlich nachdenklich und runzelte die Stirn.

„Magie? Sag jetzt nicht, du glaubst daran“, entgegnete Yvannie empört und starrte sie an, als habe sie den Verstand verloren.

„Ich weiß nicht, woran ich glaube … Erst muss ich meine Erinnerung wiederfinden …“ Elea senkte betrübt den Kopf.

„Tut … mir leid. Ich wollte dich nicht daran erinnern.“ Yvannie legte ihr mitfühlend einen Arm auf die Schulter und bereute ihre Worte zutiefst. Auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, so fühlte sie doch ein Band zwischen sich und Elea wachsen, das ihr den Kummer ihrer neuen Freundin nahebrachte.

„Denk nicht so viel darüber nach“, versuchte sie Elea aufzumuntern. „Du bist bei uns herzlich willkommen. Egal, wie lange es dauern mag.“

Elea senkte den Blick und nickte schließlich langsam.

Schweigend liefen sie nebeneinander her und sahen Cal zu, wie er fröhlich im hohen Gras spielte. So erwachsen er sich auch versucht hatte zu verhalten, als er auf Elea traf, so kam nun doch wieder das Kind in ihm durch, das er noch immer war und Yvannie atmete erleichtert auf.

Als sie den See erreichten, konnte Elea hinter einer alten, großen Weide, deren Zweige bis zum See hinunter reichten und kleine Kreise in seinem Wasser zogen, ein kleines Häuschen erkennen.

„Dort wohnt ihr?“, fragte sie neugierig, doch eine Antwort erwartete sie gar nicht. Sie wusste bereits, wohin sie ihr Weg führen würde.

Yvannie zeigte ihr den Weg an der Weide vorbei, der zum Haus führte. Es war ein schmaler Weg, der von Gras und Sträuchern überwuchert wurde und ihn den Blicken Fremder entziehen sollte.

Der Eingang war hinter ein paar Seláf-Sträuchern versteckt, deren Blätter in dunklem Grün hoch und kräftig wuchsen, und nur durch das Verschieben eines Steins in der felsenen Wand des Hauses, wurde der Eingang freigegeben.

Als sie dieses schließlich betreten hatten, verschloss sich der Eingang wie durch Magie von selbst und ließ Elea erschrocken zusammenfahren.

„Was …“, begann sie überrascht und verängstigt zugleich und starrte auf den verschlossenen Eingang.

„Oh, tut mir leid“, entgegnete Yvannie entschuldigend. Sie hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, doch auf Fremde musste es beängstigend und unwirklich wirken. „Wir wissen selbst nicht, wie es funktioniert. Seit ich denken kann, verschließt sich dieser Eingang von selbst wie durch Geisterhand. Doch Geister gibt es nicht, also mach dir keine Sorgen.“ Yvannie schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und schob sie tiefer, in das Herz des Hauses, hinein.

Das Haus schien, obwohl es so klein war, sehr geräumig und gemütlich zu sein und Elea wanderte neugierig durch die Zimmer.

„Hast du Hunger? Ich könnte dir etwas zubereiten“, schlug Yvannie vor und machte sich sogleich an die Arbeit, ohne ihre Antwort abzuwarten.

„Sie kocht wahnsinnig gern“, erklärte Cal grinsend und trat an Eleas Seite. „Du könntest dich so lange waschen, wenn du möchtest.“

Elea errötete und sah an sich hinab. „Ja, das wäre vielleicht ganz gut“, murmelte sie verlegen und wischte über ihre verschmutzte und zerrissene Kleidung.

Cal nickte freudig und führte sie wieder nach draußen.

„Am besten, du badest im See, dann kann dir auch nichts passieren. Ich werde Yvannie fragen, ob sie etwas zum Anziehen für dich hat.“

Ehe sie etwas erwidern konnte, drehte er sich um und verschwand wieder im Haus. Der Eingang verschloss sich hinter ihm und ließ Elea allein stehen.

Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte, also ging sie langsam auf den See zu.

Irgendetwas behagte ihr ganz und gar nicht, doch sie versuchte es zu verdrängen und zog sich schließlich aus.

Aber sollte sie wirklich in den See steigen?

Das seltsame Gefühl, das sie überkam, wenn sie daran dachte, jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und stieg hinein. Ganz langsam, Stück für Stück. Cal hatte gesagt, ihr würde nichts geschehen und sie wollte ihm vertrauen.

‚Ein seltsames Gefühl …‘, dachte sie überrascht, als das kühle Wasser sich um ihren schlanken Körper schloss. ‚Auch wenn Yvannie es mir nicht glaubt, dieser See hat etwas Magisches und sehr Altes. Genau wie diese Weide dort. Eine alte und reine Magie beherbergen diese beiden …‘

Elea dachte nicht weiter darüber nach und schritt so weit in den See hinein, bis sie den Boden unter den Füßen verlor.

Gedankenverloren ließ sie sich treiben und schloss die Augen.

Die sanfte Kühle des Wassers entzog ihrem Körper seltsamerweise keinerlei Wärme, so dass sie ewig dort hätte treiben und ihren Gedanken nachhängen können.

Als sie den See wieder verließ, hatte Cal ihr ein Handtuch und frische Kleidung ans Ufer gelegt; von ihm selbst war keine Spur.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie das hellblaue Kleid anzog. Es passte wie angegossen und fühlte sich angenehm weich auf ihrer Haut an. Der Saum war mit silbernen Stickereien verziert und verlieh dem Ganzen einen königlichen Anblick.

Immer noch lächelnd ging sie zurück ins Haus.

Yvannie war begeistert, wie gut ihr das Kleid stand und wollte ihr auch gleich die Haare zurechtmachen, doch Cal hielt sie zurück.

„Können wir nicht zuerst etwas essen? Ich habe Hunger!“

Yvannie entschuldigte sich und errötete peinlich berührt. Bei Eleas Anblick hatte sie alles andere vergessen.

„Aber natürlich, kleiner Bruder“, entgegnete sie mütterlich. „Danach darf ich mich aber an deinen wundervollen langen Haaren versuchen, einverstanden, Elea?“ Sie zwinkerte ihr zu. Es war lange her, seit sie zuletzt jemand anderem als sich selbst die Haare zurechtmachen konnte und freute sich ungemein über diese seltene Gelegenheit.

„Und dann gehen wir nach Can’aan. Ich muss noch ein paar Dinge besorgen und vielleicht kennt dich dort jemand“, fügte Yvannie noch hinzu und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sich Eleas Miene bei ihren Worten sichtlich aufhellte.

Als die Sonne die höchste Stelle am Himmel passierte und allmählich ihren Abstieg begann, brachen sie auf.

Von Westen her zogen langsam dunkle Wolken auf und die Luftfeuchtigkeit erhöhte sich spürbar.

„Ich hoffe doch, es fängt nicht an zu regnen während wir im Dorf sind“, murmelte Yvannie mit zusammengekniffenen Augen und warf einen hoffnungsvollen Blick gen Westen.

In der Ferne tauchten nun die äußersten Häuser des Dorfes auf. Es schien in einem weiten Kreis um einen großen Platz herum angeordnet zu sein.

„Am besten, du lässt dir von Cal das Dorf zeigen. Ich muss nämlich noch ein paar Kräuter für das Abendessen und etwas Stoff besorgen. Wir treffen uns am Festplatz wieder, sobald die Sonne beginnt am Horizont zu verschwinden.“

Ohne Eleas oder Cals Antwort abzuwarten, verschwand Yvannie hinter einer Straßenbiegung und ließ die beiden allein zurück.

Sie sahen ihr verwundert nach und Elea wandte sich schließlich an Cal. „Was ist nur los mit ihr?“, fragte sie besorgt und runzelte nachdenklich die Stirn. Etwas schien Yvannie sichtlich Sorgen zu bereiten.

„Ich schätze mal, sie will nicht allzu viel Zeit hier verbringen. Du siehst ja, wie das Wetter umgeschlagen hat“, entgegnete Cal nur und zuckte mit den Schultern.

Elea sah ihn neugierig an und warf dann einen Blick in den dunkler werdenden Himmel hinauf. Die dichte Wolkendecke hatte das Licht der Sonne beinahe komplett verschlungen.

„Und außerdem hasst sie den Regen“, fügte er noch hinzu, als schließlich einige wenige Tropfen zu Boden fielen und die Erde befeuchteten. Er schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung.

Elea sah ihm nach und runzelte die Stirn. ‚Den Regen hassen? Warum?‘, fragte sie sich verwundert und sah erneut in den grauen Himmel hinauf. Sie verstand nicht.

Cal riss sie aber aus ihren Gedanken und drängte sie, mit ihm zu kommen.

„Mach dir keine Gedanken um Yvannie. Na komm, dann werde ich dir mal alles zeigen und vielleicht treffen wir jemanden, der dich schon einmal gesehen hat und weiß, wer du bist.“

Er fasste sie an der Hand und zog sie mit sich.

„Lass uns am Festplatz beginnen. Er ist das Zentrum des Dorfes. Alle Feste werden dort gehalten.“

Cal führte sie durch die engen Gassen.

Elea bemerkte, dass nicht sehr viele Menschen unterwegs waren, was sie irgendwie beunruhigte. Doch die wenigen Personen, denen sie begegneten, drehten sich nach den beiden um und sahen ihnen mit verstohlenen Blicken nach. Elea schob es auf die auffällige Frisur, die ihr Yvannie voller Eifer verpasst hatte und strich sich nervös durchs Haar, wobei sie den Knoten löste, der es zusammenhielt.

Ihr langes schneeweißes Haar verdeckte ihr kurz die Sicht, bis sie es mit einem sanften Kopfschütteln auf ihren Rücken warf.

„Da wären wir“, bemerkte Cal und lächelte erfreut als er sie ansah. „So finde ich es viel besser“, meinte er lächelnd und griff nach ihren Haaren. „Wirklich wie Sternenlicht … Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wunderschön.“

Elea errötete und wandte den Blick ab.

Vor ihnen, in der Mitte des weiten Platzes, türmte die riesige goldene Statue einer jungen Frau.

„Wer ist sie?“, fragte Elea neugierig und starrte die Statue mit großen Augen an.

„Das ist Silfiri, das Symbol des Dorfes. Vor dreitausend Jahren, zu Beginn des großen Krieges zwischen Licht und Dunkelheit, erwachte eine Legende zum Leben, um den Menschen zu helfen. Sie wurde den Überlieferungen zufolge von sieben Wächtern an diesem Ort gefunden, aber ich denke, dass da irgendetwas falsch überliefert wurde und …“

Elea bemerkte nicht, dass Cal soeben fortfahren wollte, seine Zweifel an den Überlieferungen kundzutun und trat einige Schritte auf die Statue zu.

„Irgendwie kommt sie mir bekannt vor … Ich kenne dich …“, murmelte sie verwundert und konnte den Blick nicht von der Statue abwenden. Ihr Anblick faszinierte sie.

Nachdenklich wandte sie sich schließlich wieder Cal zu. Er schien ihre Bemerkung nicht gehört zu haben und hatte mit seinen Ausführungen fortgefahren.

„Jedenfalls … deswegen trägt dieses Dorf heute den Namen Can’aan, eigentlich Can’aan Ranoha, was in der alten Sprache soviel bedeutet wie …“

Elea zuckte erschrocken zusammen, als sie hinter Cal plötzlich einen hochgewachsenen jungen Mann entdeckte.

„Cal …“, begann sie nervös, doch dieser hatte den Mann längst bemerkt.

„Sedryn! Was machst du denn hier?“, fragte er erfreut, als ein Lächeln über das schöne Gesicht des Mannes huschte. Er hatte lange schwarze Haare, die zu einem lockeren Zopf in seinem Nacken zusammengebunden waren.

„Willst du mir nicht deine hübsche Begleiterin vorstellen?“, fragte der Fremde und musterte Elea von Kopf bis Fuß.

Die Stimme des Mannes klang warm und rein und jagte einen Schauder über Eleas Rücken. Das Lächeln, das er ihr zuwarf, ließ sie rasch den Blick abwenden, um die sanfte Röte, die sich auf ihr Gesicht schlich, zu verbergen.

„Das ist Elea, eine Freundin von Yvannie und mir.“

„Du hast eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr“, bemerkte Sedryn grinsend. „Nur das ihr Haar nicht weiß ist und auch deine Augen spiegeln etwas anderes wider …“

Er beugte sich nach vorn, um sie genauer zu betrachten, doch Elea wich erschrocken zurück. Was wollte dieser Mann von ihr?

„Ich tu’ dir nichts“, meinte er überrascht und hob abwehrend die Arme nach oben.

‚Was ist das?‘, fragte sich Elea verwirrt und ängstlich zugleich. ‚Warum fühle ich mich in seiner Gegenwart so seltsam? So … so hilflos?‘

„Elea? Alles in Ordnung?“, fragte Cal und musterte sie besorgt.

Sie nickte zögerlich und wandte sich schließlich wieder der Statue zu.

Das bedrohliche Gefühl, das sie in Sedryns Gegenwart verspürte, behagte ihr ganz und gar nicht und so beschloss sie, sich wieder ihren Gedanken und der Statue vor sich zu widmen.

Jene Frau, Silfiri, wie Cal sie genannt hatte, faszinierte sie ungemein.

Auch wenn sich Elea dieses Gefühl nicht erklären konnte, sie kannte sie, da war sie sich sicher. Doch woher? Und vor allem, wie konnte sie sie kennen, wenn all das vor dreitausend Jahren geschehen war?

Verwundert schüttelte sie den Kopf und kniff die Augen nachdenklich zusammen.

Cal und Sedryn redeten leise miteinander und entfernten sich immer weiter von Elea.

„Wir sind gleich wieder zurück. Warte hier auf mich, ja?“, sagte Cal und folgte Sedryn, der in einer schmalen Gasse verschwunden war, ohne Eleas Antwort abzuwarten.

Sie nickte nur geistesabwesend und starrte weiterhin die Statue mit großen Augen an.

Kehrte ihre Erinnerung allmählich wieder?

„Du siehst Yvannie so ähnlich …“, murmelte sie leise vor sich hin. „Aber du bist es nicht … oder doch? Nein … dreitausend Jahre sind eine lange Zeit, die kein Mensch überbrücken kann … Du kannst es nicht sein. Aber wer bist du? Woher kenne ich dich?“

Es war sinnlos, weiter darüber nachzudenken, dachte sie. Sie konnte sich ja nicht einmal an ihre eigene Vergangenheit, geschweige denn ihren Namen, erinnern. Wie sollte sie sich da an jemand anderen erinnern?

Sie seufzte innerlich und drehte sich um. Verwundert hielt sie den Atem an. Cal und Sedryn waren verschwunden.

Für einen Moment schien es ihr so, als wäre die Zeit stehen geblieben und es dauerte einen Moment ehe sie realisierte, was das zu bedeuten hatte.

Hatte man sie vergessen?

Sie war sich nicht sicher und versuchte zurückzudenken. Hatte Cal nicht irgendetwas zu ihr gesagt? Nachdenklich senkte sie den Blick und rieb sich die Stirn. Was auch immer es gewesen war, sie hatte es vergessen.

Panik machte sich in ihr breit und ließ ihr Herz schneller schlagen.

Entgeistert rannte sie los, um Cal zu suchen.

Als sie Can’aan schließlich hinter sich gelassen hatte, blieb sie schwer atmend stehen und warf einen angsterfüllten Blick zurück. Niemand, den sie hätte fragen können, war zu sehen.

Ein kalter Windstoß ließ sie frösteln.

Das Heulen des Windes jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken und ließ sie erschrocken zusammenzucken.

Elea hielt den Atem an. Sie fürchtete sich.

‚Irgendetwas stimmt mit dem Wind nicht!‘, dachte sie angsterfüllt und den Tränen nahe. ‚Diese Kälte … diese unbeschreibliche Kälte!‘

Plötzlich überkam sie das unheimliche Gefühl beobachtet zu werden und sie rannte schließlich völlig verstört weiter.

Als sie einen nahen Hügel erklomm, begann es noch stärker zu regnen. Völlig außer Atem kam sie zum Stehen.

„Ich werde ihn nie finden …“, flüsterte sie verzweifelt und kauerte sich schließlich unter einem einsamen Baum nieder, als der Regen immer heftiger und kälter wurde.

In der Ferne konnte sie leise Stimmen flüstern hören. Kalte, tote Stimmen …

Cal und Sedryn unterhielten sich leise über Elea.

Er erzählte ihm alles, was er über sie wusste und was er dachte. Er erzählte ihm davon, wie er sie völlig verstört im Wald fand, Yvannie ihr versprach, Licht in ihre Vergangenheit zu bringen und was sie sagte, als sie den kleinen See vor ihrem Haus betrachtete.

Sedryn war schon immer von Yvannies Hilfsbereitschaft fasziniert gewesen und schüttelte entgeistert den Kopf. „Ich kann deine Schwester einfach nicht verstehen. Ihre Hilfsbereitschaft wird ihr früher oder später noch zum Verhängnis werden“, meinte er fassungslos und starrte Cal mit durchdringendem Blick direkt in die Augen.

Wieder und wieder hatte er ihn ermahnt, sich um seine Schwester zu kümmern, doch Cal war noch immer sehr jung und sich der Gefahr sicher nicht voll und ganz bewusst, der sie sich mit ihrem Verhalten aussetzte. Sedryn seufzte innerlich und beschloss, bei nächster Gelegenheit mit Yvannie darüber zu sprechen.

„Irgendetwas stimmt mit dieser Elea nicht“, meinte er dann einige Augenblicke später nachdenklich, doch Cal schüttelte langsam den Kopf und sah ihn nun ebenfalls mit einem allesdurchdringenden Blick an.

Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen.

„Das mag sein, aber meiner Meinung nach ist sie nicht böse … Nicht sie …“, entgegnete er nur und wusste nicht recht, wie er Sedryn von seinen Gefühlen überzeugen konnte.

Dieser schüttelte bei diesen Worten den Kopf und zog neugierig eine Augenbraue nach oben. „Was macht dich da so sicher? Du weißt doch gar nicht, wer sie ist und vor allem, was sie ist.“

Jetzt war es Cal, der bestimmt den Kopf schüttelte und die Augen zu Schlitzen zusammenkniff. „Ich weiß auch nicht, es ist nur so ein Gefühl, das ich nicht erklären kann …“

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her und dachten darüber nach.

„Was denkst du, was sie ist?“, fragte Cal schließlich nach einiger Zeit neugierig und sah zu Sedryn auf.

Dieser schien sichtlich überrascht über die Frage und blieb stehen.

„Nun ja, das weiß ich auch nicht. Aber auf jeden Fall ist sie kein Mensch, da bin ich mir sicher. Kein menschliches Wesen hat solch reines weißes Haar.“

„Dann kannst du aber auch nicht sagen, dass sie zur Dunkelheit gehört“, meinte Cal trotzig.

Sedryn seufzte. Allmählich kamen ihm Zweifel daran, ob es klug gewesen war, Cal sein kleines Geheimnis anzuvertrauen.

„Lass uns zurückgehen. Die Dunkelheit kommt immer näher …“

Cal nickte zustimmend. Auch er konnte es spüren.

Als sie den Festplatz im Zentrum Can’aans erreichten, wartete Yvannie bereits ungeduldig auf sie.

„Sedryn! Was machst du denn hier?“, fragte sie, begeistert ihren alten Freund wiederzusehen, und umarmte ihn fröhlich. „Warum kommst du uns denn nie besuchen? Ich habe dich schon so viele Male eingeladen, aber du lässt dich einfach nicht blicken.“ Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, doch ehe dieser etwas erwidern konnte, sah sie an ihm und Cal vorbei.

„Wo ist Elea?“ Stirnrunzelnd sah sie sich um.

Cal blinzelte überrascht und folgte dem Blick seiner Schwester. Sie war wirklich nirgends zu entdecken.

„Ich sagte ihr, sie solle hier auf mich warten“, meinte er ein wenig verwundert und legte den Kopf schief. „Sie müsste eigentlich …“

„Aber sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen zu sein“, warf Sedryn dann schuldbewusst ein.

„Und warum hast du nichts davon gesagt?“ Yvannie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und begann hilflos im Kreis zu laufen. Der Regen, der auf sie niederfiel, jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken und ließ sie schließlich zornig die Hände zu Fäusten ballen. Was sollte sie nun tun?

„Sie hat bestimmt gedacht, ihr habt sie vergessen und ist nun ganz verstört auf der Suche nach euch …“, murmelte sie voller Sorge und presste ihre zitternden Hände gegen ihre Wangen.

Cal funkelte Sedryn böse an und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, als dieser schließlich seufzte und es vermied, ihn direkt anzusehen.

„Ich werde sie suchen gehen“, bot Sedryn dann an, als der Regen noch stärker wurde. „Geht ihr beide nach Hause. Ich werde sie schon finden“, fügte er noch hinzu, als Yvannie gerade etwas einwenden wollte.

Sie schüttelte den Kopf und beharrte darauf, ihn bei seiner Suche zu unterstützen.

„Ich weiß, dass du den Regen nicht magst und du hast sehr gute Gründe dafür“, sagte Sedryn weiter und sah sich besorgt um.

Yvannie sah ihn verwundert an und legte fragend den Kopf schief. „Was meinst du damit?“

Er sah ihr tief in die Augen und schüttelte dann den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit dafür. „Ich werde es dir erzählen, wenn ich Elea zurückgebracht habe, und jetzt geht!“

Sedryn konnte die Dunkelheit fühlen, wie sie sich langsam um sein Herz schloss und rannte los.

Er verschwand hinter einem zerfallenen Haus und sprang leichtfüßig über die Trümmer, die ihm den Weg versperren wollten.

Nach einiger Zeit blieb er in einer engen Gasse stehen und starrte in den dunkler werdenden Himmel hinauf. Er blinzelte sich den Regen aus den Augen, um wieder klar sehen zu können.

‚Warum tue ich das überhaupt? Wenn sie wirklich ein Wesen der Dunkelheit ist, dann könnte ich noch mehr Schaden anrichten …‘

‚Und wenn sie das nicht ist? Was wäre, wenn sie unsere Rettung ist?‘, flüsterte Cals Stimme in seinem Geist.

‚Vielleicht liege ich wirklich falsch, aber wenn nicht, dann …‘ Er schüttelte wild den Kopf und versuchte, die düsteren Bilder, die vor seinem geistigen Auge vorbeizogen, zu verdrängen. ‚Aber ich kann sie nicht schon wieder im Stich lassen!‘

Er rannte weiter.

Der Regen wurde immer kälter und graue Nebelschleier zogen auf, die ihm die Sicht erschwerten. Sie vermischten sich mit seinem Atem, der nun zu weißen Wolken vor ihm kondensierte und davonschwebte.

Aus weiter Ferne schienen leise Stimmen nach ihm zu rufen. Kalte Stimmen, die seine Bewegungen verlangsamten.

„Es hilft alles nichts …“, murmelte er, als er einen Hügel außerhalb Can’aans erklomm.

Er flüsterte etwas Unverständliches und konzentrierte sich auf Eleas Aura. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Dort war sie …

In der Ferne begann ein sanftes Licht zu leuchten, das ihm den Weg wies.

„Ich lag wohl doch falsch …“, meinte er überrascht zu sich selbst und setzte sich schließlich wieder in Bewegung.

Das Licht führte ihn tatsächlich zu Elea.

Sie saß zusammengekauert unter einem großen Baum und zitterte vor Kälte, die Arme fest um die angezogenen Knie geschlungen. Ihr langes Haar klebte ihr in nassen Strähnen im Gesicht.

Mitleidig sah er sie an und atmete tief durch. Sie hatte ihn nicht bemerkt.

Dann zog er seinen völlig durchnässten Mantel aus und legte ihn ihr über die Schultern.

Elea zuckte erschrocken zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte und sah auf. Ungläubig starrte sie Sedryn an, unfähig etwas zu sagen.

„Er wird dich trotzdem warm halten“, sagte er lächelnd und strich ihr übers Gesicht. Er war sich sicher, dass sie geweint hatte und dies noch immer tat, doch der Regen verwischte ihre Tränen.

„S-Sedryn … i-ihr habt mich also doch nicht vergessen?“, flüsterte sie mit zitternder Stimme.

War er wirklich gekommen, um sie abzuholen?

Langsam streckte sie ihre rechte Hand nach ihm aus und berührte seine feuchte, kühle Wange. Er war wirklich; er war wirklich gekommen, um sie nach Hause zu holen.

Dann warf sie sich ihm um den Hals und schluchzte leise.

„Ich danke dir … ich danke dir so sehr …“, flüsterte sie kaum hörbar und konnte nur mit Mühe das Zittern ihres Körpers unterdrücken.

„Ist schon gut, Yvannie und Cal warten bereits auf dich. Ich bring dich nach Hause. Na komm, steig auf meinen Rücken.“

Er nahm sie Huckepack und stapfte los. Das warme Gefühl, das ihn jetzt durchströmte, ließ ein erfülltes Lächeln auf seinem Gesicht entstehen.

‚Cal hatte recht …‘, dachte er gebannt, als er mit Elea auf dem Rücken den Hügel hinabstieg, und sein Herz begann schneller zu schlagen. ‚Sie ist nicht böse. Vielleicht ist sie ja wirklich hier, um uns zu retten … So wie damals …‘

KAPITEL 2

„Bin ich froh“, flüsterte Yvannie erleichtert, als sie die beiden in der Dunkelheit erkannte und fasste sich an die Brust. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

Sie öffnete die Tür und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich ihren Weg nach draußen bahnen wollten.

Auch wenn sie Elea nun erst seit einem Tag kannte und eigentlich nichts über sie wusste, so hatte sie sie doch ins Herz geschlossen und fühlte sich für sie verantwortlich.

Sedryn schien sehr müde zu sein, auch wenn er dies nie zugeben würde, doch Yvannie erkannte es in seinen Augen, als er mit Elea, die er noch immer auf dem Rücken trug, näher kam.

Kaum war Elea von seinem Rücken gestiegen, fiel ihr Yvannie um den Hals und drückte sie fest an sich.

„Ich habe mir solche Sorgen gemacht …“, flüsterte sie mit zitternder Stimme und wandte sich schließlich Sedryn zu. „Komm her, Sedryn, lass dich umarmen! Ich danke dir von ganzem Herzen!“

Geduldig ließ er die Umarmung über sich ergehen und folgte den beiden schließlich ins Haus.

„Ich habe Tee gemacht. Willst du heute Nacht hier bleiben, Sedryn? Du weißt, wir haben immer einen Platz für dich.“ Yvannie verfiel wieder ganz in ihre Rolle der Haushälterin.

Sedryn schüttelte lächelnd den Kopf und winkte ab. „Nein, ich bin sehr beschäftigt … Ein anderes Mal vielleicht.“

„Dann solltest du dich aber wenigstens aufwärmen“, schlug Cal vor und reichte ihm und Elea eine Tasse Kräutertee.

Er führte sie zu der kleinen Feuerstelle hinüber, die er bereits kurz vor ihrer Ankunft entzündet hatte und bat sie, sich zu setzen.

Sedryn schloss müde die Augen, als er das wärmende Feuer auf seiner Haut spürte und genoss das angenehme Gefühl, das diese Wärme mit sich brachte.

„Wie hast du sie überhaupt gefunden?“, fragte Yvannie schließlich neugierig, als sie etwas Gebäck zu ihnen brachte und sich ebenfalls setzte. Sie war noch immer erstaunt, wie Sedryn sie in dieser kurzen Zeit hatte finden und zurückbringen können.

„Ganz einfach, ich habe sie gesucht“, entgegnete er schlicht und nahm sich etwas Gebäck. Er konnte ihr ja unmöglich sagen, dass er Magie verwendet hatte, um Elea zu finden. Yvannie würde ihm nicht glauben.

Er betrachtete das Gebäck, das er in der Hand hielt, eingehender und biss schließlich herzhaft hinein.

„Das ist echt gut“, meinte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und kaute genussvoll. Dann sah er Yvannie direkt in die tiefblauen Augen und hoffte, sie so von ihrem eigentlichen Thema ablenken zu können.

Sie errötete und wandte den Blick mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen von ihm ab.

Sedryn und Cal tauschten wissende Blicke. Sie hatte den Köder geschluckt.

Yvannie sah zu Elea hinüber und nahm sie bei der Hand.

„Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Du bist sicher erschöpft“, meinte Yvannie mit einem mütterlichen Lächeln auf den Lippen und zog sie mit sich. „Es ist nicht sehr groß, aber ich denke, es wird dir gefallen.“

Im Zimmer standen überall Kerzen und erhellten den Raum.

Die Wände bestanden aus weißem Stein und bildeten einen schönen Kontrast zu den massiven Holzschränken, die im Kerzenschein beinahe schwarz erschienen.

Auf dem Bett lagen ein langes Nachthemd und ein Handtuch.

Yvannie hatte sich sehr viel Mühe gegeben, das Zimmer wieder herzurichten, denn nach dem Tod ihrer Eltern hatten es weder sie noch Cal jemals wieder betreten, um nicht ständig daran erinnert zu werden, was sie verloren hatten.

„Die Kerzen hat Cal aufgestellt. Er meinte, sie werden dich beschützen“, erklärte Yvannie lächelnd und wandte sich Elea zu.

Ein Lächeln huschte über deren Gesicht, als sie sich aufs Bett setzte und über die weiche Decke streichelte.

„Gute Nacht“, sagte Yvannie mit einem gequält wirkenden Lächeln auf den Lippen und verließ das Zimmer.

Mit Tränen in den Augen lehnte sie noch einen Moment an der Tür, dann schüttelte sie den Kopf und ging wieder zu Cal und Sedryn zurück.

Elea erhob sich, ging zum Fenster hinüber und starrte in die dunkle Nacht hinaus. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Nebel schien nicht verschwinden zu wollen.

Am Himmel tauchten die Sterne allmählich hinter den Wolken auf und der silberne Mond kroch in der Ferne hinter den Bergen hervor.

‚Trotz des Mondlichts ist es so dunkel … unheimlich …‘

Elea schüttelte ängstlich den Kopf und versuchte, jene dunklen Gedanken zu vertreiben. ‚Denk einfach nicht daran.‘

Sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter und sie erschauderte.

‚Ein Bote der Morva … aber was wollen die hier? Hier gibt es doch nichts von Interesse für sie … oder doch?‘

Stirnrunzelnd zog sie die Vorhänge zu und ließ sich auf dem Bett nieder.

„Was sollte das?“, fragte sie sich verwirrt und dachte über ihre Gedanken nach, die klangen, als würde sie die Morva kennen.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer in ihre nasse Kleidung gehüllt war und das Bett durchnässte. Eilends sprang sie auf und entledigte sich dieser, dann streifte sie das samtig weiche Nachthemd über, das Yvannie für sie bereitgelegt hatte.

Gedankenverloren strich sie über Sedryns Mantel, den sie noch immer bei sich trug, doch sie wollte das Zimmer jetzt nicht mehr verlassen und beschloss, ihn solange aufzubewahren, bis sie Sedryn wieder traf.

Mit einem flüchtigen Blick zur Türe, kroch sie unter die Bettdecke. Erst jetzt bemerkte sie, wie müde sie war.

Das Letzte woran sie dachte ehe sie einschlief, war Sedryn, wie er plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr stand und sie vor der Dunkelheit rettete.

„Musste das sein?“, fragte Cal wütend, als Elea und Yvannie das Zimmer verlassen hatten.

Sedryn sah ihn überrascht an. „Was meinst du?“, fragte er unschuldig und hob abwehrend die Hände nach oben, als Cal ihn mit finsterem Blick anfunkelte.

„Du weißt ganz genau, was ich meine! Musstest du sie so auf die Probe stellen?“

Sedryn senkte den Kopf und seufzte. Cal hatte ihn also durchschaut.

„Es war falsch, ich weiß … aber jetzt bin ich mir sicher; sie ist nicht böse, du hattest recht. Ich hätte deinen Gefühlen wieder vertrauen sollen … dein Instinkt ist einfach bemerkenswert.“

„Worüber redet ihr?“

Beide drehten sich erschrocken um und hielten den Atem an.

Yvannie stand im Türrahmen gelehnt und lächelte die beiden neugierig an.

„Nur darüber, wie lecker deine Kekse sind“, log Sedryn grinsend und zwinkerte ihr zu.

Yvannie sah ihn misstrauisch an und blickte dann enttäuscht zu Boden. „Du warst schon immer ein schlechter Lügner, Sedryn. Ihr müsst mir nicht sagen, worüber ihr euch unterhalten habt, aber bitte, lügt mich nicht an.“

Für einen Moment konnte Sedryn ein enttäuschtes und verletztes Glitzern in ihren Augen erkennen und er zuckte zusammen. Er wollte Yvannie nicht verletzen.

„Geht es Elea gut?“, fragte er dann, um das drückende Schweigen zu durchbrechen.

Yvannie gesellte sich zu ihnen.

„Ja, ich denke schon. Ich danke dir für deine Hilfe. Ohne dich … ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte …“

Sedryn lächelte sie an und legte ihre Hände in die seine. „Für dich tue ich doch alles, liebe Yvannie.“ Er sah zum Fenster hinüber. „Es ist Zeit aufzubrechen. Ich werde euch bald besuchen kommen, versprochen.“

Ein breites Lächeln huschte über Yvannies Gesicht. „Das will ich auch hoffen. Sonst gibt’s keine Kekse mehr für dich.“

Sedryn lächelte und ließ sich ein weiteres Mal von Yvannie umarmen.

„Der Mond geht auf, dann ist ja alles wieder gut“, meinte er und verabschiedete sich.

„Aber es ist ziemlich kalt“, entgegnete Yvannie, ohne richtig verstanden zu haben, was er damit meinte.

„Oh, Elea hat noch immer deinen Mantel!“, erinnerte sie sich und wandte sich von ihm ab. „Warte, ich hole ihn schnell.“

Sedryn hielt sie zurück. „Lass sie schlafen. Ich werde ihn mitnehmen, wenn ich wiederkomme. Tschau!“

Er verschwand in die Nacht hinaus, ohne Yvannies Antwort abzuwarten.

Yvannie sah ihm nach und ging, als es ihr zu kalt wurde, wieder ins Haus.

„Ich gehe dann auch schlafen. Ich bin ziemlich müde“, murmelte Cal, als sie sich wieder zu ihm gesellte, und rieb sich die Augen.

„Ja, keine schlechte Idee. Ich putze noch ein bisschen und dann gehe auch ich schlafen. Gute Nacht.“

„Mach das doch morgen, es ist schon so spät“, meinte Cal kopfschüttelnd und sah sie besorgt an. „Vielleicht helfe ich dir dann auch.“

Yvannie lächelte. „Ist schon gut, es ist ja nicht viel“, entgegnete sie und scheuchte ihn schließlich davon, als er keine Anstalten machte zu gehen. „Na, geh schon.“

Als die Sonne langsam hinter den Bergen hervorkroch, erwachte Elea.

Sie öffnete langsam die Augen und sah sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, war ihr fremd und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Doch dann erinnerte sie sich wieder; sie war in Yvannies Haus.

Im schwachen Licht, das durch die Vorhänge kroch, sah das Zimmer noch viel schöner aus als am vergangenen Abend.

Elea schob die Bettdecke von sich und trat zum Fenster hinüber. Sie zog die Vorhänge beiseite und öffnete es. Eine sanfte Brise wehte ihr entgegen und spielte mit ihrem Haar. Die Sonne schien ihr mit solcher Kraft ins Gesicht, dass sie blinzeln musste und sie dazu zwang, eine Hand zum Schutz ihrer Augen anzuheben.

„Ein schöner Morgen“, murmelte sie erfreut und blickte verträumt in die Ferne.

Nachdenklich ließ sie ihren Blick schweifen und sah sich um. Dann erblickte sie Cal, der freudig im See planschte.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie beschloss, ihm Gesellschaft zu leisten.

Was am vergangenen Tag geschehen war, hatte sie tief in ihrem Bewusstsein vergraben. Sie wollte nicht daran erinnert werden und die Angst vergessen, die sie schier um den Verstand gebracht hatte.

„Guten Morgen, Cal! So früh schon wach?“

Sie ließ sich am Ufer des Sees, nahe der alten Weide, nieder und lächelte ihn an. Es schien, als würden sie sich schon ewig kennen.

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, entgegnete er fröhlich. „Ich hoffe, du verzeihst mir das von gestern. Ich hätte mehr darauf achten sollen, ob du mir überhaupt zuhörst … Es tut mir leid.“

Elea schüttelte den Kopf. „Ist schon gut, das ist Vergangenheit. An so einem schönen Morgen sollte man nicht in Erinnerungen schwelgen …“

Als sie allerdings das Wort Erinnerungen aussprach, wurde ihre Stimme traurig und sie wandte den Blick von Cal ab.

Cal verstand.

„Elea … du wirst deine Erinnerung früher oder später zurückbekommen. Du musst nur daran glauben, und Yvannie und ich werden dir dabei helfen, das haben wir dir versprochen.“

Cal sah sie mit großen Augen an. Er konnte es nicht ertragen, jenen kummervollen Blick, den seine Schwester Tag ein Tag aus im Gesicht trug, nun auch bei Elea zu erblicken.

„Willst du nicht auch reinkommen?“, fragte er dann und hoffte, sie so etwas aufheitern zu können.

Elea schüttelte den Kopf und wollte aufstehen. „Nein, danke. Ich werde wieder reingehen und …“

„Ach, bitte!“ Cal setzte eine beleidigte Miene auf und schwamm aufs Ufer zu. „Komm schon. Zu zweit ist es doch viel lustiger! Bitte!“

Zur Demonstration spritzte er sie nass und sah sie erwartungsvoll an.

Triefend stand Elea nun vor ihm und sah ihn überrascht an. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

„Das bekommst du zurück!“, sagte sie grinsend und rannte auf ihn zu.

Cal schwamm lachend ein Stück zurück.

Das Wasser war kalt, aber irgendetwas darin verhinderte, dass Elea fror.

„Dieser See ist seltsam …“, murmelte sie schließlich verwundert und blieb stehen, als nur noch ihr Kopf hinausragte.

„Du fühlst das auch?“

Sie nickte. „Ich hatte es gestern auch schon erwähnt, aber Yvannie scheint nicht an Magie oder dergleichen zu glauben. Was ist eigentlich mit dir?“

Cal schwamm auf sie zu.

„Natürlich glaube ich daran. Das ist doch die Kraft, die alles hier zusammenhält! Ohne die Magie würde das alles hier nicht existieren, genauso wenig wie wir.“

Elea sah ihn an, sagte aber nichts mehr.

Hielt die Magie wirklich alles zusammen?

Irgendetwas sagte ihr, dass sie die Antwort darauf kannte, aber sie konnte sie nicht erreichen.

‚Später …‘, dachte sie und wartete geduldig darauf, bis Cal nahe genug bei ihr war, dann stürzte sie sich auf ihn und drückte ihn unter Wasser.

„Das war gemein“, meinte er, als er wieder auftauchte und sich das Wasser aus dem Gesicht wischte.

Elea konnte sich nicht mehr zurückhalten und fing an zu lachen.

„Das ist nicht komisch!“

Jetzt war es Cal, der sich auf Elea stürzte. Doch ihm gelang es nicht ganz, sie unterzutauchen und schließlich traf es ihn wieder.

Yvannie sah aus dem Fenster und lächelte, als sie Eleas fröhliches Lachen vernahm.

Gedankenverloren sah sie den beiden noch eine Weile zu, bis sie sich schließlich daran erinnerte, dass sie doch eigentlich Brot backen wollte.

Von draußen konnte sie immer wieder das Lachen und das Spritzen von Wasser vernehmen und jedes Mal musste sie lächeln. Wie gerne hätte sie den beiden Gesellschaft geleistet, doch in ihrer Rolle als ältere Schwester und Ersatzmutter hatte sie andere Aufgaben zu bewältigen und sie wollte, das Cal seine Kindheit in vollen Zügen genießen konnte.

‚Es ist lange her, dass in diesem Haus solch eine fröhliche Stimmung herrschte‘, erinnerte sich Yvannie, als sie den Brotteig in den kleinen Steinofen schob. ‚… seit Mutter und Vater gestorben sind …‘

Beim Gedanken an ihre Eltern seufzte sie leise und versuchte mit aller Macht, die Tränen zurückzuhalten, die sich ihren Weg nach draußen bahnen wollten. Auch wenn viele Jahre seither vergangen waren, so war die Erinnerung an ihren Tod noch immer lebendig und schmerzte sie jeden Tag aufs Neue.

„Fang jetzt nicht an zu heulen“, ermahnte sie sich selbst. „Das ist vergangen … Vergangenheit … Ich muss an die Zukunft denken … Cal braucht jemand, der stark ist; jemand, der sich um ihn kümmert …“

Zu ihrer Überraschung schaffte sie es tatsächlich, die Tränen zu unterdrücken und sie atmete tief durch, um ihr Innerstes zu beruhigen.

„Ist alles in Ordnung, Yvannie?“

Erschrocken sah sie auf; erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf dem Boden kauerte.

„Elea … du hast mich erschreckt“, war das einzige, was Yvannie hervorbrachte und fasste sich an die Brust. Ihr Herz raste.

„Irgendetwas macht dich traurig, ich kann es fühlen“, murmelte Elea betrübt und sah sie mit durchdringendem Blick an. Sie setzte sich neben Yvannie auf den Boden und eine kleine Wasserlache breitete sich um sie herum aus.

„Ich habe nur an meine Eltern gedacht …“, meinte Yvannie und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. „Tut mir leid. Du hast deine eigenen Probleme. Vergiss, was ich gesagt habe. Ich … Du machst ja alles nass!“

Yvannie sprang entgeistert auf, als sie die Pfütze um Elea herum und die feuchten Fußspuren im Flur bemerkte.

„Tut mir leid.“ Elea sah betreten zu Boden. „Ich wisch es sofort weg.“

„Nein, schon gut, zieh dir lieber trockene Kleidung an, sonst erkältest du dich womöglich noch. Im Schrank sind genug Sachen. Such dir etwas aus.“

Yvannie machte sich sogleich daran, die Pfütze zu beseitigen.

Elea sah ihr noch einen Moment dabei zu, dann verließ sie die Küche. Doch ehe sie außer Sicht geriet, drehte sie sich noch einmal um. „Yvannie, wenn du reden willst … ich bin für dich da. Wenn ich sonst nichts tun kann, lass mich dir wenigstens helfen, deinen Kummer zu ertragen …“

Yvannie sah vom Boden auf und legte den Lappen beiseite, dann lächelte sie.

„Ich weiß, danke!“

Nachdem Elea verschwunden war, machte sie sich wieder daran, den Boden zu wischen. Ihre Gedanken glitten immer wieder von ihren Eltern zu Elea und wieder zurück.

‚Woher wusste sie von meinem Kummer? Dass sie ausgerechnet in diesem Moment kam …‘, dachte sie verwundert und sah wieder auf. ‚Na ja … sie ist etwas Besonderes, das weiß ich …‘

Yvannie verglich Elea mit ihrer Mutter. Auch sie hatte immer gewusst, wenn jemand traurig war, egal, wie nah oder fremd ihr diese Person war. Sie wusste es und setze alles daran, den Kummer jener Person zu beseitigen.

Yvannie lächelte in sich hinein und holte schließlich das Brot aus dem Ofen. Ein köstlicher Duft breitete sich im Haus aus und zog, da war sie sich sicher, Cal magisch an.

„Du hast Brot gebacken?“, fragte eine kindliche Stimme hinter ihr.

Als sie sich umdrehte, konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken. „Ich wusste es doch“, sagte sie freudig und sah ihren kleinen Bruder schließlich entgeistert an, als sie die Wasserlache um ihn herum entdeckte. „Nicht schon wieder! Zieh dir trockene Kleidung an, du machst alles nass!“ Sie seufzte und warf ihrem Bruder einen tadelnden Blick zu.

Cal achtete nicht darauf, was Yvannie eben gesagt hatte und sah sich stattdessen in der Küche um.

„Hast du Elea gesehen? Sie ist so plötzlich verschwunden“, fragte er dann und sah seine Schwester an.

Sie nickte und lächelte.

„Sie zieht sich gerade um. Und nun geh; ich will nicht, dass du dich erkältest.“

Cal wusste, dass man mit Yvannie in diesem Thema nicht scherzen durfte und machte sich schnell aus dem Staub.

„Und nun zu euch Erdbeeren …“

Sie öffnete einen der oberen Schränke und holte den Erdbeerkorb vom vergangenen Tag herunter. Sie waren immer noch frisch und saftig, so wie Yvannie es wollte.

„Was mach ich denn aus euch? Hmm …“

Nachdenklich kniff sie die Augen zusammen und beschloss schließlich, sie so zu belassen. Cal liebte Erdbeeren, das wusste sie, besonders wenn er sie ohne viel Drumherum genießen konnte.

Yvannie stellte sie, zusammen mit dem frischen, noch heißen, Brot und ein wenig Gemüse, auf den Tisch.

Cal und Elea kamen nun nacheinander in die Küche.

Als er die Erdbeeren auf dem Tisch stehen sah, huschte ein breites Grinsen über sein Gesicht.

„Ich dachte schon, du machst einen Kuchen daraus …“, meinte er erleichtert, als er sich hinsetzte, und warf seiner Schwester einen dankbaren Blick zu. „Aber so ist es viel besser, so mag ich sie am liebsten!“

Yvannie nickte und freute sich für ihren Bruder. Sie selbst war nicht hungrig; ihre Gedanken hingen noch immer bei ihren verstorbenen Eltern, deren Erinnerung sich an diesem Tag wieder in ihr Bewusstsein gedrängt hatte und ihren Appetit hemmte.

Cal schien den Kummer seiner Schwester nicht zu bemerken und vergriff sich, ohne auf sie oder Elea zu achten, an den Erdbeeren. Das Brot oder Gemüse würdigte er keines Blickes.

Elea sah Yvannie mit traurigen Augen an. Sie konnte fühlen, dass sie etwas bedrückte, doch wusste sie auch, dass Yvannie nicht darüber sprechen würde.

„Ich wollte dir eigentlich helfen …“, meinte sie dann betrübt und biss zaghaft in eine Frucht, die einer Tomate glich.

„Du kannst den Abwasch machen, wenn du möchtest“, schlug Yvannie vor und lächelte sie an.

Eleas Miene hellte sich auf und sie nickte heftig. Wenn sie nun schon hier wohnen durfte, so musste sie Yvannie doch wenigstens zur Hand gehen so gut sie konnte, dachte sie.

Nachdem sie gegessen hatten, schickte sie Yvannie wieder nach draußen.

Elea sah sie enttäuscht an und ließ schließlich den Kopf hängen. Sie konnte sie doch nicht alles allein machen lassen.

„Aber ich wollte dir doch …“, begann sie und sah wieder auf.

Yvannie schüttelte sanft den Kopf und setzte ein mütterliches Lächeln auf.

„Du bist unser Gast. Es wäre sehr unhöflich, dich arbeiten zu lassen“, meinte sie bestimmt. „Geht schon, ich schaff das auch allein. Husch, husch!“ Sie wedelte mit den Armen und scheuchte die beiden nach draußen.

„Na komm, Elea, dann gehen wir eben in den Wald. Ich wäre froh, wenn ich den Abwasch nicht machen müsste!“ Cal zwinkerte ihr zu, nahm sie bei der Hand und zog sie aus der Küche.

Elea warf einen unglücklichen Blick zurück, doch Yvannie schüttelte erneut bestimmt den Kopf.

„Yvannie hat doch recht, du bist unser Gast“, sagte Cal, als sie schon eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren und er Eleas Gesichtsausdruck bemerkte. Sie schien sehr unglücklich über Yvannies Unwillen, ihre Hilfe zu akzeptieren.

„Denk nicht darüber nach, du musst es einfach immer wieder versuchen. Irgendwann wird sie schon nachgeben, du wirst sehen. Aber … eigentlich ist es ganz gut für sie, wenn sie so viel arbeitet … So vergisst sie wenigstens, über Vater und Mutter nachzudenken. Sie hängt viel zu sehr an der Vergangenheit und vergisst dabei ganz zu leben.“ Er seufzte betrübt und sah auf den Boden vor sich.

Elea warf ihm einen kurzen Blick zu, hielt es aber für besser, nichts zu erwidern. Irgendwann würde sie vielleicht danach fragen, wenn sie es für richtig hielt. Es ging sie zwar nichts an, aber es bereitete Yvannie und auch Cal, der es zu verbergen versuchte, großen Kummer. Sie hatte die beiden ins Herz geschlossen und wollte ihnen helfen wo sie konnte und sei es nur mit tröstenden Worten.

Im Wald gab es nicht wirklich aufregende Dinge zu sehen, stellten sie fest.

Als sie jedoch an der Stelle vorbeikamen, an der Cal Elea am vergangenen Tag gefunden hatte, legte sich eine traurige Stimmung über die beiden und keiner sagte mehr ein Wort.

Cal versuchte wieder und wieder Elea aufzumuntern, aber erst als die Menil, die seltenste Vogelart der Welt, über sie hinwegflogen und sich schließlich neben den beiden niederließen, hellte sich ihre Miene wieder auf.

Die Menil waren eigentlich sehr scheue Vögel, deren Gefieder sich silbern verfärbte, wenn sie Angst hatten. Waren sie jedoch fröhlich und fühlten sich wohl, trug ihr Gefieder die sanfte Farbe des Flieders. Dass sich ausgerechnet ein ganzer Scharm im Wald nahe seinem Zuhause eingenistet hatte, freute Cal ungemein, denn er liebte den klangvollen Gesang dieser Vögel.

„Du scheinst sie ja magisch anzuziehen“, meinte er schließlich neckisch und deutete auf einen Menil, der heller war als die anderen.

„Meinst du? Sie sind so fröhlich …“, murmelte Elea nachdenklich und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Der Menil, der sich auf ihrer Schulter niedergelassen hatte, rieb seine Wange an der Eleas und zu deren Überraschung wechselte sein Gefieder in einen hellen Goldton über.

Schließlich sang er ein fröhliches Liedchen für die beiden, in das die anderen mit einstimmten.

„Ihr seid nur deswegen gekommen?“, fragte Elea einen der Menil überrascht, als sich dieser auf ihrer ausgestreckten Hand niederließ und streichelte ihm sanft über die Flügel.

Der Menil begann zu singen und Elea musste lachen.

„Du kannst mit ihnen sprechen?“, fragte Cal erstaunt und sah sie mit großen Augen an.

„Kannst du das etwa nicht?“ Elea sah ihn verwundert an und legte fragend den Kopf schief.

Er sah betrübt zu Boden. „Nein … aber ich würde sie gern verstehen können …“, entgegnete er leise und warf dem Menil auf Eleas Hand einen sehnsüchtigen Blick zu, der daraufhin auf seine Schulter sprang und ihm etwas ins Ohr zwitscherte.

„Ich kann dich leider nicht verstehen, mein kleiner Freund“, entgegnete Cal enttäuscht und sah hilfesuchend zu Elea hinüber.

Hör auf dein Herz, dann wirst du uns verstehen“, übersetzte sie lächelnd. „Du kannst es, du musst nur daran glauben. Dein reines Herz wird dir den Weg weisen.“

Cal dachte über ihre Worte nach, hielt es aber für besser, nichts weiter darauf zu erwidern und versuchte stattdessen, den Gesängen Worte zu verleihen. Doch auch dann konnte er nur erahnen, was ihm die Menil zu sagen versuchten. Enttäuscht gab er schließlich auf.

„Na ja, ist nichts für mich, wie es scheint … damit muss ich mich abfinden … Tut mir leid, mein kleiner Freund.“ Er strich dem Menil noch einmal über die Flügel und verabschiedete sich von ihm.

Die Menil sangen den beiden zum Abschied ein kleines Liedchen, dann begleiteten sie sie an den Rand des Waldes, ehe sie sich wieder in die Baumkronen zurückzogen.

„Wir werden uns wiedersehen“, meinte Elea lächelnd und winkte ihnen zu.

Als sie zu Hause ankamen, dämmerte es bereits und Yvannie warf ihnen einen vernichtenden Blick zu, als sie sie erblickte. Sie hatte bereits begonnen, sich Sorgen zu machen.

„Tut uns leid, Yvannie. Wir haben neue Freunde gefunden und uns mit ihnen unterhalten … na ja, zumindest versucht“, fügte Cal verlegen hinzu und wich dem ernsten Blick seiner Schwester aus.

„Und wie heißen eure neuen Freunde?“, fragte sie neugierig. Auch wenn sie wollte, konnte sie ihnen nicht lange böse sein.

„Es sind die Menil“, sagte Elea lächelnd.

„Meinst du diese seltene Vogelart?“ Yvannie sah die beiden verwundert an und blinzelte. Sie selbst hatte die Menil nur ein einziges Mal erblickt.

„Genau die“, entgegnete Cal und war froh darüber, dass sich Yvannie wieder beruhigt zu haben schien. „Aber ich konnte sie nicht verstehen, Elea hingegen schon.“

Nun wanderte ihr Blick zu Elea hinüber. „Du verstehst die Vogelsprache? Interessant …“

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über die Menil und deren Seltenheit und Freundlichkeit, von der Elea am meisten zu wissen schien, auch wenn sie nicht wusste, woher dieses Wissen kam.

Dann gingen sie zu Bett.

Cal stand noch einige Zeit am offenen Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus. Tausende winziger Sterne standen am Himmel und spiegelten sich in der glatten Oberfläche des Sees wie kleine funkelnde Diamanten wider.

‚Ist Elea vielleicht die, die wir so verzweifelt suchen?‘, schoss es ihm durch den Kopf und er kniff die Augen zusammen. ‚Wenigstens ist Sedryn meiner Meinung … Elea ist nicht böse. Aber wer ist sie wirklich?‘

Er war zu müde, um sich noch weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, also beschloss er, sich am nächsten Tag damit zu befassen, wie er sich darüber gewiss werden konnte, wer sie wirklich war.

Es vergingen zehn weitere Tage, ohne dass Cal etwas Passendes einfiel.

Elea hatte sich inzwischen sehr gut eingelebt und dachte nicht mehr, zumindest hatte es für ihn den Anschein, über ihre Vergangenheit nach. Sie hatte sogar Yvannie dazu gebracht, ihr ein wenig zur Hand gehen zu dürfen und sie wies sie in die Kunst des Nähens ein.

Nun saß Cal allein auf einem Hügel und dachte wieder nach.

In den letzten drei Tagen war er sehr oft hier gewesen. Es tat ihm zwar weh, Elea allein zu lassen, aber sie hatte ja noch Yvannie. Und irgendwie musste er doch einen klaren Kopf bekommen, um ihr helfen zu können ihre Erinnerung zurückzugewinnen. Sein Herz drängte ihn dazu, eine Antwort zu finden und das zu ergründen, was in ihm erwacht war.

„Cal? Was ist nur los mit dir?“

Elea stand hinter ihm und sah ihn besorgt an. In ihrer linken Hand trug sie einen Korb, den sie am Boden abstellte, ehe sie neben Cal ins Gras sank.

Er sah sie mit großen Augen an und seufzte leise, antwortete aber nicht.

„Was stimmt dich so nachdenklich?“, fragte sie dann betrübt, als er keine Anstalten machte, mit ihr zu sprechen und sah ihn mit großen, forschenden Augen an. Etwas an ihm hatte sich verändert, fühlte sie. „Seit wir die Menil trafen, verhältst du dich so seltsam … Du ziehst dich immer mehr zurück. Ist es meinetwegen?“

„Wie hast du mich gefunden?“, fragte er stattdessen und lächelte ein wenig unsicher. Er wollte nicht, dass Elea sich seinetwegen Sorgen machte.

„Das war nicht schwer, ich bin einfach deinen Fußspuren gefolgt. Das Gras ist so trocken und erholt sich nur schwer … Regen … es sollte endlich mal wieder regnen …“, murmelte sie und blickte betrübt in die Ferne.

Cal sah sie überrascht an und lächelte verlegen. Er hatte nicht gedacht, dass sie ihn auf diese einfache, unspektakuläre Weise finden würde.

„Hier. Das hat mir Yvannie für dich mitgegeben.“

Elea schob das aufwändig bestickte Tuch zur Seite und hielt Cal den Korb unter die Nase.

Yvannie hatte sich viel Mühe gegeben und ihm ein kleines Vesper zubereitet.

„Ich danke dir“, sagte er mit leuchtenden Augen und zog eine Handvoll Erdbeeren aus dem Korb hervor, zusammen mit einem üppig belegten Brot. Er brach das Brot entzwei und reichte Elea die Hälfte.

Sie lächelte und nahm es dankend an.

„Auch Yvannie macht sich große Sorgen um dich …“, sagte sie schließlich und folgte seinem Blick in die Ferne. „Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“

Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch innerlich kannte sie seine Antwort bereits. Er würde nicht mit ihr darüber sprechen. Ihr Herz sagte ihr, dass er sich ihretwegen den Kopf zerbrach und seine Gedanken deshalb auf keinen Fall mit ihr teilen würde.

Betrübt ließ sie den Kopf hängen und strich über das gelbe Gras, das, nach Wasser schreiend, versuchte sich wieder aufzurichten.

Von Westen her zogen langsam Regenwolken auf und verdeckten die allmählich untergehende Sonne.

„Man könnte meinen, du hättest ihn gerufen“, meinte Cal scherzhaft und lachte, als er ein leises Grollen in der Ferne vernahm und sich an Eleas Worte erinnerte.

„Die Regenwolken? Das wäre schön, aber so etwas können doch nur Magier. Magie …“ Ihr Blick glitt wieder in die Ferne. Etwas regte sich in ihr, sie konnte es fühlen, doch sie vermochte nicht zu sagen, was es war, das sie in eben diesem Moment bewegte.

Cal sah sie neugierig an. Auch er fühlte etwas. Begann sie sich allmählich zu erinnern?

„Wir sollten nach Hause gehen, ehe es dunkel wird. Yvannie wartet bestimmt“, sagte sie, als der Wind schließlich auffrischte, und riss Cal aus seinen Gedanken.

„Ich will noch etwas hierbleiben“, entgegnete er langsam und vermied es, sie direkt anzusehen. „Geh du schon mal vor. Ich folge dir in Kürze, versprochen.“

Elea seufzte, erhob sich dann aber und nickte. „Na gut, aber bleib nicht zu lange. Wer weiß, was Yvannie mit mir macht, wenn sie mitbekommt, dass ich dich bei dem kommenden Unwetter noch hier draußen sitzen lasse.“

Irgendwie übernahm Elea langsam die Rolle einer großen Schwester für Cal, ohne es zu merken. Cal war darüber sehr glücklich, denn seit dem Tod seiner und auch Yvannies Eltern hatte diese die Mutterrolle übernommen.

Kurz bevor Elea das Haus erreichte, begann es zu regnen. Zu ihrer Überraschung war der Regen diesmal jedoch nicht kalt und unheimlich. Keine toten Stimmen lagen in der Luft und sie atmete erleichtert aus. Der Regen war rein und freundlich und brachte der Natur das, was sie momentan am meisten brauchte: Wasser.

„Cal kommt später wieder“, erklärte sie Yvannie, die neugierig an ihr vorbei sah, als sie sie entdeckte. „Er wollte noch ein wenig nachdenken, glaube ich.“

Yvannie nickte langsam, sagte aber nichts dazu.

Cal wird seine Gründe haben …‘, dachte sie, traurig darüber, dass er nicht länger mit ihr über seine Probleme, oder was ihn beschäftigte, sprach.

„Ich bin doch schon wieder da. Du brauchst also nicht so ein Gesicht zu ziehen, Yvannie“, sagte Cal neckisch und ließ Elea erschrocken herumfahren.

„Ich glaube, ich habe jetzt auch eine Lösung gefunden, wie ich dir helfen kann, Elea!“

„Na dann lass mal hören“, warf Yvannie neugierig ein und musterte ihn eingehend. Ihr selbst war nämlich nichts eingefallen, was wirklich hilfreich gewesen wäre.

„Nein, sie wird es morgen erfahren – oder besser gesagt, morgen werde ich es ihr zeigen. Es wird alles gut werden, versprochen!“, erklärte er aufgeregt.

Seit sie Elea im Wald gefunden hatten, hatte sich Cal sehr verändert, fand Yvannie. Er wirkte nun so erwachsen, dabei war er erst zehn Jahre alt. Seine ganze Art hatte sich verändert, was seiner Schwester eine gewisse Angst einjagte. Sie wollte nicht, dass er zu schnell erwachsen wurde und seine Kindheit dabei vergaß.

Sie aßen zu Abend und allmählich ließ auch der Regen wieder nach. Elea ließ sich letztlich von Cal überreden, mit ihm noch eine Zeit lang im See zu spielen.

Yvannie beneidete die beiden ein wenig um diese Unbefangenheit und sah ihnen von der Küche aus zu. Wie gerne wollte auch sie wieder fröhlich im See spielen können, zusammen mit ihrem Bruder Spaß haben und einfach das Leben genießen.

Aber sie konnte nicht.

Ihre Eltern waren tot und Cal brauchte jemanden, der sich um alles kümmerte. Er war doch noch so jung. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als diesen Teil für ihn zu sein. Sie musste es einfach tun.

Als es dunkel wurde, waren Cal und Elea so erschöpft, dass sie gleich zu Bett gingen.

Yvannie dagegen wollte sich noch ein Weilchen die Sterne ansehen und vor sich hinträumen.

Etwas veränderte sich, das konnte sie fühlen. Sie war sich sicher, dass diese Veränderungen sogar sie und Cal betreffen würden, aber davor hatte sie Angst.

KAPITEL 3

„Hey, willst du nicht endlich mal aufstehen? Die Sonne steht schon hoch am Himmel!“

Elea rieb sich die Augen und sah in Cals erwartungsvolles Gesicht, der sich über sie gebeugt hatte und ungeduldig anlächelte.

„Was ist denn los?“, fragte sie noch ganz verschlafen und rieb sich die Augen.

„Hast du’s schon vergessen? Ich wollte dir doch etwas zeigen! Zieh dich schnell an, ich warte draußen!“, sagte er voller Eifer und stieg von ihrem Bett herunter.

„Mach schon!“, rief er ungeduldig, als sie keine Anstalten machte, sich zu erheben und verließ dann das Zimmer.

Cal schien ziemlich aufgeregt zu sein. So hatte ihn Elea noch nie erlebt.

Schließlich quälte sie sich doch aus dem Bett und trat zum Fenster hinüber.

Die Sonne stand in der Tat bereits hoch am Himmel und sie legte verwundert den Kopf schief. Normalerweise war sie die erste, die am Morgen erwachte.

Sie öffnete das Fenster und sog die frische, kühle Luft tief in ihre Lungen ein.

Ihr Blick glitt zum See und schließlich auch zu Cal hinüber, der immer wieder ungeduldige Blicke zu ihrem Fenster warf und darauf hoffte, dass sie bald zu ihm stieß.

„Wo bleibst du denn so lange?“, fragte er entgeistert, als er sie am Fenster erblickte.

„Ich bin gleich da!“, rief sie ihm lächelnd zu und zog sich eilends an.

„Wo ist Yvannie?“, fragte sie verwundert, als sie sich Cal näherte. Sie hatte geglaubt, sie würde sie begleiten.

In der Eile hatte sie schnell ein Hemd, das sie in Yvannies Schrank gefunden hatte, übergezogen. Es war ihr etwas zu groß, aber das störte sie nicht, sie hatte es einfach mit einem dunkelblauen Band fest um ihre Taille gebunden. Ihr gefiel die beige Farbe, die das Hemd trug und die wundervollen dunkelblauen Verzierungen am Kragen hatten sie entzückt.

„Ich glaube, sie ist im Wald Beeren sammeln. Ich habe ihr gesagt, dass wir erst heute Abend zurückkommen. Beeilen wir uns, sonst sind sie wieder weg!“

Er packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich.

„Was ist weg?“, fragte Elea verwundert und blinzelte. Sie verstand nicht.

„Das wirst du dann sehen. Lass dich einfach überraschen!“

„Und wo gehen wir überhaupt hin?“, fragte sie nun ein wenig verärgert.

Was hatte Cal vor?

Sie wollte endlich wissen, wohin er sie führte.

„In die Berge. Jetzt komm schon. Wir haben nicht mehr viel Zeit!“

Die beiden rannten die grünen Wiesen entlang.

„Gefällt mir, was du da anhast“, meinte Cal schließlich freudig und musterte sie eingehender, als sie ihre schnellen Schritte wieder verlangsamten, um wieder zu Atem zu kommen. „Beige steht dir echt ausgezeichnet. Da sieht es noch mehr so aus, als würdest du leuchten.“

Elea lächelte ihn verlegen an. „Meinst du wirklich?“

Verwundert sah sie an sich hinab, zuckte dann aber nur mit den Schultern. Ein Leuchten konnte sie an sich selbst jedenfalls nicht wahrnehmen.

„Es gehörte meinem Vater …“, flüsterte Cal nach einer Weile und vermied es, Elea direkt anzusehen. „Yvannie konnte sich nicht davon trennen, ebenso nicht von Mutters Kleidung. Es ist die einzige Erinnerung an sie, die wir noch haben …“

Elea sah ihn mit traurigen Augen an und schon bereute sie es, jenes Hemd ausgewählt zu haben.

„Cal …“, begann sie verunsichert, brach dann aber ab, aus Angst, ihn zu verletzen.

„Ist schon ok“, entgegnete dieser mit einem Lächeln und schüttelte den Kopf. „Es ist schon so lange her, dass wir uns daran gewöhnt haben. Ich kann mich nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern.“

Elea schüttelte den Kopf und musterte ihn eingehend.

„Es ist nicht die einzige Erinnerung an sie … Weißt du, solange sie in euren Herzen, in euren Erinnerungen und Träumen leben, solange werden sie weiterexistieren. Daran möchte ich glauben … und das solltest du auch, um dein Herz zu erleichtern. Sie werden immer bei euch sein.“

Cal sah sie an und lächelte. Sie hatte recht. Solange er sie in seinen Gedanken bei sich trug, würden sie weiterexistieren.

Zu Eleas Überraschung waren die Berge nicht so weit entfernt, wie es den Anschein gehabt hatte. Je näher sie ihnen kamen, desto mehr Blumen wuchsen dort, bis letztendlich nur noch die bunte Vielfalt zu sehen war und das Gras verdrängte.

„Gehen wir da hin?“, fragte sie neugierig.

Cal schüttelte den Kopf. „Wir gehen ins Tal der Wunder“, entgegnete er kurz und zog sie weiter, als sie sich in das bunte Blumenmeer setzen und den süßen Duft, der ihr in die Nase stieg, genießen wollte.

„Wir haben keine Zeit für so etwas. Wenn wir uns nicht beeilen, dann war der Weg umsonst. Bitte, Elea, komm jetzt!“, drängte er.

Elea sah ihn fragend an. Sie wollte endlich wissen, was er ihr zu zeigen gedachte.

Als sie den Fuß der Berge schließlich erreicht hatten, überkam sie eine Woge eisiger Luft, die sie erschaudern ließ.

„Ist das hier immer so?“, fragte Elea fröstelnd und rieb sich entgeistert über die Schultern. Etwas Dunkles lag in der Luft, sie konnte es fühlen.

„Seit ich das erste Mal hier war. Aber im Tal selbst ist es angenehm warm.“

„Aber warum ist es nur hier so kalt?“

Cal zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, dass die Dunkelheit diesen Ort für sich in Anspruch nehmen will, aber noch nicht genug Macht besitzt, um sie zu überwältigen …“

Sie?“, wiederholte Elea verwundert, doch Cal zwinkerte ihr nur zu und führte sie immer weiter in ein Tal hinein.

Überall um sie herum wuchsen kräftige Bäume und bildeten eine Art Allee, die den Weg ins Talinnere wies.

Sie schritten durch die Allee und Elea fragte sich, woher das Tal seinen Namen hatte.

Als hätte Cal ihre Gedanken gelesen, antwortete er: „Hier herrscht das ganze Jahr über Frühling. Die Blumen blühen schon seit Ewigkeiten, ohne zu verwelken. Die meisten Menschen fürchten diesen Ort, weil hier seltsame Dinge vor sich gehen.“

„Das wolltest du mir also zeigen?“, fragte Elea glücklich und sah sich mit großen Augen um. Ein unbeschreiblich wärmendes Gefühl machte sich in ihr breit und trieb ein Lächeln auf ihre Lippen. Dieser Ort war wunderschön.

Cal schüttelte den Kopf. „Nein, nicht direkt. Das Eigentliche kommt erst noch.“

Elea sah sich noch weiter voller Bewunderung um. Das Tal strahlte eine unglaubliche Reinheit aus, die sie faszinierte.

Aus den Bergen, rechts von ihnen, schoss ein Wasserfall hervor und stürzte in die Tiefe. Das Rauschen klang wie Musik und erfüllte das Tal mit seinen Klängen.

„Weiter vorne ist ein kleiner Fluss, er kommt von dort.“ Er zeigte zum Wasserfall. „Das ist der einzige Fluss, der hier fließt. Wenn wir seinem Lauf folgen, kommen wir früher oder später zu unserem Ziel.“ Er grinste und konnte es kaum erwarten zu erfahren, was sich hinter Eleas Wesen verbarg.

Der Fluss war sehr schmal und schlängelte sich durch das ganze Tal, bis er in der Ferne verschwand.

Elea ging langsam auf den Fluss zu und blickte in sein kristallklares Wasser, dann stieg sie hinein. Das Wasser war eiskalt, fühlte sich aber genauso rein, wie das des Sees bei ihnen zu Hause, an.

„Wir sollten uns lieber verstecken. Komm wieder raus!“

Sie sah Cal verwundert an, als sich seine Augen vor Überraschung weiteten und er hinter einen Felsen sprang.

Was hatte ihn so erschreckt?

Elea hielt den Atem an und sah noch einmal zu dem Felsen hinüber, hinter den Cal gesprungen war. Dann drehte sie sich ängstlich um. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

„Warum? Vor wem …“ Sie brach mitten im Satz ab, als sie ein blendend weißes Tier am anderen Ufer entdeckte. Es strahlte so hell, dass es den Schnee auf den Berggipfeln grau erscheinen ließ.

„Ein Einhorn?“, fragte sie überrascht und riss die Augen weit auf. „Wer hätte gedacht, dass sie noch existieren …“

Auf der Stirn des Tieres prangte ein goldenes Horn.

Elea wich zurück, als es sich ihr schließlich näherte.

‚Fürchte dich nicht. Und du …‘, sein Blick wandte sich von Elea ab und glitt zu dem Felsen hinüber, hinter dem sich Cal versteckte, ‚… kannst hinter dem Felsen hervorkommen, Cal.‘

Das Einhorn sprach nicht in Worten, wurde Elea klar, es sprach zu ihren Herzen. Eine reine, freundliche Stimme sprach zu ihnen, die alle Angst verfliegen ließ.

Cal trat langsam hinter dem Felsen hervor.

„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er verwundert und starrte das wunderschöne Tier vor sich an.

‚Du warst schon so viele Male hier, ohne dich zu zeigen. Glaub mir, ich weiß mehr über dich als du selbst.‘

Es senkte den Kopf, um aus dem Fluss zu trinken, dann sprach es weiter.

‚Habt keine Furcht. Es ist erstaunlich, dass es noch Wesen gibt, mit denen ich zu sprechen vermag. Eure Herzen sind rein. Erhaltet euch diese Reinheit, denn sie wird in dieser Zeit zur Seltenheit.‘

Elea wich langsam aus dem Fluss zurück und gesellte sich zu Cal.

Als das Einhorn sie durchdringend ansah, rann ein eisiger Schauder über ihren Rücken. Es schien ihr fast so, als könne das Einhorn ihr Innerstes erblicken.

‚Du bist kein menschliches Wesen. Dich umgibt ein starkes Licht. Eine reine, unschuldige Aura …‘

Elea sah beunruhigt zu Cal, der nur die Schultern zuckte. Sie war ein Mensch wie Cal, da war sie sich sicher.

‚Einzig wir Einhörner besitzen diese Aura. Es gibt einige von uns, die das menschliche Leben dem unsrigen unsterblichen vorziehen und deren Gestalt annehmen, doch du bist keine von uns … Wer oder was bist du?‘

Elea schwieg einen Moment und wusste nicht recht, wie sie mit den Worten des Einhorns umgehen sollte.

„Ich weiß selbst nicht, wer ich bin …“, flüsterte sie schließlich betrübt und senkte den Blick. Dann kam ihr eine Idee.

„Kannst du mir vielleicht helfen?“

Sie sah das Einhorn flehentlich an, denn sie war sich nun sicher, dass Cal sie deswegen zu ihnen gebracht hatte. Aber konnten sie ihr wirklich helfen und Licht in ihre Vergangenheit bringen?

‚Ich kann dir nicht helfen. Du musst deine Erinnerung allein zurückgewinnen, verzeih.‘

Es senkte den Kopf und wollte sich zurückziehen.

„Warte!“, rief ihm Cal zu. „Ihr Einhörner wisst doch sonst alles und …“

‚Nicht ganz‘, unterbrach es ihn und sah auf.

„Mag sein, aber ihr wisst, wer Elea wirklich ist, nicht wahr?“ Cal sah es durchdringend an. Er hatte sie extra zu ihnen gebracht, weil er gehofft hatte, ihr so helfen zu können. „Ihr seid doch sonst nicht so abweisend …“

Das Einhorn schwieg einige Augenblicke, ehe es erwiderte: ‚Was sie betrifft, so sind wir uns nicht sicher. Aber was dich angeht …‘

Es hielt inne und wandte den Kopf zur Seite. Hinter den Felsen traten zwei weitere Einhörner hervor, allesamt mit goldenen Hörnern.

‚Liya ist der Meinung, dass wir es ihm sagen können. Er muss wissen, was ihn erwartet‘, meinte das rechte von ihnen und gesellte sich zu dem anderen, um aus dem Fluss zu trinken.

Cal kniff bei diesen Worten die Augen zusammen und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Etwas stimmte nicht.

Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er daran dachte, nun vielleicht ebenfalls Antworten auf seine Fragen zu erhalten, die ihn seit Eleas Auftauchen beschäftigten.

‚Cal, dich umgibt eine für Menschen untypische Aura‘, sagte es und musterte ihn eingehend.

„Bin ich also auch kein Mensch?“, fragte er überrascht und blinzelte. Er konnte nicht glauben, was er da vernahm.

‚Doch, aber du bist auch nicht wie sie. Du bist einer der sieben Wächter, die vor langer Zeit halfen, diese Welt zu retten.‘

Cal riss die Augen weit auf und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Allmählich begann alles für ihn Sinn zu ergeben.

Elea konnte nicht glauben, was sie da eben vernommen hatte und schüttelte entgeistert den Kopf. Dann sah sie zu Cal hinüber. Er schien bei weitem nicht so überrascht zu sein wie sie es war.

„Ich dachte mir so etwas schon …“, murmelte er dann leise. „Meine Erinnerung kehrte allmählich zurück, als ich Elea zum ersten Mal traf. Ich glaubte zuerst, diese Erinnerung entspringe einem lange vergessenen Traum, aber …“ Er brach ab und sah Elea traurig an.

„Ich dachte, die Wächter wären erwachsen. Aber du bist doch noch ein Kind!“, sagte sie ungläubig. „Du kannst keiner der Wächter sein!“

‚Ja, das ist wahr. Aber du musst wissen, dass der Geist der Wächter, selbst wenn sein Körper stirbt, weiterexistiert. So lange, bis seine Hilfe auf Erden wieder benötigt wird. Und da die Wächter ursprünglich zu den Engeln dieser Welt gehörten, können sie die Zeit als Geister überdauern.‘

„Engel hatten noch nie ein festes Erscheinungsbild“, erklärte Cal weiter. „Sie sind wie Schatten im Licht, nicht wirklich sichtbar, verstehst du? Solange ein Engel nicht beschließt, menschliche Gestalt anzunehmen, kann ihn auch niemand wahrnehmen, geschweige denn töten.“

„Doch, einige Magier konnten das …“, flüsterte Elea schließlich zögerlich und kniff die Augen zusammen. Etwas regte sich in ihr.

„Erinnerst du dich?“

Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, es sind immer nur Bruchstücke … Sobald ich versuche, sie zu einem Ganzen zusammenzufassen, verschwimmt alles wieder.“ Sie seufzte enttäuscht und rieb sich die Stirn.

‚Ich schicke euch nun zurück,‘ warf das Einhorn, das die ganze Zeit über mit ihnen geredet hatte, ein. ‚Es ist gefährlich in der Dunkelheit umherzuwandern. Das Böse ist wieder auf der Suche nach reinen Seelen.‘

„Aber es ist doch noch hell, wie kann da …“

„Elea, hier herrscht immer Licht. Solange die Einhörner existieren, wird es im Tal der Wunder niemals dunkel werden“, erklärte Cal und nahm sie bei der Hand.

„Also leben alle Einhörner hier?“, fragte sie verwundert und blinzelte. Die wundersame Magie der Einhörner faszinierte sie ungemein.

Das Einhorn vor ihr schüttelte den Kopf.

‚Nicht ganz, einige von uns leben im Westen und reinigen dort das Wasser‘, erklärte ein anderes.

‚Ich bitte euch, schweigt über das, was ihr eben erfahren habt. Niemand darf wissen, dass du einer der Wächter bist, sonst seid ihr in großer Gefahr. Findet Silfiri, die vor so langer Zeit schon einmal die Welt gerettet hat und schützt sie mit eurem Leben. Sie scheint ihre Erinnerung noch nicht wiedererlangt zu haben.‘

Dann sah es Elea an und fuhr fort: ‚Elea, es ist wichtig, dass du Cal bei der Suche unterstützt. Die Wächter scheinen in deiner Gegenwart ihre Erinnerung wiederzuerlangen. Du wirst lernen, sie zu erkennen. Elea, glaube an dich und verzweifle nicht; deine Erinnerung wird wiederkehren, wenn dein Geist bereit ist. Und nun, lebt wohl. Kommt wieder, wenn euch etwas bedrückt.‘

Das goldene Horn auf seiner Stirn erstrahlte und blendete die beiden, im nächsten Moment waren Elea und Cal verschwunden.

‚Tun wir auch wirklich das Richtige?‘, fragte es seine Artgenossen und wandte sich zum Gehen.

Sie antworteten ihm nicht und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den hintersten und sichersten Teil des Tals.

„Das ging aber schnell“, meinte Elea beeindruckt und schnappte nach Luft.

Sie standen im Flur des Hauses und Yvannie lugte nun, da sie ihre Stimme vernommen hatte, neugierig durch die Öffnung, die in die Küche führte.

„Wo wart ihr so lange?“, fragte sie mit sorgenvoller Miene und musterte die beiden eingehend. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich sagte doch, ihr sollt nicht in der Dunkelheit da draußen herumlaufen!“

„Das sind wir auch nicht“, versuchte Cal sie zu beschwichtigen.

„Und wie seid ihr dann hierhergekommen?“ Yvannie sah ihn mit misstrauischen Augen an und schüttelte den Kopf. Sie traute ihm nicht, denn er war schon, wie so oft, in der Dunkelheit draußen umherspaziert und hatte anschließend versucht, sich mit einer kleinen Lüge da herauszureden.

„Ich habe Elea ins Tal der Wunder gebracht und dann …“

„Ihr wart bei den Einhörnern? Na, dann ist ja alles gut“, meinte sie lächelnd. Diesmal schien sie sich in ihm getäuscht zu haben.

Yvannie wusste selbst, welche Macht diese Tiere besaßen und hatte diese auch schon am eigenen Leib erfahren. Eine Geschichte, die sie Cal nie anvertraut hatte.

„Und, weißt du nun, wer du bist? Konnten sie dir helfen, deine Erinnerung wiederzufinden?“, fragte sie Elea neugierig und sah sie erwartungsvoll an.

Diese schüttelte nur traurig den Kopf und starrte auf den steinernen Boden vor sich.

„Sie wollen es mir nicht sagen oder können es nicht. Sie sagten, ich müsse meine Erinnerung selbst wiederfinden und sie würde zu mir zurückkehren, wenn ich bereit wäre … Doch wofür?“

Darauf wusste Yvannie auch keine tröstenden Worte, also schwieg sie.

„Kommt, das Essen wartet“, sagte sie dann niedergeschlagen und vermied es, Elea direkt anzusehen. Es bereitete ihr großen Kummer nicht zu wissen, wie sie ihr helfen konnte ihre Erinnerung wiederzufinden.

Eine drückende Stille, die niemand zu durchbrechen wagte, legte sich über sie, als sie aßen.

Elea konnte den Kummer fühlen, den Yvannie plagte und seufzte innerlich.

Um Yvannies Willen musste sie ihre Erinnerung wiederfinden und den traurigen Schimmer in den Augen ihrer Freundin vertreiben, der ihr jedes Mal aufs Neue einen Stich versetzte.

Nachdem sie fertig waren, schickte Yvannie Cal zu Bett.

Elea hatte sich ebenfalls in ihr Zimmer zurückgezogen und starrte nun aus dem offenen Fenster in die vom Mond erhellte Landschaft hinaus.

Um den See herum zogen Nebelschwaden herauf, doch Eleas Meinung nach waren es nicht jene dunklen Schatten, die sie am ersten Tag ihres neuen Lebens erblickt hatte.

Eine sanfte Brise wehte ihr entgegen und das helle Mondlicht ließ ihr Haar erstrahlen.

Ein Schauder rann ihren Rücken hinab, als ihr bewusst wurde, dass Cals Worte der Wahrheit entsprachen und sie nun ebenfalls jenes seltsame Leuchten an sich wahrnehmen konnte.

„Was ist das?“, fragte sie sich verwundert und strich sich nachdenklich durchs Haar. Jenes Licht machte ihr Angst und ließ eine seltsame Vermutung in ihr aufsteigen, die sie jedoch nicht genau zu fassen bekam.

Der Mond verschwand hinter einer Wolke, doch das Leuchten hielt an. Das einzige, das verschwand, war dieses seltsame Gefühl in ihrer Brust.

‚Du gewinnst deine Erinnerung allmählich zurück …‘, flüsterte etwas Kaltes in ihrem Geist und ließ sie erschrocken zusammenzucken.

Wem gehörte jene helle weibliche Stimme, die ihr so vertraut schien? Wer war es, der immer wieder zu ihr sprach?

In der Ferne konnte sie wieder eine bedrückende Stille erspüren, die sich langsam, aber sicher, immer weiter ausbreitete. Sie fröstelte.

Ein leises Seufzen ging über ihre Lippen und sie schloss eilig das Fenster, doch ehe sie sich auf ihrem Bett niederließ, warf sie einen weiteren Blick nach draußen.

Eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab und sie fragte sich, welch dunkles Geheimnis ihre Erinnerung barg.

Ängstlich zog sie ihre Decke bis vor die Augen hinauf und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das ihren Körper schüttelte. Sie wusste zwar, dass ihr dies im Notfall nicht helfen würde, doch es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.

Lange Zeit lag sie zusammengerollt da und dachte über die Worte der Einhörner nach, bis sie die Müdigkeit schließlich übermannte und sie endlich einschlief.

Als Elea am nächsten Morgen zusammen mit Cal das Haus verließ, hatte sie bereits eine dunkle Vorahnung. Sie wusste nicht was es war, das sie beunruhigte, doch in einem war sie sich sicher: Es war nichts Gutes.

„Alles in Ordnung?“

Cal merkte ihr an, dass etwas nicht stimmte und musterte sie besorgt.

Seit er seine Erinnerung als einer der sieben Wächter zurückerlangt hatte, kehrten auch allmählich seine magischen Kräfte zurück.

Er sprach einen kleinen Zauber und verwendete dabei eine Sprache, die Elea irgendwie vertraut schien, auch wenn sie kein Wort verstand.

Leuchtend gelbe Lichtkügelchen stiegen vor ihr in die Luft.

Als sie versuchte, sie zu ergreifen, verwandelten sie sich in goldene, glockenblumenähnliche Blüten und verpufften schließlich in blaue, winzig kleine Lichtkügelchen.

Ein Lächeln huschte über Eleas Gesicht und Cal musste schmunzeln, da er durch einen einfachen Zauber das erreicht hatte, das er wollte: Elea aufzumuntern.

„Erzählst du mir jetzt was dich bedrückt?“, fragte er schließlich und sah sie erwartungsvoll an.

Elea dachte einen Augenblick darüber nach und entschloss sich dann, Cal an ihren Gedanken teilhaben zu lassen.

„Gut …“, entgegnete sie schließlich betrübt und ließ sich, an einen Baum gelehnt, nieder.

„Langsam kehren Teile meiner Erinnerung zurück und ich habe Angst, alles zu erfahren … Ich weiß, dass ich vor dreitausend Jahren dort war, als …“ Sie brach ab und sah in den Himmel hinauf, der größtenteils von den Bäumen verdeckt wurde. „Du weißt, was ich meine …“

Cal nickte und kniff verwundert die Augen zusammen.

War Elea diejenige, die sie suchten?

Er rieb seine Handflächen aneinander und dachte nach, wie er sich hierüber Gewissheit verschaffen konnte.

„Bist du eigentlich noch immer ein Engel? Ich meine, erinnerst du dich jetzt daran?“, fragte sie nach einiger Zeit. Irgendwie wollte sie nicht über ihre, sondern Cals Erinnerung sprechen.

Dieser schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht …“

„Aber jemand … hat doch etwas Diesbezügliches gesagt, oder nicht? Ich kann mich vage erinnern …“

Cal riss alarmiert die Augen weit auf. „Woher weißt du das? Dieses Geheimnis ist nur den Engeln bekannt! Niemand sonst sollte davon wissen!“

Er erinnerte sich nur vage an das Gespräch von damals.

„Wenn ein Engel beschließt, menschliche Gestalt anzunehmen und getötet wird, kann er als der, der er war, wiedergeboren werden; normale Menschen können dies nicht. Doch dann muss er, wie jeder andere Mensch auch, erst einmal gezeugt und geboren werden. Er verliert sein Gedächtnis an seine wahre Identität bis er erwachsen ist. Erst dann wird sie zurückkehren und er als der erwachen, der er vor langer Zeit gewesen war … so ungefähr war das doch, nicht wahr?“ Elea sah Cal fragend an und lächelte verlegen, als sie seinen verwunderten Gesichtsausruck bemerkte.

„Aber ich frage mich, warum du deine Erinnerung bereits jetzt schon zurückerlangt hast … Du bist viel zu jung …“

Cal erwiderte ihr Lächeln. „Hast du vergessen, was uns die Einhörner erzählt haben? Du bist wohl der Schlüssel zu unserer Erinnerung. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil in dieser Zeit nicht alle von uns erwachsen sind – und um unsere Aufgabe zu erfüllen, müssen wir uns erinnern. Die Magie geht seltsame Wege. Vielleicht wurdest du aus diesem Grund hierhergeschickt, um uns unsere Erinnerung wiederzugeben?“

Elea errötete, denn das hatte sie völlig vergessen.

„Jetzt kannst du Yvannie jedenfalls mit deinen neu erlangten Fähigkeiten beschützen, so wie du es wolltest. Solange bis … der Engel in dir wiedererwacht und du …“

Cal legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf, woraufhin Elea verstummte.

„Denk nicht darüber nach, es gibt wichtigeres im Moment … Und nun zu deinen Problemen. Sind es etwa nur die Erinnerungen, die dich so plagen? Du ziehst dich nämlich immer mehr von Yvannie und mir zurück. Wir machen uns große Sorgen um dich … Yvannie lässt sich zwar nichts anmerken, aber sie hat Angst, dass du uns bald verlassen wirst.“

Er sah sie forschend an, doch Elea vermied es, seinen Blick zu erwidern und blickte stattdessen nachdenklich in den Himmel hinauf.

Es begann allmählich zu dämmern.

„Hmmm …“, entgegnete sie nur.

„Wir müssen zurück. Heute ist Neumond, und ich glaube du weißt, was das bedeutet. Die Nacht wird sehr dunkel werden.“

Elea erschauderte. „Die Morva sind wieder auf der Jagd. Ja, ich weiß. Sie wissen, dass Silfiri wieder in dieser Welt weilt und werden alles daran setzen, sie zu vernichten. Das meinst du doch.“

Cal nickte besorgt und nahm sie an die Hand.

Als sie den Wald verlassen hatten, war es bereits stockdunkel. Nur das Licht, das von Elea ausging, ließ sie erkennen, wohin sie gingen, auch wenn es nur ein sehr schwaches Licht war.

Elea konnte die Nähe der Morva spüren und erzitterte. Die Kälte und Unbarmherzigkeit, die von diesen Wesen ausging, jagten ihr einen eisigen Schauder über den Rücken. Dass sie sie fühlen konnte, musste bedeuten, dass sie ganz in der Nähe waren.

Elea blieb stehen, um besser lauschen zu können, doch Cal zog sie mit sich.

„Komm weiter! Ich weiß nicht, ob ich dich schützen kann, wenn sie uns angreifen“, sagte er mit zitternder Stimme. Sein Herz raste. Er fürchtete sich so sehr, wie noch nie zuvor in seinem jungen Leben.

Elea wurde das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. Angsterfüllt drehte sie sich um, doch sie waren allein. Hatte sie sich die Bewegungen hinter ihnen etwa nur eingebildet?

Sie schluckte hart und setzte sich wieder in Bewegung.

Nach einiger Zeit blieb sie mit schreckerfüllter Miene stehen und zeigte nach Süden.

„Was ist da?“, fragte Cal beunruhigt, denn er konnte nichts erkennen.

„Einer der Wächter ist da, weit weg … NEIN!“, schrie sie geschockt in die Nacht hinaus und ging zitternd zu Boden.

„Nein …“, flüsterte sie wieder, als ein stechender Schmerz durch ihren Körper fuhr und sie die Hände gegen die Schläfen presste.

„Was hast du?“, fragte Cal besorgt und versuchte, sie wieder auf die Beine zu ziehen. „Wir müssen hier weg, komm!“

Doch Elea rührte sich nicht.

„Sie … haben ihn geholt …“ Mit diesen Worten brach sie ohnmächtig zusammen und das Licht, das sie umgab, erlosch.

„Elea, komm wieder zu dir!“, hörte sie eine ferne Stimme angsterfüllt sagen. Jemand schüttelte sie sanft und eine wohlige, feuchte Wärme zog über ihre Stirn.

Ein süßlicher Duft drang in ihre Nase und eine Woge tiefer Ruhe überkam sie, als sie langsam wieder zu sich kam.

Elea öffnete die Augen und erkannte die verschwommene Kontur Yvannies, die sich besorgt über sie gebeugt hatte.

Sie setzte sich auf, als sich ihre Sicht klärte und rieb sich den schmerzenden Kopf.

„Bleib liegen“, sagte Yvannie bestimmt und drückte sie sanft wieder nach unten.

Elea wehrte sich nicht.

„Cal hat mir erzählt, dass du etwas gesehen hast und dann einfach zusammengebrochen bist?“

Elea konnte den zitternden, sorgenvollen Unterton in Yvannies Stimme nicht überhören und fühlte sich schuldig, ihr erneut Kummer bereitet zu haben. Sie sah zum Fenster hinüber, antwortete ihr aber nicht.

Es war noch immer stockdunkel.

„Du hast Fieber“, meinte Yvannie dann, als Elea keine Anstalten machte, ihr zu erzählen was vorgefallen war.

Sie sah Yvannie fragend an und verstand nicht recht, was sie damit sagen wollte.

„Wahrscheinlich hast du dir nur eingebildet etwas zu sehen …“, erklärte sie. „Das Fieber eben … na wie auch immer. Du bleibst vorerst im Bett, bis du wieder gesund bist, und keine Widerrede!“, fügte sie noch hinzu, als Elea wieder Anstalten machte aufzustehen, und warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Ich muss aber gehen. Bitte Yvannie. Es ist sehr wichtig!“ Elea sah ihr mit flehendem Blick in die Augen und setzte eine Miene auf, die Yvannie lächeln ließ.

„Du bleibst hier. Wenn dein Fieber gesunken ist, kannst du von mir aus machen was du willst.“ Sie stand auf und trat zum Fenster hinüber. „Aber nur, wenn du mir nicht mehr solche Sorgen bereitest … Und lass mich dich noch um etwas Weiteres bitten: … verlass uns nicht …“

Elea sah traurig auf Yvannies Rücken und schluckte hart. Sie wollte sie nicht verlassen, doch wusste sie auch, dass ihr möglicherweise keine andere Wahl bleiben würde.

Ehe Yvannie das Zimmer verlassen wollte, stellte sie noch eine Schüssel mit einer süßlich duftenden Flüssigkeit auf Eleas Nachttisch.

„Was ist das?“, fragte sie neugierig, um Yvannie noch ein bisschen länger bei sich zu halten. Sie wollte nicht allein sein.

Yvannie schien sehr erschöpft zu sein, was Elea davon abhielt zu fragen, ob sie nicht ein wenig länger bei ihr bleiben könne.

„Das sind Heilkräuter und jetzt schlaf. Je eher du wieder gesund bist, umso besser. Gute Nacht.“ Sie löschte die Kerze, die an der Tür stand und verschwand.

Erst jetzt bemerkte Yvannie, dass Cal in einer Ecke saß und sie mit großen Augen ansah.

„Und?“, fragte er mit sorgenvoller Miene und sah zu Eleas Tür hinüber.

Yvannie schüttelte tadelnd den Kopf. „Sie hat Fieber. Was auch immer ihr gemacht habt, hat sie ziemlich viel Kraft gekostet. Willst du mir nicht erzählen, was ihr getrieben habt?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Wir haben uns nur unterhalten“, entgegnete er wahrheitsgemäß, doch Yvannie schien ihm nicht so ganz zu glauben.

„Das ist die Wahrheit, wirklich!“ Er sah sie beleidigt an.

„Geh schlafen. Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst.“

Auch wenn Cal noch keine Lust hatte, zu Bett zu gehen und viel lieber zu Elea gegangen wäre, tat er brav, was Yvannie ihm sagte. In manchen Dingen ließ sie einfach nicht mit sich verhandeln, also versuchte er es nicht einmal.

Er beschloss, in aller Ruhe darüber nachdenken, was Elea von sich gegeben hatte, ehe sie das Bewusstsein verlor.

Hatte sie dort im Wald wirklich etwas gesehen, das den Erfolg ihrer Mission gefährden konnte oder waren ihre Worte nur eine Folge des Fiebers gewesen?

Gedankenverloren saß er auf seinem Bett und wusste nicht recht, was er tun sollte.

Zu Yvannies Überraschung war Eleas Fieber am nächsten Tag schon wieder verschwunden und sie tat so, als hätte es dieses nie gegeben.

Heimlich versuchte sie sich davonzuschleichen, doch Yvannie hatte bereits damit gerechnet und sie aufmerksam beobachtet.

„Elea, bitte bleib noch hier. Du könntest einen Rückfall bekommen!“, bat sie besorgt und hielt sie am Arm fest.

Elea schüttelte langsam den Kopf. Sie musste gehen, um Antworten auf die Fragen zu finden, die ihr auf der Zunge brannten.

„Es geht mir gut. Lass mich gehen, bitte.“

Yvannie seufzte, ließ aber nicht locker. Warum konnte Elea nicht verstehen, dass sie sich einfach nur um ihr Wohlergehen sorgte?

„Du kannst morgen wieder machen was du willst. Ich mach mir doch nur Sorgen um dich. Geh nicht, bitte …“

Letzten Endes gab sich Elea doch geschlagen und verzog sich besiegt ins Freie.

Wie so oft, wenn sie etwas bedrückte, kletterte sie auf die alte Weide hinauf, um ihr von ihrem Kummer zu berichten.

Sie hatte herausgefunden, dass die alte Weide sogar sprechen konnte und ihr des Öfteren hilfreiche Tipps gab, wie sie mit ihrer Vergangenheit umzugehen hatte. Doch jetzt wollte Elea nicht reden; sie wollte einfach nur bei ihr sitzen und ihren Gedanken nachhängen.

Die Weide schien ihre Stimmung richtig zu interpretieren, denn sie sagte kein einziges Wort.

„Tut mir leid“, sagte Elea nach einer Weile und strich der Weide über den rauen, dunkelbraunen Stamm. „Ich sollte dir gegenüber etwas mehr Respekt aufbringen. Immerhin bist du so viel älter als ich …“

Elea senkte beschämt den Kopf und sah an dem Ast vorbei, auf dem sie saß.

Die Weide sprach nun, genau wie die Einhörner es taten, zu ihrem Herzen.

‚Älter … nein, das gewiss nicht. Wenn Ihr Eure Erinnerung vollständig zurückerlangt habt, werdet Ihr wissen wieso. Ich fühle mich geehrt, dass Ihr mich besucht … Fast wie in alten Zeiten. Wie ich das doch vermisst hatte …‘

Elea sah neugierig auf.

Auch die alte Weide schien etwas vor ihr zu verbergen und sie kniff forschend die Augen zusammen.

„Du weißt also wer ich bin. Bitte, sag es mir!“, forderte sie flehentlich.

‚Ich kenne Euch, ja, aber ich kann es Euch nicht sagen, so schwer es mir auch fallen mag. Ich würde Eure und die Zukunft so vieler gefährden … Ihr werdet Euch erinnern, wenn die Zeit gekommen ist; wenn Euer Innerstes bereit dafür ist, die Wahrheit zu erfahren. Ich bitte Euch, habt noch ein wenig Geduld.‘

Elea ließ traurig den Kopf hängen und lehnte sich dann zurück. Es machte ihr zwar nicht mehr so viel aus, nicht zu wissen wer sie war, aber die Gewissheit, dass es andere wussten und ihr nicht sagen wollten oder konnten, verletzte sie zutiefst.

Und wieder fragte sie sich, was die Einhörner und auch die alte Weide davon abhielt, ihr ihre Vergangenheit zu offenbaren.

Welches Geheimnis hielt ihre Erinnerung bereit, das so mächtig zu sein schien, dass sie über die Zukunft aller entscheiden konnte?

Traurig beschloss sie dann, wieder ins Haus zurückzugehen. Vielleicht konnte sie ja Yvannie ein wenig zur Hand gehen und sich so etwas ablenken.

Als sie das Haus betrat, wehte ihr ein köstlicher Duft entgegen. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie war.

Neugierig ging sie in die Küche, wo Yvannie und Cal bereits auf sie warteten.

„Wo warst du denn? Ich habe dich gesucht“, fragte Yvannie, erleichtert sie zu sehen.

Elea sah sie überrascht an.

„Habt ihr mich gerufen?“ Sie blinzelte verwundert und sah zu Cal hinüber.

Er nickte.

„Tut mir leid, vielleicht war ich einfach zu sehr in Gedanken …“ Sie runzelte die Stirn.

„Wo warst du?“, fragte Yvannie noch einmal.

„Draußen, bei der Weide …“ ‚War ich wirklich so sehr in Gedanken, dass ich sie nicht gehört habe, oder hat die alte Weide ihre Magie benutzt, um mir etwas Ruhe zu verschaffen?‘ Elea lächelte innerlich und setzte sich zu den beiden.

„Tut mir leid“, meinte sie dann schuldbewusst.

Yvannie schüttelte den Kopf. „Schon gut, wenigstens bist du nicht weggelaufen.“ Sie lächelte.

Nach dem Essen sagte Elea, dass sie am nächsten Tag früh morgens aufbrechen und wohl erst gegen Abend wieder zurück sein würde. Dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, ohne den beiden näheres zu erzählen.

„Hast du eine Ahnung, wohin sie will?“, fragte Yvannie sorgenvoll und sah ihren kleinen Bruder an.

„Ich weiß auch nicht“, log Cal und schüttelte den Kopf.

Er war sich sicher, dass sie den Einhörnern einen weiteren Besuch abstatten wollte, um ein paar Antworten zu erhalten, aber das wollte er Yvannie nicht verraten. Wenn Elea es für richtig hielt, dann würde sie dies selbst tun.

Cal spürte, dass sie allmählich ihre Erinnerung zurückgewann.

KAPITEL 4

Es war früh am Morgen, als Elea das Haus eilig verließ.

Die Sonne stieg eben erst hinter den Bergen empor und tauchte die Wiesen in goldenes Licht. Der Tau auf den Gräsern und Blüten schimmerte im Morgenlicht und der Duft der Sommerblumen erfüllte das Land.

Elea schlug denselben Weg, wie damals mit Cal an ihrer Seite, ein. Diesmal jedoch hatte sie das Gefühl langsamer voranzukommen, denn als sie das Tal erreichte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.

Die Einhörner schienen sie schon erwartet zu haben und standen bereits am Fluss.

‚Wir haben Euch erwartet‘, begrüßte sie das Einhorn an der Spitze. Es war dasselbe, das sie mit Cal getroffen hatte.

Verwundert stellte Elea fest, dass es nun anders zu ihr sprach als zuvor, doch schenkte sie dieser Tatsache keine große Beachtung. Es gab Wichtigeres, das sie beschäftigte.

‚Ihr habt es also ebenfalls bemerkt. Wir sagten Euch doch, Ihr werdet sie finden, denn nur Ihr besitzt die Macht, ihnen ihre Erinnerung wiederzugeben,‘ sagte ein anderes und trat vor. Sein Horn war ebenfalls golden, doch insgesamt schien es dunkler zu sein als die anderen.

Elea sah es verwundert an.

„Was soll ich bemerkt haben?“ Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Die Einhörner verhielten sich seltsam, fand sie.

‚Die Morva haben einen der Wächter in ihre Gewalt gebracht und seine Seele vergiftet. Dass sie es vermochten, ihn zu finden, war ein Unfall, der nicht hätte geschehen dürfen. Die Beschützer haben versagt.‘

Elea senkte betrübt den Kopf. Das hatte sie beinahe vergessen, dabei lag es doch erst wenige Tage zurück.

„Ja. Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich möchte ein paar Antworten von euch. Und ich werde Yvannie alles erzählen, wenn ich zurückkehre, mit oder ohne eure Zustimmung. Sie hat es nicht verdient, im Dunkeln gelassen zu werden.“ Elea konnte nicht glauben, was sie da eben von sich gegeben hatte und mit welcher Bestimmtheit. „T-tut mir l-leid, a-aber w-wenn wir gehen müssen, dann soll Yvannie wenigstens wissen, warum … Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlassen, ohne ihr die Wahrheit offenbart zu haben.“

‚Es ist Eure Entscheidung. Wir müssen das respektieren, auch wenn wir es nicht gutheißen können. Euer Auftrag lautet, das Wesen zu finden und zu beschützen. Wenn Fremde davon erfahren, ist dieser Auftrag gefährdet, denn keiner von uns vermag vorherzusehen, was geschehen könnte, wenn die Morva es erfahren und Yvannie gefangen nehmen …‘

Elea schluckte hart und erschauderte. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was die Morva ihrer Freundin antun konnten.

Nun trat ein Einhorn mit silbernem Horn hervor und sah Elea direkt in die Augen. Es schien das älteste von allen zu sein. Sie erzitterte, als sie das Gefühl überkam, das Einhorn kehre das Innerste ihrer Seele nach außen. Es schien ihr, als blickte es direkt in ihr Herz.

‚Ist Euch auf Eurem Weg hierher etwas aufgefallen?‘, fragte es dann mit durchdringendem Blick und kam näher.

Elea dachte nach. „Ja, es dauerte viel zu lange, bis ich das Tal erreicht hatte … Es schien beinahe so, als würde mich etwas bewusst aufhalten wollen. Etwas Kaltes und Dunkles …“ Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie an das furchteinflößende Gefühl zurückdachte, das sie überkommen hatte.

„Du bist Liya, nicht wahr? Du bist ihr Anführer, ihr Beschützer. Das älteste Einhorn, das in dieser Welt noch existiert.“

Liya schien ein Nicken anzudeuten.

Ein kleines Einhorn mit weißem Horn kam auf sie zu. Sein Fell war nicht weiß wie das der anderen, sein Fell war golden. Es schien noch sehr jung zu sein.

Als es Elea erreichte, rieb es freudig seinen Kopf an ihrem Arm.

Sie musste lächeln und strich ihm sanft über den Kopf und durch die dichte Mähne. Das Fell des Kleinen war unbeschreiblich weich und hinterließ goldene Streifen auf Eleas Hand.

„Wie schön …“, flüsterte sie erfreut und wischte das Gold an ihrer Kleidung ab.

Die Augen des jungen Einhorns strahlten einen unbeschreiblich reinen Glanz aus, den Liyas Augen nicht mehr zu kennen schienen.

‚Nehmt Euch in Acht vor der Dunkelheit und Eurer …‘, begann es, doch es wurde jäh unterbrochen.

‚Schweig, Eden!‘, rief Liya aufgebracht und sah das kleine Einhorn mit blitzenden Augen an. ‚Du weißt, was passiert, wenn du deinen Schwur brichst!‘

Eden sah Liya verängstigt an. Sicher, er kannte die Folgen, aber er hielt es für wichtig, dass Elea alles erfuhr. Sie musste endlich erfahren, was ihre Erinnerung noch immer verborgen hielt.

‚Sie hat ein Recht darauf, alles zu erfahren‘, meinte er dann betrübt und sah wieder zu Elea. ‚Sie will Euch finden und es diesmal zu Ende bringen. Sie …‘

‚Ich hatte dich gewarnt‘, sagte Liya bestürzt.

Elea wusste nicht, was sie tun sollte und sah nur entsetzt von Liya zu dem Kleinen, das sie Eden genannt hatte, und wieder zurück. Sie fühlte nichts Gutes, als Liyas Horn erstrahlte, und stellte sich schützend vor das goldene Einhorn.

„Hör auf! Was auch immer du tun willst!“, rief sie verstört und sah ihr Gegenüber flehentlich an.

Liya senkte den Kopf und das blendende Licht erlosch.

Ein kurzer Moment der Stille trat ein, der nicht enden zu wollen schien.

‚Verzeiht mir, ich hätte meine Wut besser zügeln sollen, doch ein Einhorn, das seinen Schwur bricht, ist es nicht wert …‘ Liya blickte wieder auf und sah Elea direkt in die Augen. Einen kurzen Moment konnte sie so etwas wie Furcht darin erkennen, doch diese verschwand beinahe sofort wieder.

‚Jetzt ist es an Euch, mich zu bestrafen …‘ Liya senkte demütig den Kopf und erwartete Eleas Reaktion mit Fassung.

„Ich soll was?“ Elea sah sie verständnislos an und blinzelte. Dann schüttelte sie wild den Kopf. „Das werde ich nicht tun! Warum sollte ich? Jeder wird einmal wütend! Kein Wesen hat das Recht ein anderes zu bestrafen, nur weil es wütend wird! Das solltet ihr als solch reine und unschuldige Wesen doch wissen! Hat die Magie euch denn nichts gelehrt?“ Eleas Augen füllten sich mit Tränen.

Erinnerungen drangen in ihr Bewusstsein und sie schnappte erschrocken nach Luft. Bald würde sie sich an alles erinnern, fühlte sie, und ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen.

‚Dann seid Ihr es wirklich …‘, sagte Liya ehrfürchtig und sank zu Boden.

Die anderen Einhörner taten es ihr gleich.

„Was soll das?“ Elea errötete und wandte sich beschämt ab. Es war ihr überaus unangenehm, dass sich die Einhörner vor ihr verneigten. „Steht wieder auf! Ihr macht mich ganz verlegen. Und …“

Augenblicke, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, verstrichen, ehe sich die Einhörner wieder erhoben.

Elea ließ sich auf dem Boden nieder und verschränkte die Arme vor der Brust. So konnte sich keiner mehr vor ihr verneigen, ohne im Boden zu versinken.

Allmählich begann sie das Verhalten der Einhörner zu verstehen, doch sie wollte nicht wahr haben, was dies bedeutete. Es konnte einfach nicht wahr sein.

„Macht das nie wieder …“, flüsterte sie schließlich.

Keines der Einhörner erwiderte etwas darauf.

Und wieder schwiegen sie.

Die Einhörner schienen im Stillen miteinander zu kommunizieren und Elea blickte traurig in den Himmel hinauf.

Da sie an ihren Gesprächen nicht teilhaben konnte, begann sie, ihre Gedanken gleiten zu lassen und ließ sich auf einer Welle tiefer Ruhe davontreiben.

In der Ferne konnte sie verschwommen die Umrisse einer Stadt erkennen. Einer Stadt, die sie kannte, aber lange Zeit nicht mehr besucht hatte.

Langsam kehrten weitere Erinnerungsfragmente zu ihr zurück, doch ehe sich die Umrisse schärfen konnten, rissen Liyas Worte sie aus ihren Gedanken.

‚Findet die sieben Wächter und vereint sie miteinander. Nur Ihr könnt das. Vertraut auf Euch, wie Ihr es früher getan habt, und führt den letzten Wächter zurück ins Licht. Euer Licht wird stark genug sein, die Dunkelheit in seinem Herzen zu vertreiben.‘

Elea nickte langsam. Mehr und mehr erwachte das Verlangen in ihr, jene Aufgabe, die ihr so vertraut schien, anzugehen und die Wächter zu finden.

„Ich bitte euch, sagt mir, wer ich bin … ich ertrage es nicht zu wissen, dass ihr die Wahrheit kennt und sie mir verschweigt.“ Tränen glitzerten in ihren Augen, doch sie kannte die Antwort der Einhörner bereits. Sie würden es ihr nicht sagen.

‚Es tut mir aufrichtig leid, aber ich kann Euch nicht geben was Ihr sucht. Es könnte das Ende dieser Welt bedeuten. Eure Erinnerung wird bald zu Euch zurückkehren … glaubt daran.‘

Elea setzte ein gequält wirkendes Lächeln auf und seufzte. „Dann … warte ich so lange, auch wenn es mir schwer fällt …“, murmelte sie und ließ enttäuscht den Kopf hängen.

Tief in ihrem Innern fürchtete sie ihre Erinnerung, doch sie wusste auch, dass sie sich erinnern musste, um ihre Aufgabe erfüllen zu können.

‚Achtet auf die Dunkelheit, lasst Euch bitte nicht von ihr verführen. Cal wird Euch schützen, solange Ihr Euch noch nicht selbst schützen könnt, vergesst das nie …‘

Das silberne Horn erstrahlte ein weiteres Mal und schickte Elea zurück.

„An diese Art zu reisen werde ich mich wohl nie gewöhnen“, meinte sie zu sich selbst und runzelte die Stirn.

Nachdenklich sah sie sich um. Wo hielten sich Yvannie und Cal auf? Sie wollte ihnen alles erzählen und nicht länger warten.

Leise Stimmen drangen aus der Küche und sie folgte ihnen.

„Elea! Wo warst du so lange?“, frage Yvannie aufgebracht und warf ihr einen tadelnden Blick zu. „Es ist schon lange dunkel. Ich habe mir Sorgen gemacht!“

Ein Lächeln huschte über Eleas Gesicht. „Ich war noch einmal im Tal der Wunder“, erklärte sie. Dann sah sie Cal an und lächelte. „Yvannie wird jetzt alles erfahren.“

Diese sah sie verwundert an und wartete darauf, was sie ihr offenbaren würde.

Elea setzte sich zu ihnen und begann zu erzählen.

Yvannie hörte ihr interessiert zu und als Cal ihr erzählte, dass er einer der sieben Wächter war, zuckte sie erschrocken zusammen.

„Aber du bist mein Bruder! Wie kann das sein?“, fragte sie schockiert und schüttelte wild den Kopf. Ihre schlimmsten Ängste schienen sich zu bewahrheiten.

„Ich bin trotzdem ein Mensch wie du, glaube ich. Ein Teil von mir zumindest“, entgegnete er. „Die Wächter wurden damals doch auch zu Menschen …“

„Menschen mit magischen Kräften“, unterbrach Elea und lächelte Yvannie aufmunternd zu.

„Ja. Ich bin immer noch dein Bruder und werde es auch bleiben. Aber mit diesem Wissen, das ich jetzt über meine Vergangenheit habe, habe ich auch die Macht, dich zu beschützen, liebe Schwester, und das ist das Wichtigste auf der Welt für mich.“

Yvannie schien das Ganze sehr zu verwirren und sie brachte denselben Einwand auf, den Elea zuvor den Einhörnern vorgebracht hatte. „Du bist doch noch ein Kind! Der Legende nach waren die Wächter allesamt erwachsen! Wie kannst du da einer von ihnen sein?“ Sie schien den Tränen nahe. Ihre Stimme zitterte. Sie wollte nicht glauben, was sie alles vernommen hatte, denn sie wusste, was dies bedeuten würde: Cal musste sie verlassen.

„Das stimmt, aber als wir Wächter im Kampf starben, lebten unsere Seelen weiter. Wir waren … sind … ja noch immer Engel, die Beschützer dieser Welt. Und sobald unsere Hilfe auf Erden wieder von Nöten sein würde, wollten wir zurückkehren.“

„Die Erinnerung an sein Leben als Wächter wäre nicht zurückgekehrt, wenn wir ihre Hilfe nicht benötigen würden“, bekräftigte Elea.

Yvannie sah von Cal zu Elea und wieder zurück. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Und warum erzählt ihr mir das?“, fragte sie mit leiser, ängstlicher Stimme. Sie kannte die Antwort bereits und schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten.

„Wir müssen aufbrechen und die anderen Wächter suchen.“

Elea wandte den Blick ab. Über das Schicksal des einen Wächters wollte sie kein Wort verlieren.

„Wie wollt ihr die finden? Es war doch nur ein Zufall, dass …“

Cal unterbrach sie: „Durch Elea habe ich meine Erinnerung zurückerlangt und die Einhörner sagten, sie könne die anderen Wächter finden.“

Yvannie sah sie fragend an. „Also hast du deine Erinnerung zurück?“ Sie sah Elea erwartungsvoll an und hoffte inständig, ein Ja zu vernehmen.

„Nicht ganz …“, murmelte sie betrübt und sah an ihr vorbei. „Ich weiß noch immer nicht, wer ich eigentlich bin … und …“ Elea unterbrach sich und dachte kurz nach. Es fiel ihr schwer, jene Worte über ihre Lippen zu bringen: „Würdest du uns begleiten, Yvannie?“

Yvannie hielt den Atem an und senkte schließlich den Kopf. Sie wollte weder Cal noch Elea gehen lassen, aber sie fürchtete sich ebenfalls davor, sie zu begleiten.

„Lass mich erst eine Nacht darüber schlafen, das ist zu viel für mich …“

Yvannie erhob sich und verließ die Küche, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Elea sah ihr traurig nach. Sie konnte Yvannies Frustration spüren und bereute insgeheim, ihr die Wahrheit offenbart zu haben, doch sie hatte verdient zu erfahren, warum sie und Cal aufbrechen mussten.

„Ich glaube, sie ist ziemlich enttäuscht von uns“, flüsterte Elea betrübt und senkte den Blick.

Sie wusste, dass sie Yvannie von Anfang an die Wahrheit hätte erzählen sollen.

„Wie hast du die Einhörner überreden können?“, fragte Cal verwundert.

Elea sah auf und schüttelte den Kopf. „Ich habe sie nicht überredet. Ich sagte ihnen, ich würde es ihr erzählen und sie sagten nur, sie müssten diese Entscheidung respektieren. Wir hätten Yvannie sofort einweihen sollen …“ Sie seufzte und rieb sich die Stirn. Dass die Einhörner sich ihr gegenüber anders als zuvor verhalten hatten, wollte sie für sich behalten.

Die beiden schwiegen sich eine Zeit lang an, denn keiner wusste etwas zu sagen, dass sie in irgendeiner Weise aufgemuntert und Yvannies enttäuschten Gesichtsausdruck aus ihren Geistern verdrängt hätte.

„Ich gehe schlafen. Gute Nacht, Cal.“

Elea stand auf und ließ ihn allein zurück.

Sie hatte das Richtige getan, versuchte sie sich einzureden. Das war sie Yvannie schuldig. Sie hatte verdient, alles zu erfahren.

Cal saß noch eine Weile in der Küche und dachte über Elea nach.

‚Wer ist sie, dass die Einhörner ihr nicht widersprechen? Sie lassen sich doch sonst von niemandem sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Ist sie es etwa doch? Ich muss abwarten …‘

Er stand auf und ging ebenfalls zu Bett.

Als Elea am nächsten Morgen in die Küche kam, waren Yvannie und Cal bereits auf den Beinen.

Yvannie schien sehr beschäftigt zu sein und bemerkte sie nicht.

„Guten Morgen!“, sagte sie und versuchte dabei fröhlich zu klingen.

Yvannie warf ihr ein seltsames Lächeln zu, das Elea zusammenzucken ließ. Sie war also nach wie vor wütend.

„Ich bin dir nicht böse wegen gestern“, meinte sie dann, als sie Eleas Reaktion bemerkte und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Du hast nur das getan, was die Einhörner von dir verlangten. Ich bin froh, dass du mir überhaupt gesagt hast, was hier vor sich geht. Dafür bin ich dir sehr dankbar.“ Yvannie ging auf sie zu und legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schulter. „Ich begleite euch natürlich sehr gern.“

Elea lächelte überglücklich und entspannte sich wieder.

„Wann brechen wir auf?“, fragte Yvannie schließlich und wandte sich wieder dem Küchentisch zu, an dem sie gearbeitet hatte. „Es wäre vielleicht das Beste, wenn wir erst morgen aufbrechen, dann könnte ich noch Brot backen und einige Dinge vorbereiten, damit wir auch nicht verhungern.“

Elea nickte langsam. „Also dann morgen bei Sonnenaufgang …“

„Gibst du mir mal bitte diesen kleinen Sack da drüben?“, bat sie.

Elea drehte sich um und langte nach dem Mehlsack, der an der Wand lehnte.

Eine kleine Staubwolke breitete sich langsam aus, als ihr dieser aus der Hand rutschte und mit einem dumpfen Schlag auf den Boden plumpste. Sie musste husten, was Cal wiederum dazu brachte zu lachen.

Die angespannte Stimmung schien plötzlich wie weggeblasen.

„Warum willst du eigentlich, dass ich mitkomme?“, fragte Yvannie neugierig und musterte Elea eingehend. „Ich kann euch nicht helfen; ich beherrsche ja nicht einmal die Magie.“

„Ich dachte, du glaubst nicht an Magie“, sagte Elea zwinkernd und lächelte.

„Nun ja … ihr habt mich eines Besseren belehrt. Ich glaube zwar nicht an diese Kunststückchen, wie sie Magier in Geschichten immer vollbringen, aber …“ Yvannie brach ab und setzte ein gequält wirkendes Lächeln auf. „… Wahrscheinlich bin ich euch nur im Weg …“

Elea sah sie an und suchte nach ein paar ermutigenden Worten. „Das bist du bestimmt nicht. Ich beherrsche die Magie ja auch nicht. Außerdem kommt es nicht darauf an, besondere Kräfte zu haben. Deine wahre Stärke liegt hier …“, sagte sie mit etwas Nachdruck und deutete auf Yvannies Herz. „Lass dir das nicht nehmen. Ein liebendes Herz ist viel mächtiger als alle Magie dieser Welt.“

Yvannie nickte dankbar und stellte ihr einen Teller mit Brot, Früchten und Käse hin.

„Iss und grüble nicht so viel, sonst bekommst du Falten“, meinte sie neckisch und stand auf. „Ich danke dir für deine lieben Worte. Du hast ja recht.“ Sie lächelte.

„Isst du nichts?“, fragte Elea verwundert und hielt Yvannies Hand fest, die auf ihrer Schulter ruhte.

Sie schüttelte den Kopf. „Cal und ich haben bereits gegessen. Und dir habe ich das Beste übriggelassen, aber verrate ihm nichts davon.“ Sie zwinkerte ihr zu und sah sich wachsam nach Cal um, der sich glücklicherweise nicht länger in der Küche befand.

Kaum hatte Elea begonnen zu essen, klopfte es am Fenster und sie sah neugierig auf.

Es war Sedryn.

„Hallo! Ich dachte, du kommst gar nicht mehr vorbei!“, sagte Yvannie erfreut, als sie das Fenster öffnete und ihn hereinließ. „Nimm das nächste Mal bitte die Tür, du kennst doch den Eingang!“

Ohne zu antworten, sprang er durch das Fenster und lächelte Elea an, die ihn mit großen Augen ansah.

„Wie geht es dir? Lange nicht mehr gesehen!“

Noch bevor sie antworten konnte, hatte Sedryn Elea das Brot aus der Hand genommen und herzhaft hineingebissen.

„Das war meins!“, sagte sie aufgebracht und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Sedryn ignorierte sie und sah sich stattdessen neugierig um.

„Bei euch geht es aber geschäftig zu. Wollt ihr verreisen?“, fragte er verwundert.

„Das geht dich nichts an“, entgegnete Elea kalt und wandte sich dem Käse und den Früchten zu, die sie nun, wohl oder übel, so essen musste.

„Bist du jetzt sauer, weil ich dir das Brot gestohlen habe? Yvannies Kochkünsten kann ich einfach nicht widerstehen, das musst du mir nachsehen.“

Elea schnaubte und wandte den Blick von ihm ab. Seine Gegenwart behagte ihr ganz und gar nicht.

„Nein, bin ich nicht … Es ist nur … Ach, vergiss es einfach. Ja, wir verreisen, aber wohin sage ich dir nicht.“

Sedryn sah zu Cal, der eben wieder die Küche betrat.

„Ist das genug?“, fragte er und sah seine Schwester erwartungsvoll an.

In den Händen hielt er frische Kräuter, die er eben aus dem kleinen Garten hinter dem Haus geholt hatte.

„Aber natürlich. Ist vielleicht ein bisschen viel, aber das macht nichts. Den Rest werde ich einfach trocknen, dann können wir es mitnehmen.“

Lächelnd reichte er ihr die Kräuter.

Erst jetzt bemerkte er Sedryn, der es sich neben Elea bequem gemacht hatte und diese anstarrte.

„Hallo Sedryn, bist auch mal wieder hier? Ich dachte, du kommst gar nicht mehr vorbei.“

Elea musste grinsen.

„Was ist?“, fragte Cal überrascht und legte den Kopf schief.

„Yvannie hat genau dasselbe gesagt“, meinte Elea amüsiert.

„Warum kommst du eigentlich erst jetzt?“, fragte Cal dann vorwurfsvoll und musterte Sedryn eingehend. Er wirkte müde und schien an Gewicht verloren zu haben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739477244
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Einhörner Magie Love Fantasy Romance Romantasy Episch High Fantasy Liebesroman Liebe

Autor

  • Stephanie Rose (Autor:in)

Stephanie Rose, am 15.05.1987 in Heilbronn am Neckar geboren und im beschaulichen Städtchen Gundelsheim aufgewachsen, wurde die künstlerische Begabung von ihrem Vater, einem Goldschmiedemeister und erfolgreichen Maler expressionistischer Werke, in die Wiege gelegt. Ausgestattet mit einer regen Fantasie und stets fasziniert von Mythen und fantastischen Geschichten verfasste sie bereits während der Schulzeit Gedichte und Kurzgeschichten.
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Titel: Ein Licht in der Dunkelheit I