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Haus im Schnee

von Alexandra Scherer (Autor:in)
168 Seiten
Reihe: Kathy O'Banion Mystery, Band 2

Zusammenfassung

In den Rauen Nächten ist die Wilde Jagd unterwegs — ruhelose Seelen und alte Götter auf der Jagd nach Vergeltung. Kathy O‘Banion freut sie sich darauf, gemütliche Weihnachten mit ihrer angereisten Stiefmutter Holly und ihrem Mentor Silver zu feiern. Ein heftiger Schneesturm macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Ihr Wagen kommt von der Straße ab. Als die drei auf einem abgelegenen Bauernhof Schutz vor dem Sturm suchen, merken sie schnell, dass dort etwas nicht stimmt. Gehöft und Bewohner wirken wie aus dem letzten Jahrhundert. Kathy und ihre Begleiter werden in die sich anbahnende Familientragödie hineingezogen. Wenn sie es nicht schaffen, ein altes Versprechen einzulösen und dem Unglück einen anderen Verlauf zu geben, dann steht ihr eigenes Überleben auf dem Spiel.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alexandra Scherer

Haus im Schnee

Kathy O‘Banion Mystery No. 2

Impressum:

Umschlag:2020 © A.Scherer

Texte: 2020 © Alexandra Scherer

A.Scherer

Armin-Winkle-Str. 17
89281 Altenstadt

wangenerkrimis@gmail.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

1.

»Sweetie, es tut mir echt leid. Das konnte doch niemand ahnen.« Holly klang niedergeschlagen und sie hatte allen Grund dazu. »Was tun wir jetzt?«

Ich klammerte mich an das Lenkrad und stierte angestrengt durch die Windschutzscheibe, während das Auto durch den Schneesturm kroch.

»Wir folgen der Straße. Irgendwann werden wir wohl in einer Ortschaft landen. Auch wenn ich gerade das Gefühl habe, dass wir durch die endlose Leere von Raum und Zeit fahren.«

»Sei vorsichtig, Pocahontas, welche Gedankenbilder du dem Universum vorgibst«, warnte Silver, der neben meiner Stiefmutter saß.

»Silver, ich hab echt nicht den Nerv für deinen Medizinmannmodus«, knurrte ich. Der gemietete Minivan hatte keine Automatik und bot den Windböen eine gute Angriffsfläche. Durch das Pedaletreten und Gangschalten schmerzte mein Bein. Im Bemühen, durch das Schneegestöber etwas zu erkennen, berührte ich mit der Stirn fast die Windschutzscheibe.

Silver schlug vor: »Ich übernehme eine Weile das Steuer.« Das klang schon besser, allerdings traute ich mich hier nicht, einfach anzuhalten. Die Sicht war so schlecht, dass Gefahr bestand, ein hinter uns folgendes Fahrzeug oder auch ein entgegenkommendes, könnte in uns ’reinkrachen.

»Gute Idee, dann schalt mal deinen siebten Sinn ein und hilf mir, eine Parkbucht oder so was zu finden.«

Dabei hatte alles so gut begonnen. Vor zehn Tagen ließ Holly während unserer wöchentlichen Skypekonferenz ihre Überraschung platzen. »Darling, was würdest du sagen, wenn Silver und ich dich besuchen kommen? Wir feiern ein richtiges deutsches Weihnachten mit Schnee und Baum und allem Drum und Dran.« Holly hatte recht romantische Vorstellung von Weihnachten und Deutschland.

Natürlich war ich begeistert. Es war über ein Jahr her, dass ich nach Deutschland gezogen war und ich vermisste Holly und Silver sehr. Holly hatte einige Jahre nach dem Tod meiner Mutter meinen Vater kennengelernt und war mir immer eine gute Freundin gewesen. Als mein Dad dann bei einem Unfall starb und ich schwer verletzt überlebte, hatte sie sich weiter um mich gekümmert, obwohl sie keinerlei Verpflichtung dazu hatte und ich für eine Zeit wirklich unausstehlich war. Durch sie hatte ich auch Silver kennengelernt. Einen waschechten Native American, der genau so aussah, wie ich mir Winnetou immer vorgestellt hatte. Natürlich nur, wäre der Edle Wilde nicht hinterrücks in jungen Jahren in Band III erschossen worden.

»Das ist eine super Idee, aber ich weiß ehrlich nicht, wie genau ein Deutsches Weihnachten aussieht«, schränkte ich den Enthusiasmus meiner Stiefmutter ein. »Letztes Jahr bin ich gar nicht richtig zum Feiern gekommen, wegen der Renovierungsarbeiten.«

»Grund genug, es dieses Mal richtigzumachen«, meinte Holly. »Wir fliegen in einer Woche nach München. Dort treffen wir uns. Ich dachte, wir verbringen ein paar Tage in der Stadt und decken uns mit allem ein, was man so für ein Weihnachtsfest braucht. Dann mieten wir einen Wagen und fahren zu dir.«

So hatten wir es gemacht. Ich fuhr mit dem Zug nach München und holte meine zwei Lieben vom Flughafen ab. Holly mietete uns in einem Hotel in der Stadt ein. Drei Tage lang schleppte sie uns durch die vorweihnachtliche Großstadt. Die Einkäufe in Kombination mit ihrem Gepäck passten nur in einen Kleinbus. Meine Bedenken, dass ich so einen Wagen noch nie gesteuert hatte, wurden beiseite gewischt. »Ach komm, es sind nur knappe zweihundert Kilometer, das ist doch ein Klacks. Die Sonne scheint, es ist trocken. Was soll da schon groß schiefgehen?« Schon mal was von ‚berühmten letzten Worten‘ gehört?

Das Unglück nahm seinen Lauf nach knapp fünfzig Kilometer Autobahnfahrt. Vor uns ereignete sich eine Massenkarambolage und die Polizei leitete den nachfolgenden Verkehr und damit auch uns über eine Notausfahrt von der Autobahn ab.

»Ein Glück, dass wir nicht schneller waren, sonst hätte es uns auch erwischen können.« Manchmal fand ich Hollys ausgeprägten Optimismus nervig.

Silver schien es ähnlich zu gehen, denn er meinte: »Da scheint sich was zusammenzubrauen. Mein Großvater hat mir schon erzählt, dass es hier heftig sein kann.«

»Dein Großvater?«, Ich sah in Gedanken eine Version von Silver mit langen grauem Zopf, aber die Vorstellung einer älteren Silverversion in Süddeutschland wurde von meiner Fantasie abgewiesen.

»Als junger Mann war er in der Army. Ab 45 eine Zeitlang in Süddeutschland«, erzählte Silver, während ich den Anweisungen des Navigationsgerätes folgte. Es ging stetig bergauf und in Richtung einer sehr dunklen Wolkenwand, die sich als Schneesturm entpuppte. Nun, vier Stunden später fuhr ich völlig orientierungslos die Straße entlang. Immer wieder wurden wir umgeleitet, weil vor uns Autos vom Weg abkamen. Einmal krochen wir im Schritttempo an einem Schulbus vorbei, der im Graben lag. Überall waren Feuerwehr- und Rettungswagen unterwegs. Mir kam es vor, als wären wir in einer friedlichen sonnigen Welt losgefahren und durch ein Dimensionsloch in einer feindlichen chaotischen Schneewelt gelandet.

»Gut, dass du vor einer Stunde an dieser Tankstelle noch mal aufgetankt hast«, meldete sich Großmutter vom Rücksitz. Vor Schreck kam ich fast von der Straße ab. Ich wagte einen schnellen Blick in den Rückspiegel. Sie saß ordentlich angeschnallt da und hatte Kater auf dem Schoß, der sich von ihr streicheln ließ.

»Was soll das?«, blaffte ich.

Holly und Silver blickten mich erstaunt an, weil ich so laut und wohl auch wütend klang.

»Was genau meinst du?«, fragte Holly.

Ich deutete durch eine kurze Bewegung meines Kopfes nach hinten. »Großmutter«, sagte ich nur.

»Jedenfalls bekommt Holly ihre weiße Weihnachten«, meinte Oma ungerührt, während Silver und Holly ihre Hälse verrenkten, um nach hinten zu sehen.

»Achtung!«, rief meine Großmutter begleitet von Katers lautem Fauchen.

Etwas Dunkles streifte die Kühlerhaube, ich verriss das Lenkrad und der Wagen kam ins Schlingern.

3.

Geraume Zeit später liefen wir im Gänsemarsch hinter Großmutter her, die zielstrebig die zugeschneite Straße entlang schritt. Silver kam gleich hinter ihr und spurte den Weg für Holly und mich, während Kater mit hocherhobenem Schwanz die Nachhut bildete. Holly hatte darauf bestanden, einen Großteil der Fressalien, die wir für das Weihnachtsfest gekauft hatten, mitzunehmen.

»Ich erinnere mich, als ich mal in einem Blizzard mit deinem Dad in einer Ski-Lodge feststeckte. Ich weiß noch, wie froh ich war, dass es eine Vorratskammer gab. Wir nehmen besser soviel mit, wie wir tragen können. Wer weiß, wie lange wir hier festsitzen«, argumentierte sie. »Und vergesst die Wolldecken nicht.« So schnallte sich jeder von uns ein dickes unförmiges Bündel auf den Rücken und trug zusätzlich noch einige Einkaufstaschen. Es dauerte nicht lange, da begann mein Rücken zu schmerzen und die Griffe der schweren Taschen schnitten mir in die Handflächen.

Großmutter hielt unter einer Straßenlaterne an, deren Licht nur noch schwach unter und hinter einer dicken Schneeschicht erkennbar war.

Ich ergriff die Gelegenheit, nachzuhaken und flüsterte hektisch, damit Holly es nicht mitbekam: »Sag mal, warum tauchst du gerade jetzt wieder auf? Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du deinen Frieden gefunden hast.«

»Du hast dich darauf geeinigt.« Omas Stimme klang gereizt. Sie deutete auf eine kaum erkennbare Straße, die sich im Wald verlor. »Es ist nicht mehr weit, nur noch hier durch das Wäldchen«, wechselte sie das Thema.

Silver, der unseren Schlagabtausch mitbekommen hatte, grinste und zückte sein Handy. Eine Weile starrte er konzentriert ’drauf.

»Ach komm Silver«, meinte Holly. »Das ist jetzt nicht der passende Zeitpunkt, ein Bild auf Facebook zu posten.«

»Der Zeitpunkt ist schon der richtige«, antwortete Silver und hielt uns das Gerät hin. »Fragt sich nur wann und wo.«

Das Display seines CatS60 war leer. »Die Kompass-App funktioniert nicht«, erklärte er. »Anali, was genau tun wir hier?«, fragte er meine Großmutter.

»Kommt jetzt.« Oma war gut darin, unbequeme Fragen zu ignorieren. »Es ist nicht mehr weit.«

Der Wind heulte laut, als sie im Dunkeln der Bäume verschwand und wir ihr im Gänsemarsch folgten. Sobald wir den Wald betreten hatten, war der Sturm nur noch schwach zu hören. Nur ab und an konnte ich ein Knallen hören.

»Sind das Schüsse?«, fragte Holly, eher interessiert als ängstlich.

»Die Lakota nennen es: Cannapopa wi«, sagte Silver. »Im Winter reißt die Rinde auf, das macht diese Geräusche. Passiert aber nur in sehr kalten Wintern.«

»Ich weiß noch, als ich ein Kind war«, nahm Oma den Faden auf. »Da war ein Winter so eisig, da knallte es oft im Wald.« Sie zeigte auf zwei Schatten, die vor uns die Straße entlang gingen. »Seht, wir haben es gleich geschafft.«

»Sind das nicht die Frau mit dem Kind von vorhin am Auto? Das ist doch nicht möglich, oder doch?«, fragte Holly. »Eigentlich unverantwortlich, mit dem Kind bei dem Wetter draußen ’rumzuspazieren. Sie könnten sich den Tod holen.«

»Jedenfalls muss sie hier in der Nähe wohnen«, meinte ich pragmatisch. »Beeilen wir uns, damit wir sie einholen.« Ich fing an, laut zu rufen. Mein ›Hallo. Warten Sie bitte!‹ klang seltsam dumpf im Wald, gerade so, als würden die Bäume die Töne schlucken.

Die Gestalten vor uns blieben stehen und drehten sich um. Das kleine Mädchen lehnte gegen das Bein ihrer Mutter und beobachtete uns, während die Frau starr wie eine Statue auf uns wartete. Ich beschleunigte meine Schritte und humpelte eilig auf die zwei zu, denn ich hatte das Gefühl, wenn ich sie nicht schnell erreichen würde, dann verschwänden sie.

Silver war schneller als ich. Kater legte einen Sprint hin und überholte mich ebenfalls, um sich dann vor Mutter und Kind zu setzen, fast so, als würde er Silver, Holly und mich bewachen.

Grandma bildete die Nachhut. Die Fremde musterte uns eine Weile stumm. Der Schneesturm hatte aufgehört und die Temperatur war weiter nach unten gesunken. Trotz meiner warmen Winterkleidung fror ich.

Die Frau wandte sich direkt an Silver: »Sie haben es sich also anders überlegt.« Es war fast so, als würde sie uns andere gar nicht wahrnehmen.

Ich nutzte die Gelegenheit und betrachtete die zwei Wesen vor mir genauer. Jetzt, wo der Vollmond durch die Wolken drang und direkt auf den winterlichen Pfad schien, war das auch recht einfach.

»Silver …« Ich zupfte ihm am Ärmel und trat neben ihn.

Er blickte mich kurz an und nickte. »Ich hab‘s auch gemerkt. Lass mich machen.«

Die Frau wandte ihre Aufmerksamkeit mir zu. »Ihre Dolmetscherin?«

Silver blieb stumm, er ließ die Frau ihre eigenen Schlüsse ziehen.

»Gut«, meinte sie schließlich. »Folgt uns. Vielleicht gibt es Rettung.« Damit drehte sie sich um und schritt die Straße weiter entlang.

Holly schloss zu Silver und mir auf. »Seid ihr sicher, dass wir ihr folgen sollten?«

»Wir haben keine Wahl«, beschied Silver. »Wir sind da in etwas ’reingeraten, das nun seinen Lauf nimmt und wir sind Teil davon.«

4.

»Wir sind da.« Die Frau wandte sich an uns. »Überlasst mir das Reden. Der Gustl kann schwierig sein.« Sie drehte sich um und ging weiter.

Wir traten aus den Bäumen heraus und sahen vor uns im Mondlicht ein Gehöft liegen. Aus einem Schornstein stieg dunkler Rauch auf, der vom Sturmwind sofort zerrissen wurde und sich mit den oben am Himmel dahinjagenden Wolken vereinigte. »Raunacht. Die Wilde Jagd ist unterwegs«, sagte Oma leise.

»Was meint sie?«, fragte Holly.

Ich blinzelte erstaunt, aber bevor ich antworten konnte, übernahm Silver. »Kathys Análí bezieht sich auf eine europäische Sage. In der Zeit vor und nach Weihnachten ist die Wilde Jagd unterwegs. Ruhelose Seelen, alte Götter auf der Jagd nach Vergeltung.«

»Es ist die Zeit, Unrecht geradezurücken, um den Seelen Frieden zu geben«, meinte Oma.

»Das dir angetane Unrecht haben wir doch schon erledigt«, rutschte es mir heraus.

»Es gibt Versprechen, die eingelöst werden müssen.« Täuschte ich mich, oder fixierte meine Oma Silver?

»Leute, sollten wir ihr nicht folgen?«, unterbrach Holly meinen Gedankengang. Unsere Führerin hatte inzwischen das Bauernhaus erreicht, während wir immer noch am Waldrand standen. Vor uns lag, wie auf einer Bühne, das Gehöft. In für die Gegend typischer Art waren Wohnbereich und Kuhstall in einem Gebäude untergebracht. Eine große Scheune schloss sich im rechten Winkel an und warf das Hauptgebäude in dunklen Schatten. Ich wollte auf den Hof zugehen, aber Kater stellte sich quer vor mich, während Silver gleichzeitig eine Hand auf meinen Arm legte.

»Nein. Wir warten.«

»Worauf?«, fragte Holly.

»Darauf.« Oma streckte ihren Arm gerade aus und deutete auf die Haustür. Wir standen zwar gute fünfzig Meter entfernt, aber in der kalten Winterluft trugen Töne weit. Ich sah, wie die Frau, die uns hierhergeführt hatte, etwas an der Haustür anhob und dann fallen ließ. Es war ein altmodischer Türklopfer, denn der dumpfe Klang von Metall auf Holz drang zu uns herüber. Dreimal tönten die Schläge durch die stille Nacht. Aggressives Hundegebell drang zu uns herauf und kurz darauf öffnete sich die Tür. Ein großer Mann füllte den Türrahmen fast ganz aus, sein Gesicht blieb im Schatten. Eine Weile herrschte Stille zwischen den Personen unten an der Haustüre, dann sprach der Mann. »Du? Was willst du hier?«

»Mein Recht.«

»Huren haben keine Rechte. Schau, dass du Land gewinnst, du und dein Bankert.« Der Mann machte Anstalten, die Frau von der Tür weg zuschubsen. Im blakigen Licht seiner Petroleumlampe sah ich kurz etwas Metallisches aufblitzen. Die Frau hielt etwas in ihrer Rechten, während sie ihre Tochter mit der linken hinter sich schob. Der Mann machte einen Schritt zurück. »Was soll das? Sei doch vernünftig.«

»Ich bin vernünftig. Deine Zeit ist vorbei. Wo sind jetzt deine Partei-Spezis? Du wirst mich und meine Tochter ins Haus lassen … Denk nicht einmal daran, uns was anzutun. Ich hab vorgesorgt.«Das Lachen unserer Führerin klang höhnisch.

»Martha, die Lügnerin. Wer soll dir glauben?«, presste der Hausherr hervor.

»Willst du es darauf ankommen lassen?«

Kurz herrschte Stille, dann nickte der Mann kurz. »Ich bin kein Unmensch, wir werden uns schon einigen. Kommt rein.«

Der Mann gab den Eingangsbereich frei, Mutter und Kind schlüpften hinein und die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Hof und Haus lagen dunkel und stumm vor uns.

»What the heck?«, fluchte Holly. »Hat die Frau uns vergessen?«

Bevor auch ich meiner Verwunderung Ausdruck verleihen konnte, beantwortete Silver die Frage: »Das Spiel hat begonnen, jeder muss seine Rolle selbst finden.«

5.

»Mal ganz ehrlich«, meinte Holly. »Hat die Frau den Typen da mit einer Waffe bedroht? Ich dachte, wir sind in Deutschland. Alles ordentlich und nach Regeln. Nicht wie bei den Hillbillys in den Staaten.«

»Die Frage ist weniger: Wo«, murmelte Silver und blickte mich an.

»Was meint er? Sind denn jetzt alle verrückt geworden?« Die Stimme meiner sonst so ruhigen Stiefmutter klang wütend. »Wenn ihr mich fragt, dann sollten wir zurück zum Van und dort auf Rettung warten.«

Mein Magen fühlte sich nicht gut an und ich musste ein paar Mal schlucken, bevor ich meine Stimme fand. »Das ist nicht so einfach. Wir sind Oma gefolgt und ich bezweifle, dass sie uns zurückbringt.«

»Wir sind jetzt hier. Es macht keinen Sinn, zurückzugehen. Dort liegt der Tod«, orakelte Oma.

»Bullshit!«

Ich konnte dieselbe Panik in Hollys Stimme hören, die auch ich verspürte. »Wir müssen doch nur den Spuren zurückfolgen.« Holly drehte sich, um auf die Spuren im Schnee zu deuten. »Oh«, sagte sie.

Die Schneedecke zum Wald hin war unberührt. Lediglich, dort wo wir standen, waren Fußspuren zu sehen. Es war, als ob eine riesige Hand uns wie Spielzeugfiguren von unserem havarierten Van hochgehoben und uns hier — wer weiß wie weit weg —, an den Waldrand gestellt hätte.

Ich wollte Holly gerade erklären, was passiert war, wenigstens, soweit ich es verstand, aber Kater und Großmutter unterbrachen uns. Kater stapfte den Spuren im Schnee nach, die Martha zuvor gezogen hatte und Oma trieb uns mit den Worten an: »Jetzt! Wenn ihr wartet, ist es zu spät. Bewegt euch!«

Kurz darauf standen wir vor der Haustür. Das Haus lag dunkel und abweisend vor uns und wirkte völlig unbewohnt.

Holly klapperte hörbar mit den Zähnen und auch mir setzte die Kälte inzwischen stark zu. Ein Blick auf Silver zeigte mir, dass seine unter der Strickkappe hervorschauenden Zöpfe steif gefroren waren. Lediglich Oma und Kater schienen unbeeindruckt von der Temperatur, aber das wunderte mich nicht.

»Lasst die Spiele beginnen.« Silver ergriff den Türklopfer und hämmerte damit laut gegen die Tür. »Hallo. Ist da jemand? Wir benötigen Hilfe«, rief er dabei lauthals.

Hinter uns knurrte ein Hund und fing an, wütend zu bellen. Wir hörten seine Ketten rasseln. Das Wohnhaus blieb dunkel und stumm. Silver hob die Hand, um erneut zu klopfen. Genau in dem Augenblick stellte der Hund sein Gekeife ein. In der plötzlichen Stille erklang ein lautes Klacken, dann fing der Hund wieder an, zu knurren, diesmal bedrohlich näher.

»Lumpapack! Schleicht Euch! Sonst brat ich euch Gesindel ’ne Ladung Schrot über.«

Wir drehten uns um und erblickten den Hünen, der zuvor mit Martha gesprochen hatte. Er hielt eine altertümlich wirkende Schrotflinte in der Hand. Neben ihm kauerte angriffsbereit ein großer Rottweiler.

Kater fauchte und stellte sich mit gekrümmten Rücken schützend vor unsere Gruppe. Er war plötzlich deutlich größer und bedrohlicher als eine normale Hauskatze. Das schien auch der Hofhund so zu empfinden, denn sein Knurren ging in unsicheres Winseln über und das massige Tier versuchte sich möglichst kleinzumachen und robbte auf dem Bauch mehrere Schritte nach hinten.

»Was soll der Scheiß? Irgend so ein Judentrick, um meinen Hund einzuschüchtern. Ich werd euch zeigen, was ich davon halte.« Der Bauer zielte mit seiner Flinte auf uns und ich fragte mich, ob mein Náshdóítsoh sich da nicht doch etwas zu weit vorgewagt hatte, als dem wütenden Mann vor uns Einhalt geboten wurde.

»Wenn ich du wäre, Gustl, dann würde ich mir das genau überlegen, ob ich einen amerikanischen Offizier und seine Begleiter mit der Waffe bedrohe«, sagte Martha, die unbemerkt von uns die Haustür in unserem Rücken geöffnete hatte. Durch die Türöffnung strahlte helles Licht und beleuchtete unsere Gruppe, wie Scheinwerfer auf einer Bühne.

Der Bauer schoss zwar nicht, hielt aber seine Waffe immer noch auf uns gerichtet, während er laut nachdachte: »Was soll mich davon abhalten, das Gesocks zu erschießen und nachher im Wald zu verscharren? Dich und dein Bankert gleich mit. Es fällt doch nicht auf, wenn die abgängig sind. Der Ami ist dann halt von irgendwelchem Gesindel erschossen worden. Treibt sich ja genug im Wald ’rum. Die Dürre da, die ist sicher auch so ein Weibsstück, das aus den Arbeitslagern entwischt ist. Und die alte Vettel, wo hast die aufgetan? Polackenpack!«

»Nur zu«, antwortete Martha, »Der Ami ist auf meine Bitte hier und seine Vorgesetzten wissen genau, wo er ist. Wenn er und seine Begleiter plötzlich verschwunden sind, was glaubst du, wo sie zuerst suchen?«

Für einen sehr langen Augenblick fixierte Gustl uns über seine Flinte, bevor er die Waffe langsam senkte und knurrte: »Fürs Erste könnt ihr ’reinkommen. Aber schlafen müsst ihr im Heu.« Mehr zu sich selbst, als zu uns meinte er: »Vielleicht schneidet Euch ja der Tagedieb die Kehle durch, der sich die letzten Tage hier ’rumgetrieben hat.« Dann sprach er wieder lauter und wies uns an: »Folgt Martha, die bringt Euch in die Stube. Da könnt Ihr euch aufwärmen.«

»Jesus Christ«, fluchte Holly. »Wo sind wir denn hier gelandet?«

6 .

Silver schüttelte langsam den Kopf: »Die Frage ist eher: Wann?«

»What the heck?« Ich hatte meine sonst so ruhige Stiefmutter noch nie so viel fluchen gehört, wie in der letzten halben Stunde.

»Warte, bis wir allein sind. Dann erklären wir es dir«, bat er Holly und ermahnte sie und mich gleichzeitig: »Schaut euch genau um, vor allem du, Kathy. Wenn wir hier wieder rauskommen wollen, dann brauchen wir so viele Hinweise, wie möglich.«

Ich legte meine Hand beruhigend auf Hollys Arm. Kurz sah sie mir in die Augen und nickte dann zustimmend.

Wir betraten die große Wohnküche. An der einen Wand stand ein Kachelofen, der den Raum heizte. Die giftgrünen Kacheln hatten Risse und Sprünge, die jemand teilweise mit Lehm überschmiert hatte. Ganz dicht war der Ofen trotzdem nicht, denn die Luft roch rauchig und an manchen Kacheln hatte sich schwarzer Ruß abgesetzt. Direkt an den Ofen angeschlossen befand sich ein Herd mit einer großen Metallplatte. Darauf köchelten diverse Flüssigkeiten in verschiedenen Töpfen vor sich hin. Eine Frau stand am Herd und rührte mit einem hölzernen Löffel in einem der größeren Töpfe. Mit der linken Hand balancierte sie ein Kleinkind auf ihrer Hüfte, während ein vielleicht zweijähriges Kind in langem Nachthemd sich an ihrem Rockzipfel festhielt. Der Geruch nach bitterem Rauch gemischt mit Schweiß und ungewaschenen Windeln nahm mir den Atem.

Neben mir würgte Holly und flüsterte: »Mein Gott. Wie kann man sich nur so gehen lassen? Haben die noch nie was von Wasser und Seife gehört? Schau mal, wie der Kleine sich kratzt.«

Martha wandte sich an die Frau am Herd und sagte: »Gretel, ich habe Gäste. Gib ihnen was zu essen und mach Tee. Sie sind hungrig und durchgefroren.«

Gretel drehte sich um und wir sahen, dass wohl in ein oder zwei Monaten das nächste Kind das Licht der Welt erblicken würde. »Des wird dem Bauern aber ’net passen«, meinte sie.

»Dem Bauern?«, Marthas klang abschätzig. »Bist du immer noch die Magd? Ich hab gedacht, er hat dich geheiratet.« Gretel blieb stumm. »Mach, was ich sag!«, forderte Martha. »Sollte der Gustl meinen, er muss sich aufspielen, dann kümmer ich mich drum.«

»Wir haben ein paar Lebensmittel dabei. Vielleicht können Sie ja etwas davon gebrauchen«, bot Holly an und kramte in ihrer Tasche, um Gebäck und Kaffee hervorzuholen. Sie legte ihre Gaben auf den großen Tisch, der vor der Eckbank gegenüber des Kachelofens stand. Dabei lächelte sie Marthas Tochter an, die auf der Bank saß und aus einem Blechnapf Eintopf löffelte. »Dürfen die Kinder Schokolade essen?«, fragte sie und platzierte einen großen etwas zerdrückten Schokoladennikolaus neben die anderen Gaben.

Gretel bettete das Krabbelkind auf ein Schaffell in einem hölzernen Laufstall neben der Eckbank und setzte das größere Kind in einen Hochstuhl neben Marthas Tochter. Sie schob dem kleinen Jungen einen Kanten Brot in die Hand und besah sich Hollys Gaben auf dem Tisch. Mit dem Zeigefinger, dessen abgekauter Nagel einen Trauerrand aufwies, stupste sie den Schoko-Nikolaus an.

»Seid ihr Schwarzhändler?« Sie wandte sich an Martha. »Willst du, dass die Amis uns erschießen?«

Martha zuckte mit den Schultern. »Könntest du es mir verübeln?« Sie nahm am Kopfende des Tisches Platz und forderte die Schwangere auf: »Bevor du meinen Gästen das Essen servierst, mach hier erst mal sauber.« Martha deutete auf die schmierige Tischplatte. »Erinnerst du dich noch Gretel: ‚Sauber und rein zum Sieg?‘ Kein Wunder, dass wir den Krieg verloren haben, wenn du so ein Dreckloch führst.«

Martha sprach weiter: »Die Amerikaner sind sehr großzügig. Hast du noch nichts von ihren CARE-Paketen gehört? In dem Krankenhaus in Memmingen, wo ich schaff, da haben sie für die Kinder ein kleines Weihnachtsfest veranstaltet, g’rad diese Woche. Da gab es auch Schokolade.« Sie öffnete die Blechdose mit Lebkuchen, brach einen entzwei und legte diesen neben die Näpfe ihrer Tochter und dem Kind im Hochstuhl. »Wenn du schon dabei bist, dann mach uns Kaffee.« Sie schob das Päckchen Bohnenkaffee in Richtung Gretel, die Hollys Gaben einsammelte, um dann in einem Schrank in der Nähe des Herdes diverse Utensilien zu holen, während

Marthas Tochter den Kopf hob und uns erklärte: »Sie haben gesungen und ich hab eine Puppe geschenkt bekommen.« Ihre Augen leuchteten. »In dem Paket waren auch Rosinen drin. Die hat die Tante dann in einen Kuchen gebacken. Der war lecker.«

Martha strich ihrer Tochter über das Haar. »Stimmt, Tilly. Der war lecker.« Sie sprach lauter und ihre Stimme klang hart. »Da war auch Seife drin. Die wäre hier mal dringend vonnöten.«

Gretel hatte inzwischen eine Schüssel mit heißem Wasser gefüllt, das sie aus einem der brodelnden Töpfe schöpfte. Fasziniert beobachteten wir, wie sie anschließend auf der Tischfläche feinen weißen Sand aus einer Büchse verteilte, danach eine Wurzelbürste ins Wasser tauchte und die Tischplatte gründlich schrubbte.

Martha kommentierte Gretels Aktion: »Wenigstens hast du noch Putzsachen und hast noch nicht ganz vergessen, wie man sie benutzt.« Sie wandte sich dann an uns, die wir immer noch standen: »Setzt euch!«

Wir rutschten alle auf die Eckbank auf. Holly saß neben Tilly und lächelte das Mädchen an, das schüchtern zurück lächelte.

»Du hast eine Puppe geschenkt bekommen? Wie heißt die denn?«, fragte meine Stiefmutter.

»Topsy«, antwortete Tilly. »Die Tante hat mir Wolle geschenkt und ich stricke ihr einen Wintermantel. Den kriegt sie zu Weihnachten.«

»Da freut sie sich sicher«, stimmte Holly zu. »Weißt du was?« Sie löste den Knoten an ihrem Halstuch und schob es der Kleinen zu. »Daraus lässt sich sicher ein Sommerkleid oder eine Bluse für deine Topsy machen, wenn dir deine Mama hilft.«

Tillys Augen strahlten, aber sie sah ihre Mutter an und fragte: »Darf ich?«

Martha griff sich den Baumwollschal, der in allen Regenbogenfarben gebatikt war, schien kurz zu überlegen und nickte dann. »Pass gut darauf auf. Wenn das alles vorbei ist, dann zeigt die Tante dir, wie du deiner Topsy daraus Kleider machen kannst.« Martha faltete das Tuch zu einem Dreieck und legte es ihrer Tochter um den Hals.

Gretel stellte mehrere Blechnäpfe auf den nun sauberen Tisch und dazu einen großen Kochtopf mit dicker Suppe. Martha brachte einen großen Laib Brot, den sie am Tisch aufschnitt. »Esst!«, befahl unsere Gastgeberin.

Nicht nur ich beäugte den Napf misstrauisch. Schließlich ließen Marthas Kommentare und Gretels Erscheinungsbild und das ihrer Kinder und des Wohnraumes durchaus deutliche Hygienemängel befürchten. Andererseits roch das Essen gut und ich hatte Hunger. Ich zuckte mit den Schultern und griff zu. Wenn ich die Wahl hatte zwischen sicherem Verhungern und einer eventuellen Magen-Darm-Grippe, dann ging ich das Risiko ein.

7 .

»Merci.« Jean bedankt sich bei mir, als ich ihm den Napf fülle. Ich lächle und lege den Zeigefinger auf den Mund. Er und die anderen nicken in stillen Einverständnis.

Gustl und die Kollerin sind auf dem Markt. Gretel ist bei einem ihrer Treffen der Deutschen Frauenschaft. Ich schäme mich, aber ich bin doch froh, dass wir durch ihre Beziehungen so viele Arbeitskräfte haben. Es hat schon seine Vorteile, wenn die Herrschaft mit den lokalen Nazigrößen verbandelt ist. Besonders schäme ich mich, weil ich froh bin, dass Jadwiga da ist.

Ich schau immer wieder durch die Fenster auf den Hof. Nicht, dass Gustl vorzeitig zurückkommt, dann krieg ich Prügel. Noch schlimmer, wenn der Wachmann was mitkriegt. Vor kurzem wurde im Nachbarort eine Magd verpetzt, als sie einem Kriegsgefangen ein Brot zugesteckt hat, jetzt sitzt sie im Gefängnis.

Brot. Heute ist Backtag. Jadwiga hat mir geholfen. Wir haben unbemerkt von der Kollerin von jedem Laib ein bisschen Teig abgezwackt. Die Bäurin zählt die Laiber. Aber so konnte ich für die Kriegsgefangenen zwei Brote auf die Seite schaffen und für Jadwiga allein ein kleines. Sie kann jede Stärkung brauchen, die sie kriegt. Noch sieht man ihr den Zustand nicht an, aber ich hab Angst, was passiert, wenn man es sieht. Sie wohl auch, denn ich seh sie immer wieder an ihr kleines Goldkreuz langen, das sie an einer Kette um den Hals trägt, und beten. Das Kreuz ist komisch. Ganz anders, wie das was ich zur Kommunion gekriegt hab. Bei ihrem Kreuz sind die Enden so breit. Sie bekreuzigt sich auch ganz anders, als ich es gelernt hab.

Ich schöpfe nochmal nach. Sollen sie vom guten Eintopf haben, nachher muss ich ihnen eh wieder Wassersuppe geben. Gustl hat mit dem Bürgermeister zusammen eine Sau geschlachtet. Am Versorgungsamt vorbei. Im Eintopf ist mächtig viel Fleisch, da fällt es nicht auf, wenn ich etwas abzwacke für die vier. Nachher gieß ich etwas Wasser drauf und schneid’ noch drei Kartoffeln rein. Wer weiß, wie es Sebastian geht. Wenn er in Gefangenschaft gerät, vielleicht erbarmt sich ja auch jemand seiner.

* * *

Ich blinzelte. »Wer ist Jadwiga?«, fragte ich.

Gretel fiel eine Metallschüssel aus der Hand, die sie gerade wegräumen wollte. Der Krach war gewaltig. Nicht nur ich zuckte erschrocken zusammen. In der kurzen Stille, die dem Krawall folgte, begannen gleichzeitig das Krabbelkind in seinem Laufstall und sein Bruder auf dem Hochstuhl vor Schreck zu brüllen.

Gretel eilte zu ihrem Jüngsten und hob es auf, um es tröstend zu wiegen. Holly nahm instinktiv den Kleinen aus dem Hochstuhl zu sich und versuchte ihn, zu trösten.

Martha fixierte Gretel, während sie spricht. »Jadwiga kam aus dem Osten. Sie war vierzehn, als sie von hier verschwand. Kurz bevor man mich vom Hof gejagt hat. Der Gustl hat behauptet, sie sei geflohen. Die Gretel hat geschworen, sie hätte sie in den Wald rennen sehen.« Martha drehte sich zu Silver und fuhr fort: »Sie ist eine von denen über die ich Ihnen erzählt habe.«

Holly saß inzwischen mit den kleinen Jungen auf ihrem Schoß da und spielte mit ihm ›Itsy bitsy spider.‹ Der Kleine gluckste und versuchte, ihre Hand einzufangen.

»Das ist aber ein schönes Kreuz, dass er da trägt«, meinte Holly, als sie den Kleinen am Hals kitzelte.

Ich erblickte ein schlichtes byzantinisches Goldkreuz mit feiner Ziselierung.

Gretel streckte die Hand auffordernd nach ihrem Sohn aus und sagte: »Zeit ins Bett zu gehen.«

»Tine, geh mit ihnen«, forderte Martha ihre Tochter auf. »Die Gretel zeigt dir unseren Schlafplatz, da kannst du unsere Sachen ablegen. Danach kommst du wieder runter zu mir.« Sie wartete, bis sich die Tür hinter Gretel und den Kindern geschlossen hatte, dann wandte sie sich direkt an Silver.

»Ich bin wirklich froh, dass Sie es noch geschafft haben. Ich hatte befürchtet, dass Sie wegen des Sturms nicht kämen. Aber Sie hätten Verstärkung mitbringen sollen. Der Gustl ist gefährlich.«

»Wenn Sie Angst haben vor diesem Mann, warum haben Sie dann ihre Tochter mit hierher gebracht?«, fragte Holly.

»Meine Kleine war auf Besuch bei mir in Memmingen, als ich den Offizier traf und er mir zugehört hat.« Martha deutete auf Silver. »Ich hatte keine Möglichkeit, Tine zu meiner Tante nach Wangen zu schicken. Die Passierscheine in die französische Zone sind nicht so einfach zu kriegen. Und wenn er erst verhaftet ist, dann kann uns auch nichts mehr passieren. Mit der Gretel werd ich schon fertig.« Martha stand auf und meinte: »Trinkt euren Kaffee aus, ich hol eine Lampe, dann zeig ich Euch, wo ihr schlafen könnt.«

Holly wartete gerade bis die Tür sich nach Martha schloss und wandte sich dann an Silver und mich. »Würdet ihr mir jetzt endlich erklären, was hier gespielt wird? Ich komm mir vor wie bei Cold Comfort Farm. Dauernd macht jemand düstere Andeutungen. Fehlt nur noch die Großmutter, die sagt: ›Ich sah etwas Schlimmes im Holzschuppen.‹ Alles so primitiv und dreckig. Habt ihr die Hände des kleinen Jungen gesehen? Der Arme hat einen bösen Ausschlag. Sowas gehört behandelt.«Sie fixierte zuerst mich, dann Silver mit ihrem berühmten No-Nonsense-Blick. »Los jetzt raus mit der Sprache. Was ist hier faul?«

»Soll ich?« Silvers Stimme hing im Raum. »Oder willst du?«

Ich räusperte mich. »Holly, erinnerst du dich, als ich euch damals via Skype meine Oma vorgestellt habe? … und später Kater.«

»Klar. Ich war enttäuscht, weil ich beide weder sehen noch hören konnte.«

Eine Weile herrschte Stille. Ich wartete. Der Groschen schien nicht zu fallen. Also schob ich noch einen Hinweis nach. »Wie gut sprichst du eigentlich Deutsch?«

»Gar nicht, das weißt du doch. Dein Vater hat mich immer damit aufgezogen, dass ich in all den Jahren mit ihm zusammen über ›Bitte‹ und ›Danke‹ nie hinausgekommen bin.« Meine Stiefmutter hielt kurz inne. Ich hörte ein kurzes »Oh!«

Der Groschen war gefallen. »Heißt dass, wir sind tot?«

Silver lachte laut auf. »Ich glaube nicht, dass wir dann hier sitzen würden und uns einen Ast abfrieren.«

»Was dann? Hat Kathys Großmutter beschlossen, mir ein Weihnachtsgeschenk zu machen, in dem sie mir gestattet, mit ihr zu kommunizieren?«

»Das hätte sie auch einfacher machen können.«

»Euch ist schon klar, dass ich hier sitze und zuhöre?« Großmutter klang indigniert. »Kein Respekt vor den Älteren.«

Ich verdrehte die Augen. Silver ignorierte Omas Einwand und sprach einfach weiter.

»Ich vermute, wir waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und wurden in eine Story ’reingezogen.«

»Das ist ja schrecklich«, meinte Holly. »Aber wo sind wir dann in Wirklichkeit?«

»Ich nehme an, in der Schutzhütte, zu der uns der Offizier von der Leitstelle geschickt hat. Wahrscheinlich war da früher mal dieser Hof. In der Regel sind solche Reenactments an Orte gebunden. Oder an Gegenstände … oder Personen.« Silver klang nachdenklich.

Ich beschloss, mich in das Gespräch einzubringen. »Hast du eine Ahnung, wie wir helfen können?«

»Nicht genau, aber ich glaube, ich weiß, warum wir hier sind.« Täuschte ich mich, oder klang Silver besorgt?

»Das ist doch gut.« Hollys Stimme klang hoffnungsvoll. »Wenn wir einen Anhaltspunkt haben, warum wir hier sind, dann finden wir sicherlich auch eine Möglichkeit, hier wieder raus zu kommen. Schließlich will ich Weihnachten in Kathys Haus verbringen und nicht hier an diesem unfreundlichen Ort.«

Ich wollte Holly trösten: »So schlimm kann es nicht sein. Schließlich haben wir Oma und Kater auf unserer Seite.« Mein Blick ging zu meiner Großmutter, die stumm auf der Eckbank saß und Kater streichelte, der unbeteiligt auf ihrem Schoß saß. »Silver?«, schob ich unsicher nach, als niemand reagierte.

Ich hörte einen langen Seufzer. »Erinnert Ihr Euch, wie ich im Auto erzählte, dass mein Großvater hier in der Gegend stationiert war? Nach dem Krieg? - Er war Offizier bei der Militärpolizei und Liaison Officer zur bayrischen Polizei.«

Holly fragte: »War die MP für deutsche Verbrechen zuständig?«

»Nur für Nazis und Verbrechen, die alliierte Soldaten betrafen. Er hatte da irgend so einen Sonderstatus. Er sprach selten darüber und war dann immer recht vage. - Ist euch aufgefallen, wie der Bauer hier mich als MP-Officer bezeichnet hat?«

»Ja und mich als jemand aus einem Arbeitslager.« Ich zog einen Flunsch.

»Mager genug bist du ja«, erklang Omas Stimme. Ich hatte mich schon gewundert, wann sie sich einmischen würde.

»Na du bist auch nicht besser weggekommen. Dich hat er als alte Vettel bezeichnet«, konterte ich. »Weißt du, manchmal nervst du ganz schön. Du bist ja wohl nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt aufgetaucht. Ich bin mir sicher, dass du uns sagen könntest, was hier gerade abgeht.« Ich drehte mich zu ihr hin und sah sie streng an.

Oma verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo bleibt eigentlich dein Respekt gegenüber deinen Älteren?«

Silver ignorierte unser Gekabbel. »Mein Shicheii hat uns Kindern erzählt, dass in seiner Zeit in Deutschland etwas passiert sei, für das er sich teilweise die Schuld gab. Ich hab so das Gefühl, die halten mich für meinen Großvater. Er muss irgendwie mit dem damaligen Ereignis zu tun haben und weil ihr hier mit mir seid, wurdet einfach mit in die Geschichte einbezogen.«

»Das ist recht vage. Geht es nicht etwas genauer?«, sprach Holly meine Gedanken aus.

»Sorry. Ich war damals noch sehr jung und mein Großvater starb kurz darauf. Ich hatte wenig Möglichkeiten, nachzufragen. Ich weiß nur, dass er in Deutschland stationiert war bis 1948.«

»Waren damals alle Winter so kalt?«, fragte Holly.

»Letztes Jahr, nach der Sache mit dem Nebelmann, da habe ich eine Weile schlecht geschlafen«, sagte ich. »Hab da viel Dokumentationen angesehen im Fernsehen. Da kam was über einen Hungerwinter. Muss echt happig gewesen sein.«

»Die Winter nach dem Krieg. Viele Leute sind gestorben. Es gab wenig zu essen. Viele Verzweifelte.« Omas Stimme klang brüchig. »Viele Tote. Es ist Zeit, Unrecht geradezurücken, damit die Seelen Frieden finden.«

»Oma, du klingst wie das Orakel in Delphi. Kannst du dich nicht klarer ausdrücken? Was genau sollen wir tun?«

»Die Kinder. Sie konnten nichts dafür. Rettet sie.«

8.

Hilflos fuhr ich mit beiden Händen über die Tischoberfläche. Was sollte man auf solche Aussagen schon antworten? Holly sah das anscheinend anders: »Also, als ich dich noch nicht sehen und hören konnte, fand ich dich netter«, wandte sie sich an meine Großmutter. »Du scheinst dich an kryptischen Bemerkungen zu erfreuen, aber richtig nützlich war bis jetzt nichts. Kannst du nicht einfach sagen, was uns hilft, hier wieder weg zukommen?«

Oma fixierte Holly mit dem mir sattsam bekannten Du-sollst-deinen-Älteren-gegenüber-Respekt-zollen-Bick. Die blieb aber unbeeindruckt.

Ich war nicht sicher, wer den Willenskampf gewinnen würde, aber da Martha in Begleitung von Gustl den Raum betrat, wurde das Match abgebrochen.

»Ich zeige euch, wo Ihr schlafen könnt«, sagte Martha.

»Vorher müsste ich aber noch das Badezimmer benutzen«, umschrieb Holly ihr Bedürfnis, aufs Klo zu gehen.

Gustl, der im Türrahmen stehen geblieben war, plusterte sich auf: »Jetzt will Madame, auch noch a Bad. Soll meine schwangere Frau jetzt noch anfangen, Wasser heiß zum machen und die Wanne füllen?« Er trat in den Raum und knallte die Türe hinter sich zu. »Armes Reich, von solchen Luschen besiegt zu werden.« Der Mann stand inzwischen mitten im Raum. Bläschen aus Spucke bildeten sich an seinen Mundwinkeln. »Was schausch so blöd? Kommt einfach daher, und macht Euch hier breit nichtsnutziges Pack und unnütze Esser.«

* * *

»Nichtsnutziges Pack, alles unnütze Esser.« Der Herr schrie die zwei Männer an. »Ihr habt es gar nicht verdient, hier arbeiten zu dürfen.« Jean und Pjotr hielten den Blick gesenkt, während ich versuchte, mich in der Ecke unsichtbar zu machen. Bald würde ich meinen Bauch nicht mehr verstecken können. Nur gut, dass sie mir helfen würde. Heute Nacht, hat sie gesagt. Hoffentlich lässt er mich so lange in Ruhe.

»Schleichts Euch! Schaut, dass Ihr das Feld heute noch gepflügt kriegt. Keine Ausreden mehr! Wenn das Pferd ein Hufeisen verloren hat, dann spannt ihr euch halt selber vor den Pflug und jetzt will ich was zu essen. Du!«

Ich schluckte, er hatte mich doch bemerkt. Zögernd trat ich hervor, auch ich hielt den Blick nach unten auf den Boden. »Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede! Wo bleibt mein Essen? Zu nix nutze, außer die Beine breitzumachen.«

Meine Retterin mischt sich ein: »Lass gut sein«, beschwichtigt sie ihn und stellt eine dampfende Schüssel mit Sauerkraut und Speck vor ihn hin. »Jadwiga muss jetzt in den Stall, ausmisten.« Sie nickt mir zu. Ich neige dankend den Kopf und husche nach draußen. Nicht mehr lang und ich bin auf dem Weg in die Freiheit.

* * *

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752115093
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Mord Hungerwinter Medium Geister Allgäu-Krimi Spirituell Wangener Krimi starke Frauen Hinterkaifek Esoterisch Fantasy Cosy Crime Whodunnit Krimi Ermittler Historisch

Autor

  • Alexandra Scherer (Autor:in)

Alexandra Scherer geboren und aufgewachsen in Wangen im Allgäu. Verbrachte einige Jahre in der Südsee und las dort aus purer Langeweile eine komplette Bücherei aus. Deshalb liest und spricht sie sehr gut Englisch. Ihr Humor und literarischen Vorlieben sind stark britisch geprägt. Seit 2019 lebt sie etwas mehr am Rande des Allgäus in Altenstadt an der Iller.
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Titel: Haus im Schnee