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Weihnachtsgeschichten

von Susanne Sterzenbach (Autor:in)
48 Seiten

Zusammenfassung

Es sind ungewöhnliche Weihnachtsgeschichten, die das Bekannte aus anderen Perspektiven erzählen. Aus der Sicht der Ehefrauen der Hl. 3 Könige, aus der Sicht eines bedrohten Muslims, aus der Sicht des Schafes vor der Krippe, mit den Augen von Christbaum-Engeln, engelhafter Spitzen-Köche und der Bewohner der Weihnachtsinseln. Leicht phantastisch, voller Fantasie und kleiner Wunder. Zum Staunen und Schmunzeln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DREIMALEINS

Esel, Ochs und Schaf erzählen von Weihnachten

"Gestern", sagte der Esel, "kam ich von Jerusalem herunter. Es war eine silberne Nacht So kalt, wie es nur in Jerusalem sein kann." "Warum gehst du dann dahin?" fragte das Schaf. "Du hast doch gar keinen Wollpelz wie ich." Esel und Ochs sahen sich an und schüttelten die Köpfe. Das Schaf war wirklich zu blöd "Hast du schon mal gehört, daß es Tiere gibt, die Menschen und Pakete hin und her tragen müssen?" fragte der Esel. "Ich muß nie etwas tragen", sagte das Schaf. Esel und Ochs sahen sich an und lachten: "Iahahahaha." "Mohohohoha." Das Schaf war nicht beleidigt Es freute sich, daß es nicht so schwer arbeiten mußte wie der Esel. "Gestern, als es dunkel wurde", sagte der Ochse, "war ich noch auf dem Acker draußen. Es war eine Nacht voll fetter glänzender Erde, so lehmig und schwer, daß ich bei jedem Schritt einsank." "Ich verstehe dich nicht", sagte das Schaf. "Warum gehst du nach dem Regen aufs Feld? Du bist doch viel größer und schwerer als ich. Mir würde das nicht passieren." Das Schaf tänzelte vor dem Ochsen und dem Esel auf und ab, um zu beweisen, wie leicht und beweglich es war. Am SchiuB drehte es sogar eine elegante Pirouette und verbeugte sich lächelnd. Ochs und Esel sahen sich an und schüttelten die Köpfe. Dieses Schaf mußte ganz besonders dumm sein. "Hast du noch nie gehört", fragte der Ochse, "daB es Tiere gibt, die den Acker pflügen müssen?"

"Ich muß nie etwas pflügen", sagte das Schaf."Mohohohoho" lachte der Ochse. "Iahahahaha", lachte der Esel. Das Schaf lächelte und versuchte nachzudenken. Das war schwer, denn Schafe sollen Gras fressen und ihr Fell wachsen lassen und nicht denken. Wenn sie auf dumme Gedanken kommen, fallen ihnen die Haare aus und es gibt nicht genügend Wolle für Pullover.

Die dümmsten Schafe haben das schönste Fell. Und unser Schaf hatte ein besonders schönes Fell. Deswegen fiel ihm das Denken auch besonders schwer. "Ich bin ein Schaf und kenne mich nur mit Schafen aus", dachte es und war sehr stolz, daß es so weit gedacht hatte. Es dachte weiter. "Ich komme nicht so weit herum wie die anderen." "Und trotzdem", dachte das Schaf, "habe ich gestern etwas erlebt, von dem die beiden keine Ahnung haben." Es erschrak ein bißchen. Denn das war ein so mutiger Gedanke, daß es Angst um seine Wolle bekam. Das Schaf sah vorsichtig an sich hinunter. Noch hatte es keine Knoten im Fell vom Denken. Es war weich und blütenweiß wie immer. Nur die kleinen goldenen Sternchen aus der letzten Nacht glitzerten an manchen Stellen.

Da traute sich das Schaf, laut zu sagen, was es dachte. "Gestern", sagte das Schaf, "war ich um Mitternacht mit den Hirten draußen auf dem Feld"

"Ja, ja, wie immer", murmelte der Esel gelangweilt und senkte seine Schnauze in den Brunnen, um zu trinken. "Schon gut", schnaubte der Ochse und steckte den Kopf in einen Heuhaufen, um zu fressen "Es war eine warme Nacht, so golden wie nur die Nächte über Betlehem sein können", sagte das Schaf verträumt. Der Esel verschluckte sich beinahe. "Gestern?" fragte er und sah den Ochsen ratlos an. Der Ochse schüttelte sein schweres Haupt und hörte auf zu kauen. "Gestern war doch alles wie immer", sagte er. "Kalt, naß und dunkel. Wie es eben immer im Winter ist Und wie immer haben wir beide uns nach der Arbeit im Stall getroffen." "Und wie an jedem Abend sind Leute gekommen, die in unserem Stall von einer Reise ausruhen wollten", sagte der Esel. "Habt ihr denn nicht gemerkt", fragte das Schaf, "daß es Leute waren, die ein guter Stern zu euch gebracht hat?" Der Esel schüttelte verständnislos die langen Ohren. "Nein", antwortete er, "Ich reise jeden Tag, und mich bringt nie ein Stern irgendwohin. Nur der Zügel und die Peitsche."

Der Ochse versuchte, sich zu erinnern. "Weißt du noch", sagte er zum Esel, "später haben die Leute uns geweckt Wir sollten ihr neugeborenes Kind wärmen. Das geschieht nicht so oft, aber auch nicht selten. Also alles in allem: eine Nacht wie jede andere." Zufrieden kaute er weiter.

"Hast du noch nie gehört, daß es ein Himmelskind war, das in eurem Stall geboren wurde?" fragte das Schaf. "Nein", antwortete der Ochse, "ich stehe mit allen vier Beinen auf der Erde. Der Himmel ist mir zu hoch." Das Schaf staunte. "Habt ihr euch denn gar nichts dabei gedacht?" fragte es. Der Esel war ein bißchen beleidigt "Seit wann reden Schafe vom Denken?" fragte er. "Aber wenn du es genau wissen willst: ich denke den ganzen Tag darüber nach, wo ich meine Hufe hinsetze, damit ich mit meiner Ladung heil ankomme. Dann will ich abends meine Ruhe. Iah." Das Schaf dachte angestrengt über die Antwort nach.

"Ich denke nachts nie", sagte der Ochse. "Mein Kopf ist abends viel zu schwer dafür, weil ich den ganzen Tag im Geschirr gehe."

Das Schaf hatte die Stirn in Falten gelegt, um noch besser denken zu können. "Ich verstehe", sagte es schließlich. "Ihr wart im Stall und hattet Bretter vor dem Kopf. Aber ich war draußen und hatte den weiten Himmel über mir. Ich habe das Leuchten über eurem Stall gesehen und den Engel, der sich als Stern verkleidet hatte."

Das Schaf lächelte. Ochs und Esel sahen so überrascht auf, daß sie mit den Köpfen zusammenstießen. "Iauuuauau", jammerte der Esel. "Tschuldigung", sagte der Ochse. Er war schließlich der Stärkere. Dem Esel wuchs eine dicke Beule auf der Stirn. "Engel verkleiden sich nicht als Sterne. Das hat es noch nie gegeben"japste er. "Doch, doch", sagte das Schaf freundlich. "Wenn sie sich verkleiden, dann hat ihr Kopf Zacken und ihre Flügel hängen als goldner Schweif vom Himmel." Auch der Ochse wollte dem Schaf nicht glauben. "Ställe leuchten nur, wenn sie brennen. Und unser Stall hat nicht gebrannt", sagte er. "Doch", antwortete das Schaf, "ich habe das goldene Feuer gesehen und ich habe den Engel gehört."

"Du hast zu viel Phantasie", sagte der Esel verächtlich und zog die Nase so hoch, daß seine starken Zähne gut zu sehen waren. "Das denkst du dir doch alles nur aus."

"Ja, seit gestern. Ist das nicht ein Wunder?" fragte das Schaf und lachte glücklich. "Seit gestern ist die Welt viel größer geworden. Wenn ich ein Schaf sein will, das denken kann, dann denke ich einfach alles, was ich will." Ochs und Esel mußten zugeben, daß das stimmte. Niemals vorher hatten sie ein Schaf so lange und so viel denken sehen. Sie standen jetzt ganz schön dumm da.

"Muhmhum", machte der Ochse, dem die Sache langsam peinlich wurde. "Wie kommt es denn, daß wir viel größere Köpfe haben als du und viel näher an der Krippe mit dem Kind lagen und nichts gemerkt haben?"

"Ganz einfach", antwortete das Schaf stolz, "ihr hattet nur euren Tag im Kopf. Da war kein Platz mehr für die Nacht. Ihr hattet nur euch im Kopf, da war kein Platz mehr für ein Kind. Aber ich hatte so wenig im Kopf, daß das Kind und der Himmel und die Sterne und der Engel, daß alles hineinpaßte. Habt ihr sonst noch Fragen?" Das Schaf lächelte Ochs und Esel freundlich an, drehte eine zierliche Pirouette und tanzte davon. Dabei löste sich so viel Goldstaub aus seiner Wolle,

DER FREMDE

„Ich glaube, es geht bald los“, flüsterte der Rauschgoldengel in der alten pappigen Schachtel. „Ja, ja, ja.“ Überall in den Kisten mit der Aufschrift „Weihnachten“ raschelte und knisterte es. Das

Goldpapier vom letzten Jahr dehnte und streckte sich. „Die Monate gehen nicht spurlos an einem vorbei.“ „Ja, ja, ja.“

Einige mussten fürchten, in diesem Jahr nicht am Weihnachtsbaum zu prangen. Die Strohsterne mit den

abgebrochenen Strahlen durften sicher nicht mehr mitmachen. „Dabei können wir doch nichts dafür, man hätte uns besser verpacken müssen.“ „Ja, ja, ja.“ Wie immer stimmten ihnen die Glaskugeln zu. Und zwar die mit den Rissen und Sprüngen. „Vielleicht kommt keine von euch an den Baum. Wer weiß schon, welche Kugelfarbe diesmal in Mode ist, vielleicht pink und orange ,ihr seid aber silbern und rot“, sagte einer der frechen Rauschgoldengel. Sie konnten sich das herausnehmen. Niemand war so zerknittert, hatte so viele Altersfalten, hatte so löchrige Röcke, eingerissene Kragen, kahle Stellen im Haar und wurde doch so in Ehren gehalten. Jedes Jahr durften sie den ersten Kranz von Zweigen unter der Bauspitze schmücken. Sie hatten die besten Plätze, sahen alles, wurden von allen gesehen. Sie wurden am liebevollsten verpackt, bekamen die weicheste Wattelage und das beste Seidenpapier. Und das alles, weil eine Urahnin ihrer Weihnachtsfamilie sie bereits vor über hundert Jahren auf dem berühmten Nürnberger Christkindlmarkt gekauft hatte. Sie hatten die Gnade der frühen Geburt. Und nur die allerjüngsten Mitglieder im Christbaumschmuck trauten sich ab und zu die Nase zu rümpfen über die altmodischen, herunter gekommenen Rauschgoldengel. Wie der bunte Elefant, der den weiten Weg aus China gekommen war. „Wir sind die Zukunft“, hatte er trompetet, kaum hing er das erste Mal am Baum. „Die Zeit der einzeln von Hand plissierten Engelsgewänder ist endgültig vorbei.“ Das war ihm schlecht bekommen. Beim nächsten Luftzug ließ sich einer der Rauschgoldengel vom Zweig plumpsen, riss den chinesischen Elefanten mit sich, und der zerbrach in hundert kleine Scherben.

Dem alten Engel passierte nichts, er war zwar schwer, aber unzerbrechlich. Kopfschüttelnd hatte die Mutter der Weihnachtsfamilie ihn wieder an seinen Platz hoch oben gehängt. „Das gute alte Stück. Ein Jammer, wenn so etwas Kostbares kaputt ginge.“ Die frechen Rauschgoldengel feierten ihren Triumph und schaukelten fröhlich an ihren Zweigen hin und her.

Allerdings hatte der Elefant Recht behalten. Es kamen immer mehr Neue, und sie kamen fast alle aus China. Im Weihnachtsbaum hatte man sich an sie gewöhnt: An den Paradiesvogel mit der übertrieben buschigen Schwanzfeder, an die Eule mit der silbernen Perücke, an die rote Maus mit den großen Ohren oder das Pferd mit der blauen Mähne. „Verderbliche Ware“, hatten die Rauschgoldengel gestänkert. Es half nichts, die Chinesen, wie man sie im Baum nannte, waren bunter, jünger und sie wurden immer mehr. Im letzten Jahr hatten sie die Mehrheit an Weihnachtsbaum-Zweigen erobert. Sie waren etwas anstrengend, weil sie ständig kicherten und den Ernst von Weihnachten einfach nicht verstanden hatten. Sie waren schlecht ausgebildet, hatten noch nie auf einem Weihnachtsmarkt trainiert. Sie kamen völlig ohne Ahnung von Glühweinduft, Kinderaugen, Weihnachtsliedern, Geschenkpapier und Familienkrach. Alles musste man ihnen erklären, aber sie begriffen schnell und kopierten alles. Das musste sogar die Besatzung der Krippe zugeben, die fast so alt war wie die Rauschgoldengel und noch nie einen Verlust erlitten hatte. Allerdings auch keine Neuzugänge verzeichnen konnte.

Doch manchmal geschahen noch Zeichen und Wunder in so einem eingespielten Weihnachtsbaum-Team. Einer großen durchsichtigen Glaskugel war es vor zwei Jahren zuerst aufgefallen. Der neue vieleckige Stern aus massivem Glas reflektierte das Kerzenlicht so wundervoll wie ein kleines Feuerwerk. „Wo hast du das gelernt?“ fragten die Glaskugeln ein wenig neidisch.

„Ich bin eine Erinnerung“, antwortete der Stern freundlich. „Eine Erinnerung an einen Menschen, der Weihnachten besonders geliebt hat.“ Das beeindruckte sogar die frechen Rauschgoldengel. Jeder im Baum wusste, wer gemeint war. Denn in der Weihnachtsfamilie hatte es eine Frau gegeben, die sie immer mit besonderer Liebe und Freude behandelt hatte. Diese Frau war an diesem Weihnachten nicht wieder gekommen, aber sie hatte ihren Stern geschickt. Den Stern, der sie bis zu letzt begleitet hatte. Einmal hat er davon erzählt, spät in der Heiligen Nacht, als die Familie weihnachtsmüde schon ins Bett gegangen war. Er hatte erzählt, wie er am Krankenbett hing und versucht hatte, immer wieder das rechte Licht einzufangen: Strahlen der Hoffnung, bis zu letzt. Der Stern, der das Feuerwerk beherrschte, wurde von allen geachtet und verehrt. Jeder wollte in seiner Nähe hängen. Und manchem gelang es. Nur die Rauschgoldengel hatten verloren, denn die hatten ja ihren angestammten, so lange verteidigten Platz, über allen anderen.

Im Jahr darauf zog noch ein großer Stern in den Baum, zart und feingliedrig, wie aus goldener Seide gesponnen. Er kam von weit her, aus Äthiopien. „Aus dem Land, wo man heute noch so spricht wie Jesus gesprochen hat“, sagte der hölzerne Josef in der italienischen Krippe voller Ehrfurcht. Und auch dieser Stern hatte ein Geheimnis. „Ich bin ein Dank“, erklärte der Stern, „ich bin ein Dank für Liebe und Freundschaft.“ „Wie schön“, seufzte der Paradiesvogel. Alle Chinesen liebten den goldwolligen Stern ganz besonders. Mangels eigener Erfahrungen in der Weihnachtswelt saugten sie Geschichten von der Liebe unterm Christbaum auf wie nasse Schwämme. Die Tatsache, dass dieser Stern sich nie erklärte, dass niemand genau wusste, um welche Liebe es ging, machte ihn noch geheimnisvoller. Alle hatten ihn ins Herz geschlossen. Und wer nicht in der Nähe des Sterns der Erinnerung hängen konnte, drängte zum Stern der Liebe.

Aber in diesem Jahr zog das Fremde ein in den Baum. Etwas völlig anderes.

Als das komplette Team ausgepackt war, aussortiert, glatt gestrichen und gebügelt – ja, das Glanzpapier hatte noch eine Chance bekommen und sogar die ramponierten Strohsterne durften wenigstens als Geschenkanhänger noch mitspielen – als sie auf die Zweige verteilt waren und die neuesten Chinesen sich vorgestellt hatten, knallbunt und kitschig, da kam er:

Ein großer lindgrüner Engel mit hohen schwarze Flügeln, der ganz oben an der Weihnachtsbaumspitze Platz nahm. Die Rauschgoldengel flüsterten aufgeregt durcheinander. Ein Engel, der höher hing als sie. Das war in über hundert Jahren nicht vorgekommen. Der Neue konnte gar kein normaler Weihnachtsbaum-Engel sein, denn häufig löste er sich in einen silbernen Glanz auf, nur begrenzt von seinen Konturen. Häufig, das hieß wenn keiner von der Weihnachtsfamilie im Raum war, also meistens nachts. Im Baum war an Schlaf gar nicht mehr zu denken. Die einen hatten Angst, vor allem die chinesische Maus und das Pferd. „Der strahlt bestimmt giftige Dämpfe aus.“ „Ja, ja, ja.“

„Sein silberner Glibber wird unsere Plissee-Röcke verderben“, jammerten die Rauschgoldengel, die erheblich weniger frech waren als in vergangenen Jahren. Sie hingen schließlich direkt unter dem fremden Gesellen. Ständig wurden sie von den anderen mit Fragen bestürmt: Was macht er jetzt, hat er schon was gesagt, wie sieht er gerade aus? Bisher hatte der lindgrüne Engel mit den schwarzen Flügeln, oder seine silberne Lichtgestalt noch keinen Laut von sich gegeben. „Vielleicht ist er taubstumm?“ schlug eine rote Kugel vor. „Ja, ja, ja.“ Dann könnte man ja über ihn herziehen, und er würde nichts davon mitbekommen. Aber das trauten sie sich dann doch nicht, zu unheimlich war die Erscheinung. Man konnte auch gar nichts gegen ihn unternehmen, so wie damals gegen den Elefanten, denn er hing ja über ihnen.

Nur die beiden Lieblings-Sterne äußerten sich nicht. Sie schienen tief in Gedanken versunken. „Bist du auch taubstumm geworden?“, fragte die chinesische Eule, und der goldene Liebesstern antwortete: „Ich empfinde große Nähe zu diesem Engel.“ „Ich habe ihn irgendwo schon einmal gesehen“, fügte der Stern der Erinnerung hinzu. Dann versanken beide wieder in tiefes Schweigen und erforschten ihre mögliche Beziehung zu dem Unbekannten.

Auch die frohlockenden Engel in der Krippe wussten nicht so recht Bescheid. „Er ist so anders als wir.“ „Ja, ja, ja.“

„Irgendwo muss es hier ziehen“ stellte der Vater der Weihnachtsfamilie fest und schloss die Zimmertür. „Der Christbaumschmuck schaukelt so hin und her.“

Eines Abends - die Kerzen waren noch einmal entzündet worden, die Kinder hatten noch einmal ihre Lieder gesungen und dann die Flammen ausgeblasen - klingelte das Telefon in der Diele. Die Kinder waren im Fernsehzimmer, die Mutter holte etwas aus dem Keller, der Vater ging hinaus. Da züngelte eine vergessene kleine Kerzenflamme nach einer trockenen Tannennadel, erwischte ein Fädchen der Gardine und wollte sich in ein starkes schnelles Feuer verwandeln, da verließ der silberne Schein den Baum, schwebte durchs Zimmer und erstickte mit seiner glibbernden Masse den Brand. Und verschwand.

„Es war ein Schutzengel“, sagte der Stern der Liebe in die Stille hinein. „Ein echter Engel“, pflichtete ihm der Stern der Erinnerung bei. Und alle dankten dem fremden Wesen in friedlichem Schweigen, auch die frechen Rauschgoldengel. Sie beklagten sich noch nicht einmal über die leicht angesengten Säume ihrer Plissee-Röckchen.

SkyChefs

Es war echt eine Schnaps-Idee vom Chef. Nicht, dass der Chef etwa Schnaps trank oder irgendein anderer in dieser Sterne-Küche – der Himmel bewahre. Aber so ähnlich stellte sich Gabriel die Wirkung vor: Gedächtnisverlust, Hirnerweichung, Filmriss. Der Auftrag lautete, Millionen von Schulkindern in Europa und den USA mit besserem Geschmack zu segnen. Das wollte der Chef sich selbst und der ganzen Welt zu Weihnachten schenken. Schon lange fragte er sich nämlich, warum er eigentlich Salat, Rote Beete, Sellerie, Karotten und duftende Futter-Kräuter für Schafe, Rinder und Schweine geschaffen hatte, wenn die Generationen der Zukunft nichts davon wissen wollten.

Sie wollten Pommes, Ketchup, Erdnuss-Riegel, Popcorn und Cola. Die Kinder wurden immer träger und dicker. Dumm, fett, faul, tobte der Chef. Nichts mehr übrig von all der Schönheit der Kreatur. Schon wahr, Gabriel konnte nicht widersprechen. Trotzdem schwang auch verletzter Schöpfer-Stolz in dem Ausbruch mit. Und dazu gab es eigentlich keinen Grund. Schließlich hatte der Chef ja dafür gesorgt, dass die Leute sich ihre eigenen Gedanken machen konnten. Sie waren es auch, die die Folgen von ihren Erfindungen und Geschäften tragen mussten. Nicht der Chef. Also, was beklagte er sich? Und ließ es an ihm aus, an Gabriel, 2. Sous-Chef der Küchenbrigade, der wahre Gemälde aus Gemüse auf die Teller zauberte. Letzten Sonntag zum Beispiel hatte er den Paradiesgarten nachgebildet, aus zarten Spinatblättern, Karottenscheiben, gelben Paprikastiften und Bambussprossen, garniert mit Kürbisblüten und Kapuzinerkresse. Dazu hatte Mike, der Meister des Fleisches, ein Filet Mignon gebraten, das auf der Zunge zerging. Und Raffa hatte als Dessert „Türkisches Engelshaar“ aufgefahren. Der Chef hatte was übrig für Crossover-Cuisine. Das war ausschlaggebend bei der Besetzung der Spitzenpositionen in der Küche. Alle drei, Gabriel, Michael und Raffa, waren erfahren in den Genüssen des Okzidents und des Orients. Mit dem Fernen Osten haperte es etwas, aber da wurde ab und zu ein Gast-Star zum Schau- und Lehrkochen engagiert. Das letzte Mal hatte die sechste Inkarnation des Dalai Lama Gemüse im Wok gebraten. „Die acht Wunder des Himmels“ hieß das Rezept.

Schön und gut, aber nichts von all dem, was Gabriel wusste und gelernt hatte, würde Schulkinder des 21. Jahrhunderts von Fertig-Pizza und Fett-Fritten kurieren. Da war er sich ganz sicher. Sie würden mit Steinen nach ihm werfen, eine Intifada anzetteln, ihn mit Drogen vergiften, und am Ende Amok laufen und ihm dafür die Schuld geben. Das Internet würde zusammen brechen unter den Beleidigungen und Schmähungen in den Schüler-Chats. Sie konnten ja nicht wissen, dass er unantastbar, unverletzbar, „unkaputtbar“, kurz unsterblich war. Und wenn sie es wüssten, würde es ihre Wut nur noch anheizen. „Mission impossible“, seufzte Gabriel. « Welch ein Kleinmut », rügte der Chef, der wie immer alles hörte. „Du hast vier Wochen Zeit bis Weihnachten, das reicht sogar berufstätigen Müttern, um Geschenke, Menüs, Karten, Kerzen und dergleichen fertig zu haben.“ „So sehen die dann auch aus.“ Aber das waren die letzten Widerworte aus Gabriels Munde, denn der Chef schmetterte einen seiner gefürchteten Blitz-Blicke auf den 2. Sous-Chef der Küchen-Brigade.

„Du musst eine Riesen-Schau abziehen“, riet ihm Mike. „Das beeindruckt die Kids. Mit Rauch und Feuer und am besten im Fernsehen, und im Internet zum Downloaden.“ Er steckt ihm einen goldenen Daten-Stick zu. „Da hab ich dir in paar Ideen gespeichert. Damit kommst du groß raus.“ Gabriel nickte dankbar.

Raffa, der Pessimist, versprach, dass er ihn aus allzu brenzligen Situationen retten würde. So wie er es als Springer in der Küche sowieso immer machte. Ließ Gabriel die Kartoffel-Mousse anbrennen, servierte Raffa blitzschnell ein kleines Avocado-Sorbet als Zwischengang. Hatte Mike den Jus für das Filet versalzen, mixte Raffa so lange Portwein und Fruchtsaft hinein, bis eine völlig neue Kreation entstand – und jeder Gast diesen Fleischgang in den höchsten Tönen bejubelte.

„Du wirst viel Phantasie brauchen“, sagte Raffa, „besinn dich auf das, was uns ausmacht, was nur wir können und warum wir Skychefs sind.“

„Amen“, antwortet Gabriel ein klein wenig genervt. Raffa erinnerte ihn manchmal an diese Managertypen, die von Corporate Identity schwafeln und damit nur den besten Weg meinen, andere auszunutzen. Der ein oder andere von denen hatte sich gelegentlich an die Tafel ihres Sterne-Lokals verirrt, meist durch einen Fehler des Erkennungsdienstes, landete dann aber blitzschnell in der verräucherten Spelunke bei der roten Luzie und ihrem absolut unterirdischen Fraß.

Da Gabriel auf keinen Fall selbst dort hin verbannt werden wollte, verfügte er sich also folgsam am ersten Advent nach Exeter, UK. „Warum das denn?“, rief ihm Raffa noch hinterher. „Warum fängst Du denn mit dem Schwersten an? Im Reich der Queen ist der schlechte Geschmack doch König.“

Gabriel ließ sich nicht umstimmen. Es war seine Feuertaufe. Wenn er hier etwas bewegen konnte, war es auch überall sonst zu schaffen. Und außerdem wurde etwas Selbstkasteiung von ihm erwartet, für den Anflug von Ungehorsam, den er gezeigt hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739436135
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Geschichten Weihnachten International

Autor

  • Susanne Sterzenbach (Autor:in)

Die Autorin lebt in Ludwigsburg, hat einige Jahre beruflich in Nordafrika verbracht und mehrere Kinder- und Jugendromane sowie einen Regionalkrimi veröffentlicht. Im Hauptberuf ist sie Journalistin.
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Titel: Weihnachtsgeschichten