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Nur fünf Tage

von Mimi J. Poppersen (Autor:in)
135 Seiten

Zusammenfassung

Renate und Hans Koller führen ein gut bürgerliches Leben in einem Frankfurter Vorort ohne besondere Vorkommnisse. Die Kinder sind ihr ganzer Stolz und mittlerweile alle aus dem Haus, um zielstrebig ihren Karrieren nachzugehen. So hätten sie unbedarft weiterleben können, wenn nicht eines Tages der völlig unerwartete Anruf eines Anwaltsbüros bei Renate Koller eingehen würde. Was sie da zu hören bekommt, verschlägt ihr fast die Sprache! Wohl oder übel muss Renate Koller nun ein paar Nachforschungen zu ihrem Ehemann anstellen, die große Überraschungen ans Tageslicht bringen. Schweren Herzens trifft sie hierauf eine Entscheidung. Ihre Suche nach der Wahrheit führt Renate Koller nach Las Vegas und Hawaii und wird das Leben aller Familienmitglieder von Grund auf verändern. Das Leben von Familie Koller wird in nur fünf Tagen auf die Probe gestellt. Nichts ist danach wie vorher …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Familie Koller

„Eine gut bürgerliche, nette Familie“, so hätte wahrscheinlich jeder Nachbar Familie Koller aus dem Frankfurter Vorort beschrieben. Im Grunde war jeder in der etwas in die Jahre gekommenen Neubausiedlung „gut bürgerlich“. Hätte man weiter gefragt, wäre man schnell darauf gekommen, dass eigentlich niemand näher mit Familie Koller befreundet war. Kaum jemand kannte hier wirklich den anderen, obwohl sie alle so nah beieinander wohnten. Haus an Haus, Wand an Wand, Garten an Garten in der Reihenhaussiedlung aus den siebziger Jahren.

Vor fast vierzig Jahren war Familie Koller in diese Gegend gezogen, die sie damals ganz entzückend gefunden hatte.

Mächtig stolz waren Renate und Hans Koller auf ihr gerade erworbenes Eigenheim, bei dem der Mörtel noch feucht war, als ihnen der Schlüssel übergeben wurde.

Ihr erster Sohn Andreas war gerade acht Monate alt und krabbelte fröhlich durch den etwa drei Quadratmeter großen Garten, in den immerhin eine Essgarnitur und ein winzig kleines Planschbecken passten. Die Häuser hatten alle das Format eines Schuhkartons und sahen komplett identisch aus. Noch im Alter von sechs Jahren lief Andreas manchmal zum falschen Haus, um dort schnell auf die Toilette zu gehen und dann auf seinem Fahrrad weiter seine Runden zu drehen. Oft merkte er gar nicht, dass er im falschen Haus gewesen war.

Damals herrschte noch reges Leben in der Siedlung, da die meisten Familien, die hier ein Eigenheim erworben hatten, kleine Kinder hatten. Diese hatten natürlich mittlerweile das Weite gesucht, was der Gegend nun schon seit einigen Jahren eine gewisse traurige Stille gab. Eine Stille, die nur durch das Dröhnen der startenden und landenden Flugzeuge am Frankfurter Flughafen unterbrochen wurde, der zum Greifen nahe war. Aber man gewöhnte sich ja bekanntlich an alles oder zumindest an vieles.

Der Bau der Startbahn West trübte ihr glückliches Familiendasein damals sehr. Renate Koller ging sogar soweit, dass sie sagte, deshalb habe sich die Geburt ihres nächsten Kindes um fünf Jahre hinausgezögert. Der ganze Stress, die ständigen Demonstrationen, direkt vor der Haustür in ihrem kleinen Örtchen Mörfelden, waren mehr als sie damals ertragen konnte.

Eine ganze Schar Kinder wollte das streng gläubige Ehepaar haben, genug winzig kleine Räume gab es ja in dem Haus. Renate Koller hatte immer den Traum gehabt, ihren Kindern dem Alphabet folgend Namen zu geben, was mit „Andreas“ ja gut angefangen hatte. Bereits bei dem zweiten Kind, ihrer Tochter, machte ihr dieses Vorhaben allerdings Schwierigkeiten. Ihr wollte einfach kein Mädchenname mit dem Buchstaben „B“ so recht gefallen. Also wurde das B kurzerhand übersprungen, und das Mädchen bekam den schönen Namen Clara. Nochmal acht Jahre später konnte sie das versäumte „B“ dann mit der Geburt ihres Sohnes Benjamin nachholen. Es konnte also doch nicht nur an der Startbahn West gelegen haben …

Mittlerweile waren ihre Kinder nun schon 38, 33 und 25 Jahre alt und die Eltern mächtig stolz auf jeden einzelnen. Sie alle hatten tolle Karrieren gemacht, wie Frau Koller immer wieder gerne erzählte, ob es die Leute hören wollten oder nicht.

Andreas hatte es mittlerweile als Leiter eines renommierten First-Class-Hotels in den traumhaften Ort Kona auf Hawaii verschlagen, wie seine Eltern anhand von zahlreichen Bildern verfolgen konnten.

Clara war erfolgreiche Immobilienmaklerin und das nicht irgendwo, sondern in Las Vegas, wo das Geschäft geradezu boomte. Auch sie mailte immer wieder Fotos von den imposanten Gebäuden, die sie in Millionenhöhe verkaufte.

Benjamin studierte Jura und sah wohl auch einer rosigen Zukunft entgegen. Ben war gerade erst vor ein paar Monaten in eine Studentenbude in der Frankfurter Innenstadt gezogen, und nun war das Ehepaar Koller zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder ganz alleine.

Aber sie blickten glücklichen Zeiten entgegen: In zwei Monaten sollte Hans Koller endlich pensioniert werden. Sie konnten dies kaum abwarten, hatten schon ein großes Fest mit ihrem Kegelclub geplant.

Renate Koller hatte sich Zeit ihres Lebens nur um die Familie gekümmert, Hans schon immer bei einer Versicherung gearbeitet. Hierbei hatte er sogar vor ein paar Jahren noch einmal den Arbeitgeber gewechselt, was ihn damals mit großem Stolz erfüllte. In so hohem Alter noch so gefragt zu sein, war schon etwas Besonderes.

Im Grunde hätte das Ehepaar Koller ihr zwar unspektakuläres, aber glückliches Leben so weiterführen können, wenn nicht jener verhängnisvolle Anruf gewesen wäre, der alles veränderte …

Der Anruf

Es war Mittwochnachmittag, etwa 14 Uhr, und Renate Koller war gerade dabei, einen leckeren Eintopf für das Abendessen vorzubereiten, als das Telefon klingelte. Ihr Mann mochte es gerne deftig, was das Essen anging zumindest. Einem Bier war er auch nie abgeneigt, was mittlerweile seinem Umfang durchaus anzusehen war.

Wobei er in letzter Zeit gar nicht mehr so viel isst, dachte Renate gerade, während sie in das Wohnzimmer lief, wo sich der Telefonapparat befand. Dieser stand fein säuberlich auf einem kleinen Holztischchen mit einem selbstgehäkelten Deckchen, wie es sich gehörte. Eigentlich hätte Frau Koller schon auffallen müssen, dass sich das Klingeln bereits verdächtig anhörte. Dumpf irgendwie, dröhnend und bedrohlich.

„Renate Koller“, meldete sie sich gut gelaunt und vernahm eine etwas piepsige Frauenstimme, die sofort aufgeregt zu sprechen begann.

„Frau Koller, hier spricht die Anwaltskanzlei Weber. Haben Sie einen Moment Zeit?“

„Ja. Worum geht es?“, wollte sie wissen, setzte sich auf den Sessel neben dem Telefontisch und wunderte sich selbst, wie ruhig sie blieb. Warum rief sie ein Anwaltsbüro an?

„Es geht um die Trennung von Ihrem Mann. Uns fehlen noch Unterlagen…“, in diesem Moment hörte Renate Koller einen furchtbaren Tumult im Hintergrund. Ein Mann schimpfte: „Was machen Sie denn da? Sind Sie noch zu retten?“

Augenblicklich wurde der Piepsstimme der Telefonhörer aus der Hand gerissen, und der wütende Mann, wahrscheinlich der Anwalt selbst, übernahm das Gespräch.

„Frau Koller, entschuldigen Sie bitte die Störung, da liegt eine Verwechselung unsererseits vor“, sprach er so selbstbewusst, dass man ihm fast hätte glauben können.

„Worum geht es denn?“, wiederholte Frau Koller nun schon etwas misstrauischer als zu Beginn.

„Meine Kollegin arbeitet heute den ersten Tag hier und hat einfach ein paar Telefonnummern durcheinander geschmissen. Das soll nicht wieder vorkommen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören“, echote Renate, hielt noch lange den Telefonhörer in der Hand und starrte einfach so vor sich hin.

Warum hat diese Anwaltskanzlei meinen Namen und unsere Telefonnummer?

‚Trennung von Ihrem Mann‘, hatte die Frau gesagt.

Will Hans die Scheidung einreichen? Nach fast vierzig Jahren Ehe?

Mit einem Mal war Renate oder Reni, wie sie ihr Ehemann seit neununddreißig Jahren liebevoll nannte, schlecht. Speiübel war ihr.

Zugegebenermaßen war ihr Zusammensein schon einmal aufregender gewesen, aber dass sich Hans gleich trennen wollte, hätte sie niemals gedacht.

Wie angewurzelt blieb sie sitzen, bis sie den Geruch ihres verschmorten Eintopfes aus der Küche wahrnahm. Als sie in die Küche stürmte, sah sie, dass es mittlerweile fast halb vier war. Sie musste also fast anderthalb Stunden in dem Sessel vor sich hin gestarrt haben. Dementsprechend sah ihr Eintopf nun auch aus: Er war eins mit dem Topf geworden. Kurzerhand schmiss sie den ganzen Topf in die Mülltonne und machte sich einen starken Kaffee.

Sie musste nachdenken.

Was hatte das alles zu bedeuten?

„Nichts Gutes, das steht fest“, sagte sie halblaut zu sich selbst und beschloss, noch ein paar Nachforschungen anzustellen. Zum ersten Mal in ihrem Leben misstraute sie ihrem Mann, was ja nun wirklich nicht verwunderlich war nach einem Anruf von einem Anwalt, dessen hirnverbrannte Sekretärin ausgeplappert hatte, dass Hans sich von ihr scheiden lassen wollte.

Anders konnte es doch gar nicht sein.

Nach fast vierzig Jahren Ehe!, dachte sie kopfschüttelnd und wischte abwesend den Herd ab. So kurz vor ihrer Rubinhochzeit, die sie im Geiste schon geplant hatte. Mal wieder in den Schwarzwald hatte sie mit Hans fahren wollen. Früher waren sie einmal im Jahr dorthin zum Wandern gefahren, nun aber schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Dies wäre der richtige Anlass gewesen, um mal wieder ein paar Tage wegzufahren.

Heute würde Hans später aus dem Büro kommen, hatte er ihr an diesem Morgen verkündet. Erst nach 19 Uhr, anstatt wie sonst gegen 17 Uhr. Morgen würde er zum monatlichen Meeting nach Bonn fahren mit Übernachtung. Diese Sachen würde sie doch mit Leichtigkeit überprüfen können.

Nach dem starken Kaffee war die Übelkeit einem gewissen Tatendrang gewichen. Reni ging in das obere Stockwerk und betrat das winzige Büro ihres Mannes. Hier hatte er sich sein eigenes Reich geschaffen. Nichts Spektakuläres, nur sein Angelzeug war fein säuberlich aufgestellt, und auf dem Schreibtisch stand sein Laptop. Auf den hatte es Frau Koller nun abgesehen. Sonst betrat sie diesen Raum nur, um Staub zu wischen.

Sie hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, als sie das Gerät öffnete, und auch Hans Koller schien sich seiner sicher zu sein, denn er verfügte über kein Passwort oder irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen.

Als sie den Laptop geöffnet hatte, erschien sofort sein E-Mailprogramm.

Einfacher geht es ja gar nicht, dachte Reni zufrieden und überflog die eingegangenen, privaten E-Mails. Auch hier wurde sie gleich fündig. Direkt unter den ersten Nachrichten befand sich eine mit dem Betreff „Salsa Nacht 3. Oktober“.

Das ist heute, fuhr es ihr durch den Kopf, während sie mit flauem Gefühl im Bauch die Nachricht öffnete.

Lieber Hans,

freue mich schon auf die Salsa Nacht heute Abend um 17.30.

Deine Irene

Darunter die Antwort von ihrem Mann:

Liebe Irene,

ich mich auch. Ich hole dich ab.

Dein Hans.

Renate Koller schaffte es gerade noch bis zur Toilette, um sich zu übergeben. Ansonsten wären die Spuren auf dem Laptop ihres Mannes doch recht auffällig gewesen.

Anschließend handelte sie wie in Trance. Wischte mit einem Lappen ihre Fingerspuren von dem Gerät, als hätte sie gerade einen Mord begangen und suchte die Telefonnummer von dem Hotel in Bonn raus, wo seine Firma wie jeden Monat die nächsten zwei Tage ihr Meeting haben sollte.

Auch hier erfuhr sie verwunderliche Neuigkeiten: Die Versicherung halte schon seit fast einem halben Jahr keine Seminare mehr bei ihnen ab, teilte ihr eine freundliche Dame mit.

Renate Koller war nun um ein paar Dinge schlauer. Sie war sich zwar nicht sicher, ob sie diese wirklich hatte wissen wollen und hätte wohl am liebsten die Uhr zurückgedreht, aber einiges stand nun für sie fest.

- Erstens, dass ihr Mann sie angelogen hatte und das nicht zu knapp.

- Zweitens würde ihr Mann mit einer gewissen Irene in genau zwanzig Minuten auf eine Salsa Nacht gehen. Und das, obwohl er Tanzen immer verabscheut hatte!

- Drittens, auch die Übernachtung bei dem Firmenseminar war erfunden. Ihr Mann fuhr nicht zu einem Seminar über Nacht. Schon seit Monaten nicht mehr. Wohin fuhr er dann also immer?

- Viertens, dass ihr Mann wohl oder übel eine andere hatte. Eine andere Frau, die sehr wahrscheinlich Irene hieß.

- Fünftens machte der Anruf des Anwaltsbüros nun durchaus Sinn, und Hans wollte sich von ihr scheiden lassen.

- Sechstens, dass sie hier so schnell wie möglich weg musste!

Der Plan

Einen „Plan“ konnte man es eigentlich nicht nennen, was Renate Koller in den nächsten Stunden bewerkstelligte. Eher handelte sie wie in Trance, etwas weggetreten, dann aber immer bestimmter, und langsam zeichnete sich ab, wie sie die nächsten Tage verbringen würde.

Auch Renate Koller verfügte über einen Laptop, den ihr ihre Kinder vor ein paar Jahren geschenkt hatten. Diesen benutzte sie zugegebenermaßen nicht allzu oft. Immer wenn ihre Kinder zu Besuch waren, zwangen sie sie regelrecht, sich vor das Gerät zu setzen und verschiedene Sachen auszuprobieren: E-Mails verschicken, Sachen auf Google nachschauen, den Wetterbericht verfolgen oder das Fernsehprogramm studieren. Skype wurde installiert, und Andreas brachte eine besonders gute Kamera an.

„Du musst mit solchen Dingen Bescheid wissen, Mama. Sonst wirst du irgendwann von deiner Außenwelt völlig abgeschnitten“, prophezeite ihr Sohn.

Und wenn schon!, hatte sie gedacht, sich aber brav alles erklären lassen.

Hans Koller benutzte seinen Computer zu Hause hauptsächlich, um die Flugpläne des Frankfurter Flughafens zu studieren, die er mittlerweile auswendig kannte. Oft hörte man ihn dann etwas vor sich hin murmeln, wenn das ganze Haus bei dem Start eines Airbusses A380 bebte, wie: „Heute ist der Flug nach Hongkong aber spät dran“ Oder: „Die Maschine nach New York startet jetzt zwanzig Minuten früher.“

Nun saß Reni vor ihrem Laptop, den zuletzt ihre Tochter benutzt hatte, und klickte sich durch die noch geöffneten Webseiten. Clara hatte ihre Eltern vor zwei Wochen für ein paar Tage besucht und sich dann von diesem Laptop aus einen Rückflug nach Las Vegas gebucht.

Dies war nun Renate Kollers Glück, denn sie fand die Homepage von Expedia auf Anhieb. Sogar die Flugroute war noch eingegeben: Von Frankfurt nach Las Vegas, Direktflug, ohne Zwischenstopp.

Aufgeregt setzte sich Frau Koller die Lesebrille auf die Nase und gab das morgige Datum für den Hinflug ein. Wann sollte sie zurückfliegen? Sie wollte ihrer Tochter ja nicht zu lange auf die Nerven fallen. Ihre insgeheime Hoffnung war, dass diese vielleicht etwas über die Beweggründe ihres Vaters wusste.

Clara hatte ihre Eltern schon oft gebeten, einmal zu Besuch nach Las Vegas zu kommen, aber da ihre Mutter noch nie geflogen war, wusste sie, dass dies wohl kaum passieren würde.

Nicht bis zu dem heutigen Tag!

Kurzerhand buchte Frau Koller nur einen Hinflug, dann konnte sie vor Ort entscheiden, wann sie zurückfliegen wollte. Ihr Flug ging am nächsten Morgen, um 9.30 Uhr. Das war die perfekte Zeit. Sie würde direkt zum Flughafen aufbrechen, nachdem Hans das Haus verlassen hatte, um angeblich zum Firmenseminar zu fahren.

Eigentlich könnte sie mit ihrem kleinen Rollköfferchen ja direkt zur Startbahn West rüber laufen. Dieser Gedanke erheiterte Reni kurz, und sie plante weiter. Ein Taxi würde sie am nächsten Morgen um kurz nach sieben Uhr abholen. Nun musste sie nur noch unauffällig ihre Sachen packen. Fein säuberlich legte sie in ihrer Kommode alles bereit, sodass sie es am nächsten Tag nur noch in den Koffer schmeißen musste. Langsam fing Renate Koller an, sich fast zu freuen. Hans würde Augen machen. Vielleicht war es ihm aber auch gerade recht? Dann konnte er mit seiner Irene tun und lassen, was er wollte.

Renate schob diesen unliebsamen Gedanken wieder beiseite und betrachtete eines der vielen Fotos auf ihrem Laptop, das ihr Clara geschickt hatte. Darauf abgelichtet war Claras edle Unterkunft in Las Vegas, in der sie nun auch bald nächtigen würde.

Ob sie Bettwäsche mitnehmen musste? Und noch viel wichtiger: Sollte sie ihrer Tochter erzählen, was passiert war?

Das kann ich immer noch entscheiden, beschloss sie überraschend spontan und machte sich daran, ihre Waschsachen einzupacken.

Kopfschüttelnd stand sie kurz darauf im Badezimmer und blickte auf den zugegebenermaßen sehr großen Haufen an Waschutensilien. Alleine für ihren Bademantel, die Pantoffeln und ihre Lockenwickler brauchte sie einen kleinen Koffer.

Kurz überlegte Renate Koller und beschloss dann ganz gewagt, Lockenwickler und Bademantel hier zu lassen. Nur ihre Pantoffeln würde sie mitnehmen. Das war wohl das Verrückteste, was Frau Koller in den letzten zehn Jahren gemacht hatte, neben dem One-Way-Ticket nach Las Vegas natürlich.

Als ihr verlogener Mann um kurz nach 19 Uhr von seiner Salsa Nacht wieder nach Hause kam, saß Renate Koller möglichst unauffällig in ihrem Fernsehsessel und las eine Frauenzeitschrift.

„Hallo Schatz. Was ist denn mit dir los?“, fragte Hans sogleich zur Begrüßung.

„Nichts, Hansi. Alles bestens. Warum fragst du?“

„Weil du die Zeitschrift verkehrt herum hältst…“

„Ach, wollte gerade erst anfangen, sie zu lesen“, gab Frau Koller etwas peinlich berührt von sich und stand sogleich auf, um der unangenehmen Situation zu entfliehen. Sie musste zumindest noch ein paar Stunden die Haltung bewahren, das war wichtig. Genau genommen noch drei, denn um Punkt 22 Uhr lag das Ehepaar Koller meist im Bett.

„Wie war denn dein langer Tag bei der Arbeit, Schatz“, drehte sie den Spieß nun um. Sollte er doch ruhig ins Schwitzen kommen.

„Gut. War einiges los. Bin ganz schön erledigt“, gab dieser allerdings seelenruhig von sich und ließ sich auf das Sofa fallen.

Na, das glaube ich, du Baron von Münchhausen, schoss es Reni durch den Kopf, und sie musste sich schwer beherrschen, ihm nicht ordentlich die Meinung zu sagen.

„Willst du noch etwas essen. Ich könnte dir ein Leberwurstbrot machen, mit einem Bier dazu.“

„Aber heute ist doch Mittwoch. Gibt es denn keinen Eintopf?“, wollte ihr Mann erstaunt wissen.

Nein, da mich der Anruf von deinem Anwalt, der mir mitgeteilt hat, dass du dich von mir scheiden lassen willst, so überraschte, dass dieser völlig verbrannt ist, hätte sie sagen müssen. Stattdessen antwortete sie übertrieben freundlich: „Den mache ich morgen, Liebster. Möchtest du nun ein Brot?“

„Ja, gerne“, erwiderte Hans, während er seine Füße hoch legte und den Gürtel seiner Hose öffnete, um seinem Bauch Platz zu schaffen. Alles ganz normal. Wie jeden Abend.

Hätte Renate nicht wirklich den Anruf selber entgegengenommen und die E-Mail persönlich gelesen, hätte sie niemals geglaubt, dass ihr Mann sie dermaßen schamlos anlog.

Der Abend verlief ohne weitere Vorkommnisse: Hans Koller aß seine Wurstbrote, trank zwei Flaschen Bier und schaute Fußball. Renate Koller hielt sich viel in der Küche auf, um ihm nicht allzu oft in die Quere zu kommen. Zwischenzeitlich überlegte sich Renate sogar, ob sie ihrem Mann etwas zu Essen vorkochen sollte für die nächsten Tage, rief sich dann aber wieder in Erinnerung, warum sie überhaupt wegfuhr. Zu gerne hätte sie den Anruf von diesem Morgen einfach wieder vergessen.

Um kurz vor 22 Uhr schlich sie sich in das obere Stockwerk, zog sich schnell ihr Nachthemd über und kontrollierte noch einmal ihr gepacktes Kosmetikköfferchen. Zufrieden mit ihren Vorbereitungen legte sie sich kurz darauf in das viel zu weiche Doppelbett und stellte sich schlafend, als Hans vor sich hin rülpsend die Treppe nach oben kam und das Schlafzimmer betrat.

Ihr Plan schien zu klappen, und sie hatte zumindest den heutigen Abend mit nur wenigen Sätzen hinter sich gebracht.

Wahrscheinlich sprechen wir sonst auch nicht mehr miteinander, dachte sie, während sie noch eine Weile wach lag und Hans schon zufrieden vor sich hin schnarchte. Wenn sie daran dachte, dass dieser so erledigt war vom Salsatanzen, hätte sie ihm gerade einen Tritt in seinen Allerwertesten verpassen können.

Gedacht. Getan.

Mit einer ordentlichen Portion Wut trat Renate Koller ihrem Mann mit beiden Füßen in den dicken Hintern. Wie in Zeitlupe rollte dieser hierauf auf den Bauch und rutschte dann langsam, fast schon elegant, vom Bett, um mit einem gedämpften Platscher auf dem Boden zu landen. Die dicke Daunendecke mit Blumenmuster federte seinen Fall ziemlich ab, und Reni hielt den Atem an, was nun passieren würde. Zu ihrem Erstaunen schlief ihr Mann auf dem Fußboden einfach weiter. Etwas beneidete sie ihn ja um seinen festen Schlaf. Sie hingegen würde nun eine leichte Schlaftablette nehmen. Das war doch alles zu viel Aufregung für sie!

Der Aufbruch

Auch der Morgen verlief ganz nach Plan. Es wurde wieder wenig gesprochen zwischen den Eheleuten, man aß schweigend das Frühstück, bei dem Renate Koller die Rückseite der Tagezeitung lesen konnte, anstatt das Gesicht ihres Gatten zu sehen. Heute war ihr dies allerdings gerade recht.

Hierauf verließ Hans Koller, wie von seiner Frau gehofft, pünktlich um viertel vor sieben das Haus, um zu seinem unbekannten Ziel aufzubrechen. Kaum war die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen, packte Renate Koller auch schon in Windeseile ihren Reisekoffer. Hastig zog sie diesen aus der Abstellkammer, wo sie ihn bereitgestellt hatte. Erst jetzt bemerkte sie, wie eingestaubt das gute Stück war, da es so lange nicht mehr genutzt worden war. Obwohl es ihr schwer fiel, verzichtete sie darauf, den alten Lederkoffer noch einmal ordentlich abzuwischen. An einem normalen Tag hätte sie allein mit dem Putzen des Koffers Stunden verbringen können.

Heute jedoch nicht. Denn dies war ein besonderer Tag.

Geschwind hatte sie die von ihr vorbereitete Wäsche in dem Koffer verstaut, noch etwas Geld von dem Ersparten genommen und in ihre Handtasche gestopft. Nun stand sie mit verschränkten Armen vor dem Glas mit dem wohl einsamsten Goldfisch auf der ganzen Welt.

Warum hatten sie diesen damals überhaupt gekauft? Zuerst waren es ja noch zwei Fische gewesen, der eine wurde allerdings nach wenigen Wochen schon von seinem traurigen Schicksal erlöst. Dieser hier hingegen lebte nun schon mehrere Jahre.

Aber auch hierfür hatte sie sich etwas überlegt.

Kurzerhand schnappte sie sich das Goldfischglas, steckte das Döschen Futter in die Jackentasche und lief damit zu dem Reihenhaus, das schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag. Dort lebte das letzte Kind in dieser Siedlung. Ein etwa zehnjähriger Junge, der wahrscheinlich genauso einsam war wie der Fisch und der diesen immer interessiert betrachtet hatte, wenn er mal mit seiner Mutter vorbei kam. Man kannte sich flüchtig.

Renate Koller drückte den Klingelknopf und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. In dem Moment wurde schon die Haustür der Nachbarn so schnell aufgerissen, als hätte jemand dahinter gestanden und nur auf einen Besucher gewartet.

Es war der kleine Max, der Frau Koller und ihren Goldfisch mit großen Augen anstarrte.

„Guten Morgen, Max. Kannst du vielleicht ein paar Tage auf unseren Goldfisch aufpassen?“

„Natürlich, das machen wir gerne“, bestätigte da seine Mutter, die gerade hinter den Jungen getreten war.

„Wie lange denn, Frau Koller?“

Als Renate auf diese Frage ein langes Gesicht machte und nur meinte: „Das weiß ich nicht so genau“, blickte ihr Gegenüber sie erst etwas verwirrt an, lächelte aber sogleich wieder.

„Kein Problem! Holen Sie ihn einfach wieder ab, wenn Sie zurückkommen.“

Max hatte das Glas bereits strahlend in Empfang genommen und schien sich wirklich zu freuen.

Als in dem Moment ihr Taxi überpünktlich vorfuhr, blieb keine Zeit mehr für lange Dialoge, was Renate Koller ganz recht war. Je weniger Leute von ihrer Abreise wussten, umso besser.

Als sie dann jedoch mit klopfendem Herzen ihr Gepäck in den Wagen lud, sah sie einige neugierige Nachbarn hinter ihren Gardinen hervorblicken. Viele wussten nun also, dass Renate sich auf den Weg gemacht hatte. Wohin wusste allerdings niemand. Das hätte ihr wahrscheinlich auch keiner geglaubt.

Nicht ein einziges Mal blickte Renate Koller sich um: nach ihrem Haus, nach ihrer Siedlung, nach ihrem Ort. Sie wollte alles hinter sich lassen und nach vorne blicken. Vor ihr lag der erste Flug in ihrem Leben und ein ihr völlig unbekanntes Land. Ein angenehmes Kribbeln durchlief ihren Körper, begleitet von einem leicht mulmigen Gefühl in der Magengegend, das sich bis zur Ankunft am Flughafen in eine starke Übelkeit verwandelt hatte.

Als Frau Koller dann vor den Schalter trat und feststellte, dass die Dame von American Airlines anscheinend kein Deutsch sprach, stellte sie ihren Plan das erste Mal ernsthaft infrage.

Wie sollte sie ohne ein Wort Englisch sprechen zu können bis nach Las Vegas kommen?

Die Adresse ihrer Tochter hatte sie auf einen Zettel gekritzelt, den sie der Frau am Schalter nun unter die Nase hielt. Auch die Flugnummer war darauf notiert.

Nun ging alles überraschend schnell und um einiges einfacher, als sie anfangs gedacht hatte. Kurze Zeit später stand sie bereits an ihrem Gate und die Passagiere wurden aufgefordert, mit dem Boarding zu beginnen.

Was auch immer ‚boarden‘ bedeutet, dachte Renate Koller und tat einfach, was alle anderen machten. Brav stellte sie sich an einer elend langen Schlange an und betrachtete die Menschen um sich herum. Vom Alter her hätte dies auch ihre vierzigjährige Abiturfeier sein können. Sie schätzte alle Umstehenden auf ihr Alter plus minus drei Jahre. Offensichtlich gaben sich viele deutsche Rentner dem Glücksspiel in Las Vegas hin. Einige von ihnen hatten schon jetzt ganz rote Köpfe, sei es von der Sonne vom letzten Aufenthalt dort oder von einem Frühschoppen vor dem Flug. Wahrscheinlich beides.

Im Flugzeug angekommen, freute sich Reni erst über ihren Gangplatz und die vielen leeren Plätze um sie herum. Der Flug nach Las Vegas schien nur halb ausgebucht zu sein. Sorgenvoll blickte sie sich in der Maschine um und las genauestens die Sicherheitsvorkehrungen, bis sie diese auswendig kannte.

Plötzlich wurde es laut im vorderen Teil der Maschine. Gellendes Stimmengewirr und schrilles Gelächter kamen ihr zu Ohren. Voller Entsetzen sah sie dann eine ganze Meute von Fußballfans den Gang entlangtorkeln. Bald war klar, dass diese Fangemeinde von schätzungsweise zwanzig Jugendlichen genau die Plätze um sie herum gebucht hatte.

Das Durchschnittsalter in dem Flugzeug wurde nun zwar um zwanzig Jahre reduziert, die Lautstärke allerdings verdreifacht.

Als Renate Koller einer Stewardess verzweifelte Blicke zuwarf, zuckte diese nur hilflos mit den Schultern, was wohl so viel heißen sollte wie: „Da kann ich leider nichts machen!“

Ergeben lehnte sich Renate in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen, begleitet von dem Dröhnen der startenden Maschine, dem Gesang der Fußballgruppe und dem Würgen ihres Sitznachbarn, der sich gerade in eine Kotztüte übergab.

Als sie spürte, wie der große Blechvogel sich vom Boden erhob, dachte sie: Jetzt fliegen wir gerade über unser Haus.

Ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte?

Ankunft in Las Vegas

Jubeln können hätte Renate Koller, als der Flieger nach elf langen Stunden endlich in Las Vegas landete. Wahrscheinlich wäre der Flug an sich gar nicht so schlimm gewesen, vielleicht hätte sie ihn teilweise sogar genossen, wenn da nicht die anderen Fluggäste gewesen wären.

Das Schlimme war die grölende Mannschaft um sie herum, die erst nach stundenlangem Singen und Feiern Ruhe gab, dann allerdings so erschlagen war, dass die meisten von ihnen in einen komaartigen Schlaf verfielen. Hierbei war ihr säuerlich riechender Sitznachbar der Erste, der sich nicht davon abhalten ließ, ihre Schulter als Kopfkissen zu benutzen. Obwohl all diese Jungs ihre Söhne hätten sein können, kamen keine Muttergefühle oder auch nur ein Fünkchen Mitleid mit ihnen auf. Ihren schlafenden Sitznachbarn schob sie immer wieder angewidert zur Seite.

Zum Glück waren ihre Kinder so gut geraten und vor allem ihre Söhne nie Mitglieder in einem solch furchtbaren Fußballfanclub gewesen! Mit wachsendem Stolz hatte sie über die letzten Jahre die tollen Entwicklungen ihrer Kinder beobachtet. Jeder für sich hatte eine Traumkarriere hingelegt.

Irritiert blickte sich Renate Koller nun um. Der Flieger von American Airlines schien mitten auf der Landebahn angehalten zu haben. Gerade wurden Treppen an das Flugzeug angedockt und die Passagiere ihrem Schicksal überlassen, wie es aussah.

Als Renate Koller ins Freie trat, sog sie als Erstes tief die Luft ein: Die Luft der Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hierauf bekam sie allerdings einen Hustenanfall von der heißen, staubigen Luft, und als sie sich umblickte, stellte sie fest, dass diese Stadt wirklich mitten in die Wüste gebaut war.

Wieder lief sie all den anderen Passagieren hinterher, in der Hoffnung, dass diese wussten, wo man seinen Koffer abholen konnte. Immer wieder blickte sie sich um und fragte sich, wie man es in dieser Einöde aushalten konnte. Aber Clara hatte ihr schon erklärt, dass Las Vegas neben dem verrückten „Strip“, der Straße, auf dem ein Casino neben dem anderen lag, eine durchaus nette und ganz normale Stadt sei.

„Nicht umsonst wohnt Steffi Graf dort, Mama“, hatte sie mehrfach gesagt und erklärt: „Ich wohne übrigens ganz in ihrer Nähe. Wir sind quasi Nachbarn!“ Die Bilder, die sie dazu ihren Eltern gezeigt hatte, waren zugegebenermaßen wirklich beindruckend gewesen.

Wieder überkam sie dieses angenehme Kribbeln bei dem Gedanken, dass sie gleich die edle Wohngegend sehen würde, in der ihre Tochter nun schon seit vier Jahren lebte.

Am Gepäckband herrschte reges Treiben, und Frau Koller musste sich regelrecht durch die Menschenmassen kämpfen, um an ihren Koffer zu gelangen.

Kurz darauf stand sie in der Empfangshalle des Flughafens und sah einen kleinen Schalter mit den großen leuchtenden Buchstaben „CHANGE“. Da über dem Schild auch einladend die deutsche Flagge hing, steuerte sie zielstrebig darauf zu, um die fünfhundert Euro, die sie aus der Haushaltskasse genommen hatte, in Dollar umzutauschen.

Natürlich wusste sie nicht, dass man überall sein Geld wechseln konnte, außer an diesen Buden am Flughafen, die ungeheure Gebühren verlangten. Renate Koller wunderte sich nur über den schwachen Dollarkurs und steckte ihre dreihundert Dollar wieder ein.

Auch verstand sie natürlich nicht die Durchsagen am Flughafen. Die Warnungen, bloß nicht einfach in ein Taxi einzusteigen, da viele Betrüger ihr Unwesen trieben. Als ein freundlicher Mann auf sie zukam, ihr zuvorkommend den Koffer aus der Hand nahm und „Taxi?“ ins Ohr hauchte, stimmte sie sofort zu.

Wie zuvorkommend die Leute hier doch sind, dachte sie zufrieden, als ihr der Fahrer schmierig lächelnd die Wagentür aufhielt. Kurz zeigte sie dem Mann den Zettel mit der Adresse ihrer Tochter, was dieser nur mit einem Nicken kommentierte.

Aufgeregt blickte Reni während der anschließenden Fahrt aus dem Fenster, gespannt auf den Luxus, der sich ihr gleich darbieten würde. Was sich ihr allerdings zuerst zeigte, war alles andere als Wohlstand. Die vorherrschende Farbe war braun: braune Felder, braune Gehsteige, braune Wüste, braune Gebäude. Alles wirkte trotz der scheinenden Sonne seltsam dunkel, sogar die Menschen. Bisher hatte sie hauptsächlich Obdachlose gesehen, die Einkaufwagen mit ihren Habseligkeiten, die aussahen wie Müll, vor sich herschoben.

Irgendwie schienen sie von der Stadtmitte wegzufahren, die imposanten Hochhäuser und bunten Leuchtreklamen entfernten sich immer mehr. Nun gut, Clara hatte ja gesagt, dass sie etwas außerhalb wohnte. Aber wie weit außerhalb?

Frau Koller reckte immer mehr den Hals, um endlich das edle Luxusviertel von ihrer Tochter und Steffi Graf zu sehen. Doch vergebens. Um sie herum sah sie nur die braune Wüste mit heruntergekommenen, fast verfallenen Mehrfamilienhäusern.

Als das Taxi dann genau vor solch einem baufälligen, äußerst hässlichen Gebäude stehen blieb, war sie sich sicher, der Fahrer hätte einen Fehler gemacht. Frau Koller blickte sich um, blieb sitzen und schüttelte nur den Kopf.

Was heißt bloß: Sie haben sich völlig verfahren auf Englisch?, fragte sie sich verzweifelt.

Heraus brachte sie nur ein entschiedenes „No!“ und zeigte immer wieder abwechselnd auf die von ihr notierte Adresse und das heruntergekommenen Haus, vor dem sie geparkt hatten.

„Yes. That`s it. 3852 Palos Verdes Street”, beteuerte der Taxifahrer und deutete ihr an, auszusteigen.

Abwesend zog Frau Koller nun ihr Geld aus der Handtasche und blickte ihn fragend an. Als ihr zwielichtiger Chauffeur die Scheine erblickte, sagte er ohne mit der Wimper zu zucken: „One hundred Dollar!“

Renate verstand nicht ganz und hielt ihm unschlüssig eine Hundertdollarnote entgegen. Wie eine hungrige Schlange schnappte der Fahrer zu und meinte lächelnd: „Thank you“, wobei sie einen Goldzahn aufblitzen sah.

Das Ganze musste ein Traum sein. Die zehnminütige Taxifahrt konnte doch unmöglich einhundert Dollar kosten. Und wo war sie hier überhaupt?

Während sie noch nachdachte, hatte der ihr immer unsympathischer werdende Kerl schon ihren Koffer mitten auf der staubigen Straße abgestellt und deutete ihr an, endlich auszusteigen.

Und da stand sie nun. Im wahrscheinlich heruntergekommensten Viertel von Las Vegas, ohne einen Plan, was sie tun sollte. Nervös kramte sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und begann, darauf herumzutippen. Natürlich tat sich nichts, da dies nicht in den USA funktionierte.

Langsam ging sie hierauf auf den Eingang des desolaten Gebäudekomplexes zu und blickte sich immer wieder furchtsam um. Wäre sie doch lieber in Mörfelden geblieben, hier gefiel es ihr nun wirklich überhaupt nicht!

Da sie sowieso nichts anderes zu tun hatte und auch nicht wusste, wie sie hier so schnell wieder wegkommen konnte, beschloss sie, doch noch bei der angegebenen Appartementnummer vorbeizuschauen. Als sie den Innenhof der quadratförmig angelegten Wohnsiedlung betrat, bot sich ihr ein noch traurigeres Bild als von der Straße aus. Ein völlig verwahrloster, dunkler Platz lag vor ihr, auf dem ein paar Kinder mit einer leeren Bierdose Fußball spielten. Die Kinder waren etwa sechs bis acht Jahre alt, aber Renate Koller hätte sich nicht gewundert, wenn diese die Dose vor dem Spiel selber geleert hätten.

Langsam ging sie die Treppenstufen hinauf in das zweite Stockwerk. Der Komplex war ähnlich gebaut wie ein Motel. Auf einem offenen Gang zum Hof hin konnte man das ganze Gebäude einmal umlaufen. Diesen Flur nutzten viele als Balkon oder Abladeplatz für alles Mögliche. Auch der Geruch war alles andere als angenehm. Vor vielen Türen standen Mülltüten, die in der sommerlichen Hitze vor sich hin brüteten. Heiß war es wirklich in Las Vegas. Auch schienen die Nummern an den Türen mit ihrem Zettel übereinzustimmen. Auf diesem stand 22H, vor sich sah sie Nummer 22A, am nächsten Eingang links daneben stand die Nummer 22B.

Langsam ging Renate Koller den Gang entlang, bis sie bei Appartement 22H angekommen war, wobei die Bezeichnung „Appartement“ völlig übertrieben war. Sie stand vor einer schmucklosen Tür, die nicht darauf hin deutete, dass hier überhaupt jemand wohnte.

Obwohl sie sich sicher war, am völlig falschen Platz zu sein, was sie mittlerweile fast hoffte, klopfte sie zaghaft an die Tür. Alles blieb still, nichts rührte sich. Überhaupt herrschte außer dem Scheppern der Blechdose und dem gelegentlichem Gelächter der Kinder eine fast unheimliche Stille.

Trotz der Hitze fröstelte Renate, und sie schnürte ihre Strickjacke etwas fester, als sie auf den verrosteten Klingelknopf drückte, den sie eben erst entdeckt hatte. Gespannt lauschte sie und wäre insgeheim wohl froh gewesen, unverrichteter Dinge wieder gehen zu können. Nun vernahm sie aber im Inneren etwas: ein Rascheln, und jemand murmelte etwas.

„Just a moment“, ertönte von innen eine Stimme, die sich verdammt nach ihrer Tochter anhörte. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen, und Clara stand leibhaftig vor ihr.

„Mama!“, rief diese aus, und in ihrer Stimme war mehr Entsetzen als Freude zu hören. Eigentlich nur das pure Entsetzen, nichts an Freude, wenn man ehrlich war.

„Clara!“, schrie ihre Mutter nun ebenfalls und fragte dann unnötigerweise: „Was machst du denn hier?“

Wäre die Situation nicht so verfahren gewesen, hätte man hierüber durchaus lachen können. Aber nach Lachen war den beiden Frauen gerade gar nicht zumute. Noch dazu sah Clara wirklich furchtbar aus. Mittags um ein Uhr stand sie in einem völlig ausgewaschenen Nachthemd in der Tür dieser Bruchbude, die Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab, und das verschmierte Makeup machte ihr Gesicht nicht gerade hübscher. Roch sie auch nach Alkohol oder bildetet sich Renate das nur ein?

„Das wollte ich dich gerade fragen!“, gab Clara konsterniert zurück, und man konnte ihr ansehen, wie unangenehm ihr das Auftauchen ihrer Mutter war. Automatisch zog sie ihr Nachthemd zurecht und fuhr sich über ihre Strubbelhaare, als ob das irgendetwas besser machen würde.

„Ich muss mit dir reden“, erklärte Renate Koller hierauf, und die beiden blickten sich einen Moment lang schweigend an.

Anscheinend bemerkte Clara in dem Moment, dass sie ihre Mutter nicht einfach vor der Tür stehen lassen konnte und sagte bemüht freundlich: „Das ist aber eine nette Überraschung, Mama! Dann komm doch rein!“ Nun trat sie einen Schritt zur Seite, und Frau Koller konnte die traurigen vier Wände betreten, die ihre Tochter ihr Eigen nannte.

Während sie über die Türschwelle trat, schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf, was wohl mit ihrer Tochter passiert sein könnte. Warum hauste sie in diesem Loch und nicht Zaun an Zaun mit Steffi Graf in dem nobelsten Viertel von Las Vegas, wie immer berichtet?

Da Clara ihre Gedanken erahnen konnte, meinte sie vorsichtig: „Ich kann dir alles erklären, Mama. Aber jetzt will ich erst einmal wissen, warum du hier bist.“

Mittlerweile stand Frau Koller mitten in dem Raum und blickte sich neugierig in der Wohnung ihrer Tochter um. „Wohnung“ konnte man das Ganze genau genommen gar nicht nennen, da es sich lediglich um einen Raum handelte, von dem aus nur ein winzig kleines Badezimmer abging.

Man konnte erkennen, dass Clara versucht hatte, das Beste aus ihrer mickrigen Bleibe zu machen, was aber trotzdem die Tristesse der Räumlichkeit nicht wirklich verdeckte. Sie hatte mit vielen bunten Farben versucht, die hässlichen braunen Holzwände zu übertünchen. Das völlig zerwühlte Bett war mit einer nett gepunkteten Bettwäsche bezogen, die zu den Vorhängen passte. Viele Bilder, oder eher Poster von verschiedenen Tanzshows in Las Vegas, schmückten den Raum. Die Wände waren völlig zugekleistert mit diesen Werbeplakaten. Neben dem Bett waren lediglich ein Nachttisch, eine Kommode und ein pinkfarbener Sessel die einzigen Möbelstücke in dem Raum. Viel mehr hätte auch nicht reingepasst.

Dass Renate ihre Tochter aus dem Bett geklingelt hatte, war offensichtlich. Wäre es 8 Uhr morgens gewesen, wäre das ja kaum verwunderlich, aber mittags um 13 Uhr?

Renate Koller gingen so viele Fragen auf einmal durch den Kopf, dass es ihr unmöglich war, auch nur eine davon zu formulieren.

Clara deutete auf den Sessel, auf den sich ihre Mutter setzen sollte, während sie in Windeseile ihr Bett machte und so tat, als wäre all dies völlig normal.

„Möchtest du einen Kaffee, Mama? Oder einen Tee?“, fragte sie nun gespielt gut gelaunt.

„Ja, gerne. Kaffee, bitte“, gab ihre Mutter von sich, die die letzten Minuten erst einmal verarbeiten musste.

Eine Küche gab es in Claras Appartement nicht, nur eine Kochnische mit einem kleinen Herd, mickrigem Kühlschrank und einem winzigen Waschbecken, in der sie sich nun zu schaffen machte. Während sie den Kaffee aufsetzte, suchten beide Frauen nach den richtigen Worten. Die Situation wurde immer beklemmender.

„Willst du nicht deine Strickjacke ausziehen, Mama? Es ist doch so heiß hier drin“, schlug Clara ihrer Mutter nun vor, während sie ihr eine Tasse Kaffee reichte.

„Dein Vater hat eine andere“, brach es nun aus Renate Koller heraus, ohne auf Claras Frage einzugehen. Sie musste ihr Anliegen einfach schnell loswerden.

„Was?“, rief Clara entsetzt und verschüttete einen gehörigen Schwall von ihrem Kaffee.

„Wie kommst du denn darauf …“, wollte sie gerade weiterreden, als ihre Mutter ihr ein Zeichen machte, still zu sein. Renate Koller musste die Neuigkeiten in einem Rutsch berichten, denn sie spürte, dass sie dies viel Kraft kosten würde.

Knapp und bündig berichtete sie, was in den letzten vierundzwanzig Stunden vorgefallen war, angefangen mit dem Anruf, über ihre Nachforschungen, den aufgedeckten Lügen ihres Ehemannes, bis hin zum Buchen des Fluges nach Las Vegas.

Völlig erschüttert, hatte sich Clara auf ihr Bett gesetzt, lauschte den Worten ihrer Mutter und schüttelte immer wieder den Kopf.

„Aber das kann doch nicht sein! So was hätte ich Papa niemals zugetraut“, sagte sie dann verzweifelt und schien wirklich den Tränen nahe zu sein.

„Ich auch nicht, mein Kind, das kannst du mir glauben“, versicherte Reni, gefolgt von einer Stille, in der wohl beide ihren Gedanken nachhingen. Sicher sahen Mutter und Tochter gerade ihren Ehemann und Vater vor ihrem geistigen Auge auf einer Salsa Nacht und beim Verführen einer anderen Frau vor sich. Irgendwie passte dieses Bild nicht zusammen.

Hans Koller doch nicht.

Aber dies war die Wahrheit.

Renate Koller hatte es am Telefon gehört und schwarz auf weiß gelesen. So konnte man sich in einem Menschen täuschen! Nun holte die betrogene Frau einmal tief Luft und wollte von ihrer Tochter wissen: „Clara, hast du irgendetwas davon gewusst? Hast du eine Ahnung, wer diese Frau sein könnte?“

„Nein, Mama, ich habe davon nichts gewusst. Ich kann es immer noch nicht glauben, was du mir hier erzählst. Das passt so gar nicht zu Papa.“

Wieder schwiegen beide eine Weile, und nun wusste Clara, dass sie an der Reihe war, um mit der Wahrheit rauszurücken.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739456263
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Gegenwartsliteratur Liebesroman Kalifornien Hawaii Urlaubskomödie Reise Familienleben Komödie Frauen Liebe

Autor

  • Mimi J. Poppersen (Autor:in)

Mimi J. Poppersen ist das Pseudonym einer deutschamerikanischen Schriftstellerin, deren Romane sonst im Krimi-und Thrillerbereich angesiedelt sind. Mimi J. Poppersen ist freie Journalistin, und wenn sie nicht gerade auf der Suche nach einer spannenden Geschichte um die Welt reist, lebt sie mit ihrer Familie in Santa Cruz in Kalifornien oder in ihrer Heimatstadt Heidelberg. Instagram: mimij.poppersen Unter dem Namen Hannah Hope schriebt sie spannende Liebesromane.
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Titel: Nur fünf Tage