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Terralt - Band 3 - Die Pyramidenprophezeiung

von Dirk Richter (Autor:in)
293 Seiten
Reihe: Terralt, Band 3

Zusammenfassung

Terralt - Die Pyramidenprophezeiung Dies ist der dritte Band der Trilogie über unsere Parallelwelt Terralt und eine uralte Prophezeiung. Die 3 Hüterinnen, geboren auf Terra, und die 3 Meister von Terralt sind gewachsen und das nicht nur, was die Größe anbelangt. Sie haben ihre Fähigkeiten ebenso erweitert wie ihren Freundeskreis und das geht auch so weiter, bis ... Bei aller Genauigkeit der Angaben in der Prophezeiung ist gar nicht klar, worum es geht. Nur eines ergibt sich aus der Erfahrung: Prophezeiung bedeutet: lebensbedrohliche Entwicklungen, wichtige Entscheidungen und Gefahren, die das Leben kosten oder auch zu großem Ruhm führen können. Worum geht es jetzt eigentlich bei der Pyramidenprophezeiung? Wohin senkt sich die Waagschale: Tod oder Ruhm? Nur eines ergibt sich mit Sicherheit aus dem Text der Prophezeiung: die Kinder müssen gewaltig über sich selbst hinaus wachsen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Werden sie es schaffen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


00 Einleitung


Bonn, den 19.07.2015

Dies hier ist der dritte Band der Trilogie über Terralt.

Hier ist jetzt der Hinweis angebracht, dass ich den Inhalt der ersten beide Bände nicht zusammenfassen kann und werde. Es sei nur erwähnt, dass der erste Band damit begann, dass eine Mutter mit ihren drei Mädchen auf der Erde, also Terra, in der Nähe von Bonn verschwand und nur ein nicht mehr fahrbares Auto zurückblieb. Sie landeten auf der am nächsten gelegenen Parallelwelt Terralt, also Terra Alterna. Es ist die einzige Welt, die für normale Menschen zu erreichen ist und das durch Portale, die man weder sehen noch deren Auftauchen man vorhersehen kann. Man geht und endet plötzlich auf der Parallelwelt, die üppig grün und sehr ähnlich zu unserer ist, bis vielleicht auf die viel geringere Anzahl von Menschen, das Fehlen eines Großteils der Technik, da gewollte Explosionen nicht funktionieren, und der Anwesenheit von naturnaher Magie, die jedem gegeben, aber nicht von jedem genutzt werden kann.

Es stellt sich heraus, dass die vier nicht ohne Grund nach Terralt kommen, aber das merken sie erst später. Die Mädchen sind Teil einer uralten Prophezeiung, zu der auch noch drei Jungen gehören. Das Leben wird abenteuerlich und chaotisch und strebt auf ein Ziel zu, dass die 6 erst in diesem Band erfahren werden.

Begleitet sie doch einfach und erlebt selbst, was sie erleben.

Auch dann werdet Ihr bestimmt beim Lesen viel Spaß haben ... manches wird dann aber leider unverständlich und seltsam wirken. Terralt ist schließlich doch ... anders als Terra.

01 Zeit der Ruhe

„Warte, Grace“, bot sich der rothaarige Ian an, der gerade die Haustür des Zweithauses zum Wintergarten hin durchschritten hatte und öffnete ihr die äußere Tür. „Du willst doch bestimmt herein.“

Grace nickte ihm dankbar zu. Sie stand mit einem Tablett vor dieser äußeren Tür und hatte sich schon überlegt, wie sie beide Türen aufbekam, ohne die beiden Tontassen und die anderen Teile auf dem Tablett dabei in Gefahr zu bringen. „Danke, Ian. Ich wollte WiseGuy mit frischem Kaffee überraschen und habe ihn daher in der Mühle aufgegossen.“

„Deshalb war also heute Morgen dieser Bote vom Gildenmeister der Magie da“, begriff Ian und schüttelte den Kopf, sein Gesicht verziehend. „Ich kann ja wirklich nicht verstehen, was er an diesem bitteren Getränk findet. Und dass sogar Eva, die sonst immer darauf achtet, nur gute Lebensmittel zu verwenden, so vernarrt in diese Brühe ist ...“ er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht.“

Grace lachte fröhlich und glitt grazil am Meister der Erde vorbei, als der ihr auch noch die innere Haustür öffnete. „Das wird wohl eine Sache sein, an der ihr hier auf Terralt ganz leicht diejenigen ausmachen könnt, die von Terra stammen“, erklärte sie. „Es gibt sehr viele Sachen, auf die ich hier gerne verzichte, aber das mit dem Kaffee verstehe ich schon sehr gut.“

Der unscheinbare Junge, dem man sein gewaltiges magisches Talent für alles was die Erde ausmachte, nun wirklich nicht ansah, zuckte nur mit den Achseln und wandte sich wieder zum Gehen. „Das sah übrigens super aus, wie du gestern Morgen Lecado gezwungen hast, ihr magisches Talent wirklich mal voll zu benutzen.“

Grace sah ihn nur fragend an, während sie das Tablett vorsichtig auf dem kleinen runden Tisch abstellte und erst einmal ihren dicken Überwurf abnahm. Es hatte nun endlich einmal aufgehört zu schneien, aber von Frühling war jetzt Mitte März trotzdem noch nicht viel zu spüren.

„Du ahnst gar nicht, wie oft wir Lecado darauf hingewiesen haben, dass sie, obwohl sie ein Mitglied der Gilde der Assassinen ist, ein ziemlich ungewöhnliches magisches Talent besitzt. Seit Du hier bist, kann sie das endlich nicht mehr bestreiten. Ohne ihr Talent, Angriffe schon zu spüren, ehe sie wirklich erfolgen, hätte sie gar keine Chance, gegen deine magische Geschwindigkeit zu bestehen.“

„Es freut mich, dass ich wenigstens zu etwas zu gebrauchen bin“, entgegnete Grace und ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Ian kam spontan auf sie zu und umarmte sie. „Du weißt ganz genau, dass wir dich noch wegen weit mehr Dingen lieben.“

„Ach, du liebst mich?“ neckte sie ihn und Ians Gesicht nahm fast die Farbe seiner Haare an und er ließ sie rasch wieder los. „Ob das Rebecca und Lynn auch so gut finden ...“

„Du weißt genau, wie ich das meine“, beschwerte er sich und Grace nickte ihm ernst zu.

„Ja. Und ich danke dir auch dafür.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Ohne dich und die anderen wäre ich wahrscheinlich immer noch in dem Loch.“ Damit spielte sie auf die Bleimine an, in der sie, zusammen mit fast 20 Kindern aus Terralt, festgehalten worden war, gleich nachdem sie durch eines der wenigen Portale zwischen Terra und Terralt nach Terralt geraten war. Da sie nicht von Terralt stammte und ihr Körper kaum der Magie ausgesetzt worden war, ehe man sie in die Bleimine brachte, hätte sie wahrscheinlich noch Jahre ausgehalten, während um sie herum die entführten und verkauften Kinder einer nach dem anderen gestorben wären, aber auf Dauer hätte auch ihr Körper versagt. Blei war für alle Terraltler ein gefährliches Element, da es die Magie verhinderte und jeden krankmachte, der ihm länger ausgesetzt war.

Warum das so war, hatte sie nie verstanden, aber sie hatte es mitansehen müssen.

Während ihre Gedanken fast vier Monate zurücksprangen, nickte Ian ihr noch einmal zu und verließ das Zweithaus, die Türe mit der kleineren Glasscheibe sorgfältig hinter sich schließend. Sie war jetzt etwa ein halbes Jahr auf Terralt, nachdem sie sich in Münster, in Deutschland, auf Terra eigentlich nur auf dem Heimweg befunden hatte. Praktisch von einer Minute zur anderen fand ihr Rad plötzlich keine Straße mehr vor und testete völlig unfreiwillig, wie weit ein Mensch flog, wenn das Rad von Tempo 20 km/h auf 0 reduziert wurde.

Gedankenverloren strich sie sich mit ihrer Rechten knapp oberhalb ihres rechten Knies über den dicken Stoff der Hose, die sie trug. Esther hatte sie später gefragt, ob sie die Narbe vielleicht entfernen sollte, doch sie war dagegen. Die Wunde hatte sich durch den Dreck in der Kiste, in der man sie nach Tirnan-Hohg gebracht hatte, leicht entzündet, ohne sonst irgendwelche Probleme zu hinterlassen.

Sie zweifelte keine Minute daran, dass es für Esther, als Hüterin der Menschen, ein Leichtes gewesen wäre, die, im Rahmen dessen was Gottes Plan für jeden Einzelnen war, Unglaubliches leisten konnte, jeden Hinweis zu entfernen. Sie konnte dabei so in einen Menschen hineinsehen, dass er fast schon erschreckte.

Grace nahm das Tablett wieder auf und musste dabei grinsen, als sie an die Zeit kurz nach ihrer Befreiung aus der Bleimine dachte. Das ihr magisches Talent, sich mit einem Mal mit einer unvorstellbar hohen Geschwindigkeit bewegen zu können, dank der Energieströme, die Eva durch die Gesteinsschichten schwemmte, da schon ausgebrochen war, konnte nicht bezweifelt werden. Nur hatte sie es auch heute noch nicht ganz unter Kontrolle und nicht alles passte sich an ihren Bewegungsrahmen an. Es könnte also gut sein, dass sich das Tablett und der Krug mit der Milch ihrer Geschwindigkeit anpassten, die beiden Kaffeebecher aber nicht.

Vorsichtig stieg sie die Treppe in den ersten Stock hoch und ging zu dem kleinen Zimmer hinüber, das WiseGuy mittlerweile als Arbeitszimmer diente. Vor der grob gezimmerten Holztür stehend konnte sie ihn herzhaft lachen hören.

Sie stieß mit dem Fuß gegen die Tür.

„Hallo, WiseGuy“, rief sie. „Hier ist Grace. Ich habe dir eine Überraschung mitgebracht, bekomme aber die Türe nicht alleine auf.“

„Sie ist eigentlich nur angelehnt“, ertönte WiseGuys Stimme und im selben Moment schwang sie als Reaktion auf das Fußanklopfen von Grace auch lautlos auf.

Das gab für sie den Blick auf den Mann mittleren Alters frei, der auf einem Stuhl vor einem Tisch saß und dessen rechte Hand flach auf der Tischplatte lag. Ein recht protziger Ring am Ringfinger war der Ausgangspunkt einer dreidimensionalen Szene, die Grace sofort erkannte. Sie hatte sie schließlich miterlebt und sie konnte gut verstehen, warum WiseGuy gerade sie wählte, um damit die Beherrschung des Rings zu üben, den er vor einigen Monaten vom Gildenmeister der Magie bekommen hatte.

Die Szene in dem eiförmigen Bereich oberhalb des Rings schien mit einem Mal zu verschwimmen, begann sich wie wild zu drehen und löste sich in Nichts auf.

„So ein Mist!“ entfuhr es dem bärtigen Mann. „Ob ich wohl jemals lerne, diesen blöden Ring so zu beherrschen, dass er einmal so richtig das zeigt, was ich sehen will?! Der Gildenmeister der Magie müsste eigentlich wissen, wie schwer es einem Chronisten fällt, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren.“

„War das nicht der erste der Weihnachtsfeiertage, als die ersten Gäste Geschenke für die drei Mädchen vorbeibrachten?“ wunderte sich Grace und trat vorsichtig mit dem Tablett ein. „Wolltest du das denn gar nicht sehen?“

„Oh doch“, seufzte der Mann, der wie sie selbst von Terra stammte und vor ein paar Jahren zusammen mit seiner Frau nach Terralt geraten war. Wie bei ihr selbst war dieser Übergang ohne Rückkehrmöglichkeit nicht aus freien Stücken geschehen. Nur waren er und seine Frau unbeschadet in Portbach angekommen und waren dort freundlich aufgenommen worden. Niemand hatte sie eingefangen und dann sofort zur Zwangsarbeit in einem Bergwerk gezwungen. „Hmmm. Das duftet ja herrlich. Das ist doch wohl nicht Kaffee, oder?“

Grace reckte ihren Hals und blickte in das Innere der Tassen. „Also für Kakao ist diese Brühe zu braun und für schwarzen Tee zu schwarz“, erklärte sie und grinste ihn an. „Also ich tendiere doch stark zu Kaffee.“

„Grace, du bist ein Engel!“ seufzte WiseGuy und nahm eine Tasse und die Milchkanne zu sich herüber. „Also ist der Besuch aus Südamerika in Cologna angekommen?“

Grace nickte und setzte sich mit ihrer Tasse auf das Zweiersofa, das in dem kleinen Raum genau unter dem Fenster stand. „Ja. Eigentlich wollte die Delegation auch nach Portbach kommen, aber das wird wohl noch einige Tage dauern. Der Gildenmeister der Magie wird den Besuch aber dann noch rechtzeitig ankündigen.“

Sie legte ihre Beine hoch und lehnte sich entspannt zurück, nachdem sie sich das große unförmige Kissen zurechtgelegt hatte.

„Warum gerade diese Szene?“

WiseGuy schlürfte genüsslich an seinem Kaffee und sah sie erst fragend an, ehe er verstand, dass sie sich auf seinen Versuch bezog, den magischen Ring zu bändigen und lachte leise.

„Ich werde die verdutzten Blicke, besonders den von Vanessa, nie vergessen, als dieser würdevolle Herr mit dem riesigen Schnäuzer sich tief verbeugte, diese Kiste vor ihnen abstellte und den Deckel anhob.“ Er drehte seinen Stuhl um und setzte sich auf die andere Seite des kleinen runden Tisches, nachdem er noch kurz einen Blick nach draußen geworfen hatte, wo auf der gegenüberliegenden Seite des Portbaches zwei der neuen Steinhäuser durch die noch kahlen Bäume und Büsche hindurchschimmerten, die dort auf dem schmalen Streifen Wiese schon fast fertig waren. Es sollten noch zwei hinzukommen, um den Gästen, Bittstellern und Freunden der Sechs ausreichende Unterkunft zu bieten. Zusammen mit dem neuen Gebäude für die Pyramidengarde lagen sie dann genau wie die ursprüngliche Wassermühle und das Zweithaus, in dem sie sich gerade befanden, noch alle innerhalb des großen Steinkreises von Portbach und damit auch im Schutz der mächtigen Magie, die den Steinkreis als Taraz erscheinen ließ.

Grace grinste still vor sich hin und wiederholte dann: „Wieso Stoff und warum für uns?“

WiseGuy lachte laut auf und schüttelte seinen Kopf. „Das war wieder echt Janessa. Messerscharf auf den Punkt gebracht und dann dem armen Mann entgegengeschleudert.“

„Der arme Mann war so erstaunt, dass er kein Wort herausbekam“, erinnerte sich Grace.

„Ein Glück, das Mara damals gerade da war. Die konnte dann schnell klären, dass Terraltler zur Wintersonnenwende gerne für ein gutes neues Jahr opferten und dann schon vermutete, dass wahrscheinlich noch andere auf die Idee kommen würden, den drei Hüterinnen zu opfern, die ihnen schon im letzten Jahr geholfen hatten.“

Beide erinnerten sich dann daran, wie dieser erste Mann nur der Anfang von vielen gewesen war, die über die Weihnachtsfeiertage zur Wassermühle pilgerten und den Mädchen Geschenke vorbeibrachten. Besonders Eva, die Mutter der Drei hatte sich erst geweigert, die Geschenke anzunehmen, bis Hartmut von Hohenried, der sie mit seiner Frau und einigen anderen besuchte, darauf hinwies, dass die Mädchen ja auch so schon einiges von den Menschen bekommen hatten, denen die Drei geholfen hatten. Dabei war es unerheblich, ob sich die Hilfe auf Menschen bezog, auf Tiere, oder auch auf Pflanzen, was aber seltener der Fall war. Immer wenn es ein Problem gegeben hatte, hatten Esther, die Hüterin der Menschen, Janessa, die Hüterin der Pflanzen und Bäume und Vanessa als Hüterin der Tiere geholfen ohne lange darüber nachzudenken. Keines der Mädchen war aber der Meinung gewesen, dass diese Geschenke ihnen wirklich zustanden. Esther hatte es als die Älteste dann auch so ausgedrückt, dass sie half, weil jemand Hilfe benötigte und sie helfen konnte, und dass sie dafür, dass sie von Gott diese Fähigkeit bekommen hatte, kein Recht auf die Sachen hätte. Nach einer längeren Diskussion, die jener erste Spender mit wachsender Unruhe mitverfolgte, hatten sie sich dann damit einverstanden erklärt, die Geschenke anzunehmen und an Bedürftige weiterzugeben, oder zu verkaufen und den Erlös zu spenden. Daraus war dann auch der Plan entstanden, die zusätzlichen Gebäude zu bauen.

Jener erste Spender war schließlich sichtlich beeindruckt verschwunden und hatte seine Erfahrungen offensichtlich weitergegeben.

Auch heute noch verging kaum ein Tag, an dem nicht Menschen auftauchten, die Geschenke vorbeibrachten. Mittlerweile gab es hinter der Kirche von Portbach ein Gebäude zur Aufnahme der Geschenke und der Gildenmeister der Magie hatte ein kleineres Luftschiff abgestellt, dass die Verteilung übernahm.

Sowohl Grace, als auch WiseGuy hingen ihren Gedanken nach und tranken dabei den Kaffee in kleinen Schlucken.

„Nicht, dass ich es nicht sehr zu schätzen wüsste, dass du den Kaffee zubereitet und herübergebracht hast“, meinte WiseGuy schließlich und zwinkerte Grace zu „aber war das der einzige Grund, der dich zu mir gebracht hat?“

Grace sah ihn nachdenklich an und schüttelte dann langsam den Kopf. „Nein, das war nicht der einzige Grund“, gab sie zu „Ich verstehe immer noch nicht, warum diese sechs so etwas Besonderes sind. Also ich verstehe schon, dass sie ganz besondere Fähigkeiten haben, also auch für die Verhältnisse von Terralt, aber ...“ Sie zuckte genervt mit den Achseln. „Verdammt, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll.“

„Ich verstehe schon, was du meinst“, wehrte WiseGuy ab und lächelte sie an. „Warum sie gerade die sind, die zusammen die Pyramidenprophezeiung erfüllen, kann ich dir leider auch nicht erklären. Sie sind eigentlich alle ganz normale Kinder, na zumindest waren sie es noch bis zu der Zeremonie in der Kirche von Portbach. Dort haben sie ihre jeweilige Verantwortung angenommen und haben es seitdem geschafft, auf der einen Seite einfach unglaubliche Dinge zu leisten und trotzdem absolut normal zu bleiben.“ Er lachte amüsiert auf. „Ich finde es einfach herrlich, wenn sie sich wieder einmal über absolute Lappalien in die Wolle geraten. Und das geschieht ja genauso mit den Jungen.“

„Und wenn es darauf ankommt ...“ sinnierte Grace.

„... dann bilden sie ein fast unschlagbares Team“, vollendete WiseGuy.

„Wie vor ein paar Wochen, als der Zug auf so seltsame Art und Weise entgleist ist, und das mitten im dicksten Schneesturm genau zwischen Köln und Portbach“, bestätigte Grace.

„Du meinst Cologna. Es liegt hier in Terralt wohl an derselben Stelle wie Köln auf Terra und es gibt auch ein spezielles Bier, aber einem Kölner würde das Fehlen des Domes schon sehr traurig machen“, korrigierte WiseGuy und fuhr dann fort „Abgesehen davon waren sie eine ganz normale Familie, als sie bei einem Herbststurm von Terra nach Terralt geraten sind. Okay, sie waren da noch um einiges jünger beziehungsweise älter.“

Grace sah ihn stirnrunzelnd an. „Wie meinst du das denn?“

WiseGuy schmunzelte und nahm erst noch einen tiefen Schluck Kaffee. „Soweit ich weiß, haben Eva und ihre Mädchen noch nie so richtig darüber gesprochen, aber man muss schon ziemlich blind sein, um zu übersehen, dass die Mädchen weit schneller groß geworden sind, als es zu erwarten wäre.“ Er machte eine Pause. „Und Eva erscheint mir jünger denn je.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Wie alt schätzt du die Mädchen?“

„Vanessa ist etwa neun oder 10, Janessa wohl eher 12 und Esther etwa 14 oder 15.“

„Vanessa sollte jetzt 8, Janessa 10 und Esther 13 sein.“

„Wie ist das möglich?“ erwiderte Grace verdutzt.

WiseGuy zuckte nur mit den Schultern.

„Ich weiß es natürlich nicht, aber auch der Gildenmeister ist der Meinung, dass die sehr starken magischen Kräfte mit dafür sorgen, dass sie sich optimal entfalten können.“

Mit einem Mal war ein leichtes Brummen zu hören, das von oben zu kommen schien. Grace sah irritiert nach oben.

„Das müsste das Luftschiff sein, das für die Sechs unterwegs ist“, vermutete WiseGuy und erhob sich. „Sollen wir nicht in den Wintergarten gehen? Nach der langen Zeit mit Schneestürmen und fiesem Wetter sollte man jeden Sonnenstrahl einfangen, wenn man die Möglichkeit hat.“

Grace nickte und erhob sich, während er das Tablett ergriff. Er sah sie an, während sie aufstand. „Ich kann ja schon verstehen, warum die Kinder dir den Namen Grace gegeben haben“, meinte er und sie sah ihn irritiert an.

„Deine Bewegungen scheinen immer anmutiger zu werden“, stellte er fest und Grace wurde rot, auch wenn sie schon wusste, dass er das nicht als Anmache, sondern absolut ehrlich meinte. „Wenn du mit Lecado trainierst, werden deine Bewegungen immer fließender, ehe dich dein Talent praktisch unsichtbar macht. Vermisst du Terra noch sehr?“

Sie gingen die Treppe hinunter und Grace hielt dabei kurz inne und seufzte. „Es geht so. Meine Familie vermisse ich schon, besonders meine Schwester“, erklärte sie. „Auch wenn ich selbst nicht mehr zurück kann, würde ich sie ja schon gerne wissen lassen, dass es mir gut geht.“

WiseGuy nickte verständnisvoll. „Das Problem haben, glaube ich, alle, die durch ein Portal nach Terralt gelangt sind“, meinte er mitfühlend. „Früher gab es auch noch Verbindungen von Terralt nach Terra, aber beide Welten streben immer mehr auseinander und jetzt gibt es nur noch Wege von Terra nach Terralt.“

Sie öffnete die Haustür und sie setzten sich in den verglasten Wintergarten, der mithilfe der neuen magischen Möglichkeiten Ians auch große dicke Glasscheiben zu erzeugen, einem terranischen Wintergarten ähnelte und heute in der tief stehenden Vormittagssonne hell und warm dalag, während man draußen, außerhalb des Steinkreises noch Schneereste liegen sah, wo die warmen Schwaden, die von dem mit heißem Wasser gefüllten Wassergraben nicht hochwallten und die Sicht versperrten.

„Ich hatte einen Freund, der wäre hier richtig ausgerastet, wenn er das erleben könnte“, meinte Grace schließlich. „Er ist ein absoluter Fan von Rollenspielen und war erst der absolute Mittelalter-Fan und ist dann auf Steampunk umgeschwenkt.“

„Mittelalter kenne ich ja, aber was ist Steampunk?“

„Leute, die Spiele spielen, die in der viktorianischen Zeit spielen und nur über Technik verfügen, die auf Dampfmaschinen beruhen. Das Punk bezieht sich dann auf die beginnende industrielle Revolution.“

„Und warum wäre er dann hier hin und weg?“

„Weil hier auf Terralt die Technik auch nur Dampfmaschinen zu verwenden scheint“, erklärte Grace und WiseGuy nickte verstehend. „Gibt es eigentlich gar keine Schusswaffen?“

„Nein. Die terraltische Magie verhindert diese Technik, was leider auch so etwas wie Feuerwerke unmöglich macht“, erklärte WiseGuy.

„Also könnte man das hier dann eher Steammagic nennen“, schlug Grace vor. „Also Dampfmaschinentechnik, die durch die göttliche Naturmagie ergänzt wird.“

WiseGuy nickte und trank den letzten Rest aus seiner Tasse. „Es sieht danach aus, als hätte Elektrizität eine gute Chance, hier auf längere Sicht neue Entwicklungen möglich zu machen. Jedenfalls wird zurzeit an der Universität von Sankt Grenwald ganz groß in dieser Richtung geforscht.“

„Das wäre diesem Freund dann auch ziemlich egal“, lachte Grace leise vor sich hin. „Das viktorianische Zeitalter gepaart mit Mittelalter und Harry Potter ... da würde er drauf abfahren!“

„Wie kann sich ein erwachsener Mensch eigentlich für solche Gruppen interessieren?“, meinte WiseGuy etwas irritiert und Grace sah ihn bloß durchdringend an. „Du kommst doch von drüben? Bist du schon so lange hier?“

Er hob grinsend beide Arme. „Ich ergebe mich. Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Hier hat man das Gefühl Einfluss auf sein Leben nehmen zu können.“

Sie saßen auf der Bank und genossen noch die langsam untergehende Sonne, die ihre letzten wärmenden Strahlen in den Wintergarten sandte. Es wirkte alles so friedlich. Von den Baustellen jenseits des Portbachs war Rufen und Hämmern zu hören. Solange es einmal nicht regnete, wurden dort unter Hochdruck gleichzeitig zwei Dächer fertiggestellt, auch wenn beide Gebäude hinter den noch ungewöhnlich grünen Büschen direkt am Bach nur schemenhaft zu erkennen waren.

Der Wassergraben, der die Hauptwiese mit der Wassermühle, dem Zweithaus, in dem sie sich gerade befanden, und der großen Scheune in weitem Bogen umgab, wurde wahrscheinlich noch viele Jahrhunderte von den heißen mineralischen Quellen gespeist, die Pascal und Ian während des Angriffs auf die Wassermühle vor einigen Monaten umgelenkt hatten. Diese 'ziemlich natürliche' neue Wärmequelle reichte nun aus, alles, was innerhalb des großen Steinkreises von Portbach lebte, auch im tiefsten Winter angenehm zu temperieren. Wenn sich Pascal und Epharim dann noch zusammensetzten und das schlechte Wetter ein wenig um sie herum leiteten, gab es für einige Bäume und Büsche keinen Grund mehr, in einen Winterschlaf zu fallen.

Besonders Janessa war dafür dankbar. Als Hüterin der Bäume und Pflanzen langweilte sie sich so schon unendlich. So hatte sie aber innerhalb der Wärme des Steinkreises wenigstens die Möglichkeit, etwas mit ihren Fähigkeiten zu experimentieren. Auf der einen Seite konnte morgens ein junger Baum die Zufahrt zu einer der Baustellen verwehren, der am Abend zuvor noch nicht da gestanden hatte. Auf der anderen Seite hatte sie aber auch mit Ians Hilfe ein Gewächshaus aus Glas errichtet, dass jetzt immer wieder Überraschendes und manchmal sogar wohlschmeckendes Gemüse lieferte, das so manchen Biologen von Terra, der dort Ähnliches mit teilweise unvorhersehbaren Nebenwirkungen versuchte, vor Neid hätte erblassen lassen.

Wenn es keinen Unterricht gab und auch sonst kein Training auf Pferden oder an Waffen anstand, zog sie sich in das imposant aussehende Glasgebäude zurück.

Auch jetzt saß sie wieder leicht zitternd auf dem Boden zwischen Pflanzen, die nicht nur ungewöhnlich aussahen, sondern auch ungewöhnlich schnell und unpflanzlisch denken konnten. Im Moment waren sie aber auch etwas hilflos, weil der Lebenszyklus der alten und erfahrenen Bäume noch sehr langsam war und sie nicht wussten, wie sie ihrer Herrin helfen sollten. Sie zitterte nämlich nicht vor Kälte und starrte unsehend vor sich hin. Die Pflanzen hätten einem Interessenten genau sagen können, dass es ihr seit dem Tag schlecht ging, an dem die Nachricht von dem schrecklichen Zugunglück den Steinkreis von Portbach erreichte und praktisch jeder, der über ein Pferd oder einen Wagen verfügte, sofort in Richtung Cologna startete. Die Sechs hatten dabei unter der Führung von Pascal die Kontrolle über ihr geliehenes Luftschiff übernommen und waren schließlich wirklich fast als Erste am Unglücksort auf halbem Wege zwischen Cologna und der Haltestelle von Portbach angekommen. Dieses Mal hatten die Jungen das Wetter direkt beeinflusst und die schneeträchtigen Wolkenmassen einfach auf Seite geschoben.

Esther und Ian waren die Ersten gewesen, die den Ort erreichten, wo der Zug auf gerader Strecke mit einem Mal entgleist war. Als dann bekannt wurde, dass jemand die Metallschienen verdreht hatte als bestünden sie aus Draht, und damit provoziert hatte, dass alle vier Wagen in voller Fahrt die Böschung rechts und links der nicht mehr vorhandenen Gleise hinunterstürzten und Tod und Leid erzeugten, lenkte Esther ihre ganze Wut in ihre Fähigkeiten und rettete vielen Menschen das Leben, die eigentlich schon keine Chance gehabt hatten.

Janessa wurde den Anblick der Toten und Sterbenden einfach nicht mehr los und schlief kaum noch eine Nacht durch. Es wirkte schon seltsam, dass scheinbar niemand ihren Schmerz bemerkte. Sie war jedoch die mittlere Schwester. Sie verschmolz fast mit dem Hintergrund. Anfangs hatte es sie geärgert, aber dann hatte sie auch die Vorteile erkannt, fast nie im Mittelpunkt zu stehen. Im Moment war ihr diese Fähigkeit aber nicht hilfreich. Ihre Gemeinschaft war aber auf der anderen Seite auch so bunt und ungewöhnlich, dass es durchaus jemanden gab, der ihre Probleme erkannte und gerade direkt neben ihr auf dem Eimer sitzend erschien, mit dem Janessa Wasser in ihr Gewächshaus getragen hatte.

„Dich trifft keine Schuld“, meinte Lena leise und mitfühlend und Janessa erschrak noch nicht einmal bei ihrem Auftauchen.

„Du hast gut reden, Lena“, seufzte Janessa und wischte fast wütend eine Träne weg, die ihr die Wangen herunterrannen. „Du bist auch ein Geist. Aber ich bin so eine blöde Hüterin und konnte weder den Bäumen helfen, die brannten, noch irgendeinem der Menschen, die um Hilfe riefen.“

Hilflos und wütend zugleich schlug sie mit der flachen Hand auf ein frisches Stück Erde direkt vor ihr und bekam ganz große Augen.

„Oh nein. Das wollte ich nicht!“ Damit lockerte sie die Stelle, die ihre Hand gerade platt gedrückt hatte sofort wieder. „Bitte entschuldigt.“

„Hast du da Samen gepflanzt“, erkundigte sich Lena und Janessa nickte, während ihre Hand leicht bläulich zu Glühen begann.

„Ich kriege einfach nichts richtig hin“, murmelte sie und musste wieder schlucken. „Es war eine blöde Idee, mich zur 'Hüterin der Bäume und Pflanzen zu ernennen.“

Sie merkte gar nicht, wie Lena verschwand, so war sie mit ihrem Selbstmitleid beschäftigt. So erschrak sie auch, als Lena plötzlich meinte.

<Komm auf die Geistebene!>

Besonders verwunderte sie der befehlende Tonfall. Sie gehorchte aber und ihr Geist erreichte mühelos die Geistebene, die ganz Terralt überdeckte. Dort war es sonst eigentlich immer eher spärlich beleuchtet, weil besonders im Winter nur wenig Tiere und Pflanzen ihr besonderes Licht spendeten. So erstaunte sie jetzt auch das helle Leuchten, das sie empfing und das Gefühl der Geborgenheit, dass sie eigentlich nur im Kontakt mit Bäumen empfand.

Lena war nur als schwach leuchtender Schatten vor dem gleißenden Leuchten zu erkennen.

<Es gibt nicht nur hier, wo der Winter das Leben schlafen lässt, Bäume.> Damit erfüllten Janessa Gefühle der Liebe und Dankbarkeit von Bäumen, die noch weit älter waren, als alle, zu denen sie bisher Kontakt aufgenommen hatte. Sie führten ihr vor Augen, was sie bisher schon alles für Pflanzen und Bäume getan hatte und zeigten ihr, wie vielfältig pflanzliches Leben auf Terralt sein konnte. Sie lernte auch Bäume kennen, die anders waren, als alle, die sie bisher berührt hatte und sie lernte viel.

Lena war zu Janessas Körper zurückgekehrt und wachte über ihn, auch wenn selten jemand in das Gewächshaus kam. Sie sah voll Liebe auf den zusammengesunkenen schlanken Körper der Hüterin der Bäume zu ihren durchscheinenden Füßen hinunter. Sie war schließlich immer noch ein Geist und wurde deswegen von Wänden und Türen nur wenig behindert, wenn sie sich durch das Gelände rund um die Wassermühle bewegte, in der sie vor so vielen Jahren ums Leben gekommen war. Die Jahrzehnte nach ihrem Tod waren schrecklich gewesen und deswegen war sie jetzt umso dankbarer für die offene Freundschaft, die besonders die drei Mädchen ihr entgegenbrachten, seit sie zu ihrer Wassermühle gekommen waren. Sie waren die Freundinnen, die sie zu Lebzeiten kaum gehabt hatte und sie war jetzt wieder fast so glücklich, wie in den wenigen Jahren, die sie zusammen mit ihren Eltern hier gelebt hatte, bis die Mehlstaubexplosion schließlich alle drei getötet hatte. Wenn sie Janessa jetzt dadurch helfen konnte, dass sie über ihren Körper wachte, machte sie selbst glücklich. Sie hob ihren Kopf, als Menschen um die Mühle kamen, die sich lautstark stritten.

Das waren ja Lecado, Esther und der Gildenmeister der Magie?! Sie konnte sich nicht daran erinnern, Lecado, die junge Assassine, jemals so wütend gesehen zu haben.

„Was ist das bloß wieder für eine bescheuerte Idee?“, wetterte Lecado los und stapfte hinter Esther und dem Gildenmeister her. Auch Esthers Augen blitzten, während sie wütend hinter dem ruhig, ja fast amüsiert wirkenden Gildenmeister der Magie herging, dessen Gesicht sich aber verfinsterte, ehe er sich zu Lecado umwandte.

„So, jetzt sind wir wenigstens etwas aus der Hörweite deines Bruders“, begann er und musterte die wutschnaubende Lecado streng. „Was sollte das gerade?!“

Lecado setzte zu einer Erwiderung an, doch Hartmut von Hohenried schnitt ihr sofort das Wort ab.

„Dein Bruder ist auf Einladung der Sechs hier und mit Auftrag deines Gildenmeisters und du führst dich auf, als wäre es das Schlimmste, was hätte passieren können!“

„Aber ...“

„Es ist schon klar, dass du ihn vor einigen Monaten weggeschickt hast, da du dich geschämt hast; sowohl wegen deines Versagens beim Umbringen der Mädchen und weil sich bei dir doch wahrhaftig die Anfänge eines magischen Talents zu zeigen begannen.“

„Aber ...“

„Und da hast du ihn lieber gleich weggeschickt“, fuhr der Gildenmeister ungerührt fort, während Lecado ihren Mund auf und zu machte, als wäre sie ein auf dem Trockenen liegender Fisch. „Was du aber nicht wusstest, war, dass sowohl Mara als auch Esther ihn schon durch Zufall kennengelernt hatten und er nicht nur ein beeindruckendes Talent besitzt.“

Lecado schwieg, sah ihn aber jetzt verdutzt an.

„Was du nicht weißt, ist, dass auch er durch den kurzen Einfluss im Umkreis der Sechs ein eigenes magisches Talent entwickelt hat: Er spürt die Anwesenheit von Giften und kann sie umwandeln, ohne sie auch nur zu berühren.“

Lecados Augen wurden groß und sie schluckte.

„Auf der einen Seite sind sowohl dein Gildenmeister als auch ich der Meinung, dass hier so jemand dringend gebraucht wird. Auf der anderen Seite wird sein Talent hier bestimmt auch noch wachsen.“

„Die Unsichtbaren!“, hauchte Lecado fassungslos und der Gildenmeister nickte, während ihn jetzt Esther fragend ansah.

„Es gibt innerhalb der Assassinen eine Gruppe, die seit Jahrhunderten nichts anderes macht, als Angriffe auf das Leben wichtiger Personen zu verhindern. Da nur die Gildenmeister der Assassinen wissen, wer dazugehört, werden sie seit alters nur 'die Unsichtbaren' genannt.“

„Aber ...“ Lecado erwartete fast, wieder unterbrochen zu werden, doch das passierte nicht. „Wieso sagt ihr mir das denn jetzt?“, vollendete Lecado und schluckte dann. „Weil ich auch ...“

Der Gildenmeister nickte und grinste. „Natürlich. Dein Talent und deine Aufgabe passen beide zu dem, was die Unsichtbaren machen. Nur, dass es bei dir bekannt ist und sogar sein soll.“

Lecado lachte befreit auf und schüttelte ihren Kopf, ehe sie wieder ernst wurde, ihre rechte Hand über ihren Brustpanzer hielt und sich nacheinander vor Esther und dem Gildenmeister verbeugte.

„Könnt ihr mir meine Torheit noch einmal verzeihen?“, bat sie und es war Esther, die antwortete.

„Einer guten Freundin zu verzeihen ist nicht schwer, aber es wird schwieriger werden, deinen Bruder wieder freundlich zu stimmen“, erklärte sie grinsend. „Der hat schon den ersten Rauswurf erst verstanden, als ich es ihm erklärt habe.“

„Du hast ...?!“ Lecado wusste nicht, was sie sagen sollte und entschied sich dann spontan einfach dafür, die Hüterin der Menschen zu umarmen.

„Danke, Esther. Ich kann manchmal ziemlich impulsiv sein“, versuchte Lecado sich zu verteidigen.

„Ach wirklich? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen“, behauptete Esther nur und erwiderte die Umarmung.

„So und wo das nun geklärt ist, sollten wir zu deinem Bruder zurückgehen und du bringst ihn zu seinem neuen Zimmer.“

„Aber wo soll das denn sein?“, wunderte sich Lecado.

„Euer neues Haus ist heute teilweise fertig geworden“, informierte sie Esther und Lecado holte tief Luft.

„Gott sei Dank! Die provisorischen Hütten am warmen See sind einfach nicht warm zu bekommen“ stellte sie fest. „Wie viele könnten dann jetzt schon einziehen?“

„Wenn ihr euch Zimmer teilt, müsste ihr jetzt eigentlich schon alle ein Plätzchen finden“, erklärte Hartmut von Hohenried.

„Das ist nun wirklich kein Problem“, stellte Lecado fest und die Drei verschwanden wieder um die Wassermühle herum zum Eingang der Mühle, vor der der Wagen stand, mit dem Mara den Gildenmeister und den neuen/alten Assassinen der Pyramidengarde zur Mühle gebracht hatte. Die Pyramidengarde hießen die Wächter, die aus Mitgliedern der Gilde der Magie und der Gilde der Assassinen in Erinnerung an die Zeremonie, in der sich die drei Mädchen und drei Jungen zu der ungewöhnlichsten Rettungstruppe zusammengefunden hatten, die Terralt seit Langem erlebte. Während der Zeremonie in der Kirche von Portbach hatte das Symbol einer dreischenkeligen Pyramide eine große Rolle gespielt.

Lena wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Janessa zu, deren Zustand sich immer noch nicht geändert hatte. Fedora und ihr Bruder waren Geister, die sich den Sechs nach ihrer Befreiung ihrer Seelen aus den Fängen des schwarzen Grafen angeschlossen hatten. Sie würden noch eine Zeit lang in der Bibliothek von Sankt Grenwald sein. Zusammen mit der Frau von WiseGuy versuchte Fedora dort, ein Buch aus einem Regal zu nehmen und alleine aufzuschlagen und umzublättern. Ihr Bruder interessierte das wohl ziemlich wenig, aber er hielt sich jetzt, wo er auch mit dem ewigen Licht auf der Geistebene Kontakt gehabt hatte, an sein Versprechen, immer auf Fedora aufzupassen. Dass er sein Alter noch nicht verändern konnte und damit immer noch jünger als seine Schwester war, interessierte ihn dabei überhaupt nicht. In Wirklichkeit war ihm nur zu klar, dass er seine Schwester fast verloren hatte, als diese sich nach ihrer Befreiung aus freien Stücken den Sechs angeschlossen hatte.

Lena überlegte, ob sie noch einmal hoch zur Geistebene wechseln sollte, als sich Janessa Brustkorb unter einem tiefen Atemzug hob und senkte und sie ihre Augen aufschlug. Sie war erleichtert und dankbar, als sie jetzt wieder das Feuer in ihren Augen sehen konnte, dass sie seit dem Zugunglück vermisst hatte.

„Danke, Lena“, meinte Janessa nur schlicht und umarmte die überraschte Lena, die rasch ihre Stofflichkeit erhöhte. „Vielleicht kann ich heute Nacht zum ersten Mal wieder richtig schlafen.“

Lena grinste sie an. „Ich bin nachts gerne mit dir zusammen, aber du hast einfach noch so einen blöden Körper und dem geht es besser, wenn er ausschlafen kann.“

Janessa erwiderte nichts, sondern verließ das Gewächshaus. Dort setzte sie sich auf das feuchte aber nicht kalte Gras und machte sich daran, sich zu entspannen und beide Hände mit den Handflächen flach auf das Gras zu legen. Dann ging ein blaues Leuchten durch ihren Körper und ein Geräusch, wie Wind der durch Bäume strich, schien aus dem Nichts zu kommen. Das Leuchten nahm immer mehr zu und bildete schließlich eine Art Ring um Janessa. Gleichzeitig schien auch das Rauschen nicht vorhandener Blätter immer lauter zu werden und dann zu verstummen. Das blaue Leuchten verschwand und hinterließ in einem Ring um Janessa seltsam aussehende Früchte und Samen.

„Was war das denn?“, kam Vanessa neugierig mit Epharim zu ihnen hinüber geschlendert und beide blickten auf die Samen hinunter, die Janessa nun in eine Holzkiste packte, die im Gewächshaus stand. „Epharim meinte sofort, dass das gerade deine Magie war, aber trotzdem anders als sonst.“

„Er hat recht“, erwiderte Janessa und behielt einen dunkelbraunen Samen zurück, während sie die Kiste in ein einfaches Regal stellte. „Es ging mir nicht gut und Lena hat mich mit anderen Bäumen bekannt gemacht, die jetzt nicht schlafen.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass da etwas auf der heiligen Ebene passiert ist“, ereiferte sich Vanessa an Epharim gewandt.

„Ist ja schon okay“, wehrte der Junge ab, der immer noch sehr schlank war, aber nun auch nicht mehr wie ein kleiner Junge, sondern auch so etwa alt wie die Hüterin der Tiere aussah. „Es war aber kein Gottesdienst.“

„Das habe ich auch nicht gesagt“, entgegnete Vanessa und Janessa ging mit dem Samen in der Hand in Richtung Portbach.

Sie kniete sich ins Gras und legte wieder eine Hand flach auf das Gras. Sie schloss kurz ihre Augen.

„Van, meinst du, dass ich hier einen großen Baum pflanzen kann? Die Pflanzen sind damit einverstanden, aber hier sind doch auch irgendwo Mäuse und so etwas.“

„Besonders viele 'so etwas'“, konterte Vanessa und schloss ihre Augen. Eine gelbe Welle breite sich von ihr ausgehend auf dem Boden aus und flutete dann wieder zurück. „Es gibt keine Einwände, aber lass ihn bitte nicht zu schnell wachsen.“

Janessa nickte und konzentrierte sich auf den Samen, der bereits blau leuchtete, als sie ihn in den Boden steckte. Sie hatte keine Ahnung, wie die Art von Baum hieß, aber er gehörte zu einer Art, die etwas wie eine Art Netz über die ganze Welt aufspannte, in der jeder mit jedem anderen verbunden war. Sie konnten alle 'sehen' und fühlen, was jeder dieser Bäume irgendwo auf Terralt mitbekam und würden auch an allen Erinnerungen teilhaben, die dieses Netz von Bäumen gesammelt hatte.

Auch Esther kam nun zusammen mit Gabriele zu ihnen herüber geschlendert. Gabriele war vor einigen Monaten zu ihnen gestoßen und hatte mittlerweile faktisch die Praxis des Arztes von Portbach übernommen. Sie war immer noch der Akolyth von Esther und kontaktierte sie auch häufig über ihr Amulett, doch fand sie immer seltener Zeit, sich bei der Wassermühle sehen zu lassen. Ihr Mann Marc war für alle Holzarbeiten der neuen Bauten zuständig und tauchte meist erst abends auf, wenn die Arbeiten an den Bauten ruhten. Auch er hatte nur noch selten Zeit, mit Janessa, dessen Akolyth er war, durch den Wald zu streifen.

Janessa konzentrierte sich weiter auf den Samen und kanalisierte magische Energie in ihn hinein, die schon rasch dazu führte, dass sich ein Spross bildete, der sich ausdehnte und zum Licht schlängelte, wie in einer Zeitrafferaufnahme. Nur das es keine Trickaufnahme war, sondern ein Aspekt der Magie von Janessa.

„Ein Erinnerungsbaum!“, stellte Gabriele erstaunt fest und sah dabei sehr überrascht aus. „Marc wollte ja eigentlich mit dir im Frühjahr zu einem dieser Bäume fahren, die normalerweise nur in wärmeren Regionen wachsen.“ Sie warf einen Blick auf die Büsche, die innerhalb des Steinkreises nur kaum Blätter verloren hatten. „Aber es könnte hier wirklich funktionieren.“

„Was ist denn an diesem Baum so besonders?“, erkundigte sich Vanessa neugierig.

„Sie gelten einfach als etwas sehr Besonderes und es würde nie jemand auf die Idee kommen, so einen Baum zu fällen. Sie sollen Glück bringen und dort, wo sie stehen, eine große Heilwirkung haben“, erklärte Gabriele, während Janessas Magie abebbte und den kleinen Steckling von etwa 30 Zentimeter Höhe nun wieder sich selbst überließ. „Besonders bei Verwirrtheit des Geistes helfen sie, wenn der Kranke mehrere Nächte hintereinander in ihrer Nähe übernachten.“

Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Ein tiefer Ton überschwemmte mit einem Mal die Wiese und ein schwaches Leuchten war aus dem Dickicht zu erahnen, das sich hinter dem den Nebelschwaden des warmen Wassergrabens befand. Es kam von dem Ort, an dem sich einer der riesigen rechteckigen Steinblöcke befand, aus denen der große Steinkreis befand, der die Wassermühle in einem Durchmesser von etwas über 100 Metern umgab. Die Kinder sahen sich erstaunt an.

„Das hatten wir aber lange nicht mehr!“, stellte Esther fest. „Jemand versucht, zu unserem Steinkreis zu reisen.“

„Wo ist denn ...?“Epharim konnte seine Frage gar nicht mehr beenden, bevor die Luft dicht neben ihnen flimmerte und eine blonde Frau von Anfang dreißig erschien und gleichzeitig besorgt und gehetzt aussah.

„Könnt ihr bitte gleich zur Mühle herüberkommen?“, bat sie die Kinder und sah besonders Esther an. „Das sind Elly und Tschorna und ich weiß nur, dass es bei dem Steinkreis, den sie gerade wiederbeleben, Probleme gibt.“

„Natürlich Taraz. Wir kommen sofort“, beruhigte sie Esther, und Taraz nickte und verschwand sofort wieder, während sich über den acht Steinen Lichtbogen bildeten, die sich über der Wassermühle zu treffen schienen, in deren einer Wand der Mittelstein des Steinkreises mit eingebaut war.

„Die sah aber besorgt aus!“, stellte Vanessa fest, als sie zu der Hintertür der Küche hinüberliefen.

Das Leuchten und der Ton schwollen immer mehr an, bis sich das Licht schließlich im Schnittpunkt der Bogen zu vereinigen schien und zu Boden stürzte. Das sah schlimmer aus, als es war. Das Licht erhellte den Steinweg und die Wiese direkt vor dem Hintereingang, dass sich alle kurz abwenden mussten, und als sie wieder hinsehen konnten, standen Elly und Tschorna direkt neben der Tür und vor dem großen Stein, der immer noch nachglühte und Taraz materialisierte sich neben ihnen, während Elly langsam in sich zusammensank, noch ehe Tschorna reagieren konnte, deren Karan, der belebte Kristall in ihrer Stirn, gerade wieder erlosch.

„Oh Gott!“, hauchte Janessa entsetzt, als sie die schmutzige Kleidung und besonders das Rot bei Elly erblickte.

Esther erreichte Elly nur knapp vor Gabriele und ihr Armband leuchtete bereits feurig rot, ehe sie Elly berührte.

„Ist schon okay“, flüsterte Tschorna leise und schwankte, ohne umzukippen und versuchte sogar zu grinsen. „Es sieht schlimmer aus, als es ist. Das ist nur Tierblut, auch wenn das schon eklig genug ist“, erklärte sie und nickte Gabriele dankbar an, die das schmächtige Mädchen am Arm aufrecht hielt.

Die Tür der Küche wurde von innen aufgerissen und Eva stürmte heraus. Die Augen der Mutter der drei Hüterinnen weiteten sich erschreckt, als sie die beiden Mädchen sah, die schon ein sehr ungewöhnliches Paar abgaben.

„Tierblut!“, rief Esther nur. „Den beiden geht es sonst gut. Ich habe sie schon untersucht.“

„Aber wieso ...“

„Lasst uns bitte erst einmal zu Atem kommen“, bat Tschorna und klang immer noch vollkommen außer Atem. „Das sah im Steinkreis Tirnan Arrachal plötzlich so gefährlich aus, dass mir keine andere Wahl mehr blieb, als uns in Sicherheit zu bringen, aber wenn Karan so rasch handelt, nimmt es alle Lebewesen, die nahe bei mir stehen, ziemlich mit.“

Taraz wurde blass und starrte die beiden entsetzt an und löste sich auf, während alle nur noch in ihren Köpfen ein gequältes <Tirnan- Arrachal!> hörten und von einer Welle so unterschiedlicher Gefühle überrollt wurden, dass sie nur noch verblüfft auf die Stelle starren konnten, an der Taraz gerade verschwunden war.

„Was hat sie?“, fragte Vanessa verwirrt und ihre Mutter schluckte.

„Wenn ich das Chaos richtig verstehe, dass sie da gerade gesendet hat, kennt sie den Namen ganz genau und es etwas sehr, sehr Persönliches damit verbunden“, versuchte Eva das zu deuten, was sie gerade gespürt hatte.

Der Edelstein, der mitten auf der Stirn des vielleicht 14jährigen Mädchens mit den schulterlangen blonden Haaren mit den mittelbraunen Strähnen saß, fing träge an zu leuchten und sprach mit dem Mund der Hohepriesterin der Volksstämme der Karane.

„Es tut mir Leid, dass wir meinen Plan nicht zu Ende bringen konnten, ehe ich Taraz davon berichten konnte“, erklang eine Stimme, die weitaus älter war als die natürliche von Tschorna und ehrliches Bedauern schwang in ihr mit. „Ich wisst ja, dass Steinkreise, wenn sie lange bestehen und der gewaltigen Erdmutter dienen, schließlich eine eigene Persönlichkeit entwickeln.“

„Zwei kennen wir ja schon persöhnlich: Taraz und Sofania“, bestätigte Esther.

Karan ließ Tschorna nicken und fuhr dann fort: „Was ihr noch nicht wisst, ist, dass es auch bei diesen Persönlichkeiten Frauen und Männer gibt.“ Man hörte, wie fremd Karan dieser Teil der menschlichen Existenz war, auch wenn sie die Auswirkungen ja schon seit vielen Jahrtausenden quasi aus erstem Kopf erlebte.

„Die Verkörperung des Steinkreises, den ihr gerade wiederbelebt, ist der Partner von Taraz?!“, mutmaßte Eva und Karan ließ Tschorna erneut nicken.

„Taraz braucht sich dabei überhaupt keine Sorgen zu machen“, erklärte Karan und pulsierte jetzt kraftvoll auf Tschornas Stirn, wie um das noch zu bekräftigen. „Es fehlt noch der Priester oder die Priesterin, aber wir können die Zeremonie auch alleine durchführen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Statt den oder die zu finden, kamen dann plötzlich gleich zwei Gruppen und wollten am Steinkreis opfern. Ein weiterer Clan meiner Karane und eine andere Gruppe, die mich sehr an Menschen erinnert hat, die zu meiner letzten Zeit unter den Menschen auf den Inseln im Osten des Mittleren Meeres wohnten und viele verschiedene Götter verehrten.“

„Griechen?“, meinte Eva stirnrunzelnd. „Wo wart ihr denn?“

„Wir waren in Tirnan Arrachal und das ist wohl in der Nähe des Mittleren Meeres, aber viel weiter im Westen, noch auf diesem Kontinent kurz vor der Gebirgskette, hinter der die riesige sanfte Ebene liegt.“

„Sie meint das Pyrenäen-Gebirge in dem Gebiet, das auf Terra Frankreich heißt“, kam mit einem Mal eine tiefere Jungenstimme aus der offenen Küchentür und Pascal, der älteste der drei Jungen, die die Kräfte von Terralt verkörperten, trat heraus und sah dabei sehr ernst aus.

„Woher weißt du das denn?“, erkundigte sich Esther erstaunt und Pascal feixte.

„Hey, ich werde doch wohl wissen, wo ich herkomme“, beschwerte er sich. „Und da ich euch sowieso irgendwann einmal dahin einladen wollte, habe ich mich erkundigt, wie diese Gegend bei euch heißt. Aus Arrachal ist übrigens im Laufe der Zeit Arrac entstanden.“

„Und du heißt Pascal de l'Arrac“, beendete Eva verblüfft den Gedankengang.

02 Der Steinkreis von Tirnan Arrachal

Pascal hob mit ernstem Blick eine Augenbraue und meinte nur trocken: „Das kann ich jetzt schlecht bestreiten. Seit ich mich dafür entschieden habe, bei meiner Mutter und Charly zu bleiben, ist mein Name Pascal de l'Arrac und ich erinnere mich sogar an einen bewaldeten Hügel ein ganzes Stück von dem Haus meiner Mutter, das der Wald von Arrachal genannt wird.“

„Also rot steht dir nicht“, stellte Tschorna gerade mit einem kritischen Blick auf Elly fest und ihre Augen glitzerten. Die trockene Art, wie sie das herausbrachte, ließ dabei keinen Zweifel aufkommen, dass sie es war, die hier sprach und nicht die mächtige, uralte Wesenheit des Karan, der jetzt als gut sichtbarer durchsichtiger Edelstein ihre Stirn knapp über der Nasenwurzel zierte und nach dem, was die Sechs bisher gelernt hatten, eine Wesenheit war, die sogar noch älter als die Steinkreise war, die es auch schon lange vor den Römern gegeben hatte. Karan ließ sich dabei nie mit Fragen in die Enge treiben und selbst der redegewandte Gildenmeister der Magie hatte letztendlich nur ein mildes Lächeln geerntet, ehe sich die Wesenheit einfach in den Hintergrund zurückgezogen und Tschornas Ich das Feld überlassen hatte.

„Es tut mir Leid, Gildenmeister“, hatte Tschorna damals auch grinsend erwidert. „Karan will nichts sagen und ich weiß es nicht.“

Hartmut von Hohenried hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt. „Es ist schon traurig, wie wenig gewillt Karan ist, unsere Fragen zu unserer Vergangenheit zu beantworten. Es ist ja noch nicht einmal klar, ob Karan männlich oder weiblich ist.“

Der Edelstein pulsierte kurz auf. „Das ist nun aber wirklich eine der unwichtigsten Fragen!“, stellte Karan fest und schaffte es, mit dem Gesicht der 13jährigen Vertreterin des Volkes der Karane einen Gesichtsausdruck zustande zu bringen, der ihr/sein ganzes Bedauern über die unreifen Fragen eines Kindes beinhaltete. Es blieb dem Gildenmeister der Magie nichts anderes übrig, als sich ehrerbietig vor Karan zu verbeugen und geschlagen zu geben. Sie wussten mittlerweile, dass Karan den Kristall nur aus Höflichkeit zum Leuchten brachte, wenn sie die Stimme von Tschorna nutzte. Trotz ihrer nur kurzen Besuche im Steinkreis von Portbach kannten alle das Gespann Tschorna/Karan aber gut genug, um auch so klar zu erkennen, wer da gerade sprach; und in diesem Moment war es Tschorna, die bei den Reisen, die sie zusammen mit Elly schon unternommen hatte und der Nähe zu einem Wesen, das über das Wissen von Jahrtausenden verfügte, viel an Selbstsicherheit und Ausstrahlung gewonnen hatte, ohne dabei ihre kleine Eigenarten zu verlieren.

„Rot steht dir wirklich nicht“, wiederholte sie nochmals und hatte Mühe, das Lachen aus ihrer Stimme zu verbannen. „Außerdem magst Du doch gar kein Rehfleisch; besonders, wenn es auch noch roh ist!“

„Also ich habe ganz deutlich gesehen, dass dieser nette Mann mit dem beeindruckenden schwarzen Schnäuzer in seinem Bettlaken mit den Flecken dieses liebe Geschenk eigentlich dir geben wollte, ehe er sich in dem Bettlaken verhedderte und die Gabe noch das Fliegen lernte.“

„Er ist nicht gestolpert, sondern der fesche Mann in seinem Lederdress, der mir liebenswerterweise frisches Obst schenken wollte, hat ihn ganz böswillig geschubst.“

„Ach deswegen hat ihm dann der Mann in dem Bettlaken mit dem Schnäuzer das Metalltablett über den Kopf gehauen“, ging Elly scheinbar ein Licht auf und brach in Gelächter aus, in das nicht nur Tschorna mit einstimmte. Die Vorstellung der beiden unterschiedlichen Verehrer stand allen ziemlich plastisch vor Augen. Das Gelächter schallte über die Wiese und holte sogar Taraz wieder herbei.

„Warum seid ihr dann geflohen?“, erkundigte sich Eva, als sich alle wieder etwas beruhigt hatten.

„Weil zu diesen beiden Priestern noch je eine Gruppe von Anhängern gehörte, die dann auf die jeweilig andere Gruppe losgeschlagen hat“, erklärte Tschorna und Karan ergänzte rhythmisch leuchtend. „Es ging dabei aber eher darum, möglichst spektakulär zu verschwinden, damit beide Gruppen merken, wie dumm und kindisch sie sich verhalten haben.“

„Und der Kreis ...“, warf Taraz für ihre Art schon außergewöhnlich ängstlich ein und Karan wandte sich zu ihr um und jeder spürte die gewaltige Welle positiver Energie, mit der sie Taraz überrollte.

„Dem geht es gut und es fehlt ihm nur noch die Zeremonie, für die Elly zuständig ist, um ihn vollends zu wecken. Ich habe jedenfalls nichts gespürt, was darauf hindeutet, dass es einen Grund gibt, sich Sorgen zu machen.“

Taraz verbeugte sich tief vor ihr, und Eva und Esther sahen die große Erleichterung auf ihrem Gesicht und sahen sich verstehend an.

„Wann ...“, begann Taraz und brach dann wieder ab.

„Allzu lange sollten wir nicht warten“, warf Elly ein und grinste. „Sonst vertragen sie sich miteinander und haben dann aber keine Lust mehr, noch länger auf uns zu warten.“

„Kann ich ...“, begann nun Pascal und Tschorna/Karan blickten genervt zum Himmel.

„Bitte sprecht doch in ganzen Sätzen!“, bat Karan. „Es hat lange genug gedauert, bis die Menschen genug Sprache entwickelt hatten, dass ich mich mit ihnen über den Schöpfer, das Leben, den Tod und solche Dinge unterhalten konnte.“ Damit wandte sie sich um und fixierte WiseGuy, der auch gerade mit Grace herübergekommen war.

„Es ist nach der Skala von Terra bedeckt, aber nicht am regnen und 21 Grad Celsius.“ WiseGuy war so erstaunt, dass er gar nichts erwidern konnte, denn es war ihm gerade durch den Kopf gegangen, dass es doch vielleicht eine nette Idee wäre, einen Ausflug in den Süden Frankreichs zu machen, auch wenn es auf Terralt gar kein Frankreich gab, oder Deutschland, oder Italien, oder ...

„Es wäre für euch bestimmt auch gut, hier einmal herauszukommen und die Karane bedanken sich in der Regel abends auch häufig mit einem Fest“, stellte Karan fest und fuhr dann in Evas Richtung gewandt fort. „Es wird für die Sechs sicher lehrreich, da sie bisher auch noch nie mit den Romanas zu tun hatten. Leider sind sie nur noch ein trauriges Echo der Römer, wie ich sie noch kennengelernt habe.“

„Schaffst du uns denn alle?“, zweifelte Vanessa, was an sich schon ungewöhnlich war. Es war sonst das Vorrecht ihres Alters, sich über so etwas nur selten Gedanken zu machen.

„Zusammen mit Taraz wird das überhaupt kein Problem sein. Wir sollten aber nicht mit allzu Vielen dort auftauchen. Vielleicht erst einmal nur mit euch sechs und eurer Mutter.“

Alle stoben auseinander und machten sich für einen kurzen Trip bereit. Die Aussicht auf einen Vorgeschmack auf den kommenden Frühling ließ sie aufleben. Der Winter war ungewöhnlich lang und schneereich gewesen, und auch wenn sie hier die Kombination aus den heißen Quellen und den Wetterfähigkeiten der drei Jungen vor schlimmer Kälte verschonte, ging das Wetter allen ziemlich auf die Nerven.

Taraz ging noch ihren Pflichten nach und informierte erst Eva, dann Esther und schließlich Lecado darüber, dass die Gemeindevorsteherin von Erlöserstadt sie gerne via Steinkreis besuchen würde, aber nur Lecado schien sich in der allgemeinen Aufbruchstimmung dafür zu interessieren.

Esther hatte es aber durchaus mitbekommen, auch wenn sie mit der Frage nach einer passenden Garderobe vollauf beschäftigt zu sein schien.

Als die junge Frau im Schimmer der Verbindung zwischen den Steinkreisen von Tirnan-Hohg und dem von Steinkreis sichtbar wurde, musste sie wieder unwillkürlich an jemanden denken, den sie bisher immer noch nicht kannten: denjenigen, der für kurze Zeit die Führung über den Geist des gerade gestorbenen ehemaligen Pfarrers von Erlöserstadt übernommen und sie zu töten versucht hatte, ehe Lena sie gerettet hatte. Denjenigen, der wahrscheinlich jetzt noch große Schmerzen an dem Finger hatte, an dem er das Gegenstück zu dem Ring getragen hatte, über den die Verbindung zu dem Pfarrer von Erlöserstadt lief, der auch der Züchter genannt wurde. Was für ein Scheusal das wohl war?!

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Scheusal? Wer ihn in diesem Moment gesehen hätte, hätte sich über so eine Bezeichnung wohl eher gewundert.

Der nachfolgende Teil gehört genau an diese Stelle, da er zeitlich genau hier hinpasst, aber meine Ehre als Chronist von Portbach zwingt mich dazu, darauf aufmerksam zu machen, dass ich ihn erst Monate später so genau klären konnte, wie er jetzt hier auftaucht. Dazu musste es mir erst gelingen, den widerspenstigen Ring, den mir der Gildenmeister der Magie gegeben hat, zu beherrschen. Erst dann war es möglich, die kommende Szene im magischen Raum wieder erstehen zu lassen. Es ist mir jedoch wichtig, damit die Möglichkeit zu schaffen, die tragische Figur etwas genauer darzustellen. Auch auf Terralt ist niemand nur gut oder nur böse. Wer das glaubt, verkennt die Tiefe des Auftrages, den uns die Bibel so eindrucksvoll übermittelt. Wir haben die Entscheidung, ob wir uns gut oder schlecht entscheiden; und das immer und immer wieder. Bitte entschuldigt den Einschub, aber ich habe mich nun einmal dafür entschieden. Gezeichnet von WiseGuy, Chronist von Portbach

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Der Bischof vom Rheinbogen stand gerade, in seinen dicken schwarzen Umhang gehüllt, auf dem windgeschützten Balkon seiner Villa, die etwa 20 Meter vom Rheinufer entfernt auf einer Anhöhe stand und aus so mächtigen Steinblöcken erbaut worden war, dass es sie schon mehrere Jahrhunderte gab und wohl auch noch Jahrhunderte vor ihr lagen. Überall gab es Bogen, die auch diesen Balkon zum steil abfallenden Garten abgrenzten und dabei den scharfen Wind und auch das heute endlich einmal recht helle Licht abhielten. Wenn es regnete, war es in den Räumen hinter den großen Fenstern schnell so düster, dass man ohne genügend Kerzenleuchter nichts mehr sah.

Nur im Hochsommer konnte man auf dem immer kühlen, gut zwei Meter tiefen Balkon, der sich über die gesamte Breite der Villa erstreckte, angenehm sitzen, was der Bischof dann auch gerne tat. Im Moment brauchte er aber den dicken Wollumhang, als er an dem Steingeländer lehnte, in seiner Rechten ein gut gefülltes Weinglas haltend.

Unten floss der Rhein breit und träge vorbei und die Kähne, die stromauf fahren mussten, waren klar im Nachteil. Wenn er den Berichten glauben konnte, die er im Laufe der Jahre über Terra gesammelt hatte, hatten die Menschen dort ohne die Beschränkungen durch die verfluchte Magie nicht solche Probleme. Er hoffte darauf, dass diese Beschränkungen auch wegfallen würden, wenn er sein Ziel endlich erreicht und die verfluchte Magie vom Angesicht von Terralt getilgt hatte.

Der Bischof merkte gerade noch rechtzeitig, dass er seinen Griff um das bauchige Weinglas so verkrampfte, dass es fast zersprang und er fluchte leise vor sich hin, um sich dann sofort bei Gott dafür zu entschuldigen.

Auch wenn schon so manche unschöne Sache auf seinen Willen hin geschehen war, geschah alles aus seinem tiefen Glauben heraus ... und aus seinem Hass gegen die Magie und alles, wofür sie verantwortlich war.

Er hörte, wie hinter ihm die Tür des Wohnzimmers geöffnet wurde und kleine Kinderfüße sich in Holzschuhen ohne großen Erfolg bemühten, geräuschlos zu ihm hinüber an das Steingeländer zu schleichen.

„Mach bitte die Türe zu, Sarah“, meinte er und seine Stimme enthielt eine Weichheit, die ihm viele nie und nimmer zugetraut hätten.

„Och, Papa“, beschwerte sich eine Kinderstimme maulend. „Ich wollte dich doch überraschen.“

„Es tut mir leid, Kleines, aber mit Holzschuhen ist das auf diesen Fliesen schon mehr als unmöglich.“

„Mehr als unmöglich geht doch gar nicht“, warf seine älteste Tochter ein und der Bischof wandte dem vielleicht siebenjährigen Mädchen seinen Kopf zu und nickte anerkennend.

„Da hast du vollkommen Recht, Sarah!“, bestätigte er und sah seine Tochter liebevoll an.

Sie schloss gehorsam die Balkontür hinter sich und blieb dann unschlüssig und zitternd stehen, bis er einladend seinen Umhang öffnete. Sie rannte zu ihm hinüber und stellte sich dann vor ihn, während er den Umhang wieder schloss. Leider konnte sie jetzt gar nicht mehr zum Rhein hinuntersehen, da das mächtige Steingeländer gerade auf der Höhe ihres Kopfes verlief, aber das schien ihr jetzt nicht wirklich etwas auszumachen. Sie wollte sowieso nur bei ihm sein. Es kam nicht oft vor, dass er schon so früh aus dem Bischofssitz nach Hause kam und seine drei Kinder noch nicht schliefen. Er sah auf ihren braunen Lockenschopf hinunter und starrte wieder zum Rhein hinunter.

Gerade schob sich ein sehr ungewöhnlich und schnell aussehendes Schiff von stromab in sein Gesichtsfeld und seine Gesichtszüge verloren mit einem Mal wieder alle Weichheit.

Dieses verfluchte Ding hatte er jetzt schon einige Male gesehen. Das war wieder so ein Testschiff von den Magiern aus Sankt Grenwald, Gott möge sie ... Dann tönte auch noch Lachen zu ihnen hinauf und das Gefährt kämpfte sich, begleitet von einem Summen und einem klackernden Geräusch, unchristlich schnell stromaufwärts. Ein junges Mädchen und ein junger Magiestudent in den typischen Farben eines der Häuser der Universität winkten nun auch noch zu ihnen hinauf. Der Bischof biss die Zähne so stark aufeinander, dass sie knirschten.

„Was ist, Papa?“, meldete sich seine Tochter ängstlich, die wohl nichts gesehen hatte, aber merkte, wie sich ihr Vater verkrampfte.

„Nichts, Sarah. Es ist alles in Ordnung“, beruhigte er sie und zwang sich dazu, sich zu entspannen.

Es fiel ihm schwer.

Immer, wenn er Magische sah, schrie ein Teil seiner Selbst auf, zu dem er seine Verbindung schon vor vielen Jahren verloren hatte. Er war nur ein wenig älter als Sarah gewesen, als ihn seine Eltern voll Stolz auf eine Schule geschickt hatten, die über die besten magisch begabten Lehrer weit und breit verfügen sollte. Weder in der Familie seiner Mutter noch in der seines Vaters hatte es jemals nennenswerte magische Begabungen gegeben und seine Eltern hatten nun gehofft... Es versuchte, alle weiterführenden Gedanken an diese Zeit im Keim zu ersticken. Besonders ein 'magisch begabter Lehrer' hatte sich sehr um ihn bemüht, doch ging es dabei nicht um das Wecken seiner magischen Fähigkeiten, sondern darum, ihn mit Magie gefügig zu machen und dann zu benützen, wie man ein Handtuch benutzt, um seine Hände abzutrocknen.

Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem der spätere Bischof erkannte, dass die Magie nur das Werk des Teufels sein konnte!

Im darauffolgenden Sommer war er, aufgrund seiner überragenden Leistungen in der Schule nach Süden gereist und hatte die Eliteschule in der Nähe des Papstsitzes besucht. Er hatte viel gelernt und war rasch in der Hierarchie der Kirche aufgestiegen, nachdem er auch genauso rasch begriffen hatte, dass er seinen Hass auf die Magischen am Besten erst einmal für sich behalten sollte. Jedenfalls, bis die Zeit reif war und er einen Weg gefunden hatte, alles Magische zu bekämpfen. Dann war er auf seinen Wanderungen durch das Gebirge auf eine Gruppe von Menschen gestoßen, die seinen Hass auf alles Magische teilten und sich die 'Einzig Wahren Gläubigen Christi' nannten.

Geistesabwesend strich er seiner Tochter über ihr Haar, während das Versuchsboot der Universität von Sankt Grenwald unaufhaltsam stromauf fuhr.

Mittlerweile war er auch ihr Bischof und damit einer ihrer höchsten Würdenträger und stand kurz davor, seine Rachepläne endlich in die Tat umsetzen zu können, damit seine Kinder in einer reinen und sauberen Welt aufwachsen konnten, die nicht von den Auswüchsen des Bösen verpestet wurde. Er war also ein Bischof zweier Kirchen!

„Komm, Kleines“, meinte er liebevoll und fasste sie sanft an ihren schmalen knochigen Schultern. „Lass uns besser wieder hineingehen. Das Essen ist doch bestimmt auf fast fertig. Weißt du denn, was es gibt?“

Sarah wusste er natürlich schon und sie berichtete ihm über alles, was sie unten im Küchenbereich herausgefunden hatte.

Ehe er die Verandatür verschloss, warf der Bischof noch einen triumphierenden Blick in Richtung des verschwundenen Versuchsbootes, während wieder einmal eine Schmerzwelle durch seinen Arm schoss, weil sein Ringfinger noch immer nicht wieder ganz in Ordnung war, wo das Fleisch um den verfluchten Zwillingsring dieses idiotischen Pfarrers aus Erlöserstadt fast verbrannt war. Sollten sie jetzt ruhig noch lachen. Es würde nicht mehr lange dauern und er war derjenige, der Grund haben würde, laut zu lachen, während das Feuer das Werk des Teufels vom Angesicht Terralts reinigte. Man hatte ihm ein altes Buch eines ehemaligen Mönches aus Terra zukommen lassen, der solche Reinigungen durch Scheiterhaufen genau beschrieb.

So in etwa stellte sich der Bischof dann auch die Lösung des Problems vor. Mit einem entschlossenen Ruck verschloss er die Verandatür und wandte sich um, um seiner Tochter zum Esstisch zu folgen.

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Als der helle Lichtschein verflog und wieder ein normales Sehen möglich war, standen zwei junge Mädchen direkt neben dem zentralen Stein des Steinkreises von Portbach genau an der Stelle, an der noch vor kurzem Tschorna und Elly aufgetaucht waren. Sie erschienen dabei so, wie sie immer ankamen. Die zarte Lynn mit den sanften Augen und den glatten braunen Haaren, die ihr mittlerweile weit den Rücken hinunterreichten, schaute in die Richtung des Mittelsteines, während Sofania, die dunkelhaarige Schönheit, die ein paar Jahre älter wirkte, hinter ihr stand und ihr die rechte Hand auf die Schulter gelegt hatte. In Wirklichkeit war Sofania weder nur ein paar Jahre älter als die vielleicht neunjährige Lynn, noch war sie überhaupt ein Mensch. Sie war die Personifizierung des Steinkreises von Tirnan Hohg und damit nur unwesentlich jünger als Taraz.

Beide rechneten dabei schon lange nicht mehr in Jahren oder auch nur Jahrzehnten.

Seit Lynn von den Sechs aus dem Bleibergwerk befreit worden war, hatte sie sich schon sehr verändert. Nicht so sehr äußerlich, auch wenn sie jetzt wieder vollkommen gesund war und auch, dass sie wieder fast 20 Zentimeter gewachsen war, machte nicht diesen Unterschied aus.

Während um sie herum die Beteiligten des Sprunges in den Süden Frankreichs langsam zusammenkamen, standen die beiden erst nur aufmerksam da und sprachen kein Wort. Sofania nahm ihre Hand von Lynns Schulter und beide drehten sich um, als die Sechs sie begrüßten.

Irgendwie schienen sich die beiden immer mehr auszutauschen. Sofania übernahm immer mehr von der Ruhe, die Lynn ausstrahlte und Lynn gewann an Kraft und Willen, je mehr sich die Priesterschülerin mit ihrem Steinkreis austauschte.

„Entschuldigt“, meldete sich jetzt Elly und zog umständlich den Wollumhang um ihre Schultern enger. „Karan musste schnell handeln, als diese beiden Gruppen wen auch immer ehren wollten, und da war der Steinkreis von Portbach dann doch der, der leichter zu erreichen war, als jeder der acht anderen, die wir schon wiederbelebt haben“, versuchte sie sich zu entschuldigen und Lynn winkte nur lächelnd ab.

„Ist schon okay.“ Ihr Lächeln ging in ein spitzbübisches Grinsen über. „Sofania hat es geschafft, in unserem Kreis das, was da bei euch passierte, sichtbar zu machen und das war einfach zum Schreien komisch.“ Nun grinste auch Sofania und nickte.

„Verehrt zu werden kann ja sehr angenehm sein, aber die beiden haben sich ja wirklich nur blöde angestellt“, erklärte sie. „Hallo Taraz.“

„Hat man euch früher wirklich rohes Fleisch geschenkt?“, wunderte sich Lynn und schüttelte sich.

„Ja“, übernahm Taraz das Antworten. Sie sah nun wieder viel selbstsicherer aus und hatte sogar rote Wangen. „Es ist aber schon sehr, sehr lange her. Ich habe aber eher das Gefühl, das uns da jemand verwechselt hat.“ Sie sah Sofania durchdringend an.

„Meinst du, du könntest meinen Kreis etwas im Auge behalten, Sofania? Ich weiß, es ist ziemlich viel verlangt, aber ...“

„Ich fühle mich geehrt!“, meinte Sofania und verbeugte sich huldvoll, wie eine spanische Tänzerin. „Du solltest dabei sein, wenn er auf die Seinsebene zurückkehrt“, entschied sie. „Es ist schließlich schon ziemlich lange her, dass ihr zusammengekommen seid, nicht wahr.“ Man spürte förmlich, dass es da noch viel mehr hätte geben können, was erwähnenswert gewesen wäre, doch die beiden Personifizierungen sahen sich nur an und umarmten sich. Sofania murmelte dann noch etwas und Taraz machte sich empört von ihr frei.

„Sofania, du bist manchmal unmöglich!“, entfuhr es Taraz.

„So ist sie halt“, stellte Lynn nur trocken fest und alle, die dem Austausch zugesehen hatten, lachten.

„Und ihr seid sicher, dass ihr niemanden der Pyramidengarde mit dabei haben wollt?“, vergewisserte sich Lecado, als sie mit Tschorna, gefolgt von ihrem Bruder auch um die Wassermühle herumkam.

„Keine Angst, Lecado.“ Tschorna sah dabei auch vollkommen entspannt aus und nahm ihren Rucksack auf, der mittlerweile auch wieder gesäubert worden war. Es war manchmal schon seltsam, wofür die drei Jungen ihre magischen Kräfte alles benutzen konnten. „Diese Leute sind nur ungeschickt. Das ist höchstens ein wenig ärgerlich, zumindest was den lokalen Clan der Kadane anbelangt.“

Damit hatten sie die kleine Gruppe erreicht und Janessa besah sich unauffällig den jungen Mann hinter den beiden. Dass es der Bruder von Lecado war, konnte sie wohl am besten von allen Anwesenden feststellen. Im Laufe der Monate hatte sie es gelernt, den Baumnamen jedes Lebewesens zu erfassen, der absolut unverfälschbar und genau war. Sie entschied, dass er wohl nicht ihr Typ war, aber ein interessantes magisches Talent entwickelte, dass für sie auch Teil seines Baumnamens war. Manchmal konnte sie diesen Teil schon lesen, aber sehr oft auch nicht. Seine buschigen schwarzen Augenbrauen und das tuffige schwarze schulterlange Haar sahen aber irgendwie künstlich aus. Und er hätte sich ruhig auch einmal rasieren können, fand sie.

Esther war schließlich die Letzte, die zu den anderen stieß. Eigentlich war es ja ziemlich bescheuert, nur für ein paar Stunden so einen Aufwand zu treiben, aber sie hatten alle den ewigen Schnee und das kalte Wetter satt und wollten jetzt einmal etwas Neues sehen. Sie 'sah' sich die Gruppe mithilfe ihrer speziellen Kraft an und Janessa spürte es wie immer und nickte ihr schüchtern lächelnd zu. Na endlich! Sie wusste jetzt wohl nicht, was da eigentlich geschehen war, aber endlich war diese Trübsal weg, der ihr schon große Sorgen gemacht hatte. Sie war schon kurz davor gewesen, sich mit ihrer Mutter zu beraten. Die Umwälzungen, die der ganze Übergang in Richtung zur Erwachsenen mit sich brachte, lag bei ihr noch nicht wirklich weit zurück, besonders, da er sich bei ihnen jetzt nicht über mehrere Jahre, sondern nur über mehrere Monate erstreckte. Sie ahnte daher, was für Selbstzweifel ihre Schwester quälten. Ihr fiel auch der neue Baum auf, der plötzlich in der Nähe des Portbachs stand und sie spürte, dass er etwas mit der Gesundung ihrer Schwester zu tun hatte. Wenigstens blieb sie noch von den körperlichen Veränderungen verschont, wie ihre eigene Oberweite, die dazu führte, dass sie andauernd ihre Kleindung verändern und dann auch noch die terraltische Version eines BHs tragen musste, während sie sie gleichzeitig auch noch zu verbergen versuchte. Trotzdem fing gerade sie als Hüterin der Menschen auch gerade noch besonders stark und unverblümt die Gedanken anderer Menschen auf und sie irritierten sie teilweise schon ziemlich. Sie irritierten sie, ohne dass sie sie beunruhigten, denn wenn eines sicher war, so war es die Tatsache, dass sie niemand gegen ihren Willen auch nur berühren konnte.

Sie hatte in den letzten Monaten sehr viel über die Menschen gelernt und konnte mittlerweile Prozesse fernsteuern, die viele derer, mit denen sie zu tun hatte, in Angst und Schrecken versetzt hätten, hätten sie es nur geahnt. Mara hatte es aber herausbekommen und ihr als gute Freundin zur Seite gestanden. Dafür war sie ihr dankbar und sie versuchte besonders an den Tagen, an denen sie ihre Tage hatte, immer zweimal zu überlegen, ehe sie spontan etwas tat, was sie später bereuen würde. Wenn sie auf Terra Bücher über magische Helden und Heldinnen gelesen hatte, war von solchen Dingen nie die Rede gewesen!

Auch jetzt hätte sie ihre Unterleibsschmerzen einfach ausblenden können, doch Mara hatte ihr klarmachen können, dass das genauso wenig sinnvoll war, wie eine völlige Kontrolle des Wetters durch die drei Jungen.

„Wirst Du denn überhaupt so viele Personen zu dem Steinkreis bringen können?“, zweifelte Taraz und sah auf die doch recht beachtliche Gruppe, die aus neun Personen und ihr selber bestand.

Karan schüttelte Tschornas Kopf und musterte die sechs Kindern/Jugendlichen, Eva und Elly eindringlich. „Sicher.“ Sie machte eine Pause und grinste noch mehr. „Wenn die Sechs endlich begreifen, dass sie selbst zwischen den Steinkreisen hin und her reisen können, wäre es natürlich noch einfacher, aber so muss ich den Prozess noch selbst starten.“

Damit leuchtete der Kristall auf Tschornas Stirn taghell auf und der Mittelstein des Steinkreises von Portbach reagierte darauf und sandte gleichzeitig einen tiefen sonoren Ton aus und pulsierte im selben Takt wie der Kristall. Dann schoss ein heller Lichtstrahl von ihm hoch und teilte sich hoch über der Wassermühle in acht Lichtbogen, die sich zu den Steinen des Kreises hinabsenkten. Als die Beobachter wieder zum Hintereingang der Wassermühle blickten, war die Gruppe verschwunden.

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Ehe wir den Sechs, Eva und den Steinkreiserweckern folgen, sollten wir die Zeit nutzen und einige Dinge klären, die die beiden Völker betreffen, denen sie begegnen werden.

Da wären auf der einen Seite die Karane, also das aus zwei Völkern entstandene Volk, dessen Ursprünge lange vor die Zeit des Christentums zurückreichen und von denen auf Terra praktisch nichts mehr übrig geblieben ist, bis auf einige seltsame Steine, die ein wenig wie einfache Darstellungen ziemlich dicker Frauen aussehen. Für sie ist Gott eine Mutter, die ewige Erschafferin allen Lebens und aller Welten und ihre Gesetze an die sie verehrenden Menschen spiegeln eigentlich schon alle wichtigen Regeln wieder, die wir im christlichen Lebensbereich auf Terra als die 10 Gebote kennen, aber leider nicht immer befolgen. Nur so konnte es passieren, dass sich die beiden Urvölker gegeneinander wandten und damit den Fluch über sich brachten, der erst durch die Sechs wieder gelöst wurde. Dieser Fluch verband die beiden Urvölker zu dem der Karane und zwang sie dazu, als Zeitnomaden durch den Kontinent zu ziehen. Sie konnten höchstens fünf Jahre am gleichen Ort bleiben, ehe er Krankheit und Tod über sie brachte. Es gab tiefe Verbindungen zu der alten Magie der Steinkreise und das führte dazu, dass sie häufig in der Nähe solcher Steinkreise anzutreffen waren, auch wenn diese zerstört worden waren. Außerdem wurden sie zu Söldnern, Handwerkern und, in geringem Umfang, auch zu Musikern und Gauklern und trafen dabei später auch auf die Fahrenden, nachdem diese aus dem Subkontinent von Indien nach Europa kamen. Es gab jedoch nie größere Auseinandersetzungen, weil die Karane ihr Dasein als Buße für die Frevel ihrer Vorfahren empfanden und nun besonders stark ihren moralischen Grundsätzen treu blieben.

Auf der anderen Seite gibt es an dem Ort, den die Gruppe gleich erreichen wird, auch eine Gruppe von Nachfahren der Römer, die sich immer noch Romanas nennen und ebenso starr an ihrem Glauben und ihren Gebräuchen festhalten. Neben dem mit vielen schillernden Gottheiten gefüllten Olymp beinhaltet das aber auch die Vorstellung von Herren- und Dienervölkern, dass bei uns auf Terra zu den pervertiertesten Denkweisen und Gruppen geführt hat. Wo auch immer solche Denkweisen auftauchen, sähen und ernten sie Tod und Tränen. Weder kann ein Mensch ein Stück der Erde und schon gar keinen anderen Menschen besitzen. Diese Tatsache ist auf Terralt noch um vieles deutlicher, als solche Menschen Schwierigkeiten haben, die alles umfassende Geistebene zu betreten. Damit sind sie auch von der Entwicklung der magischen Talente ausgeschlossen, die auf Terralt praktisch jeder Mensch (und auch einige andere denkfähige Wesen) mit in die Wiege gelegt bekommt.

Dies war auf Terralt dann auch der Aspekt, der zum Niedergang der Römer führte und sie schließlich zu den Verwaltern ihrer ehemals grandiosen Bauwerke machte, nachdem die Magie um sie herum immer mehr Macht erlangte.

Mittlerweile beschränken sich die Nachfahren der Römer auf die ehemaligen Zentren des alten Rom und rund um das Mittelmeer auf einige kleine Gruppen, wie beispielsweise die, auf die Tschorna und Elly getroffen sind.

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Wie sollte sie das Gefühl der Reise zwischen zwei Steinkreisen beschreiben? Spontan fiel Esther nur das Wort 'anders' ein, aber das hätte jetzt auch niemand verstanden. Trotzdem stimmte es. Es war anders als alles, was sie bisher kennengelernt hatte. Es fühlte sich an, als würde Karan zuerst den Zielkreis suchen. Das schien ein wenig länger zu dauern, da er noch nicht aktiv war. Während dieser Suche fühlte Esther sogar die anderen Kreise, die das Duo schon während der letzten Monate besucht und wiederbelebt hatten wie helle Punkte, die ihnen zunickten. Nicht alle waren stark und alt genug, um eine Art Mensch zu bilden, aber Esther erkannte alle Personifizierungen, die sie bisher gespürt hatte.

Ihr Ziel war ein Kreis, der irgendwie unfertig wirkte und sie spürte deutlich, wie Tschorna und Karan zusammen auf diesen Kreis zugriffen, ihn irgendwie über den von Portbach legten und dann den Raum dazwischen mit einem einzigen Schritt durchquerten. Das fühlte sich dabei noch nicht einmal besonders kompliziert an und Esther bemerkte ein kurzes Aufleuchten eines der Symbole auf ihrem Armband. Es hatte sie bisher immer irritiert, weil es zwei miteinander verbundene Kreise darstellte und dabei so aussah, wie das Zeichen, dass auf Terra entweder für den Wert 'unendlich' oder Heirat stand. Beides hatte aber irgendwie keinen Sinn gemacht. Sie schüttelte lachend ihren Kopf, als sie begriff, wofür das Symbol stand und Karan Recht hatte. Ein paar Versuche und sie würde auch in der Lage sein, frei zwischen den Steinkreisen hin und her zu reisen. Und wenn sie Karan glaubte, hatten alle Sechs so ein Symbol auf ihren Armreifen.

Währenddessen schien die Gegend um sie herum komplett ausgetauscht zu werden und sogar der Duft und das Licht veränderten sich schlagartig. Die Gruppe stand wieder auf einer Lichtung inmitten eines Steinkreises, doch der war im Durchmesser kleiner als der von Portbach, auch wenn die Steine selbst etwas größer zu sein schienen. Sie standen in einer Talsenke, von der nach beiden Seiten dicht bewaldete Hänge auf zwei Hügelketten anstiegen, die mit vielen alten Bäumen bewachsen waren. Der schwere Geruch, der von den Düften der Nadelbäume dominiert wurde, lag auf der Lichtung und die Sonne hatte hier definitiv schon bedeutend mehr Kraft, als im fernen Portbach.

Ohne eigentlich zu wissen, warum und wie sie das gemacht hatten, umringten die Hüterinnen und die Meister nun die anderen drei und blickten alle nach außen. Alle Armbänder leuchten schwach in den verschiedenen Farben und alle sechs waren miteinander verbunden. So sah Esther auch sofort die Gruppe von Menschen, die eindeutig wie Karane gekleidet waren und abwartend gerade außerhalb des Steinkreises standen, und nahm gleichzeitig die Gruppe der in mehr oder weniger weiße Togas gekleidete Menschen wahr, die genauso als Gruppe außerhalb des Kreises an der Stelle warteten, auf die sie selbst blickte. Esther scannte sie, ohne dabei die gemeinsame Verbindung mit den anderen zu verlassen und meinte dann halblaut.

„Von beiden Gruppen geht keine Gefahr aus. Sie haben nur alle ein richtig schlechtes Gewissen und schämen sich so sehr, wie man sich als Mensch nur schämen kann.“

„Sollen wir sie erlösen und herankommen lassen?“, erkundigte sich Eva mitleidvoll, doch Karan verneinte.

„Nutzen wir ihren Abstand und starten wir erst einmal den Kreis“, Tschorna sah Eva fragend an. „Du erinnerst dich hoffentlich noch daran, wie das bei der Mine ging?“

Damit gingen sie, Eva und Elly zum Mittelstein und Elly kramte wieder einmal den großen schwarzen Turmalin aus ihrer Tasche und stellte ihn vorsichtig auf den Mittelstein, der glücklicherweise viel tiefer im Erdboden saß, als die anderen Steine, die sich fast zwei Meter in die Höhe reckten.

„Brauchen wie nicht noch die lokalen Priester oder Priesterinnen?“, erkundigte sich Eva verwirrt und Elly schüttelte ihren Kopf.

„Es geht auch ohne“, erklärte sie. „Außerdem haben wir hier das Problem, dass es nicht einen klaren Kandidaten gibt wie bisher.“

Eva sah sie stirnrunzelnd an, verbiss sich aber im Moment jede weitere Frage.

Esthers Armband leuchtete kurz auf. „Keiner wird den inneren Kreis betreten, ehe ich es nicht erlaube“, erklärte sie leise und Tschorna nickte.

Wieder begann das Schauspiel, was nur Tschorna und die Priesterinnen des Steinkreises, also Eva und Elly schon direkt miterlebt hatten, und alle Steine sandten ihren eigenen charakteristischen Ton aus, sobald Tschorna den Mittelstein und den Turmalin auf ihm berührt und aktiviert hatte. Jedes Mal, wenn ein neuer Stein im Kreis von dem überspringenden Licht berührt wurde, kam ein neuer Ton dazu und ein Lichtband verband ihn mit den anderen. Als alle acht verbunden waren und ein Lichtkreis die Lichtung einfasste, stiegen von allen Steinblöcken Lichter auf, krümmten sich zu Bögen, vereinigten sich hoch über dem Mittelstein und schienen dann gesammelt auf ihn hinunterzustürzen.

Der gewaltige Klang aus neun Einzeltönen verflog und neben dem Mittelstein schien sich Nebel zusammenzuballen. Es waberte dicht und weiß und verflog dann plötzlich. Die Gestalt eines attraktiven Mannes im besten Alter mit dunklen Locken und in einem Lendenschurz blieb in kniender Position zurück und hob langsam den Kopf.

„Ich grüße Dich Andrasz Vandeer is Arraschehl“, erklang die überraschend starke Stimme von Elly und sie deutete eine Verbeugung an. Das war definitiv nicht mehr die schüchterne kleine Elly, die sie aus dem Dorf ihrer Eltern mitgebracht hatten!

Jetzt erschien jedoch auch Taraz gleich neben der Männergestalt und hauchte nur. „Andrasz.“

Der muskulöse Mann sah überrascht zu ihr hinüber und grinste dabei breit, alle anderen Lebewesen um sich herum vergessend. Er und Taraz schienen sich aufzulösen, um sich sofort auf halber Strecke zwischen ihnen neu zu formen, auch wenn es dann nur noch eine Form gab.

Alle Menschen starrten fasziniert auf das Schauspiel, bei dem zwei Wesen, die nun zeigten, dass sie eindeutig anders waren, als ihre Abbilder als Menschen erwarten ließen, eine Nähe erlebten, wie es Menschen gar nicht möglich war.

<Das kann jetzt noch dauern>, flutete schließlich ein Gedanke von Karan über die gesamte Lichtung. <Wir sollten sie sich jetzt erst einmal selbst überlassen. Hüterin der Menschen, löse bitte die Fesseln unserer Besucher.>

'Unserer Besucher' war wirklich nett ausgedrückt', dachte Esther bei sich und ihr Armband erlosch.

Das hatte zuerst noch keine Auswirkung. Beide Menschengruppen standen noch immer wie gebannt da und versuchten, das gerade Gesehene zu verarbeiten. Eigentlich lebten hier in der Gegend ja drei Gruppen von Menschen, aber nur zwei hatten ein Interesse an dieser Lichtung. Da wäre erst einmal der Stamm der Karane, der schon durch Boten erfahren hatte, dass ihr Fluch endlich von ihnen genommen war und das eines ihrer wichtigsten Artefakte, der heilige unendliche Karan, wieder aufgetaucht war und nun dafür sorgte, dass alle ehemaligen großen Steinkreise wiederbelebt wurden. Seit diesem Boten fieberten sie den Moment herbei, an dem die neue höchste Priesterin auch persönlich zu ihnen kommen würde und hatten immer einen Späher genau dort platziert, wo sich nach ihrem Wissen der Steinkreis befunden hatte. Außerdem ein Stamm der Romanas, der hier an der Lichtung ein Heiligtum ihrer Göttin der Jagd, Diana wusste, auch wenn nichts mehr auf so einen Tempel hindeutete. Auch sie behielten die Lichtung immer im Auge und hofften auf ein Zeichen, dass sich Diana endlich wieder zufrieden mit ihren Verehrungsbemühungen zeigte und erschien. Auch wenn die Romanas jetzt immer noch nicht ihre Hoffnungen aufgegeben hatten, waren sie doch mehr als unsicher, ob das eine Mädchen denn nun wirklich die Verkörperung von Diana war. Besonders als sie jetzt mit dem schwarzen Turmalin so eine wichtige Rolle bei der Zeremonie für den barbarischen Steinkreis gespielt hatte, zögerten sie noch, sich der plötzlich erschienen Gruppe von hauptsächlich Kindern zu nähern. Barbarenkinder durften einfach nicht so eine Macht in Händen halten!

Die Karane hatten dieses Problem offensichtlich nicht und kamen schon vorsichtig näher, auch wenn Karan/Tschorna mit versteinertem Blick und auf der Brust verschränkten Armen dastand, was Elly leicht grinsen ließ. Sie wusste, dass Karan in jeder Situation ein Herz für die Nachfahren ihrer beiden Völker hatte. Diese Gruppe der Karane sah dabei auch ziemlich ungewöhnlich aus, da sie fast ausschließlich aus rothaarigen, blassgesichtigen Menschen bestand. Außer Ian hatte Elly bisher noch wenig Rothaarige kennengelernt und hier schienen alle mindestens so rothaarig wie Ian zu sein. Ellys Blick fiel dann auch auf Ian und bemerkte, dass sich sein Blick starr auf die mit gesenkten Köpfen langsam herankommende Gruppe richtete. Sie versuchte, seinem Blick zu folgen und bemerkte dann auch das Mädchen mit der rotbraunen Mähne und den klaren Augen, deren Farbe ein helles Braun zu sein schien, die ihren Blick nicht gesenkt, sondern in Ians Augen versenkt zu haben schien. Was passierte denn da gerade?

Nicht alle konzentrierten sich jedoch auf die Karane. Der Zufall hatte es gewollt, dass Esther genau auf die Gruppe der Romanas in ihren langen Gewändern schaute, als sie auf der Lichtung ankamen und Esther hatte die Menschen gescannt, nachdem die Lichtung nicht mehr vor den Menschen geschützt werden musste und dabei sofort ein Problem bemerkt. Fast ohne es selbst zu merken, setzte sie sich in Bewegung, den Blick fast ebenso starr wie Ian auf die Menschengruppe gerichtet.

„Was ist, Esther?“, erkundigte sich Pascal besorgt und Esther antwortete ihm, ohne ihren Blick von der Gruppe zu nehmen.

„Da gibt es eine Mutter mit ihrem Baby und ich muss sofort handeln, sonst stirbt das Mädchen“, erklärte sie bloß und Pascal nickte verstehend.

Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Ob der Impuls von Gott kam, hatte er bisher noch nicht feststellen können, aber er konnte bei allen drei Mädchen auftauchen und dann ... Genau. Esther schien mit einem Mal rot zu glühen, als würde jemand ihre Gestalt in einen zarten roten Feuerschein tauchen. Auch wie üblich blieben die Romanas erst einmal erschrocken stehen und verstummten. Das leise Wimmern eines Babys war jetzt deutlich zu hören, auch wenn Pascal noch gar kein Baby sehen konnte. Esther schritt unbeirrt voran und hatte die Gruppe schon fast erreicht, als sich ihr zwei hochgewachsene Männer mit Uniformen, die ein wenig wie die Verkörperung von Bildern römischer Soldaten aus einem Geschichtsbuch aussahen, in den Weg stellten.

Ihre Wut entflammte sofort lichterloh auf und sie ballte ihre Hände. Wie konnten es diese Idioten wagen, sich ihr in den Weg zu stellen. Das rote Leuchten nahm sofort zu.

„Geht mir aus dem Weg, ihr Idioten“, presste sie hervor und hob ihren Blick, um erst dem einen und dann dem anderen Mann direkt in die Augen zu blicken. Beide überragten sie um mehr als einen Kopf und zeigten unter ihrer Lederrüstung gewaltige Muskeln, die die Hüterin aber nicht sehr zu beeindrucken schienen. Sie überlegte schon, an welchen "Fäden" sie ziehen sollte, damit die beiden Muskelberge ihr endlich Platz machten, als eine leise melodische Stimme erklang und ein würdevoller Mann mittleren Alters mit einer ziemlich fleckigen Toga sich fast entschuldigend leicht vor ihr verbeugte.

„Bitte entschuldige, aber wir haben keine Hilfe von Barbaren nötig“, seine Stimme klang ein wenig nasal und der Mann war ihr sofort unsympathisch. „Wir sind die Nachfahren der großen Römer und verfügen noch über genügend Heilwissen, um selbst mit allen Problemen fertig zu werden.“

„Na klar“, höhnte Esther und hatte langsam Schwierigkeiten, die Wellen magischer Energie, die auf sie zuströmten, in Schach zu halten. „Deshalb gebt ihr sowohl der Mutter als auch dem Baby ein Betäubungsmittel, dass sich die Mutter kaum auf den Beinen halten kann.“ Sie starrte den Priester an, der ihren Mut nun doch langsam bewunderte.

„Was weißt du denn schon von so etwas“, wunderte er sich. „Du bist doch höchstens 15 Winter alt ...“

„Und die Hüterin der Menschen, auch wenn dir das bestimmt nichts sagen wird, so gebildet du auch sein magst!“, beendete Esther ungeduldig den Satz. „Entweder ihr lasst mich jetzt sofort zu den beiden oder ich gehe selbst hinüber und dann Gnade euch Gott.“

„Wir glauben nicht an euren komischen Gott“, belehrte der römische Priester sie würdevoll und Esther hob genervt ihren Blick zum Himmel.

„Bitte vergib ihnen, denn sie sind einfach nur blöd!“, stöhnte sie und mit einem Mal stolperten zuerst die beiden Soldaten auf Seite, gefolgt von den hinter ihnen stehenden Menschen und eine Gasse entstand, an deren Ende eine schlanke Frau von Mitte Zwanzig schlotternd vor Angst da stand und sie verwirrt ansah, während das Baby, dass sie in einem Tragetuch vor der Brust trug, leise wimmerte. Der Priester wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Esther winkte nur genervt mit ihrer linken Hand in seine Richtung und begann schon langsam auf die Mutter zuzugehen.

„Halte doch einfach die Klappe“, schlug sie dem verdutzten Priester vor, der plötzlich keinen Laut mehr aus dem Mund bekam. Niemand trat Esther jetzt noch in den Weg und sie scannte sowohl die Mutter als auch das Baby und verglich dann das, was sie wahrnahm mit dem Wissen, das sie in den letzten Monaten angesammelt hatte. Zuerst hatte sie bei jedem Kranken herauszubekommen versucht, was ihm oder ihr fehlte, bis sie hinterher auf die Idee gekommen war, sich einfach einmal kerngesunde Menschen genauer anzusehen. So verglich sich jetzt das kleine kraftlose Bündel, dass seine Mutter hilflos an sich klammerte, mit einem gesunden Kind aus Portbach und fand das Problem, auf das sie sonst bestimmt nicht gekommen wäre. Niemand sprach ein Wort, während sie langsam näher kam. Esther stellte eine Verbindung zu der Mutter und zu dem Baby her und zeigte der verdutzten Mutter, wo bei ihrem Töchterchen das Problem lag. Die Speiseröhre des nur wenige Tage alten Säuglings war viel zu eng und erschwerte damit sowohl die Atmung als auch das Säugen. Die anderen Romanas sahen mit Schrecken, wie sowohl die junge Mutter als auch das Baby beide jetzt in ein rotes Leuchten getaucht waren, das immer mehr zuzunehmen schien. Pascal war Esther zur Sicherheit gefolgt und behielt die Romanas im Auge, während Esther jetzt genau vor der verängstigten Mutter ankam, die ihren Blick aber schon viel klarer erwiderte. Esther streckte ihr ihre Hände entgegen und die junge Mutter sah sie erst noch etwas unschlüssig an, seufzte dann und holte ihr Baby hervor, was die Umstehenden teilweise mit erschrockenem Aufstöhnen quittierten. Das Leuchten nahm noch mehr zu und konzentrierte sich jetzt auf das Baby und besonders dessen Hals. Es wimmerte schon länger nicht mehr, sondern starrte Esther interessiert an.

Das Leuchten verblasste und das Baby schluckte, ehe es mit einem Mal aus voller Kehle losbrüllte.

„Heilige Hera“, stöhnte eine ältere Frau mit weißen Strähnen in ihrem vormals schwarzen langen Haar. „So laut und gesund hat die Kleine noch nie geklungen.“

„Danke!“, flüsterte die Mutter und Esther nickte nur und strich dem kleinen Mädchen zärtlich über den Kopf mit dem zarten weichen Flaum.

„Wenn es sein Wille ist, kann ich helfen“, stellte Esther achselzuckend fest. „Und bisher habe ich ihn noch nie als engstirnig erlebt.“ Dabei blickte sie den römischen Priester direkt an. Der schluckte, um sich zu vergewissern, dass er überhaupt wieder reden konnte, und sah Esther mit einem undurchdringlichen Blick an.

„Ich weiß nicht wer oder was du bist, aber das du in der Gunst der Götter stehst, ist offensichtlich.“

Esther sah ihn stirnrunzelnd an. Der war so verbohrt, der würde nie zugeben, wenn jemand anderes im Recht und er im Unrecht war. „Jedenfalls danke ich dir.“

„Es ist vielleicht besser, wenn wir uns jetzt zurückziehen“, meinte er glatt und blickte ein wenig neidisch hinter Esther, wo die Karane jetzt überschwänglich ihre höchste Priesterin und Karan begrüßten.

„Das bleibt euch natürlich überlassen“, erwiderte Esther ernst. „Aber ihr seid herzlich eingeladen, mit uns zu feiern. Ihr könnt dabei auch die anderen Nicht-Romanas hierhin einladen, wenn ihr bei ihnen vorbeikommt. Eure Togas sehen jetzt aber für ein Fest nicht mehr so geeignet aus.“ Esther hatte bei dem Kontakt mit Nosovo und ihrer Tochter Kleo ziemlich viel über die Lebensverhältnisse in den beiden Dörfern gelernt. „Sorgt aber bitte dafür, dass sich Kleo und ihre Mutter jetzt erst einmal ausruhen. Besonders für die Kleine war das jetzt nicht so einfach.“

Ehe sie noch etwas sagen konnte, schwappte plötzlich eine chaotische Mischung von Gefühlen über die Lichtung und traf dabei jeden der Anwesenden in seinem tiefsten Kern. Dabei ging es um Erstaunen, Verwirrung, Sehnsucht nach Liebe in seiner Urform, unterdrückten Gefühlen von Verlust und dem Nichtbeachtetfühlen ... Die meisten kämpften sofort mit den Tränen oder fingen sofort an zu weinen. Pascal und Esther sahen sich sofort an.

„Ian!“, meinte Pascal nur und Esther nickte und ihr Armband flammte auf. Sofort waren die gesendeten Gefühlswellen irgendwie gedämpft und sie wandte sich wieder an die Romanas und streichelte Kleo noch einmal, während ihre Mutter sich die Tränen am Ärmel abwischte.

„Bitte entschuldigt uns“, meinte sie laut und klar. „Da braucht jemand dringend unsere Hilfe. Bitte kommt heute Abend zu dem Fest. Es ist völlig egal, an welchen Gott oder welche Götter ihr glaubt. Wir leben auf demselben Planeten und es ist an uns, voneinander zu lernen und nicht aufeinander einzuschlagen.“

Im Stillen zeigte sie sich selbst einen Vogel. Das klang irgendwie viel zu geschwollen, aber sie hatte einfach das Gefühl, das einmal sagen zu müssen. Damit drehte sie sich um und folgte Pascal, der wieder in die Mitte des Steinkreises eilte, wo sich die anderen und der Clan der Karane zusammengefunden hatten und fast wie versteinert dastanden.

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Dabei hatte doch alles so harmlos angefangen. Jetzt stand der Clan der Karane ziemlich verwirrt etwa fünf Meter von den Ankömmlingen aus Portbach und tauschte unsichere Blicke aus, dabei immer wieder auf das Mädchen aus ihrer Gruppe und auf Ian blickend. Diese bekamen davon gar nichts mit. Ian hatte seine Arme ein wenig gehoben und auf seinem Gesicht war dasselbe Chaos an Gefühlen zu sehen, das er auch aussendete. Damit sahen sie ulkigerweise fast genauso aus, wie der erwachte Mann, der diesen Ring repräsentierte und Taraz, nur das diese viel näher beieinanderstanden und sich intensiv miteinander austauschten. Der Gesichtsausdruck des Mädchens, dessen Haar im Licht der untergehenden Sonne fast in Flammen zu stehen schien und dass nur unwesentlich älter als Ian war, veränderte sich und Angst wurde sichtbar. Ob Ian vielleicht auch ... Esther wechselte auf die Geistebene und fand ihre Befürchtung bestätigt. Ian sendete nicht nur hier auf Terralt, sondern auch auf der Geistebene massiv in die Richtung des Mädchens. Sie wollte schon wieder zurückkehren, als ihr noch eine Kleinigkeit auffiel.

Konnte das denn sein? Das kannte sie von ihren Schwestern und ihrer Mutter. Bei anderen Familien war es ihr ja auch schon aufgefallen. Wenn Ian bloß nicht so gewaltig senden würde!

Esther kehrte zurück und war mit ein paar Schritten beim Mittelstein, hinter dem Ian stand, und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ian! Hör auf zu senden! Du erschreckst alle und besonders dieses Mädchen!“, rief sie. „Ian!“

Ian fing plötzlich an zu wanken und Esther merkte, wie ihm von allen Seiten Kraft gesandt wurde. Er holte ruckhaft Luft, als hätte er die ganze Zeit seine Luft angehalten und Esther vermutete nicht zu unrecht, dass das genau der Fall war, und schaffte es schließlich, die Blickverbindung zu lösen. Das Mädchen sank lautlos in sich zusammen und sofort war jemand bei ihr.

„Danke, Esther“, meinte Karan und Tschorna wandte sich zu ihr um. „Ich habe es kommen sehen, aber das gehört zu seiner eigenen Urmagie, noch bevor er Meister der Erde wurde. Mit dieser neuen Art von Magie kann ich nicht umgehen. Ich dachte zuerst, dass es um Liebe gehen würde, aber da ist etwas anderes mit im Spiel“, erklärte sie entschuldigend in gedämpfter Lautstärke und Esther nickte.

„Ich habe eine Vermutung, aber da brauche ich erst die Hilfe von Janessa“, meinte sie und Janessa sah sie erstaunt an.

„Was kann ich denn tun. Mit diesem ganzen Liebeskram habe ich ja wirklich noch nicht viel zu tun“, wehrte sie ab und Esther schüttelte den Kopf und nahm direkt Verbindung mit ihrer Schwester auf. Verblüffung breitete sich auf Janessas Gesicht aus und ihr Armband flammte blau auf.

„Du hast wahrhaftig Recht, Esther. Cousine!“, war ihre für alle anderen doch sehr kryptische Bemerkung und Esther grinste.

Sie wandte sich wieder der Gruppe der Karane zu und merkte, wie diese das Mädchen gerade unbemerkt von der Lichtung zu schaffen versuchten.

„Lasst sie bitte noch hier“, bat sie laut. „Ich schwöre, dass ihr auch wirklich nichts geschehen wird.“

Ein etwa 40jähriger Mann, der ganz klar der Anführer dieses Clans war, wechselte erst noch Blicke mit zwei der Frauen und einem weiteren, viel älteren Mann und wandte sich ihr zu.

„Der Bote hat wohl auch viel über euch berichtet und eure Beteiligung unserer Befreiung gelobt, aber von so einer Magie hat er nicht berichtet, und wir machen uns da jetzt natürlich Sorgen.“

„Das kann ich verstehen, Clanführer, aber ich versichere euch, dass Ian wirklich niemandem schaden will, schon gar nicht eurer werten Clanstochter.“

„Aber was will er denn von ihr?“, wunderte sich der ältere Mann mit dem schütteren grau melierten rötlichen Haar. „Ihr seid bestimmt mächtig, aber er kann sich doch nicht einfach ein Mädchen aussuchen ...“ Er ließ den Satz ein wenig beschämt und hilflos unvollendet ausklingen.

Ian starrte die ganze Zeit zu Boden und wäre am liebsten darin versunken. Einen Moment spielte er auch mit dem Gedanken, genau das zu tun. Es wäre ihm schließlich wirklich ein Einfaches...

<Untersteh dich!>, kam plötzlich von Janessa. <Nicht abhauen, wo es gerade so richtig interessant wird.> Dabei sah sie ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der eine Art diebischer Freude ausstrahlte und den er nun gar nicht verstand.

„Hattet ihr vor etwa oder 12 Jahren auf euren Reisen vielleicht einen größeren Verlust?“, erkundigte sich Esther und das Erstaunen auf den Gesichtern aller bis auf dem ihrer kleineren Schwester war überwältigend. „Ist vielleicht eine Familie verschwunden, die zu eurem Clan gehörte?“ stellte sie ihre Frage noch konkreter.

„Wieso ... ", begann der Clanführer und wurde von einer älteren Frau unterbrochen, die aus dem Hintergrund der vielleicht 20 Menschen umfassenden Gruppe nach vorne kam und sich demonstrativ neben den älteren Herren stellte.

„Ja“, meinte sie leise und mit schmerzerfüllter Stimme. „Vor 12 Jahren waren wir mehr im Norden und mein Sohn ist mit seiner Frau und ihrem kleinen Jungen zu einem Besuch bei anderen Verwandten aufgebrochen und nie angekommen.“ Tränen traten in ihre Augen. Sie starrte Esther an und wandte dann ihren Blick Ian zu. Esther scannte sie und bemerkte sofort ihre Sehschwäche. Ihr Armband erglühte kurz und die Frau hob erschrocken ihre Hand an ihren Mund.

„Micahel“, rief sie aus. „Der Junge sieht aus wie Micahel, als er in seinem Alter war.“

Zu behaupten, dass jetzt das Chaos ausbrach, wäre reichlich untertrieben. Pascal und Epharim traten an Ian heran und gaben ihm die Kraft, seine Gefühlswellen unter Kontrolle zu behalten. Eva trat hinter ihre Tochter und Esther meinte leise, ohne dass sie hätte fragen müssen. „Keine Angst. Es stimmt. Zwischen Ian und einigen in diesem Clan gibt es diese seltsamen weißen Fäden, die auf der Geistebene zwischen Familienmitgliedern bestehen. Bei dem Mädchen kommt noch dazu, dass sie sehr gefühlsbetont und dabei in vielem Ian sehr ähnlich ist.“ Sie sahen zu, wie die Clanmitglieder Ian jetzt umringten und teilweise in ihre Arme schlossen. „Janessa hat versucht, ihren Baumcode mit dem von Ian zu vergleichen und kommt zu dem Schluss, dass sie wohl Ians Cousine ist.“

Auch diese Cousine stand mit einem Mal wieder vor Ian und beide sahen sich an. Vanessa war kurz auf die Geistebene gewechselt und grinste breit. „Ich weiß leider nicht, was für ein magisches Talent dieses Mädchen gerade bekommt, aber es ist jetzt schon verdammt stark.“

Immer noch standen sich die beiden gegenüber und starrten sich an, wobei Ian sogar eine Idee hoch schauen musste, bis Esther es nicht mehr aushielt.

„Nun umarme deine Cousine schon, Ian“, forderte sie ihn auf und beide sahen erstaunt zu ihr hinüber.

„Wenn du wirklich der Sohn von Micahel bist, hat sie recht“, meinte die alte Dame und wischte sich Tränen aus dem Gesicht. „Bellkam ist die Tochter von Micahels Bruder, der leider auch vor mehreren Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.“ Sie schluckte und sah Ian liebevoll an. „Damit ist sie wirklich deine Cousine, Junge.“

Sie umarmten sich und viele berührten beide und bekräftigten damit ihr Mitgefühl und ihre Nähe zu beiden und Ian begann zu weinen. In diesem Moment war er nicht mehr der Meister der Erde, sondern ein Junge, der lange gelitten hatte und eigentlich nie die Hoffnung gehabt hatte, seine Verwandten zu finden oder auch nur etwas über sie zu erfahren.

„Also diese Karane sind irgendwie seltsam“, stellte Vanessa jetzt leise fest und Tschorna sah sie fragend an.

„Ich dachte bisher immer, dass die Karane nur ziemlich einfache magische Talente hätte, aber die hier sind schon ziemlich stark.“

Tschorna nickte und der Kristall auf ihrer Stirn pulsierte. „Du hast insofern recht, das sie wohl die Nachfahren der Barden und Schriftgelehrten beider Stämme darstellen und immer zumindest einen Teil ihrer Magie behalten haben, seit die Karane den Fluch über sich gebracht haben“, erklärte Karan und man sah an Tschornas Gesichtszügen, dass sie gerade von dem uralten Artefakt die dazugehörigen Informationen bekam. „Die Kleine hat übrigens einen beeindruckenden Namen.“

„Wieso?“, wunderte sich Vanessa.

„Sie heißt Bellkam, was übersetzt in die heutige Sprache 'Schwert der Muttergöttin' bedeutet“, erklärte Karan und grinste dann schelmisch. „Wie das jedoch zu einer Musikerin passt, verstehe ich jetzt noch nicht.“

„Eine Musikerin!“, ging Janessa plötzlich ein Licht auf und die anderen, die natürlich nichts von ihren gelegentlichen Erfolgen, das jeweilige magische Talent aus der Baumkennung auszulesen, sahen sie ein wenig überrascht an. 'Jetzt weiß ich, was ihre magische Baumsequenz bedeutet. Sie kam mir irgendwie bekannt vor, aber an Lucinda hatte ich gar nicht gedacht.'

Lucinda war eine grandiose Lautenspielerin und Sängerin, die sie kurz nach ihrer Ankunft auf Terralt in Portbach kennengelernt hatten. Sie lernte jetzt bei einem überragenden Musiker, der sich, ohne das es jemand bewusst gewesen war, in Portbach niedergelassen hatte. Janessa sah sich die Baumkennung von Bellkam noch einmal genauer an und begann zu verstehen, worin die Magie von Bellkam bestand. Wenn sie recht hatte, war auch die Bedeutung ihres Namens als 'Schwert der Muttergöttin' gar nicht mehr so verwunderlich. Nachdenklich und bewundernd sah sie zu dem recht blassen Mädchen mit der rotblonden Mähne hinüber, die sich mittlerweile von Ian hatte wieder trennen können.

„Bitte entschuldige, Bellkam“, meinte Ian gerade und wusste vor Scham gar nicht, wo er hinsehen sollte.

„Das ist schon okay“, wehrte das Mädchen mit dem langen braunen Lederrock und der Lederweste über einer cremefarbenen Bluse grinsend ab. „Dass ein attraktiver Junge wegen mir die Fassung verloren hat, ist mir auch noch nicht passiert“, neckte sie ihn und wurde dann ernst. „Außerdem habe ich das, was da zwischen uns existiert, auch ganz deutlich gespürt und ich finde es super, jetzt einen Cousin zu haben, der so ein starkes magisches Talent hat.“ Sie legte ihren Kopf nachdenklich schief. „Aber das ist jetzt kein Talent, was zu den Liedern passt, die ich bis jetzt schon über die magischen Sechs gehört habe.“

„Die magischen 6“, echote Ian verdutzt. „Lieder ...? Über uns ...?“

„Natürlich. Es gibt da sogar schon mehrere“, bestätigte sie. „Auch wenn sie jetzt wohl umgeschrieben werden müssen.“

„Wieso das denn?“

„Weil in ihnen von einem Jungen der Fahrenden und von zwei Christenjungen die Rede ist“, mischte sich die Frau, die jetzt Ians richtige Oma war, ein und drückte ihn noch einmal kurz an sich. „Es sind aber ein Junge des Volkes der Fahrenden, ein Christ und ein Karane und das wird sich wie ein Lauffeuer unter den Karanen verbreiten. Da kannst du ganz sicher sein.“ Stolz und mit Tränen in den Augen sah sie auf ihren Enkel hinunter, an dessen Existenz sie nun wirklich nicht mehr geglaubt hatte. Und dann gehörte er auch noch zu der Gruppe, die ihren jahrhundertealten Fluch beendet hatte.

„Welcher der drei Meister bist du jetzt eigentlich?“, bohrte Bellkam weiter und Ian hob seine rechte Hand und ließ das Zeichen seiner Rolle, sein Armband erscheinen und aufglühen.

„Der Meister der Erde“, meinte er und schaffte es dabei sogar, bescheiden zu wirken. Er spürte aber irgendwie, dass Bellkam ihm nicht ganz glaubte, und sah sich nach den anderen um. Dabei sah er Pascal und Esther, die in der Nähe des Mittelsteins standen, während im Hintergrund noch immer diese zweite Gruppe, die Romanas, unschlüssig auf der Höhe eines der Ecksteine des Steinkreises verharrte.

Pascal schien gerade mit Hilfe von seinem Armband zu kommunizieren und lachte fröhlich auf. Vielleicht hatten die beiden ja eine Idee, was er noch sinnvolles machen konnte ...

Pascal hatte sich gerade bei Esther erkundigt, was dem Baby nun eigentlich gefehlt hatte, als sein Armband aufgeflammt war und er das Anklopfen einer Person spürte, die er jetzt nicht wirklich erwartet hätte.

<Hallo Schwesterchen>, nahm er die Verbindung auf und bat Esther auch gleich durch ein Kopfzeichen, sich in die Verbindung mit einzuklinken. Esther hob erst eine Augenbraue, folgte dann aber seiner Bitte. <Ich hätte mich schon noch bei Mutter und dir gemeldet, aber hier war bis vor wenigen Augenblicken noch ein ziemliches Chaos.>

<Alles nur dumme Ausreden!>, beschwerte sich Pascals kleine dunkelhaarige Schwester, die von den Sechs nach einer Entführung gerettet worden war und danach wieder mit ihrer Mutter zum Herrenhaus der de L'Arracs zurückgekehrt war. Seit diesem Zeitpunkt löcherte sie ihre Mutter ständig, dass sie sich nie richtig bei ihrem Bruder und den anderen bedankt hatte und sie unbedingt besuchen müssten. Als diese dann vor einigen Minuten von einem Besuch bei ihrem Bischof zurückgekommen war und von Veränderungen im magischen Netz auf der Geistebene berichtete, die die Handschrift der Sechs trugen hatte Charly desinteressiert getan. Sie war dann aber sofort in den Garten entwischt, wo sie den Teil ihres eigenen magischen Talents anwandte, an dem sie seit der Entführung immer wieder gearbeitet hatte. Auch wenn sie noch sehr jung war und noch nicht einmal ein Amulett trug, konnte sie Illusionen erzeugen und so verfestigen, dass man sie anfassen konnte. Die Kommunikation über große Entfernungen fand auf Terralt zwischen den Erwachsenen statt, die ein magisches Amulett besaßen, das ihnen in einer Kirche in einer wichtigen Zeremonie übergeben wurde. Mit sieben war sie noch viel zu jung für ein eigenes Amulett, aber das hinderte sie nicht daran, sich eins vorzustellen und mit ihrer Magie zu füllen.

<Hallo Charly>, schaltete sich nun auch Esther ein, die das kleine quirlige Genie sehr mochte, auch wenn sie ja Pascals Halbschwester war. <Wenn das jetzt wieder eines deiner Illusionsamulette ist, bekommt du die aber schon fast perfekt hin.>

<Hallo Esther>, kam von Charly zurück und man hörte, dass das Lob sie freute. <Seid ihr denn alle da? Wo ist eigentlich 'da' und kommt ihr uns besuchen?>

<Im Moment leider nicht. Hier wird aber gleich ein Fest stattfinden und vielleicht könnt ihr ja herüberkommen>, schlug Esther vor und Pascal nickte zustimmend und rief seine Mutter an, während Esther seiner Schwester beschrieb, wo sie jetzt gerade waren.

<Das kenne ich. Da war ich schon mal>, stellte Charly nachdenklich fest, als nun auch Belinda de l'Arrac mit in das Gespräch aufgenommen wurde. <Zu Fuß ist das zu weit, aber mit dem Pony dauert es nicht lange.>

<Aber du sollst doch nicht alleine so weit von Zuhause wegreiten!>, erklang jetzt die tadelnde Stimme ihrer Mutter.

<Das mach ich auch nicht alleine>, wehrte sich ihre Tochter vehement. <Ich nehme immer ein oder zwei Wachen mit. Einmal entführt zu werden hat mir echt gereicht.>

<Also haben die Gelehrten des Bischofs Recht gehabt und ihr seid diese Veränderung auf der Geistebene>, stellte sie fest. <Aber ihr hättet euch schon vorher melden können.>

<Leider nein>, entgegnete ihr Sohn und Pascal grinste Esther an. <Wir sind nicht normal gereist, sondern vom Steinkreis von Portbach zu dem hier hin gesprungen.>

<Steinkreis? Was für ein Steinkreis?> Belinda de l'Arrac war ziemlich irritiert und dachte dann nach. <Auf der Lichtung muss es einmal einen gegeben haben, aber ...>

<Der ist wieder komplett aufgebaut und lebt>, informierte sie ihr Sohn und er spürte förmlich ihre Verwunderung.

<Das will ich genauer wissen. Wir machen uns sofort auf den Weg und du sagtest, ihr würdet gleich ein Fest feiern?>

<Ja. Davon gehe ich aus.>

<Soll ich vielleicht ein Regenzelt mitbringen?>

<Solange Epharim und ich hier sind, wird es keinen Regen geben>, informierte sie Pascal und Esther machte vor ihm Faxen, dass er den Blick senken musste.

<Entschuldige. Ich vergesse immer noch, dass du jetzt ja etwas Besonderes bist. Bis gleich, Pascal. Bis gleich Esther und grüße die anderen von uns.> Sie verließ die Verbindung.

<Entschuldige, Charly. Vielleicht hätte ich dich warnen sollen, ehe ich deine Mutter mit in die Verbindung hole>, meinte Esther ein wenig geknickt, doch Charly zeigte sich gnädig.

<Das ist schon okay. Sie tut nur immer so, als wäre ich noch ein kleines Kind>, seufzte Charly. <Dann bis gleich. Sie ruft mich jetzt richtig.>

„Meine siebenjährige Schwester“, meinte Pascal nur kopfschüttelnd zu Esther, die auch nur mit den Achseln zuckte.

Er spürte die Anfrage Ians und sah zu ihm hinüber. Für eine Verbindung untereinander benötigten die sechs kein Amulett und kein Armband und rasch baute er eine auf, die alle sechs und Eva, die Mutter der Mädchen enthielt.

<Es ist ja vielleicht auch ein bisschen blöde, aber gibt es hier vielleicht irgend etwas zu tun, bei dem die Fähigkeiten des Meisters der Erde benötigt werden?>, begann Ian.

<Willst du angeben?>, erkundigte sich Vanessa prompt und alle spürten, wie Ian wieder rot anlief, ohne dass sie ihn hätten ansehen müssen.

<Es gäbe da vielleicht etwas>, meldete sich Esther nachdenklich. <Kannst du vielleicht nachsehen, ob es hier irgendwo die Überreste von einem alten römischen Tempel gibt? Die Romanas sprachen nämlich davon und wenn wir ihnen da helfen könnten, wäre dass bestimmt super.>

Ians Armband flammte auf, dass Bellkam und andere, die nahe bei ihm standen, erschrocken auf Seite sprangen, während er sich hinkniete und mit seiner rechten Hand den Boden berührte.

<Es gibt hier genügend Teile, aber ich habe keine Ahnung, wie die zusammengehören>

Esther ging zu den Romanas hinüber, die sie unruhig ansahen.

„Habt ihr eigentlich so etwas wie eine Zeichnung von dem Tempel, der hier mal stand?“, fragte sie den verdutzten Anführer, der wortlos nickte und eine alte Frau mit einem Tuchbündel trat nach vorne und packte das Bündel umständlich aus. Es kam eine in Metall geritzte Zeichnung von vielleicht 25 Zentimetern Größe zum Vorschein. Esther studierte das Bild und sendete es dann an die anderen.

„Wäre es für euch okay, wenn wir den Tempel wieder aufbauen würden, auch wenn wir ja sonst nichts mit eurer Göttin Diana zu tun haben“, bot sich Esther an und die Romanas sahen sie entgeistert an.

„Das wäre ...“ es verschlug dem Anführer regelrecht die Sprache und er musste schlucken und noch einmal von vorn beginnen. „Das wäre einfach herrlich. Wir selbst haben einfach nicht mehr die Mittel, um den Tempel wieder selbst aufzubauen.“

<Du hast es gehört, Ian. Auf Wunsch dieses netten Herrn wäre ein Tempel nach dieser Zeichnung eine wunderbare Sache. Wir helfen dir auch beim Puzzeln.>

<Was ist denn puzzeln?>, wunderte sich Ian und alle drei Mädchen versuchten es ihm gleichzeitig zu erklären. <Ist ja auch egal. Ich gehe dann mal auf die Suche.>

<Mach das, Ian, aber ehe du etwas bewegst, möchte ich noch kurz mit Belinda darüber sprechen>, meldete sich Eva. <Ich möchte sicher sein, dass wir damit keinen Schaden anrichten. Wir wissen nicht, was die Romanas für die Struktur von Terralt bedeuten. Das kann die Gräfin besser beurteilen.>

<Mach ich.> Ian nickte zu Eva hinüber und schloss dann seine Augen. Lichtwellen begannen sich um ihn herum auszubreiten. Noch ehe er fertig war, meldete sich Eva wieder.

<Belinda de l'Arrac hält das für eine gute Idee. Es sieht danach aus, dass die Nachfahren Roms in Terralt eine absolut untergeordnete Rolle spielen und schon länger versucht wird, ihnen zu helfen. Ihr Glaube und besonders ihre Gesetze erschweren ihnen den Zugang zur Geistebene und verhindern die Ausbreitung der Magie unter ihren Anhängern. Was da jetzt ein kleiner Tempel ausrichten kann, verstehe ich wohl nicht, aber Belinda scheint da eine Idee zu haben.>

„Bitte bleibt jetzt alle da stehen, wo ihr gerade steht“, rief Ian laut und Esther sorgte dafür, dass seine Stimme über die gesamte Lichtung zu hören war. Bei dieser Weiterleitung fiel ihr noch eine Kleinigkeit auf, die sie bisher übersehen hatte und sie wandte ihre Aufmerksamkeit einer Gruppe von drei großen Eiben zu, die gerade außerhalb des Steinkreises standen.

<Das gilt auch für dich, Mädchen>, sandte sie direkt in diese Baumgruppe.

Bellkam sah Ian fragend an und spürte, wie der Boden zu vibrieren begann. Diese Tatsache erreichte sogar Taraz und Andrasz und beide schienen aus ihrer Erstarrung zu erwachen. Taraz kontaktierte ihre Priesterin und Eva berichtete ihr, was geschehen war.

„Sie hielten Elly also für Diana“, stellte Taraz kopfschüttelnd fest. „Dann müssen sie aber schon sehr verzweifelt sein. Das erklärt dann aber auch das rohe Fleisch. Diana ist schließlich die Göttin der Jagd.“

Das Leuchten und die Vibration auf der Lichtung nahmen immer mehr zu und Janessa und Ian begannen, einen Bereich, der im Moment von niedrigem Gebüsch überwuchert war, freizuräumen. Dabei schlossen sich die beiden zusammen und verschoben die Pflanzen, ohne ihnen zu schaden. Ein rechteckiger Bereich von sechs mal 10 Metern kam zum Vorschein und Ian hob ihn vorsichtig an. Ein Aufstöhnen ging durch die Gruppe der Romanas, als der Mosaikfußboden sichtbar wurde. Ian lachte laut auf, als er die fehlenden Stücke bemerkte. Jetzt hatte er eine Vorstellung davon, was ein Puzzle bedeutete. Die fünf anderen gingen langsam zu dem freigelegten Boden, während Ian seine Aufmerksamkeit aussandte und immer mehr Steine, Steinblöcke und andere Teile entdeckte und zum ehemaligen Tempel hinüberschaffte.

03 Unschönes und Schönes

Als Ian den Bodenbelag, also den Dreck, entfernt hatte, verstummten alle und starrten entsetzt auf das Bild, das dabei erschien. Der Ausdruck auf den Gesichtern aller war dabei so, dass es den Anführer der Romanas nicht mehr an seiner Stelle hielt und er schnell näher kam.

„Was ist denn das für ein Scheiß?“, flüsterte Janessa angewidert und Esther musste sichtlich kämpfen, um sich nicht zu übergeben.

„Wenn ich mich nicht irre“, meinte Pascal kalt „ist das Tahroll bei seiner liebsten Tätigkeit, nämlich dem Empfangen der für ihn Geopferten.“

Der Anführer der Romanas warf einen Blick auf das hervorragend erhaltene Bild, das den Boden bedeckte und aus vielen kleinen unterschiedlich gefärbten Steinchen bestand und sein Gesicht wurde so blass, dass seine beschmutzte Toga nun fast farbenfroh wirkte. Er schnappte nach Luft und starrte mit allen anderen auf die grausame Szene zu ihren Füßen, die eine gewaltige menschenähnliche Gestalt zeigte, die gerade dabei war, ein kleines Kind zwischen seinen gewaltigen Händen zu zerbrechen, ihr die angedeutete Seele aufzusaugen und sie dann wahrscheinlich auch auf den Haufen zu seiner Linken zu werfen, um sich dann die nächste Figur zu seiner Rechten zu ergreifen.

Noch andere Romanas waren mittlerweile herangekommen und eine alte Frau meinte mit einer Stimme, die fast ohne jede Regung zu sein schien: „Na dann wissen wir auch, warum unsere Vorgänger hier gänzlich verschwunden waren, als unsere Vorfahren hier vor ein paar Jahrzehnten ankamen.“

„Das kann aber doch nicht möglich sein!“, beschwerte sich der Anführer mit einer fast tränenerstickten Stimme. „Das war doch immer ein Tempel der Diana. In allen Aufzeichnungen stand nie etwas anderes und wir haben doch auch die Tafel!“

Auch die anderen aus Portbach und Andrasz waren herangekommen und Eva zeigte auf die abscheuliche Szene und forderte: „Kann das jetzt einmal jemand erklären?! Auch wenn ich nur die römischen Götter von Terra kenne, ist das sicher nicht Diana oder Artemis, wie sie bei den Griechen hieß.“

Andrasz räusperte sich und meinte dann mit einer leisen melodischen Stimme, die von Trauer erfüllt war. „Vielleicht kann ich da etwas zu sagen.“

Eva nickte ihm auffordernd zu.

„Auch wenn man mich damals schon lange aus dem Kreis verbannt hatte, war ich immer noch da, als die Römer langsam immer mehr an Bedeutung verloren“, fing er an und blickte den Anführer der Romanas nur direkt an, als dieser ihn unterbrechen wollte und den Mund wieder zuklappte. „Sie hatten die, die noch an die Natur und das Leben als Zeichen des Göttlichen glaubten, und die die Vorgänger der Anhänger der Erdmutter waren, viele Jahrhunderte vorher besiegt und verjagt, aber die aufkommende neue Magie blieb ihnen fast gänzlich verwehrt und ihre Zahl hatte auch damals schon sehr abgenommen.“ Er machte eine Pause und alle Blicke waren auf ihn gerichtet, schon alleine, damit sie nicht mehr auf dieses grausame Bild blicken mussten.

„Dann kamen ihre Priester auf die Idee, ihren Göttern noch einen weiteren hinzuzufügen und sie setzten dafür alle Magie ein, die sie noch hatten. Sie schufen einen letzten Gott, der den ursprünglichen Totengott vertrieb und der sie stärken sollte, wenn sie ihm die Seelen ihrer Feinde opferten.“

„Tahroll“, warf Pascal ein und Andrasc nickte.

„Aber dieser neue Gott erwies sich als zweischneidig“, erklärte Andrasc und machte wieder eine Pause. „Er half den Römern, wenn sie ihm genügend Seelen opferten, verlangte aber auch immer eine Anzahl Seelen für sich selbst. Die Zahl der Römer nahm jedoch ab und schließlich konnten sie ihm nicht mehr genügend Opfer bringen und er holte sie sich selbst. Er nahm die Nachfahren der Menschen, die ihn quasi erschaffen hatten und mit ihm den Pakt eingegangen waren.“

„Passierte das nur hier?“, erkundigte sich Janessa und Andrasc schüttelte traurig seinen Kopf.

„Nein. Es gab viele Tempel, die mit einem Mal nicht mehr den ursprünglichen Gottheiten, sondern ihm gewidmet waren und alle erlangte dasselbe Schicksal.“

„Aber das war doch ein Heiligtum der Diana“, schluchzte der Anführer der Romanas fast wie ein störrisches Kind und Andrasc sah ihn mitleidig an, was Eva sehr beeindruckte. Er musste ihr nicht erst sagen, wer ihn als die Persöhnlichkeit des Steinkreises letzten Endes aus seinem Steinkreis verbannt hatte. Und trotz allem empfand er offensichtlich Mitleid mit den Nachfahren dieser Römer.

„Habe ich richtig verstanden, dass dein Name Ian ist?“, wandte er sich unvermittelt an den rothaarigen Jungen zu seiner Rechten und Ian nickte ernst. „Dann bist du also der Meister der Erde“, vergewisserte sich Andrasc und Ian nickte erneut.

„Kannst du den Boden des Tempels noch einmal mit deinen Kräften genauer untersuchen?“, erkundigte er sich, ohne genau zu sagen, worauf er damit hinaus wollte und Ian runzelte die Stirn, nickte und hob seine Hand mit nach unten gerichteter Handfläche, hielt sie über das abscheuliche Mosaik und sie begann wieder zu leuchten. Mit einem Mal entstanden in dem Mosaik dunkle Bereiche, die zu wachsen und sich zu bewegen schienen und kurz nacheinander traten die anderen fünf an seine Seite und das Leuchten seiner Hand wurde immer heller. Als letzte erschien Taraz direkt vor Eva und nickte ihr zu. Sie sah Taraz fragend an, bis Taraz auf ihr Brust deutete.

„Du dienst nicht nur mir“, erklärte Taraz lächelnd und endlich verstand Eva, woraus sie hinauswollte,trat hinter die Kinder und schloss seufzend ihre Augen.

Ians Hand leuchtete jetzt so hell, dass sie nicht mehr zu sehen war und erst jetzt erreichte der Strahl aus seiner Hand die Oberfläche der grausigen Mosaiks und breitete sich blitzschnell bis an seinen Rand aus. Direkt über ihm entstand eine Windrose und eine wahre Sturmwelle ergoss sich nach allen Seiten und verschwand. Das Licht erstarb und die letzten Luftzüge der Windhose wehten den letzten Rest dessen weg, was das Mosaik gewesen war, als bestünde es aus Staub. Ein Seufzen breitete sich nun aus und Esther fing an zu zittern und deutete nur stumm in den nahen Wald, wo Lichtpunkte von überall aufzusteigen schienen. Ein erschrockener Aufschrei war zu hören und ein vielleicht 12 oder 13 jähriges Mädchen stolperte aus dem Dickicht, dass von drei gewaltige Eiben überragt wurde, auf die Lichtung.

„Was ist das?“, hauchte eine junge Romana und Esther antwortete ihr.

„Ich weiß es immer noch nicht genau, aber ich habe so etwas schon einmal erlebt und da waren es Seelen, die an den Ort gefesselt waren und ihn nicht aus eigener Kraft verlassen konnten“, erklärte Esther ernst und bemerkte kaum die bewundernden Blick der Romanas und auch der Karane, die zu ihnen gerannt waren, als der Windstoß über die Lichtung fegte. Stumm und bewundernd sahen alle zu, wie die letzten Punkte aufstiegen und zu verschwinden schienen und Ian zuckte erst zusammen, als er bemerkte, dass er noch immer Energie in das Mosaik pumpte, das nun komplett anders aussah und in einem bräunlich-grünen Farbton glühte. Er schloss seine Hand, aber das Glühen blieb noch einen Moment, bevor es auch verschwand. Wieder lag ein aus vielen kleinen Steinen bestehendes Mosaik vor ihnen, doch zeigte es eine ganz andere Szene. Es hatte sich direkt unter dem von Tahroll befunden.

„Diana!“, hauchten mehrere Romanas und umarmten sich erleichtert.

„Das mit dem Wiederaufbau des Tempels wird jetzt aber leider nicht mehr klappen“, ließ sich Ian vernehmen und besonders die Romanas sahen ihn verwundert an.

„Viele der ursprünglichen Teile des Tempels wurden für den von Tahroll verwandt und sind nun auch verschwunden?“, mutmaßte die alte Frau, die sich schon einmal gemeldet hatte und Ian nickte.

„Dann werden wir ihn selbst mit unseren eigenen Händen aufbauen“, meinte sie nur knapp und ein junger Mann hinter ihr legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Na bei deinen verformten schmerzenden Händen hilfst du uns wohl am besten mit deiner Zunge, Mutter“, scherzte er zärtlich und seine Mutter sah ihn böse an, während Esther von fast allen unbemerkt leicht rötlich erglühte. Das Gesicht der alten Frau wechselte plötzlich zu einem Blick vollständigen Erstaunens und sie hob ihre knorrigen faltigen Hände, die sie bisher unter ihrer Toga verborgen hatte, und starrte sie fassungslos an.

„Die Anhängerin von Jesu grüßt die Anhängerin der Göttin Diana“, meinte Esther lächelnd und verbeugte sich ernst vor der verdutzten Frau, die jetzt abwechselnd ihre fast völlig normal aussehenden Hände und dann die junge Frau ansah, und Esthers Mutter seufzte und nickte zustimmend.

Das war für sie der Moment, an dem das Mädchen Esther in den Hintergrund trat und den Platz freimachte für die junge Frau Esther. Esther war die Aufmerksamkeit natürlich wieder unangenehm und sie blickte zu der Stelle hinüber, an der das junge Mädchen auf die Lichtung gestolpert war und sah, dass sie jetzt nicht mehr alleine war. Ein Junge war bei ihr und ein Mädchen in einer Toga, das damit eindeutig zu den Romanas gehörte. Alle drei sahen zu ihr herüber und Esther musste erst gar nicht auf ihre speziellen Fähigkeiten zurückgreifen, um die Kombination aus Furcht und Trotz wahrzunehmen, die von ihnen ausgingen. Doch noch ehe sie die drei erreichte, ertönte hinter ihr ein Ruf.

„Hüterin der Menschen, könntest du uns vielleicht noch einmal helfen?!“

Sie wandte sich der Gruppe der Romanas neben dem Bodenmosaik der römischen Göttin Diana zu und stellte fest, dass der Anführer der Romanas sie angerufen hatte. Er zeigte mit zitternder Hand und völlig weißer Gesichtsfarbe neben sich und lenkte ihren Blick damit auf die beiden zusammengesunkenen Gestalten einer Frau mittleren Alters und eines vielleicht 10jährigen Jungen. Esther hob ihre rechte Hand mit der Handfläche in Richtung der beiden Gestalten gewandt und scannte beide, während sie wieder langsam näher kam.

Sie hielt überrascht inne und das rote Leuchten verstärkte sich und erfasste beide Personen.

„Was ist da eigentlich passiert?“, fragte sie mehr an sich selbst gewandt und merkte gar nicht, dass sie überhaupt laut gesprochen hatte.

„Nachdem ihr den schrecklichen Boden zerstört habt und diese Lichter aufstiegen, sind beide einfach umgekippt“, erklärte eine der Frauen, die sich um den Jungen bemühte und wahrscheinlich mit ihm verwandt war.

Esther sah sie nachdenklich an und nickte. „Ich verstehe es noch nicht ganz, aber es macht schon Sinn.“

„Tochter, du sprichst in Rätseln“, stellte Eva trocken fest.

„Hat das vielleicht etwas mit Tahroll zu tun?“, kam es von Andrasc und Esther seufzte und nickte.

„Ich würde das noch gerne mit dem Gildenmeister der Magie abklären, aber ich habe das Gefühl, dass in dem Mosaik ein Teil einer magische Kreatur verankert war, die wir durch die Zerstörung des Mosaiks vertrieben haben. Die beiden haben eine Art Zeichen, das dem dieser schrecklichen Figur ähnelt, das mir eben gar nicht aufgefallen ist, als ich alle gescannt habe. Es wundert mich, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass beide eigentlich ziemlich krank sind.“ Sie kam heran und trat zu den beiden auf dem Boden liegenden Gestalten.

Die Frau neben dem Jungen stöhnte entsetzt auf, als sie begriff, was Esther damit meinte, während diese dem Jungen über die dunklen Locken strich, während dieses Mal ein rötliches Glühen über die Lichtung flutete.

„Was redest du für einen Unsinn, Mädchen?!“, polterte der erboste Anführer der Romana und wollte schon unbeherrscht vortreten und Esther von den beiden Gestalten wegziehen. Andere seiner Gruppe hielten ihn aber fest.

„Sie waren krank“, erklärte Esther und die Gesichtsfarbe des Jungen verbesserte sich mit jedem Strich von ihrer Hand über seinen Kopf. „Was auch immer die Krankheit hervorgerufen hat, ist mit der Magie in dem Mosaik dieses Tahroll verschwunden und das so schnell, dass die beiden ohnmächtig wurden.“

„Heißt das jetzt, dass es ihnen gut geht und das sie sonst in Kürze gestorben wären?“, erfasste die Frau, die für Esther ihren Platz neben dem Jungen frei gemacht hatte und Esther nickte.

„Genau das.“

Plötzlich tauchte Tschorna neben Esther auf. „Darf ich einmal?“

„Natürlich“, sagte Esther und Tschorna berührte den Jungen, der gerade seine Augen wieder flatternd öffnete und am ganzen Körper zitterte.

Er hielt die Luft an und fing an zu zittern, während Karan hell aufleuchtete und dann sogar der Steinkreis leise im Hintergrund ertönte. Das Zittern ließ nach und der Jungen hustete.

„Ich sage so etwas ja eher selten, weil ich mich nicht in andere Kulturen einmische, aber unter euren römischen Vorfahren muss es schon ziemlich Idioten gegeben haben, denen kein Opfer zu hoch war, nur um ein wenig mächtiger zu sein!“, stellte Tschorna mit der Stimme von Karan fest, die dabei ungewöhnlich wütend klang. „Dieser Tahroll hat ein Recht auf seine Opfer, solange es noch Verehrungsstellen für ihn gibt und dafür reicht auch so ein verdecktes Mosaik, auch wenn es verborgen im Boden liegt. Diese beiden waren als Opfer vorgesehen, um den Vertrag zu erfüllen.“

Der Anführer der Romanas verbeugte sich entschuldigend vor Esther und sah die Mutter des Jungen an. Er musste schlucken, ehe er überhaupt ein Wort heraus bekam. „Eigentlich müsste ich euch unendlich dankbar sein, denn diese unerklärlichen Tode sind auch an vielen anderen Orten ein Problem, dass wir bisher noch nie gelöst haben, aber die Erkenntnis, dass es die Folge der Dummheit unserer Vorfahren ist, ist nur schwer zu verdauen.“

„Wir sind euch und besonders dir unendlich dankbar, dass ihr meinen Sohn und meine Schwester gerettet habt!“, korrigierte die Mutter und umarmte Esther spontan. Diese errötete, ließ es aber lächelnd zu.

„Was die Dummheit von Vorfahren anbelangt, könnten wir euch auch noch so einiges erzählen“, meinte der Anführer der Karane trocken und die anderen Karane lachten hart, ohne dass es wirklich fröhlich geklungen hätte. „Nur finde ich es schon ziemlich dreist von euren Vorfahren, euch diesen Dämon als Gott zu verkaufen.“

„Es ist noch nicht lange her, da hätte ich dich jetzt in Grund und Boden diskutiert, aber das Problem ist, dass du recht hast, Dekarani“, erklärte der Anführer der Romana und bot dem rothaarigen Mann seine Hand an, die der lächelnd ergriff.

„Ihr kommt doch auch heute Abend zu dem Fest. Schließlich habt ihr jetzt ja auch das eine oder andere zu feiern“, meinte der Dekarani genannte Karane und der massige Mann in der Toga nickte nach einem vorsichtigen Blick zu den Frauen seiner Gemeinschaft seufzend.

„Wir werden da sein“, erwiderte er und verbeugte sich dann zuerst vor Esther und dann vor den anderen der 6. „Jedenfalls danken wir euch noch einmal und ich entschuldige mich noch einmal für die Dummheit mit dem rohen Fleisch und meinem Verhalten euch gegenüber. Das war unangebracht.“ Das Letzte sagte er besonders an Elly gewandt, die nur mit der Schulter zuckte.

„Schon vergessen. Ihr hattet es ja eigentlich nur gut gemeint“, winkte sie ab und machte dann eine kurze Pause, ehe sie grinsend fortfuhr. „Solltet ihr aber heute für das Fest Fleisch mitbringen, wäre es mir jedoch lieber, wenn es dann nicht roh bleiben würde.“

„Das werden wir schon irgendwie hinbekommen“, entgegnete der Anführer der Romanas und verbeugte sich nochmals, ehe er sich zum Gehen umwandte.

„Dianala, komm her!“, rief eine der Frauen über die Lichtung zu den drei Kindern hinüber.

„Wäre es für sie okay, wenn Dianala erst später nachkommt?“, sprach Esther die Frau direkt an, die auffiel, weil sie so groß gewachsen und dabei sehr muskulös war. „Ich möchte noch etwas mit ihr und ihren Freunden besprechen.“

Die Frau sah Esther lange misstrauisch an, nickte dann aber und schloss sich wortlos den anderen Romanas an, die gerade in den Bäumen hinter dem Steinkreis verschwanden.

Auch die Karane machten sich für den Aufbruch bereit und Dekarani verbeugte sich nochmals vor Andrasc, Taraz und besonders tief vor Tschorna und verschwand ebenso zwischen den Bäumen, aber an der gegenüberliegenden Seite des Steinkreises.

Als Esther nun endlich zu den drei Kindern hinüberging, spürte sie wieder die Kombination aus Trotz und Angst, schüttelte ihren Kopf und fing an zu grinsen.

„Hey, macht euch doch keine Sorgen“, beschwichtigte sie, als sie näher kam. „Ihr habt ja nichts Verbotenes getan. Und auch wenn, dann hätte ich ja nun wirklich kein Recht, euch dazu etwas zu sagen.“

Schließlich stand sie vor den Dreien, die sie neugierig ansahen. Die Mädchen waren beide vielleicht dreizehn Jahre alt und der Junge, der genauso sicher der Bruder eines der Mädchen war, war etwa ein Jahr jünger als diese. Beide hatten dieselben schulterlangen glatten dunkelbraunen Haare. Das Mädchen war dabei auch eindeutig die mutigere, denn sie wandte ihren Blick nicht von Esther ab. Die mit Dianala Angesprochene hatte dagegen einen Pagenschnitt dunkler, fast schwarzer Haare und war genauso schlank wie ihre Freundin, aber schon weiter auf dem Weg zur Frau.

<Lass die Drei bitte noch nicht gehen, wenn du dich mit ihnen unterhalten hast>, meldete sich in Esthers Kopf unvermittelt die Stimme von Taraz. <Alle drei zeigen nämlich das Zeichen des Steinkreises, aber es sieht besonders bei den Mädchen ungewöhnlich aus.>

<Wenn ich sie jetzt nicht aus Versehen so verschrecke, dass sie laut schreiend im Wald verschwinden, sollte das machbar sein>, versicherte Esther trocken, ohne ihren Schritt zu verlangsamen und stand dann vor der kleinen Gruppe.

„Habt ihr den Schreck mittlerweile überstanden?“, erkundigte sie sich besonders bei dem Mädchen, das schreiend auf die Lichtung geflüchtet war. „Ich bin übrigens Esther.“

„Mein Name ist Zegelind und das ist mein Bruder Baretahn“, fing Zegelind mit der Vorstellung an. „Und das ist meine beste Freundin Dianala, aber das weißt du ja schon.“ Sie blickte stirnrunzelnd zu der Gruppe von drei Bäumen hinüber, aus der sie und auch ihr Bruder geflohen waren. „Als diese Stimmen losflüsterten, war das ja eigentlich schon gruselig genug, aber als dann mit den Lichtern auch noch diese Gespenster kamen, habe ich mich sehr erschrocken, auch wenn eins der Gespenster versichert hat, dass ich mir überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte.“

„Gespenster?“, echote Esther, die sofort einen Verdacht hatte. „Vielleicht zwei Mädchen und ein Junge, also so in etwa wie ihr drei?“

Zegelind zuckte mit den Achseln. „Ich kann es jetzt wirklich nicht mehr sagen.“ Sie wurde rot. „Ich habe da so einen Schreck bekommen, da ich auch wusste, dass ich ja eigentlich gar nicht da sein durfte ...“

„Das ist nun wirklich kein Problem“, versicherte ihr Esther und breitete ihre Aufmerksamkeit in Wellen aus. Schon nach Kurzem berührte sie drei Wesen, die ihr nur zu vertraut waren ... und vier weitere, die sie noch nicht kannte, und nickte grinsend. Lena gab ihr zu verstehen, dass es ihr leidtat, das Mädchen und den Jungen so erschreckt zu haben, dass sie aber im Moment zu beschäftigt wären und erst in Kürze herauskommen würden.

<Eine ganze Familie mit zwei Kindern möchte sich uns anschließen!>, ließ sie Esther wissen. <Aber wir klären das schon unter uns. Kümmere dich lieber um die neuen Diener des Kreises.>

„Diener des Kreises?“, wiederholte Esther verblüfft und die Drei vor ihr sahen sie jetzt erstaunt an. Sie zuckte mit den Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Dreien zu. „Ich soll mich im Auftrag dieser drei Geister bei euch entschuldigen. Sie wollten euch wirklich nicht erschrecken“, versicherte Esther. „Es sind jedenfalls gute Freunde von uns, die uns aus Portbach gefolgt sind und sich jetzt um ein paar Seelen kümmern, die sich uns anschließen wollen.“ Sie grinste schief als sie die riesigen Fragezeichen auf den Gesichtern der Drei sah. „Sorry, aber im Moment kann ich das einfach auf die Schnelle noch nicht richtig erklären. Was das mit 'Diener des Kreises' anbelangt, weiß ich selbst noch nicht, was Lena damit überhaupt gemeint hat.“

„Das werden wir alle in Kürze wissen“, ertönte mit einem Mal die freundliche Stimme von Taraz, die sich neben Andrasc, Elly und Tschorna der kleinen Gruppe näherte. Als Andrasc schließlich vor den Dreien stand, die ihn mit offenen Mündern wie versteiner anstarrten, gingen Veränderungen durch alle drei.

Baretahn ließ sich auf ein Knie sinken und senkte seinen Blick. Auch die beiden Mädchen sanken auf beide Knie, senkten ihren Kopf und legten beide Hände mit den Handflächen vor sich auf den Boden. Karan auf Tschornas Stirn leuchtete hell auf und es war ihre Stimme, die Tschorna sagen ließ. „Jetzt wird es klarer. Beide spüren den Drang, fühlen sich aber so unwürdig, weil sie eine große Schuld plagt.“ Sie leuchtete erneut auf und alle spürten die Machtwelle, die von ihr ausging und nach einer Weile wieder auf die Lichtung zurückkehrte.

„Macht euch keine Sorgen. Feuerhörnchen hat euch längst verziehen und es geht ihr gut“, erklärte Karan schließlich absolut kryptisch, aber die drei konnten mit dieser Information durchaus etwas anfangen.

Dianala und Zegelind starrten Karan mit riesengroß aufgerissenen Augen und sich dann gegenseitig an, ehe sie sich erleichtert umarmten und, immer noch kniend, zu weinen begannen.

„Aber wie kann sie uns verzeihen, wenn wir sie doch im Stich gelassen haben, als sie uns am dringendsten brauchte?“, schluchzte Zegelind.

„Weil ihr Herz größer ist, als es euer Verstand war“, entgegnete Karan kryptisch und an ihrem Grinsen erkannten die anderen, dass da Tschorna sprach. Die beiden Mädchen schluchzten noch mehr und hielten sich aneinander fest.

„Und wer ist bitte Feuerhörnchen?“, wunderte sich Esther.

„Eine Freundin der beiden, die vor fast zwei Jahren eine Tiermagie in sich entdeckt hat, mit der die beiden hier nicht fertig geworden sind“, antwortete Tschorna.

„Ja und?“ Esther verstand immer noch nicht.

„Sie haben nicht verhindert, dass das Mädchen weggelaufen ist“, antwortete Karan. „Tiermagie scheint auch heutzutage im modernen Terralt noch immer nicht so gerngesehen zu sein.“ Sie schüttelte den Kopf von Tschorna. „Ich hätte schon gehofft, dass das nach all der Zeit besser geworden wäre.“

„Okay, das nehme ich jetzt einmal so hin, aber was hat das jetzt mit der Priesterin des Steinkreises zu tun?“

„Sie haben einfach das Gefühl, nicht würdig zu sein, auch wenn sie sich sehr zu dieser Steinkreis hingezogen fühlen“, antwortete Andrasc auf ihre Frage und half den beiden Mädchen nacheinander dabei aufzustehen. Beide sahen ihn dabei gleichermaßen entsetzt und fasziniert an, wie er sie berühren konnte, obwohl er doch keinen Körper haben konnte.

„Sie scheinen ähnlich stark wie Mutter zu sein“, stellte Esther fest und Andrasz lachte fröhlich, erwiderte aber nichts.

Diese Bemerkung holte jedoch Zegelind aus ihrer Erstarrung und sie blickte scheu zu Esther hoch, traute sich jedoch nicht, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge brannte.

„Du kannst ruhig fragen“, erklärte Esther und grinste das schlanke Mädchen, dass nur etwa einen Handbreit kleiner war als sie, an. „Ich weiß jetzt wohl nicht genau, was ihr gemacht, oder wohl genauer nicht gemacht habt, aber glaube bloß nicht, dass ich immer alles mache, was von mir verlangt wird.“ Beide Mädchen sahen sie zweifelnd an, während der Junge seinen Blick zum Himmel richtete, so als hätte er gerne etwas gesagt nach der Art 'Seht ihr. Das sage ich schon monatelang, aber ihr glaubt mir ja nicht.'

„Ich weiß immer noch nicht viel über Terralt, aber es scheint Ähnlichkeiten zwischen der Personifizierungen von Steinkreisen und Geistern zu geben und für beide ist es schon außergewöhnlich, wenn sie uns berühren können.“

Taraz erschien plötzlich neben Andrasc, dessen Nähe sie zu suchen schien. „Esther hat Recht. Wir sind in der Regel wohl stärker als Geister, aber nicht alle von uns könnten auch einen Menschen berühren“, gab sie zu.

„Das ist übrigens Taraz, die Verkörperung des Steinkreises von Portbach, wo wir herkommen.“

Nun kamen auch noch Elly, Eva und Tschorna näher. Alle drei waren die ganze Zeit über locker mit Esther verbunden gewesen und hatten sowohl das Gespräch mit den Dreien, als auch die Bemerkung von Lena gehört.

„Lena hat übrigens wieder einmal ins Schwarze getroffen“, meinte jetzt Elly im Plauderton, ging auf die Drei zu und umarmte die überraschten Mädchen, die sich schnell wieder aufrichteten und den Jungen herzlich. „Ich bin Elly und so was wie die Dienerin von Tschorna ...“

„Glaubt ihr kein Wort!!“, fiel ihr Tschorna in Selbiges und funkelte Elly an. „Erstens brauche ich keine Dienerin und zweitens hast du immer noch nicht begriffen, wie einzigartig du bist. Bisher haben wir nur Steinkreise besucht, die eigentlich bekannt waren. Bis auf den ersten damals bei der Mine. Den hätte außer dir niemand bemerkt.“ Tschorna schüttelte entrüstet ihren Kopf, dass ihre Haaren flogen. „Dienerin! Ich fasse es einfach nicht!“

Sie sah zu Andrasc hinüber. „Aber mit einem hat Elly recht. Würdest du bitte, Andrasc?“ Karan begann auf ihrer Stirn zu pulsieren.

Andrasc nickte ernst und machte mit beiden Händen eine kreisende Bewegung. Alle Säulen, die den Steinkreis bildeten, fingen ganz zart an zu leuchten und zu schwingen, bis sich Töne bildeten. Sowohl das Leuchten als auch die Töne nahmen zu.

Schließlich bildete sich der große Akkord und füllte die Lichtung aus.

Tschorna wandte sich den drei Kindern zu und betrachtete sie nachdenklich, während alle drei entspannt dastanden, die Augen geschlossen hatten und wie als Antwort auf dieses Leuchten, selbst anfingen, eine zarte leuchtende Aura zu bilden, die im Nachmittagslicht kaum zu erkennen war.

Der Karan begann zu pulsieren und auch Tschornas Stimme nahm die Färbung des mächtigen Geschöpfs aus grauer Vorzeit an.

„Ich verstehe, dass ihr euch noch nicht stark und rein genug fühlt, zu Priesterinnen und Priestern des Steinkreises zu werden, aber ich spüre bei euch Dreien die Verbundenheit mit der alten Magie und ernenne euch daher zu Dienern der Steinkreise. Ihr bestimmt selbst, wenn ihr euch dafür bereit haltet, die ganze Verantwortung auf euch zu nehmen.“ Alle drei senkten ihre Blicke und hatten das Gefühl, plötzlich wie mit einem Übermaß an Energie angefüllt zu werden, dass sie gar nicht ganz fassen konnten. Alle drei leuchteten mit einem Mal weitaus heller als die Nachmittagssonne. Was sie dabei empfanden, hätte niemand beschreiben können, aber alle drei nahmen plötzlich auch die anderen schon aktivierten Steinkreise und noch viel mehr wahr und es war wieder Zegelind, die staunend zu Esther meinte.

„Ich hätte nie gedacht, dass ihr von so weit herkommt!“

Dianala blickte dabei genauso verwundert in die Richtung der Überreste des ehemaligen Tempels der Diana. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, wie sie ihrem Stamm ihre Zugehörigkeit zum Steinkreis hätte erklären sollen und nun wusste sie, dass sie in besonderem Maße für diesen Tempel verantwortlich war und dafür, dass er wieder aufgebaut werden würde. Während der Erleuchtung hatte sie erfahren, wie auch ihr Glaube an viele Götter eigentlich ziemlich stark mit dem Glauben an die ewige Erdmutter zusammenhing, und welche Kräfte da am Werk waren. Sie erschauerte als sie auch begriff, was für eine Art Wesen die Sechs hier vor Kurzem vertrieben hatten.

„Was müssen wir als Diener eigentlich machen?“, erkundigte sich schließlich Zegelinds Bruder neugierig und Andrasc lachte.

„Ich habe absolut keine Ahnung“, erklärte er und seine Augen funkelten. „Früher hätte es viele Rituale und Feste mit ganz bestimmten Abläufen gegeben, aber auch die Rituale der Kadane haben sich sehr vereinfacht.“ Er sah sie freundlich an. „Das Wichtigste ist die Verbindung zu den Kreisen, aber die spürt ihr jetzt ja bereits.“

Dianala und Zegelind sahen sich mit großen Augen an und nickten. Beide spürten die Verbindungen, die zu ihnen passten, als hätten sie bisher gefehlt. Beide begriffen jetzt auch, warum sich bei ihnen nie der kleinste Hinweis auf ein magisches Talent gezeigt hatte. Dieser Platz war durch diese alte Magie besetzt, die genauso göttlich, aber doch auch so anders war.

Tschorna reichte ihnen ihre rechte Hand und alle drei hatten die völlig neue Situation schon so weit verarbeitet, dass sie den Glückwunsch grinsend entgegennehmen konnten. Alle drei spürten aber auch die Macht, die Karan darstellte.

„So, ist jetzt noch jemand zu retten, zu heilen, zu befreien oder sonst was?“, kam es unvermittelt von der genervt klingenden Hüterin der Tiere und man hörte die Ungeduld in ihrer Stimme. Die meisten sahen sie verwundert und irritiert an. Nur Andrasc verbeugte sich vor der jüngsten und immer noch kleinsten Hüterin, die wie jetzt fast immer in einem dunkelgelben Umhang gekleidet war und sich von den drei Hüterinnen in den letzten Monaten mit Abstand am meisten verändert hatte, auch wenn es ihr selbst gar nicht bewusst war. Als sie auf Terralt ankam, war sie ein wenig pummelig gewesen, doch davon war nun rein gar nichts mehr zu sehen und mittlerweile war sie muskulös und fast so groß wie Janessa, die sie im Kampf nur noch selten besiegen konnte.

„Jetzt ist alles geregelt und es ist noch etwas Zeit, bis sich die Menschen hier wieder für das Fest einfinden werden“, erklärte Andrasc ernst und verbeugte sich leicht vor Vanessa. „Bitte grüße die, mit denen du verbunden bist, von mir, und sage ihnen, dass auch sie hier im Kreis immer willkommen sind. Im Steinkreis und in seiner Umgebung darf kein menschliches oder tierisches Leben mit Absicht beendet werden.“

Vanessa nickte ernst, reichte ihren Umhang ihrer Mutter und ging schnurstracks auf die Stelle zu, an der der Wald den Steinkreis berührte. Sie glühte gelb und verwandelte sich noch beim Gehen in eine junge Bärin. Die war nun goldgelb und sah sehr beeindruckend war. Auch wenn sie ja eigentlich die erste gewesen war, die sich in einen viel größeren Menschen verwandelt hatte, blickte besonders Esther ihr bewundernd nach, wie sie, immer noch auf zwei Beinen aufrecht gehend, graziös auf die Bäume zuging, die sich fast von alleine zu bewegen schienen, so viele Tiere hatten sich neugierig und ängstlich in ihnen angesammelt. Zegelind blickte ihr nach und fing wieder an zu heulen. Dianala nahm sie in ihre Arme.

„Was hat sie denn?“, erkundigte sich Eva besorgt und Elly antwortete ihr leise, während Vanessa im Schutz der dichten Äste verschwand.

„Es geht wieder um diese gute Freundin der beiden, die sich in eine Art riesiges Eichhörnchen verwandeln konnte“ erklärte sie.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739314181
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Wikinger Schwarzmagie Steam Magic Prophezeiung Umweltverschmutzung Assassinen Magie Fantasy Terralt Parallelwelt

Autor

  • Dirk Richter (Autor:in)

Ich bin Opladener und bleibe es. Dort habe ich meine Kindheit verbracht und zu schreiben begonnen. Von einem Alter etwa 10 Jahren bis etwa 20 habe ich ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher verfasst, die jetzt teilweise als eBooks zu bekommen sind. Vor etwa 10 Jahren meldete sich die Magie der Worte wieder aus einem langen Urlaub zurück. Und jetzt entführe ich Menschen auf fantastische Parallelwelten zu unserer Erde. Ich lebe jetzt mit meiner Frau in Bonn und arbeite im IT-Support.
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Titel: Terralt - Band 3 - Die Pyramidenprophezeiung