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Terralt - Band 1 - Die drei Hüterinnen

Das Abenteuer beginnt

von Dirk Richter (Autor:in)
450 Seiten
Reihe: Terralt, Band 1

Zusammenfassung

Endlich ist die Trilogie komplett. Nach dem zweiten und dem ersten Band kann ich jetzt auch den ersten als eBook veröffentlichen. Erlebt, wie die Mutter mit ihren drei Töchtern auf der magischen Parallelwelt ankommt und langsam erkennt, dass auf die 4 Großes wartet. Alles ist hier anders und naturnäher. Nur die Menschen sind doch ähnlich und alles andere als paradiesisch und gut.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Terralt – Band 1

Die drei Hüterinnen

von Dirk Richter



Bonn, den 16.11.2009

Dies hier ist die finale Version des ersten Bandes der als Trilogie angelegten Reihe über Terralt. Ich weiß, wie die zu lösenden Endaufgaben aussehen werden, aber ich kann den Weg dahin noch nicht richtig sehen.

Jede(r), der diese Fassung von mir erhält, wird gebeten, ihre oder seine Kritik am besten in schriftlicher Form an mich zu senden. Jeder, der diese Fassung nicht von mir erhält, soll mich entweder kontaktieren, um eine Erlaubnis einzuholen, oder die Datei gleich wieder löschen.

Alle Rechte an Terralt und diesem Buch liegen nämlich bei mir, Dirk Richter. Zu kontaktieren bin ich über: dr_dirk@web.de

Wie bei so vielen Büchern, gilt auch bei dieser Reihe, dass jede wie auch immer geartete Ähnlichkeit der handelnden Personen zu lebenden oder toten Personen rein zufällig wäre.



Inhalt





Ungewollte Abreise

„Ich dachte eigentlich, Sie hätten das Rauchen aufgegeben, Herr Kommissar.“

Kommissar Ehrwald grunzte unwillig und wischte sich mit dem Ärmel seiner grauen Schlechtwetterjacke den Regen aus dem Gesicht. Wie er Herrn Koch von der Spurensicherung doch mochte. War es eigentlich zwangsläufig so, dass man so bissig wurde, wenn man immer als Erster an einem Tatort sein musste und akribisch alle Spuren sicherte? Was gab es hier schon groß zu sichern? Sie waren mitten im Wald am Ende eines Feldweges, auf dem sich rein rechtlich gar kein Auto befinden sollte. Ohne den Generator, der lautstark die beiden großen Scheinwerfer mit Strom versorgte, hätten sie jetzt schon im Dunkeln gestanden und von oben bestäubte sie jeder Windstoß, der durch die Bäume fuhr, mit einem feinen Regennebel. Der Herbststurm war ungewöhnlich kurz und heftig gewesen und hatte wahrscheinlich sowieso alles, was eine Spur hätte sein können, weggespült. Scheiße. Und dann war auch noch Samstagabend und er hatte Karten für die Oper. Seine Frau hatte ihn giftig angesehen, als sein Handy geklingelt hatte, aber was sollte er machen? Er hatte schließlich Bereitschaft.

„Haben Sie denn schon irgendetwas finden können, Herr Koch?“

Herr Koch schaute auf das immer noch leicht vor sich hinqualmende Auto, ein alter VW-Kombi, der ironischerweise den Gedenkstein gerammt hatte, den verzweifelte Eltern hier vor ein paar Jahren hingestellt hatten. Kommissar Ehrwald musste den Text gar nicht erst lesen. Vor fast fünf Jahren war er es gewesen, der den Fall Melanie Grohe geleitet hatte. Es war sein erster eigener Fall gewesen. Eine fast 20-jährige Studentin für Geschichte und Sinologie hatte sich im Sommer mit ein paar Kommilitonen genau an dieser Kreuzung verabredet und war nie angekommen. Dabei war sie sogar früher aus ihrer Studentenbude in der Bonner Südstadt aufgebrochen, weil sie mit dem Fahrrad hochfahren wollte. Das Fahrrad hatten sie dann schließlich gefunden. Es lehnte, soweit er sich noch erinnerte, genau an der großen Eiche, die jetzt in dem frühen Herbststurm einen großen Ast verloren hatte, der diesem Auto wohl zum Verhängnis geworden war. Und jetzt stand da dieses leicht vor sich hinschwelende Auto und von den Insassen fehlte jede Spur. Das Mädchen damals war auch einfach verschwunden.

Ein Windstoß rüttelte an der Eiche und ergoss eine Ansammlung von Regentropfen genau in den Nacken des Kommissars.

Herr Koch schüttelte bedauernd den Kopf. „Wer auch immer in dem Auto gesessen hat, scheint mit Sack und Pack verschwunden zu sein.“ Er hielt zwei dieser ominösen Plastikbeutel für Fundstücke hoch. „Wir haben die Autopapiere gefunden, nach denen das Auto auf eine Tabea G. zugelassen ist. Sie wohnt in Bonn - Bad Godesberg, irgendwo im Villenviertel, wenn ich mich nicht irre.“

„Das hier …“, damit hielt er die andere Tüte mit einem modernen, pinken Handy hoch, „das haben wir etwa zehn Meter von hier in diesem Feldweg gefunden. Es war sogar noch eingeschaltet und die letzte Nummer, die gewählt wurde, war eine Nummer aus dem Bonner Vorwahlbereich. Ich habe die Nummer aber natürlich nur anzeigen lassen und nicht gewählt.“

„Sonst nichts?“

Herr Koch schüttelte den Kopf. „Wir werden natürlich das Auto mit zum Präsidium nehmen, aber hier draußen habe ich keine großen Hoffnungen.“

Er sollte recht behalten. Alles, was sie herausfanden, reichte letztendlich nur für eine kleine Meldung in der Rubrik 'Lokales' im General Anzeiger.

‚Mutter mit drei Kindern im Wald nach Unfall verschwunden.

Am Samstag kam es, wohl infolge des kurzen Herbstgewitters, zu einem Unfall mitten im Wald oberhalb von Bonn-Kessenich. Ein herabfallender Ast führte dazu, dass das Fahrzeug von Frau G., die dort mit ihren drei Kindern unterwegs war, einen Gedenkstein rammte und fahruntüchtig liegen blieb. Von der Mutter und ihren Kindern fehlt seitdem jede Spur.

An ebendieser Stelle verschwand vor mehr als fünf Jahren schon einmal eine Person. Damals war es eine junge Studentin, zu deren Angedenken ihre Eltern den Gedenkstein errichten ließen.

Wie Herr Kommissar Ehrwald vom zuständigen Bonner Polizeipräsidium erklärte, werde davon ausgegangen, dass die elektrische Anlage des Autos defekt war. Von der Mutter und den drei Kindern fehle jedoch jede Spur. Sie hätten nirgends Hinweise gefunden, die auf ein Gewaltverbrechen hinweisen würden.‘



Nach fast zwei Wochen hatte Kommissar Ehrwald schon viele Puzzleteilchen zusammengetragen. Er wusste jetzt, dass in dem Auto die 45-jährige Tabea G. mit ihren drei Töchtern, der 7-jährigen Amanda, der 10-jährigen Natascha und der 13-jährigen Samantha, gesessen hatte. Nach Rückfragen bei dem geschiedenen Mann und dem Hausvermieter und der Untersuchung der Dachgeschosswohnung war herausgekommen, dass sie wohl für einen überraschenden Kurzurlaub losgefahren waren, aber das 'Warum' blieb genauso im Dunkel wie die Umstände ihres Verschwindens.

Der Exmann von Frau G. hatte wohl Zeter und Mordio geschrien und sich über die Inkompetenz von Kommissar Ehrwald und dem Team, das für diese Nachforschungen zuständig war, beschwert. Allerdings schien er sich nicht so wirklich intensiv um seine Töchter gekümmert zu haben, und als er dann alleine und laut rufend um die Stelle des mutmaßlichen Verschwindens herum durch den Wald streifte, führte das auch nur zu einer starken Erkältung. Hinweise zu den Mädchen fand er dort, wo es bei niedrigen Temperaturen und starkem Wind immer weiter regnete, nicht. Es gab Hinweise, dass auch finanzielle Probleme zu dieser spontanen Autotour geführt haben könnten und das erzeugte am Heiligenschein des entsetzten Vaters doch starke Kratzer.

Wie dem auch sei. Es ärgerte Kommissar Ehrwald entsetzlich, dass er einfach nicht mehr Hinweise finden konnte. Die Vier schienen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben, genau wie fünf Jahre vor ihnen die Studentin.



Aber was geschah fast acht Stunden vorher wirklich? Zu diesem Zeitpunkt war die Mutter der drei Mädchen noch in ihrer Wohnung in einem schönen Vorort von Bonn - Bad Godesberg.

„Mutter, ich bin wieder zurück.“ Samantha war erfolgreich die enge Stiege zu ihrer Wohnung hochgestiegen. Erfolgreich, weil sie nicht über die wild herumstehenden Schuhe ihrer Schwestern gestolpert war, die den direkt unterhalb ihrer Wohnung liegenden Treppenabsatz strategisch so günstig – oder ungünstig – füllten, dass das Hochgehen eher einem Slalom glich. Das Haus hatte bestimmt schon glorreichere Zeiten erlebt, aber das war nun auch schon etwas länger her. Wie in solchen Häusern üblich, waren die Zimmer niedriger und kleiner, je höher man stieg, und sie wohnten direkt unter dem Dach, inklusive des Dachzimmers direkt im Dach. Ob da früher einmal die Bediensteten gewohnt hatten? Jetzt hatten die vier Weiber, wie sich scherzhaft gerne selbst nannten, dort ihr Zuhause und fühlten sich recht wohl. Es war warm und trocken und jedes der Mädchen hatte ein eigenes Zimmer, in das es sich zurückziehen konnte.

Es wäre schön gewesen, wenn ihr Vater noch da gewesen wäre, aber es gab schon gute Gründe dafür, dass er und ihre Mutter sich getrennt hatten. Nun verbrachten sie dann und wann ein Wochenende mit ihm und das reichte Samantha persönlich völlig. Es wäre schön gewesen, wenn ihre finanzielle Situation nicht so angespannt gewesen wäre. Irgendwie kriegten sie aber immer wieder die Kurve, auch wenn es bei Klassenfahrten häufig Probleme gab und die Urlaubsreisen sich auch nicht gerade mit denen vieler ihrer Schulkameraden messen konnten. Aber sie fühlten sich als Familie wohl und kamen sehr gut miteinander zurecht. Das war ihr das Wichtigste.

Es hatte ihr selbst viel geholfen, als sie sich entschlossen hatte, in der Gemeinde in einer Jugendgruppe mitzumachen, die die Patenschaft für eine Schule an der Elfenbeinküste übernommen hatte. Sie erhielten regelmäßig Berichte über die Situation in dieser Schule und der Kinder, die sie besuchten. Dagegen ging es ihnen ja wirklich blendend.

Samantha schloss die Tür auf und trat in den Flur. Waren ihre Schwestern noch nicht da? Es war so leise.

„Mutter?“

Sie lauschte. Was war das in der Küche? Sie zog ihre Jacke aus, hängte sie an einen der schon fast überfüllten Haken an der Haustür. Dann stellte ihre Tasche an dem Mauerstück zwischen ihrem Zimmer und dem ihrer mittleren Schwester Natascha ab, ehe sie sich umwandte und zur Küche ging. Die Tür war geschlossen und das alleine war schon seltsam. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter und öffnete sie.

„Oh, hallo Samantha. Ich habe dich gar nicht kommen gehört.“ Samantha nahm gleichzeitig mehrere Sachen wahr. Ihre sonst so starke Mutter saß auf dem Stuhl am Kopfende des kleinen Tischs, an dem sie immer aßen, und sie hatte geweint. In den leicht zitternden Händen hielt sie einen Brief, der irgendwie hochoffiziell aussah. Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht!

„Was ist los?“

„Du erinnerst Dich doch, dass jemand das Haus von den Vorbesitzern gekauft hat?“

Samantha nickte stumm.

„Nun ... das hier“, und ihre Mutter schwenkte fast wütend den Brief, „ist jetzt ein Brief von diesen netten Leuten, in dem sie uns darüber informieren, dass sie uns zum nächstmöglichen Zeitpunkt kündigen, weil sie Eigenbedarf anmelden.“

„Frau Eberts hatte doch gesagt, dass wir hier auch weiterhin wohnen könnten, solange wir wollen.“ Samantha war ehrlich entsetzt, doch ihre Mutter zuckte nur erschöpft mit den Schultern.

„In dem Brief steht irgend so ein Blabla darüber, wie sehr sie 'diese neue Entwicklung' bedauern würde ...“ Sie schniefte und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Ich weiß wirklich nicht, wie wir das schaffen sollen.“ Sie starrte auf den Brief, ohne auch nur ein Wort zu erkennen. „Jetzt, wo die Arbeit bei der Deutschen Telekom auch zu Ende ist.“

Samantha nickte traurig. „Wir bedauern es sehr, das Callcenter in Bonn schließen zu müssen, bieten ihnen aber gerne an, eine vergleichbare Tätigkeit in unserem Callcenter in Köln aufzunehmen“, zitierte sie den Kernsatz des Kündigungsschreibens von dem bisherigen Arbeitgeber ihrer Mutter. „Und dann kostet dich die Fahrt nach Köln fast die Hälfte des Lohnes. Die haben doch echt einen Schuss weg.“ Dieses Schreiben war vor fast einem Monat gekommen und jetzt schrieb ihre Mutter, wie wahrscheinlich alle aus dem Callcenter, eine Bewerbung nach der Nächsten.

„Vielleicht sollten wir ja nach Köln ziehen ...“, warf sie ein, doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf.

„.Und wenn wir gerade eingezogen sind, teilt mir die Telekom dann salbungsvoll mit, dass sie jetzt leider auch gezwungen sind, das Callcenter in Köln zu schließen, aber ich könnte doch, für dasselbe Geld gerne in ...“

„... Mönchengladbach weiterarbeiten“, schlug Samantha vor. „So lernen wir dann ganz Deutschland kennen.“

Ihre Mutter schüttelte leise lachend den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Nein, Schatz. Das ist leider auch keine Lösung. Aber das mit der Wohnung ... Es tut mir leid, dass du das jetzt miterleben musst.“

„Rede keinen Unsinn, Mutter“, wehrte Samantha ab. „Die Kleinen verstehen es vielleicht noch nicht so, aber ich bin doch ...“

„... auch noch nicht ganz 14 und solltest dir nicht über so etwas Gedanken machen müssen“, vollendete ihre Mutter den Satz.

„Kommt Amanda heute eigentlich von alleine?“

„Oh Gott, Amanda! Die habe ich ja ganz vergessen!“ Hektisch wollte ihre Mutter aufspringen, doch Samantha hielt sie fest.

„Bleib sitzen, Ma. Ich hole sie von der Grundschule ab. Ist Natascha heute wieder bei ihrer Freundin in Ippendorf?“

Ihre Mutter nickte. „Ja. Connies Mutter hat beide von der Schule abgeholt.“

„Okay.“ Samantha zog sich wieder ihre Jacke an. „Ich bin gleich wieder da. Gibt es eigentlich von gestern noch Nudeln?“

„Du hast recht. Ich sollte da noch rasch etwas zaubern. Und: Danke.“

„Wofür?“

Samantha umarmte ihre Mutter und kletterte dann wieder die Stiege hinunter, während ihre Mutter vor dem Herd stand und grübelte, ohne den Topf mit den Nudeln wahrzunehmen. Was sollten sie bloß machen?!

---

Samantha schaute rasch auf ihre Armbanduhr, während sie die Treppe in ihrem Haus, das bald nicht mehr ihr Haus sein sollte, hinunterstieg. Wenn sie den Stundenplan ihrer kleinen Schwester richtig im Kopf hatte, musste die jetzt schon fast eine halbe Stunde gewartet haben. Sie holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer vom Sekretariat. Sie war selbst schon auf diese Schule gegangen, die nur ein paar Straßen von ihrem Haus weg war.

„Hallo Frau Schneider. Ist meine kleine Schwester noch da?“

„Nein, nicht Natascha. Ich meine Amanda. Ja genau, die.“

„Ach, sie ist noch auf dem Spielplatz auf dem Hof. Könnten Sie ihr bitte sagen, dass ich in wenigen Minuten da bin und sie abhole? Vielen Dank, Frau Schneider.“

Samantha schloss ihr Handy wieder und öffnete die Haustür. Für so ein Handy war ein geschiedener Vater mit einem schlechten Gewissen dann ja wieder gut. Sie grinste und machte sich auf den Weg zur Schule.

Es ist eigentlich immer ungeschickt, über das Wetter zu reden, aber wenn es sich nicht ganz normal verhält, fällt es auch Menschen auf, die sonst nicht um ein Gesprächsthema verlegen sind. Samantha fiel beispielsweise auf, dass es drückender als schon normal üblich war und in dem Kessel, den die Hügelketten rechts und links des Rheins bildeten, war es im Sommer schon sehr oft ziemlich schwül. An den Wolken konnte man noch nichts erkennen, aber es roch bereits leicht nach Gewitter, auch wenn das jetzt noch eine Zeit weg war. Jedenfalls erreichte sie schon nach etwa fünf Minuten die Grundschule und fühlte sich bereits reif für eine herrlich kalte Dusche.

Sie durchschritt das Tor und betrat den Schulhof, auf dem ihre Schwester schon gelangweilt auf einer der Bänke saß und die Beine baumeln ließ.

„Hallo, Große. Das hat aber lange gedauert“, beschwerte sich die Erstklässlerin stirnrunzelnd.

„Hallo Knubbel“, erwiderte Samantha grinsend, genau wissend, dass ihre kleine Schwester jetzt hochgehen würde, wie eine Rakete.

Und wirklich verfinsterte sich das rundliche Gesicht sofort. „Du sollst mich nicht Knubbel nennen!“, beschwerte Amanda sich und stemmte ihre Hände in die Hüfte.

„Ist recht, ... Knubbel.“ Samantha nahm die Schultasche hoch, die vor Amanda auf dem Boden stand, und hängte sie sich über die Schulter. „Wie war es denn in der Schule?“

Sie hielt dem etwa 1,20 großen Energiebündel ihre Rechte hin, die diese geflissentlich übersah. „Solange du mich ‚Hmhm‘ nennst, sag ich gar nichts!“

„Ach, Amanda. Ich will dich doch nur etwas necken. Komm, lass uns gehen. Mutter hat das Essen bestimmt fertig, wenn wir ankommen.“

„Ich habe solchen Hunger, ich könnte einen Wolf essen“, stellte Amanda fest, die jetzt nicht gerade danach aussah, als würde sie verhungern. Das machte ihr auch immer Probleme mit anderen Kindern ihres Alters. Sie hatte eine Schönheit und Kraft, die nicht mit einem puppenhaften Äußeren verbunden waren, und wurde deswegen oft gehänselt. Samantha konnte ihr das nachfühlen. Auch sie entsprach nicht dem Schönheitsideal der Jungmädchenhefte. Zumindest beteiligte sie sich nicht genügend an den Wettbewerben um den Titel 'schönstes und dümmstes Girlie der Schule'.

„Weißt du denn eigentlich, was ein Wolf ist?“ Samantha winkte, ehe sie den Schulhof verließen, noch rasch Frau Schneider zu, die in ihrem Büro am Fenster stand und ihren Gruß lächelnd erwiderte.

„Nö, aber ich finde, das klingt irgendwie toll. Hat die Iris gesagt.“

„Ein Wolf ist ein Tier, das wie ein großer Hund aussieht und in Rudeln lebt, das sind Gruppen von Tieren.“

„Auch hier in Bonn?“

„Jetzt nicht mehr, aber früher gab es auch bei uns Wölfe und die Menschen hatten Angst vor ihnen.“

„Wieso? Wenn es nur Hunde sind, brauchen sie doch keine Angst haben?“

„Es sind aber wilde Hunde.“

„Trotzdem! Hunde sind lieb.“

„Na ich weiß ja nicht“, zweifelte Samantha. „Mich hat schon einmal einer gebissen.“

„Wirklich?“

Samantha nickte. „Ja. Da war ich nur etwas älter als du.“

„Muss schon lange her sein.“

„Stimmt. Ich bin ja auch schon so unendlich alt“, seufzte Samantha und knuffte ihre kleine Schwester.

---

Samanthas Vermutung stellte sich als richtig heraus. Als sie Zuhause ankamen – Amanda hatte ihr während des ganzen Weges jede Einzelheit erzählt, die sie heute erlebt hatte –, wirkte ihre Mutter schon viel ruhiger und das Essen dampfte in der Pfanne. Während sie die Wohnung betraten, war sie gerade am Telefonieren.

Samantha sah sie fragend an. Sie formte lautlos den Namen Michele und sie nickte. Also ihre Freunde aus einem der kleinen Dörfer, die zu Wachtberg gehörten. Sie hatten seit Kurzem auch drei Kinder und waren auch schon einmal zusammen im Urlaub gewesen. Sie fand Michele teilweise ziemlich bestimmend, aber insgesamt waren sie schon okay. Wenn sie jetzt vielleicht das Wochenende ...

„Michele fragt gerade, ob wir nicht vorbeikommen wollen“, unterbrach ihre Mutter ihren Gedankengang und Samantha musste grinsen.

„Das ist eine gute Idee“, erwiderte sie.

Ihre Mutter hielt wie zufällig eine Hand über die Hörmuschel und meinte leise: „Ich weiß nicht, ob ich jetzt auf die guten Ratschläge Lust habe.“

Samantha zuckte nur die Achseln. „Immer noch besser, als wenn uns hier die Decke auf den Kopf fällt.“

Ihre Mutter sah sie nachdenklich an.

„Fahren wir Baby gucken?“, warf Amanda ein und ihre Mutter nickte, während sie den Hörer wieder nahm. „Also es scheint danach auszusehen, dass dein Vorschlag einstimmig angenommen wird.“

„Das ist doch eine suuuuper Idee“, schwärmte Amanda. „Es ist doch schon Ewigkeiten her ...“

„Genauer gesagt drei Wochen“, fiel ihr Samantha grinsend ins Wort.

„Du bist ja sooo doof“, explodierte ihre Schwester.

Ihre Mutter hatte mittlerweile das Gespräch beendet und legte das Telefon auf den hohen Kühlschrank, damit es nicht in die Gefahr kam, dasselbe Ende zu finden wie das Letzte. Das lag nämlich ein paar Tage vorher auf dem Tisch, bis es eines der Mädchen aus Versehen herunterfegte. Es war bei einer Auseinandersetzung zwischen den beiden jüngeren Mädchen heruntergefallen und auch der gewiefteste Puzzlemeister hätte es nicht wieder zusammensetzen können.

Nach dem Mittagessen huschten alle drei Frauen mehr oder minder zielstrebig durch die kleine Wohnung und packten vier Taschen. Nataschas Tasche wurde natürlich auch schon gepackt und es entbrannte ein freundschaftlicher Kampf zwischen Amanda und Samantha. Amanda versuchte, eine sinnlose Sache nach der anderen in die Tasche ihrer Schwester zu schmuggeln und Samantha versuchte, zumeist erfolgreich, sie daran zu hindern.

„Sollen wir jetzt warten, bis Natascha wieder kommt?“, erkundigte sich Samantha schließlich bei ihrer Mutter.

Diese schüttelte den Kopf und rückte müde ihre Brille zurecht. „Wir können sie auch gleich bei ihrer Freundin abholen, wo wir jetzt schon einmal fertig sind.“

„Soll ich denn schon mal runter gehen und mit Amanda Fäga beschwören?“, fragte Samantha betont unschuldig und grinste dann.

„Nenne unser Auto nicht immer Fäga!“, rügte ihre Mutter sie halbherzig.

„Wieso denn nicht?“, beschwerte sich Samantha. „Mir ist 'Fällt gleich auseinander' einfach zu lang. Fäga hält dann vielleicht sogar aus Ärger noch weiterhin alle Einzelteile zusammen.“

Ihre Mutter schüttelte ergeben den Kopf. „Zieht eure Jacken an. Da draußen kann es abends immer recht kalt sein.“

„Soll ich meine Winterjacke vom Speicher holen?“, fragte Amanda hoffnungsvoll und Samantha lachte. „Na, so kalt wird es wohl nicht werden.“

Nachdem sich jede einen halben Stock tiefer ein paar Schuhe geholt hatte, polterten sie die Treppe hinunter. Die ältere Lady, die unter ihnen wohnte, war ja schon Kummer und Krach gewohnt und hatte jetzt sogar ein ganz ruhiges Wochenende vor sich. Aber das war eigentlich auch nicht gerecht. Schließlich kamen sie schon sehr gut miteinander aus und fuhren einmal pro Woche zu Aldi zum Einkaufen. Ob sie jetzt noch schlief? Schließlich hatte ihre Nachbarin ja schon einen recht seltsamen Lebensrhythmus.

Als sie bei ihrem alten Auto ankamen, öffnete Samantha die Beifahrertür wie immer, indem sie den Griff betätigte und die Tür gleichzeitig ruckartig nach oben riss. Jeder Dieb wäre an dieser Tür schier verzweifelt. Schließlich war auch Amanda in ihrem Kindersitz verstaut und Samantha und Amanda schienen beide inbrünstig zu beten, woraufhin Tabea Schwierigkeiten hatte, sich beim Schimpfen ein Grinsen zu verkneifen.

Zuerst gab das Auto nur eine Reihe von Lauten von sich, die von Geräuschen der Unwilligkeit bis hin zu echter Empörung reichten und Tabea merkte, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Endlich bequemte sich Fäga, dann doch einmal anzuspringen.

Langsam ließen sie ihre Heimat hinter sich und bogen in die nächste kleine Straße ein, ihr bisheriges Leben hinter sich zurücklassend, was zu dem jetzigen Zeitpunkt aber noch niemand ahnen konnte.

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Die Luft schien mittlerweile schwer auf den Häusern zu lasten und rührte sich kaum. Es war langsam so schwül, dass sich die Menschen wie durch heißes Wasser zu bewegen schienen.

„Wo wohnt Connie eigentlich?“, fragte Samantha.

„In Kessenich in der Kuhgasse 12“, antwortete Tabea und schaltete laut in einen niedrigeren Gang, ehe sie von einer stärker befahrenen Straße in ein reines Wohngebiet abbogen. „Es muss hier doch eigentlich gleich abgehen“, murmelte sie vor sich hin. Dann bog sie in eine noch kleinere Gasse am Fuße des Kottenforstes ab, wie die Hügelkette hier hieß, die sonst eher auf den Namen Vorgebirge hörte, auch wenn es dahinter gar kein Gebirge gab. Aber das hatte wahrscheinlich irgendwelche historischen Gründe.

Rechts und links fuhren sie an einigen schmucken Einfamilienhäusern vorbei, die auch schon bessere und stolzere Zeiten erlebt hatten, ehe sie schließlich vor einem hielten, das sich durch nichts von den anderen unterschied.

„Kuhgasse 12“, krähte Amanda vom Rücksitz. „Bauern und Hirtenhunde aussteigen.“

„Wie kommst Du denn jetzt auf so was?“, wunderte sich Samantha, während sich Tabea abschnallte und ausstieg.

„Ich bin gleich wieder da. Bitte lasst Fäga noch ein wenig heil“, meinte sie und wandte sich der grünen Haustür vor einem Haus zu, das auch schon gut 60 Jahre auf dem Buckel haben mochte.

„Siehst du, jetzt hat sie auch Fäga gesagt“, hörte sie ihre Jüngste triumphieren, während sie die drei Stufen zur Haustür hochging und klingelte.

Die Frau, die ihr öffnete, kannte sie nur von den Elterntagen in der Schule. Nach dem Austausch einiger belangloser Nettigkeiten hörte sie schon im Hintergrund ihre Tochter und es dauerte nur Augenblicke, bis diese mit ihrer Freundin neugierig aus dem ersten Stock herunterblickte.

„Hallo Mama“, meinte sie gleichermaßen erstaunt wie erfreut und kam dann die Treppe heruntergesprungen. „Was machst du denn hier?“

„Dich abholen, wenn du dich von Connie losreißen kannst“, erwiderte sie lächelnd. Natascha konnte einfach nicht eine Treppe damenhaft hinabschreiten. Dafür hatte die quirlige Neun-, fast Zehnjährige einfach zu viel Energie. Sie war die Tänzerin der Familie, schlank, mit braunen, schulterlangen Haaren und riesigen ausdrucksstarken Augen, die sie auch in ihrem zarten Alter schon perfekt einzusetzen verstand. „Wir wollen zu Michele fahren und dort auch übernachten.“

„Super Sache. Coole Idee.“, und sie wirbelte schon herum und stürmte die Treppe hoch. „Ich hole rasch meine Sachen.“

Die blonde Connie war zu ihrer Mutter getreten und diese legte ihr die Hand auf die Schulter. „Und sie haben drei von dieser Sorte?“

Tabea nickte stolz und deutete hinter sich. „Die anderen warten im Auto.“

Amanda und Samantha winkten herüber, während Natascha schon wieder die Treppe herunter gepoltert kam.

„Schon fertig?“

„Türlich“, meinte Natascha nur. „Tschüss Connie, auf Wiedersehen Frau Kamps.“

„Ein schönes Wochenende, Natascha“, wünschte Frau Kamps ihnen noch hinterher, während Natascha schon den Kofferraum öffnete und ihre Schultasche nur mit Mühe zwischen die Reisetaschen gequetscht bekam. Sich hinter dem Sitz ihrer Mutter auf der Rückbank niederlassend, fing sie sofort an, mit Amanda zu streiten.

„Manchmal bin ich ja schon froh, dass Michael mit seinen 16 Jahren doch schon viel älter ist“, meinte Frau Kamps noch.

„Ist es denn besser, wenn sie älter sind?“

Frau Kamps grinste und schüttelte den Kopf. „Nicht besser, sondern nur anders.“

Tabea ging zum Auto, trennte die beiden Streithähne auf dem Rücksitz, überprüfte den Sitz der Sicherheitsgurte und stieg selbst ein.

Als sie Fäga zu starten versuchte, taten jetzt alle drei Mädchen so, als würden sie Stoßgebete zum Himmel schicken. Sie wollte eigentlich schimpfen, merkte aber, wie ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen. Was würde sie bloß ohne die Drei machen?

Als sie schließlich losfuhren, verdunkelte sich der Himmel von einer Minute zur nächsten. Dicke, fast schwarze Wolken zogen über ihnen zusammen und bäumten sich so perfekt aufeinander, bis die Sonne ausgesperrt wurde. Tabea hatte vorgehabt, am Fuße des Venusberges entlang zu fahren, bis sie schließlich den Einschnitt in Bad Godesberg erreichen würden, um dann in Richtung Wachtberg auf das Plateau abzubiegen. Soweit ein guter Plan. Von dem Unfall auf der Straße in Richtung Bad Godesberg konnte sie jedoch genauso wenig wissen wie von dem völlig entnervten Autofahrer hinter ihnen, der sie schon seit geraumer Zeit am liebsten überholt hätte. Doch da er keinen Panzer fuhr, der hätte über sie hinwegrollen können und der Gegenverkehr und die Enge der Straße ein normales Überholen unmöglich machten, schien er es darauf abgesehen zu haben, sein Auto in ihre Anhängerkupplung einzuklinken. Tabea wurde immer unruhiger und Angstschweiß bildete sich auf ihrer Stirn, während sie immer wieder in den Rückspiegel blickte. Dann fiel ihr Blick auf die Straße vor ihnen und das blaue Licht von gleich mehreren Kranken- und Polizeiwagen. Ein Beamter, der den Verkehr mit seiner Kelle daran hinderte, weiterzufahren, ließ nur einen Ausweg nach rechts offen.

Aus purer Verzweiflung und aus Angst vor dem Verkehrsrowdy hinter ihnen blinkte Tabea und bog entschlossen ab, auch wenn Samantha sie verwundert ansah.

„Meinst du, dass wir da durchkommen?“, zweifelte sie.

„Wir werden es versuchen“, erwiderte Tabea, froh darüber, dass der Fahrer hinter ihnen vor dem Polizisten ausgestiegen war und jetzt anfing, mit ihm zu streiten.

Die kleine Straße, durch die sie wirklich noch nie gefahren war, schlängelte sich den Abhang hoch und es tauchten immer mehr Bäume auf. Zur Rechten erhob sich eine alte Villa über einem kleinen Park mit niedrigen Bäumen und Sträuchern. Die ersten Regentropfen klatschten auf die Scheiben.

„Wieso habt ihr denn meinen MP3-Player nicht mitgenommen?“, beschwerte sich Natascha, doch Tabea überließ es Samantha, etwas darauf zu sagen. Sie konzentrierte sich auf den zum Glück immer noch geteerten Weg, der jetzt um eine Kurve führte. Die Wege hier oben waren für viele Freizeitbeschäftigungen hervorragend ausgestattet und gepflegt und nur die schmalen Wege für Fußgänger waren nicht asphaltiert. Windböen beugten die Bäume und der Regen prasselte mit einem Mal so stark auf das Dach des Autos, dass es sich anhörte, als würde ein wild gewordener Schlagzeuger versuchen, einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. Sie nahm kaum wahr, als das Auto unter einer hoch gelassenen Schranke hindurchfuhr. Was sie dagegen schon bemerkte, war die Tatsache, dass die Straße so schmal wurde, dass sie Mühe hatte, das Auto nicht rechts oder links in den kleinen Graben zu fahren. Außerdem wurde es so steil, dass Fäga empört aufheulte, als sie in einen anderen Gang schaltete.

Samantha sah ihre Mutter zweifelnd an, sagte aber nichts. Es hätte keinen Zweck gehabt. Nach einigen Metern hatten sie die Steigung hinter sich gebracht und der Weg führte jetzt fast ebenerdig und schnurgerade in den Wald hinein. Wenn sie nach Wachtberg wollten, mussten sie jetzt irgendwann nach links abbiegen, überlegte sich Tabea. Nach etwa 50 Metern ergab sich an einer Kreuzung von zwei Wegen so eine Möglichkeit und sie bogen links ab. Die Richtung müsste stimmen, auch wenn dieser Weg sonst wahrscheinlich ausschließlich von Radfahrern und Inlineskatern benutzt wurde, die hier oben bei gutem Wetter ‚Wanderer-Jagen‘ spielten. Die quietschenden Scheibenwischer waren fast nicht in der Lage, die Regenmassen zu bewältigen.

Plötzlich erhellte ein greller Blitz das Innere des Autos taghell, augenblicklich gefolgt von einem markerschütternden Donner, dem sofort ein weiterer Knall folgte. Ein Schatten schien aus einem Baum auf das Auto zu zustürzen.

Reflexartig riss Tabea das Steuer herum und wich dem Schatten aus, der dann als großer Ast nicht auf ihr Auto, sondern nur knapp seitlich davon auf den Weg knallte.

Sie wollte schon aufatmen, als sie alle plötzlich nach vorne geschleudert wurden und das Auto von einer Sekunde zur nächsten abrupt stehen blieb. Die Motorhaube hatte mit einem Mal eine seltsam gefaltete Form und ein dunkler, rechteckiger Schemen erhob sich davor und ragte einen halben Meter über die Haube hinaus.

Die Mädchen auf dem Rücksitz hatten aufgeschrien und Tabea drehte sich zu ihnen um. „Geht es euch gut, Mädchen?“

„Gut ist anders“, erwiderte Natascha und rieb sich den schmerzenden Hals dort, wo sich der Sicherheitsgurt ruckartig gestrafft hatte. „Das gibt bestimmt einen riesigen, blauen Fleck.“

Tabea atmete auf und drehte sich wieder nach vorne. Sie sah dabei Samantha kurz an, aber die nickte nur. Sie sah ziemlich blass aus, aber auch ihr schien nichts passiert zu sein.

Sie drehte den Autoschlüssel im Starter um, doch es passierte ... rein gar nichts.

Nicht das geringste Geräusch. Es gab noch nicht einmal einen Widerstand.

„Scheiße“, meinte Samantha.

„Samantha!“, ermahnte sie ihre Mutter fast wie unter einem Reflex.

„Und nun?“

Ihre Mutter war ratlos. Sie waren irgendwo im Wald und die Wahrscheinlichkeit, dass in naher Zukunft jemand vorbeikam, der ihnen würde helfen können, war schon mehr als gering.

„Was leuchtet da denn so gelb?“, ließ sich Amanda von hinten hören und deutete auf die Stelle, wo die Motorhaube am stärksten zusammengefaltet war.

„Oh Gott! Wir müssen sofort hier raus! Das Auto fängt an zu brennen“, stöhnte ihre Mutter entsetzt auf.

„Aber es regnet“, stellte Amanda empört fest.

„Wir haben den Unfall nicht so glimpflich überstanden, um jetzt mit dem Auto in die Luft zu fliegen“, erwiderte ihre Mutter und stieß die Fahrertür auf.

„Ist im Kofferraum nicht auch ein Feuerlöscher?", gab Samantha zu bedenken.

„Du hast recht. Aber dann müssen wir erst alle Taschen herausholen.“

Tabea musste sich schon fast von innen gegen die Tür stemmen, um sie überhaupt aufzubekommen. Sie schien sich auch noch mehr verzogen zu haben, als sie vorher schon gewesen war. Allmählich wurden die Flämmchen größer und schienen sich gegen die nun auch etwas nachlassenden Regenströme durchzusetzen, die am Auto herunterflossen.

Samantha vorzog ihr Gesicht, tat es aber ihrer Mutter gleich und stieg aus. Seltsamerweise ließ sich die Beifahrertür mit einem Mal sogar besser öffnen als vor dem Unfall. Sie gesellte sich zu ihrer Mutter, die gerade erfolglos versuchte, die Heckklappe aufzubekommen. Wäre es keine Limousine gewesen, wären sie wenigstens von innen an ihre Gepäckstücke gekommen. Samantha sah kurz den erfolglosen Bemühungen ihrer Mutter zu. Der Knopf rührte sich um keinen Millimeter. Sie blickte sich um, sah einen handgroßen Stein und hob ihn auf.

„Soll ich es mal versuchen?“

Tabea sah sie resigniert an und Samantha bemerkte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, was im Regen erst gar nicht auffiel. Sie trat achselzuckend zurück, Samantha holte aus und ließ den Stein auf den klemmenden Knopf niedersausen. Er versank sofort und der Kofferraumdeckel hob sich quietschend. Wortlos hoben sie eine Tasche nach der anderen heraus und legten sie in das nasse Gras.

„Da ist er“, meinte Samantha schließlich erleichtert und hob den Handfeuerlöscher heraus. „Wie funktioniert so ein Teil eigentlich?“

„Da ist, glaube ich, vorne eine Plombe dran, die erst abgemacht werden muss. Dann kann man den Handhebel drücken und der Lösch-was-auch-immer kommt heraus.“

„Der was?“

„Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es Schaum, oder was sonst auch immer ist.“

„Ist ja eigentlich jetzt auch egal.“

Sie gingen um das Auto nach vorne, wo ein Stein, der fast wie ein Grabstein aussah, unnatürlich aus dem Auto herauszuwachsen schien und Samantha betätigte den Griff. Ein enthusiastischer Strahl weißen Schaums schoss aus der Spitze, verlor aber schon nach kürzester Zeit jeden Enthusiasmus und tröpfelte dann nur noch. Die Flammen waren wohl aus, aber jetzt fing es an zu qualmen und der Qualm schien nun auch einen Weg ins Wageninnere zu finden.

„Mama“, schrie Amanda entsetzt und Ihre Mutter seufzte und öffnete die hintere Tür.

„Da müsst ihr jetzt wohl auch hinaus in den Regen“, erklärte sie bedauernd.

„Aber der ist nass!“, beschwerte sich Natascha und runzelte die Stirn.

„Das eh... stimmt“, bejahte ihre Mutter und zuckte bedauernd mit den Schultern. „Ich würde ihn ja gerne für dich erst trocken reiben, aber leider haben wir kein Handtuch mit.“

„Dann kann man wohl nichts machen“, hustend folgte sie ihrer kleinen Schwester nach draußen.

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Während sie sich hinter dem Auto trafen, hatten die Rauchschwaden das Innere des Autos fast vollständig erobert.

„Und was machen wir nun?“, fragte Samantha.

„Vielleicht können wir einfach Michele anrufen und ihr Mann kann kommen und Fäga reparieren?“, schlug Natascha vor.

„Natürlich! Warum habe ich nicht selbst daran gedacht“, pflichtete Ihre Mutter ihr bei. „Hast du nicht dein Handy immer dabei?“

„Klar doch.“ Natascha kramte in ihrer Hosentasche, während Samantha auch das ihre zückte. Beide suchten die Nummer aus dem Adressbuch heraus. Samantha wartete aber mit dem Wählen. Schließlich hatte ihre Schwester ja die Idee gehabt. Damit gebührte ihr die Ehre.

Natascha wählte und lauschte dann angestrengt. „Das wählt die Nummer, aber rauscht dann nur“, stellte sie enttäuscht fest.

Nun versuchte es auch Samantha. Ihr neueres, pinkes Handy hatte erfahrungsgemäß einen besseren Empfang. Sie stellte auf Mithören. So hörten alle, wie nur lautes Kratzen und Rauschen erklangen, auch wenn das Display behauptete, das eine Verbindung zustande gekommen sei. Mit viel Fantasie konnte man im Hintergrund sogar leise die Stimme von Michele hören. Sie brach jedoch sofort ab und die Verbindung erstarb ganz. Enttäuscht schob sie es wieder zusammen und steckte es in ihre Hosentasche.

„Das war dann wohl nichts. Also zu Plan B“, meinte ihre Mutter.

„Und der lautet?“

„Jede nimmt ihren Rucksack oder Tasche und wir versuchen, die Zivilisation zu erreichen.“

„Jetzt müssen wir durch den Regen latschen, aber zu dem Zeltlager der Gemeinde durfte ich nicht mit“, stellte Natascha schmollend fest.

„Vielleicht überlege ich es mir ja noch mal, wenn wir die nächsten Häuser erreichen und du dann noch nicht gemault haben solltest.“

Amanda und Samantha hatten beide einen Rucksack, der ganz gut zu schultern war. Nur Natascha und ihre Mutter mussten ihre großen Taschen an langen Riemen quer über die Schulter legen. Samantha half Natascha grinsend, als diese unter dem Gewicht nach hinten zu kippen drohte.

„Mein Gott, was ist da alles drin? Habt ihr denn alle meine Sachen eingepackt?“, beschwerte sie sich.

„Amanda hat es versucht, aber ich habe es, glaube ich, verhindert.“

„Glaubst du?“

Samantha grinste sie an und wandte sich dann an ihre Mutter. „Und wohin nun?“

Tabea sah sich ein wenig hilflos um und versuchte sich zu orientieren. „Den gleichen Weg zu nehmen, den wir gerade gefahren sind, wäre ziemlich sinnlos, da wir hier oben schon ein ganzes Stück gefahren sind.“ Sie sah sich um und erblickte einen Weg, der irgendwie einladend wirkte. „Der müsste uns jetzt eigentlich am schnellsten wieder aus dem Wald bringen.“

„So folgen wir denn diesem schönen Pfad. Warst du eigentlich jemals bei den Pfadfindern?“

„Ich kann diese Tasche aber nicht auch noch nehmen!“, beschwerte sich Amanda, als sie versuchte, ihre zweite Tasche anzuheben und dabei zu straucheln drohte.

„Was hast du denn da drin? Steine?“, neckte sie Samantha, als sie versuchte, die Tasche anzuheben.

„Nein. Nur meine Barbie und die beiden neuen Bilderbücher und die Buntstifte und ...“, zählte Amanda schmollend auf.

„Ist schon gut, Amanda. Ich nehme sie ja“, unterbrach sie Samantha und sie gingen los.

Als Samantha sich noch einmal umsah, schienen ihr die leichten Rauchfahnen, die aus Fäga aufstiegen noch einmal zu zuwinken.

„Machs gut, Fäga. Wir holen dich so bald wie möglich wieder hier ab.“

Damit drehte sie sich um und folgte ihren Schwestern. Wenigstens hatte der Regen etwas nachgelassen. Sie musste aufpassen, wohin sie trat. Der Weg hatte ziemliche Rillen, in denen man sich leicht den Fuß umknicken konnte. Was mochte ihre Schwester bloß in diese Tasche gepackt haben? Sie war wirklich so schwer, als wären Steine darin. Mit einem Mal wurde ihr plötzlich schwindelig und sie sah zu ihren Geschwistern und ihrer Mutter hoch. Drehte sie jetzt völlig durch oder sahen die plötzlich wirklich verschwommen aus? Aber sie waren doch nur höchsten drei oder vier Meter vor ihr? Es dröhnte in ihren Ohren und der Schwindel nahm zu und ließ sie kurz innehalten. Was war da los?

„Mama! Ich fühle mich so komisch!“, hörte sie Amanda jammern.

Mit einem Mal war es auch so seltsam still. Außer ihren Atemgeräuschen und den Geräuschen, die ihre Schwestern machten, als sie sich langsam auf dem unebenen Weg vorkämpften, war es vollkommen still, so als würde sie durch Watte laufen. Sie bekam einen Druck auf den Ohren und schluckte instinktiv, um ihre Ohren wieder freizubekommen.

Urplötzlich war der Druck weg. Sie konnte nun auch ihre Schwestern und ihre Mutter wieder klar und deutlich sehen und begann, auch wieder Geräusche zu hören. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Was war das denn gewesen?

Unbeirrt kämpften sie sich auf dem recht unwegsamen Gelände vorwärts. Irritiert stellte Samantha plötzlich fest, dass es mit einem Mal gar nicht mehr regnete. Was noch weit irritierender war: Es sah auch gar nicht mehr danach aus, als hätte es hier überhaupt geregnet. Alles wirkte, ja, irgendwie 'anders'. Es roch anders und viel intensiver nach Wald und Kräutern. Die Bäume wirkten viel höher und dichter und es war gleichzeitig lauter und leiser. Samantha brauchte einige Augenblicke, bis sie diesen Eindruck genauer bestimmen konnte. Es fehlte ein Hintergrundrauschen und zur gleichen Zeit schienen die Geräusche des Waldes viel lauter und vielfältiger zu sein.

Was war da los?

Ehe sie ihre Überlegungen weiter verfolgen konnte, hörte sie ihre Schwester Natascha mit einem Mal „Mir ist so schlecht!“ wispern und sie sackte einfach in sich zusammen.

„Natascha!", rief ihre Mutter und war sofort bei ihr. „Was hast du, Kleines!“

Auch Samantha war erschrocken. Natürlich kannte sie das bei ihrer Schwester im Prinzip schon. Sie aß und trank häufig zu wenig und ihr wurde dann regelmäßig schwindelig. Aber jetzt sah sie wirklich schrecklich elend und so blass aus, dass sich ihre Gesichtsfarbe nicht wesentlich von der ihres weißen T-Shirts unterschied. Natascha lag rechts neben den Spurrillen des Weges und lehnte sich gegen ihre Tasche, sich die Hände an den Kopf pressend.

„Warte ...“ Ihre Mutter kramte in ihrer Handtasche, die eher die Ausmaße einer ausgewachsenen Tasche hatte, und förderte eine 0,5-Liter-Wasserflasche hervor. Sie öffnete den Plastikverschluss und hielt die Flasche ihrer Tochter hin, die diese dankbar ergriff. Dann versenkte sie sich wieder in den Untiefen der Tasche und hatte in kurzer Zeit das Gesuchte auch wirklich gefunden. Sie öffnete die Packung und drückte eine Kopfschmerztablette aus der Plastikverpackung. „... und die nimmst du jetzt auch noch“, befahl sie.

Natascha steckte sie sich gehorsam in den Mund und spülte mit einem großen Schluck Mineralwasser aus der Flasche nach.

„Wo ist denn der Weg hin?“, hörte sie auf einmal ihre Jüngste verdutzt fragen.

„Was meinst du ...“ Tabea verstummte, als auch sie sich in die Richtung wandte, aus der sie gerade gekommen waren.

Der Weg war tatsächlich verschwunden. Die Kreuzung mit ihrem Auto war auf jeden Fall nicht mehr zu sehen. Es gab nur noch einen Weg mit zwei tiefen Spurrillen, der schnurgerade in den Wald zeigte.

„Wo ist denn Fäga?“, sprach ihre Tochter Samantha dann auch die Frage aus, die sie mit einem Mal beschäftigte.

„Ich weiß es nicht“, gestand ihre Mutter, deren Kopf auch dröhnte, als würde eine jamaikanische Steeldrumband darin wie wild auf ihren Ölfässern herumtrommeln. Sie nahm sich auch eine der Kopfschmerztabletten und ließ sich die Flasche von Natascha geben.

„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte ihre Tochter und Tabea fühlte wieder Tränen aufwallen.

„Verdammt! Woher soll ich das denn wissen?“, schrie es in ihrem Kopf, aber das konnte sie jetzt nun wirklich nicht so hinauslassen. Sie war schließlich die Mutter und musste die Entscheidungen treffen. Das war schon immer so gewesen. Die einzige größere Entscheidung, die ihr Ex-Mann getroffen hatte, war damals die, um sie zu werben ... und sie hatte ihm vertraut und angebissen. Wie hatte sie damals nur so blind sein können!

So zuckte sie nur leicht mit den Achseln und erklärte ruhig: „Viele Möglichkeiten haben wir da ja nicht. Wenn es Natascha wieder besser geht, werden wir wohl oder übel weitergehen müssen. Wo auch immer dieser Weg hinführt, er führt irgendwohin, wo Menschen sind. Und dann müssen wir einfach weiter sehen.“

Samantha sah sie nur nachdenklich an und nickte dann.

„Da, Mutti“, stand plötzlich ihre Jüngste vor Tabea und hielt ihr ein paar leuchtende Blumen hin, die sie offensichtlich gerade gepflückt hatte. Tabea warf Samantha rasch einen Blick zu, um zu verhindern, dass diese darauf hinwies, dass die Blumen wahrscheinlich nicht mehr bis zur nächsten Vase überleben würden, und drückte Amanda an sich.

„Danke, Amanda. Das ist sehr lieb von dir.“

Amanda strahlte.

Eigentlich war es ja recht erholsam, hier einfach nur zu sitzen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und dem Vogelgezwitscher und den anderen Geräuschen zu lauschen, die um sie herum wogten. Auch Nataschas Gesichtsfarbe sah jetzt wieder um einiges gesünder aus und sie lächelte schwach, als sich ihr Blick mit dem ihrer Mutter kreuzte.

„Na, Spatz? Geht es jetzt wieder?“

„Ja, Ma, aber du hast nicht zufällig noch irgendetwas Süßes in deiner Wundertasche?“

Tabea überlegte kurz und schüttelte dann bedauernd den Kopf.

„Seit unserem Besuch in der Rheinaue vorigen Sonntag habe ich leider nichts mehr hineingetan. Alles, was ich da drin hatte, habe ich euch damals schon gegeben.“

„War ja nur eine Frage.“ Testweise stand Natascha leicht schwankend auf, nachdem sie sich erst einmal vom Riemen ihrer Tasche befreit hatte. „Sollen wir wieder weiter?“

„Meinst du, es geht wieder?“

Natascha nickte nicht übermäßig enthusiastisch.

„Na dann ...“

Sie half Natascha noch, wieder ihre Tasche zu schultern und ließ dann die beiden jungen Mädchen wieder vorausgehen, ehe sie mit Samantha wortlos folgte.

Ihre Gedanken waren dabei ähnlich wie die ihrer fast 14-jährigen Tochter. Natürlich fielen auch ihr die Ungereimtheiten um sie herum auf. Das fing schon mit den Blumen in ihrer Hand an. Vom Sehen erkannte sie zwei oder drei, doch auch diese Exemplare waren größer und ihre Farben satter und leuchtender, als sie sie in Erinnerung hatte. Nach wenigen Minuten beschrieb der Weg eine leichte Rechtskurve und sie standen unvermittelt am Rande einer fast kreisrunden Wiese, in deren Mitte ein riesiger Walnussbaum stand. Das alleine war schon überraschend, da sich Tabea beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, jemals einen so großen Walnussbaum gesehen zu haben.

Aber noch überraschender waren die beiden Menschen, die ersten, die sie zu Gesicht bekommen hatten, ehe sie mit dem Auto in den Wald eingebogen waren, die im Schatten des Baumes auf ein paar großen Decken auf dem Boden saßen. Genauer gesagt 'saß' eigentlich nur der wohlbeleibte Mann mit dem grau melierten Bart, während die Frau mit den langen, wallenden, braunen Haaren eine Art Kissen unter ihrem Kopf zu haben schien und schlief.

Ebenso seltsam war die Tatsache, dass alles für ein Picknick von mindestens sechs Personen vorbereitet zu sein schien. Das konnte man aus der Anzahl der Sitzplätze auf den ausgelegten Decken und dem vorbereiteten, sehr derben Geschirr schließen. Um dem Ganzen dann noch ein i-Tüpfelchen auszusetzen, waren die beiden Wartenden sehr ungewöhnlich gekleidet. Das letzte Mal, dass sie solche Kleidung gesehen hatte, war bei einem Bericht über ein mittelalterliches Sommerfest gewesen. Alles sah nicht ganz stilecht aus und man konnte Ansätze von Modernität erkennen, wie Knöpfe wie bei Jeansjacken und Schnitte, die an Sweatshirts angelehnt zu sein schienen. Nur der Stoff. Ihm fehlte das Bunte moderner Stoffe und er sah auch eher aus, als wäre er an langen Winterabenden auf altmodischen Webstühlen entstanden.

Der Mann hob den Kopf, als sie die Wiese erreichten, und lächelte sie an.

„Es tut mir leid, wenn ich Sie jetzt so einfach ansprechen muss, aber es gibt leider keine Möglichkeit, euch mit einfachen und wenigen Worten zu erklären, was gerade passiert ist. Und Mara hier hat euer Übergang zu sehr angestrengt, als dass sie mir dabei helfen könnte“, erklärte er ruhig und bei Tabea gingen sämtliche Warnleuchten an. „Ich kann nur an Ihre Auffassungsgabe appellieren und hoffen, Sie wenigstens zum Nachdenken zu bringen.“

„Was wollen Sie von uns?“ Tabea trat ein paar Schritte vor und stellte sich vor ihre Mädchen.

„Nicht von euch, sondern für euch“, verbesserte der Mann, machte aber keine Anstalten, sich in irgendeiner Art und Weise aufzurichten. Er blieb einfach sitzen und zeigte mit seiner Rechten einladend auf die vorbereiteten Plätze.

„Ich verstehe nicht. Können Sie mir vielleicht sagen, wie weit es noch nach Bad Godesberg ist?“

Der Mann sah sie kurze Zeit an und antwortete dann auf eine Art, die Tabea zutiefst verwirrte.

„Es wären vielleicht etwa fünf Kilometer, wenn Bonn - Bad Godesberg nicht zur gleichen Zeit unerreichbar weit weg wäre.“

„Sind Sie verrückt?“, erkundigte sich Natascha und Tabea sah sie erschrocken an.

Der Mann lachte leise vor sich hin und beugte sich vor, um einen ledernen Rucksack zu sich herüberzuholen. Er hielt inne, als er sah, wie Tabea alarmiert zusammenzuckte. „Keine Angst. Ich möchte Ihnen nur zwei Karten herausholen. Bitte entschuldigen Sie die Ungenauigkeiten, aber ich habe beide per Hand angefertigt und die von Terra musste ich aus dem Kopf anfertigen.“ Er öffnete den Verschluss, der aus einer Schnalle und einem Stück Holz mit einer Öse zu bestehen schien.

„Während ich das vorbereite, möchte ich Ihnen nur ein paar Fragen stellen, über die Sie bitte einen Moment nachdenken sollten.“

Die seltsame Frau begann mit einem Mal, sich stöhnend zu bewegen, schlug die Augen auf, fasste sich mit der Hand an den Kopf und stöhnte ein weiteres Mal. Sie sprach etwas, aber Tabea konnte nichts verstehen. Nein, das stimmte nicht ganz. Es war, als würde sie Bruchstücke erkennen, auch wenn sie ganz sicher war, dass sie diese Sprache überhaupt kannte.

Der Mann erwiderte etwas ebenso Unverständliches und deutete dann mit einer Handbewegung in die Richtung der Vier, die immer noch wie angewurzelt am Rand der Lichtung standen. Die Mädchen schauten erwartungsvoll auf die beiden Erwachsenen auf den Decken und dann wieder zu ihrer Mutter und warteten ab.

„Willkommen auf Terralt“, sprach die Frau mit einem sehr starken Akzent und ganz langsam und verstummte dann lächelnd.

„Da ich nicht weiß, wie Ihr Übergang war und meiner und der meiner Frau schon fast vier Jahre zurückliegt, kann ich einige Dinge nur mutmaßen“, begann er.

„Also hier die Fragen. Wieso ist das Wetter von einen auf den anderen Moment komplett anders? Wieso riecht es mit einem Mal vollkommen anders? Warum haben Sie plötzlich Kopfschmerzen? Warum ist der asphaltierte Weg verschwunden? Wieso kommt die Sonne aus einer anderen Richtung? Das Letzte ist übrigens ein Schuss ins Blaue. Häufig kommt es beim Übergang von Terra nach Terralt zu einer örtlichen Verschiebung, aber nicht immer. Wo war ich? Ach ja. Warum ist Ihr Handy wie tot und auch der Radioteil bringt nur statisches Rauschen?“ Während er die Fragen stellte, hatte er erst eine, dann eine zweite, seltsam aussehende Karte auseinandergefaltet und legte sie vorsichtig und so weit weg, wie er konnte, auf eine der Decken.

„Mama, der Mann hat recht“, meldete sich Samantha erstaunt, aber Tabea schnitt ihr das Wort ab.

„Was soll das?“, wiederholte Tabea ihre Frage.

„Lesen Sie?“, entgegnete der Mann statt einer Antwort und Tabea runzelte die Stirn.

„Wie meinen Sie das?“

„Science-Fiction-Romane, Fantasyromane und Ähnliches“, spezifizierte der Mann und Tabea schüttelte den Kopf.

„Selten“, gab sie zu verstehen.

„Ist Ihnen schon einmal das Thema von Parallelwelten untergekommen?“, bohrte der Mann weiter.

Tabea hob nur eine Augenbraue und nickte.

„Sie sind nicht mehr auf der Erde, sondern auf einer Parallelwelt, die den Namen Terralt trägt und sich recht gewaltig von der Erde unterscheidet, auch wenn man es auf den ersten Blick kaum sieht.“ Er hob seine Hand, als Tabea ihm ins Wort fallen wollte.

Während des Austausches zwischen Tabea und dem Mann hatten sich die Mädchen kurz wortlos verständigt. Natascha hatte enttäuscht feststellen müssen, dass sie ihr Handy wohl verloren hatte. Samantha dagegen holte ihr pinkes Wunder aus der Hosentasche und versuchte die Nummer von Michele zu wählen, doch das Handy meldete ihr, dass es keinen Anbieter gefunden hätte. Überhaupt keinen! Sie wechselte ins Hauptmenü und startete das Radio, aber ohne Erfolg. Eigentlich hatte sie den Lokalsender eingestellt, den sie erfahrungsgemäß immer erreichen konnte, doch der kleine Lautsprecher gab nur Rauschen von sich.

„Mama“, meinte sie ängstlich zu ihrer Mutter, die sich nur widerwillig zu ihr umdrehte.

„Der Mann scheint recht zu haben. Da stimmt etwas nicht!“ In ihrer Stimme schwang Panik mit.

„Wie kann ich Ihnen das denn glauben?“, meinte Tabea in Richtung des Mannes.

„Es fällt schwer und ich möchte Ihnen nur anbieten, sich zu uns zu setzen, sich etwas auszuruhen, etwas zu trinken und etwas zu essen ... und darauf zu warten, dass die Kopfschmerzen verschwinden und die Magie des Übergangs ihre Arbeit beendet.“ Wieder hinderte er sie mit einer Handbewegung am Sprechen. „Bitte glauben Sie mir. Wir möchten Ihnen nur helfen und auch ich konnte das, was ich Ihnen jetzt erklärt habe, vor vier Jahren selbst nicht glauben.“

Tabea musterte den Mann, konnte aber nichts an ihm entdecken, was ihre Mutterschutzinstinkte ausgelöst hätte. Bis auf ihren Ex-Mann hatte ihr Gefühl sie bisher noch nie betrogen.

„Mama, ich habe Hunger“, ließ sich jetzt Amanda vernehmen und der Mann lachte mit einem Mal schallend los.

„Das Gefühl kenne ich“, meinte er lachend und damit war das Eis gebrochen. „Bitte schauen Sie sich doch einmal die Karten an. Ich würde gerne erfahren, woher Sie kommen. Mein Name ist übrigens WiseGuy an Anlehnung an eine Acapella - Gruppe aus Köln, die ich auf Terra sehr gemocht habe und weil es nicht so schlecht klingt, wie 'Besserwisser'."Die Mädchen grinsten den Mann an. Der war irgendwie komisch.

„Und das ist Mara, im Augenblick die einzige anwesende hundertprozentige Terraltlerin und gleichzeitig eine magisch Begabte, zu deren Aufgaben es gehört, das magische Portal zu bewachen, durch das Sie diese Welt betreten haben.“

„Sie geben mit Ihren seltsamen Behauptungen wohl nicht auf“, stellte Tabea stirnrunzelnd fest, näherte sich aber mit den Mädchen dem einladenden Picknickplatz.

WiseGuy grinste nur entschuldigend. „Was soll ich dazu schon sagen. Die Wirklichkeit wird Sie so oder so einholen. Ich kann nur versuchen, euch den Übergang so einfach wie möglich zu machen.“

Samantha hatte sich neugierig den beiden etwa DIN-A3 großen, handgemalten Karten genähert und starrte stirnrunzelnd darauf.

„Wo sind wir jetzt?", fragte sie.

WiseGuy holte die eine Karte kurz zu sich heran, blickte darauf und tippte dann auf eine Stelle in dem Gebiet, wo eigentlich Bonn - Ippendorf liegen sollte.

„Aber ... hier müssten doch überall Häuser sein?“, stellte Natascha verwundert fest.

„Wie kommen wir denn wieder zurück?“, erkundigte sie sich und sah WiseGuy fast flehentlich an.

„Es tut mir leid, wie heißt du eigentlich?“

„Natascha.“

„Also, noch einmal. Es tut mir sehr leid, Natascha, aber diese Portale zwischen der Erde und Terralt sind leider Einbahnstraßen.“

„Herr WiseGuy ...“, fragte jetzt Samantha.

„WiseGuy reicht völlig“, unterbrach sie der Mann und grinste sie wieder verschmitzt an.

„Also gut, WiseGuy, kennen Sie zufällig eine Melanie Grohe?“, fragte sie und ihre Mutter sah sie erstaunt an.

WiseGuy überlegte kurz und nickte dann. „Eine für meinen Geschmack viel zu dünne Frau mit einem blonden Pagenschnitt, so um die 25 Jahre, die so etwa ein Jahr vor meiner Frau und mir nach Terralt gekommen ist und jetzt in der Klosterschule arbeitet. Ich weiß leider nicht mehr, welches Fach sie in Bonn studiert hat, aber sie muss wohl eine sehr gute Studentin gewesen sein, ehe es sie nach Terralt verschlagen hat. Wieso fragst du? Wie ist eigentlich dein Name?“

„Samantha. Mutter hat unser Auto gegen so einen großen Stein gefahren, der neben dem Spazierweg stand und ich habe noch einen Blick darauf geworfen, ehe wir dann losgegangen sind. Es war ein Gedenkstein für eine Melanie Grohe, die vor fünf Jahren an dieser Stelle spurlos verschwunden sei.“

„Mein Gott, dann stimmt ja vielleicht alles“, entfuhr es Tabea und sie setzte sich auf die Decke gegenüber von WiseGuy und Mara. „Aber dann ...“ Ihre Stimme brach und Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Essen und trinken sie doch erst etwas“, meldete sich Mara und Tabea sah sie überrascht an.

„Aber ich dachte, sie könnten unsere Sprache gar nicht sprechen?“

„Das stimmt auch. Ich finde alleine die Vorstellung, mehr als nur eine Sprache zu haben, erschreckend.“ WiseGuy hielt Tabea eine Schale mit Obst hin und diese nahm sich, eigentlich ohne es zu bemerken, einen Apfel und biss gedankenverloren hinein, ihren Blick nicht von Mara abwendend. „Sie haben es auf Terra geschafft, dass das meiste an magischer Energie, was es ursprünglich gegeben hat, hier nach Terralt geflüchtet ist. Eine Auswirkung davon ist die Tatsache, dass hier jeder jeden verstehen kann, egal, woher er kommt, aber diese Magie braucht einige Zeit, ehe sie bei jedem zu wirken anfängt.“

„Das heißt also, nicht sie sprechen jetzt auf einmal besser, sondern wir verstehen sie jetzt besser und sprechen auch plötzlich, was auch immer sie hier sprechen?“, mutmaßte Tabea und Mara nickte.

„Das ist alles nur sehr schwer zu glauben“, stellte Tabea fest und biss wieder in den Apfel, hielt plötzlich inne und musterte ihn erstaunt. „Der schmeckt ja köstlich! Eigentlich mag ich gar keine Äpfel.“

„Magischer Anbau von Obst toppt die biologische Anbauweise eben noch um Längen“, scherzte WiseGuy.

Das, was Tabea bei dem Apfel schon aufgefallen war, zog sich wie ein roter Faden durch alles, was WiseGuy und Mara zum Picknick mitgebracht hatten. Egal, ob es sich um das Brot handelte oder den Käse oder den Schinken oder die Milch oder, oder, oder ... Alles schmeckte vollkommen anders als das, was Tabea und die Mädchen gewöhnt waren. Egal, ob dieser WiseGuy sie vielleicht nur veräppelte und in Wirklichkeit irgendwo eine versteckte Kamera vor sich hinsurrte, die Mädchen griffen herzhaft zu. Besonders, nachdem auch Mara und WiseGuy sich von den mitgebrachten Dingen selbst bedienten. Sogar das Wasser, das in einem großen Steinkrug mitgebracht worden war, schmeckte besser als jedes noch so prämierte Edelwasser, das Tabea bisher gekostet hatte.

Sie müssten jetzt eigentlich frühen Abend haben, stellte Tabea fest und blickte auf ihre Digitaluhr. Zu ihrem eigenen Erstaunen schien die noch tadellos zu funktionieren. 18:23 Uhr zeigte sie pflichtbewusst an. So ganz konnte Tabea noch nicht glauben, was diese netten, aber auch seltsamen Menschen da erzählten.

„Wenn ich jetzt einmal annehme, dass zumindest etwas von dem, was Sie erzählt haben, der Wahrheit entspricht, drängt sich mir natürlich eine Frage auf: Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?“ Sie biss in das zugegeben außergewöhnlich gut schmeckende Brot, das dick mit Butter und einem sehr würzigen Käse belegt war, und trank dann einen tiefen Schluck aus ihrem Wasserbecher. Sollte diese Mara wirklich schauspielern, was ihre anfängliche Sprachschwierigkeit anbelangte, dann war sie eine bewundernswerte Schauspielerin.

„Wie kann ich Sie nur davon überzeugen, dass wir die Wahrheit sagen?“, fragte WiseGuy nach und Tabea sah ihn erstaunt an. Der Grund war nicht das, was er gesagt hatte, sondern wie. Es klang irgendwie vollkommen falsch, auch wenn sie es verstand. Nun sah er sie erwartungsvoll an und grinste dabei schelmisch.

„Was ... ich verstehe das nicht ...“ Tabea brach ab.

„Mara versteht es noch weniger“, fuhr WiseGuy fort und deutete auf Mara, die ihn irritiert ansah. Mehr sagte er erst nicht.

„Aber ... was ...“

„Er hat Deutsch gesprochen“, verstand Samantha mit einem Mal und WiseGuy nickte.

„Versuchen Sie es auch einmal.“

„Sie ...“ Irgendwie wollte es ihr nicht gelingen. Es fühlte sich so unwahrscheinlich falsch an.

Verwirrt sah sie ihn an.

„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, gab WiseGuy zu. „Auch bei dir, Mara. Ich habe hier in Terralt keine großartige Magie, doch sie erlaubt es mir, entgegen der einigenden Sprachmagie, immer noch die Sprachen von Terra zu sprechen. Das lässt das einigende Element normalerweise nicht mehr zu“, erklärte er.

„Amoktäter“, murmelte Tabea nach kurzer Überlegung und sah ihn dann triumphierend an.

„Bravo. Sie haben recht. Worte, für die es hier überhaupt keine Entsprechung gibt, funktionieren noch, solange nicht eine Übersetzung auftaucht, die von den Terraltlern verstanden wird und Sie haben da ein Wort gewählt, dass hier hoffentlich noch lange auf so eine Übersetzung warten muss.“

Tabea erschauerte und umfasste ihre Knie mit beiden Armen. Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Ich habe Angst.“

„Brauchen Sie nicht“, erklärte Mara, kam zu ihr herüber und legte den Arm um sie. „Sie fühlen sich jetzt ohne Wurzeln, weil Sie erkennen, dass sie Terra hinter sich gelassen und noch nicht in Terralt Fuß gefasst haben, aber ich versichere Ihnen: Sie werden hier Wurzeln schlagen. Und damit Sie nicht sofort in das Leben von Terralt hineinstürzen müssen, werden wir Sie für einige Tage in einer Holzhütte hier ganz in der Nähe unterbringen. WiseGuy und ich werden die ganze Zeit bei Ihnen bleiben und versuchen, Sie ein wenig auf das Leben hier. Es ist schon alles vorbereitet.“

„Aber woher ...?“

„Mara ist gleichzeitig eine Sensitive und die Portalwächterin. Auch wenn Sie es noch nicht verstehen, war hier Gottes Wille am Werk und Mara wusste wohl schon lange vor Ihnen, dass Sie kommen würden.“

„Ich verstehe das nicht“, gestand Tabea und ihre Mädchen drückten sich an sie.

„Meinen sie, uns würde es da anders gehen?“, wandte WiseGuy ein. „Wir sind nur Menschen, und auch wenn in der Bibel steht, dass Gott uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, heißt das noch lange nicht, dass wir auch wie Gott sind. Das Ebenbild beschränkt sich schließlich auf das Äußere.“

„Sind Sie einverstanden, wenn wir jetzt alles wieder zusammenpacken? Wie sieht es mit euch aus, Mädchen? Schon fit für den nächsten Schritt ins Abenteuer?“

„Eigentlich schon“, meinte Natascha und blickte auf ihre Sachen, die sie am Baum abgelegt hatten. „Ich habe aber gar keine Lust, wieder die schwere Tasche zu schleppen.“

WiseGuy zwinkerte ihnen zu und wandte sich dann an Mara. „Sollen wir den Ladys dabei helfen, ihre schwere Last durch Terralt zu bewegen?“

„Unbedingt. Holst du den Wagen?“

WiseGuy nickte und ging zu einem hohen Gebüsch jenseits der Wiese. Mara holte derweil einen seltsam geformten Anhänger aus dem Oberteil ihres Kleides, umfasste ihn mit der Rechten und schloss die Augen. Die Mädchen sahen sich an und Samantha runzelte die Stirn. Erst geschah nichts, bis auf die Tatsache, dass WiseGuy mit einem leichten Pferdewagen zurückkam. Mit einem Mal hörten sie fernes Wiehern, das schnell lauter wurde, bis auch das Getrappel von Hufen erklang und ein beeindruckendes Pferd auf die Wiese stürmte.

Das mächtige Pferd lief auf Mara zu und stoppte, dass die Grassoden nur so durch die Luft wirbelten.

„Alter Angeber“, tadelte Mara das Pferd und legte ihm dann liebevoll die Hand auf die Stirn. „Darf ich vorstellen ... das ist Donner. Sehr schnell, sehr eingebildet und nicht sehr kinderlieb. Kommt ihm also am besten nicht zu nahe.“

Die Mädchen befolgten ihren Rat und warteten geduldig, bis Donner vor dem Wagen angeschnallt war, ehe sie alle Überreste des Picknicks zusammenpackten und sie zusammen mit ihren Taschen und Rucksäcken auf der hölzernen Ladefläche verstauten.

Ehe sie losgingen, fragte Tabea: „Wie weit ist es denn?“

„Können Sie sich in etwa vorstellen, wo von hier aus auf der Erde die Venusbergkliniken liegen? Das heißt, wenn Sie erst einmal einfach annehmen, dass wir hier wirklich in Ippendorf sind?“

Tabea nickte und Mara gab Donner einen kleinen Klaps.

„Los, Donner. Mach mal zur Abwechslung etwas Hilfreiches.“



Die Holzhütte

Während sie dem leicht ausgefahrenen Weg folgten, behielt Tabea ihre Augen und Ohren weit offen, in der Hoffnung, irgendeine Art von Beweis dafür zu erhalten, dass WiseGuy sie doch belogen hatte und sie in der ihr bekannten Umgebung waren. Doch sie fand absolut keinen Hinweis dafür, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie kreuzten keinen geteerten Weg, sie sahen keine Hinweisschilder und kamen an keinem der Mülleimer vorbei, von denen sie ganz sicher wusste, dass es sie hier oben hätte geben müssen. Und als sie dann nach einigen Minuten den Weg verließen und auf einen Pfad einbogen, den wahrscheinlich nur Mara und WiseGuy erkennen konnten, sank ihre Hoffnung immer mehr. Es begann langsam zu dämmern.

„Ich bin müde“, meldete sich Amanda zu Wort.

WiseGuy hob sie einfach hoch und setzte sie neben Mara auf den Kutschbock, was der Kleinen sichtlich gefiel. Tabea wunderte sich, dass sie nie mit dem Wagen stecken blieben. Das schien der einzige Beweis dafür zu sein, dass es sich wirklich um eine Art von Weg handelte. Rechts und links war das Unterholz so dicht und die Bäume standen so eng beisammen, dass ein Wagen wie der ihre mit absoluter Sicherheit nicht durchgepasst hätte.

Genau wie ihre Mädchen wurde sie langsam immer müder und ertappte sich dabei, dass sie immer größere Schwierigkeiten hatte, sich auf den Weg zu konzentrieren.

„Es ist jetzt nicht mehr weit“, ließ sich WiseGuy vernehmen, der wieder die Nachhut bildete und durchaus mitbekam, wie müde die vier Neuankömmlinge mittlerweile waren.

Tabea nickte nur ergeben. Amanda fing an, sich leise mit Mara zu unterhalten, ohne dass Tabea mitbekam, worum es ging. Ein kurzer Blick auf Natascha und Samantha zeigte ihr, wie müde sie waren. Ein Glück, das der Weg wohl sehr holprig war, sie aber nicht auch noch ihr Gepäck mit sich herumschleppen mussten. Nach einer halben Ewigkeit kamen sie endlich auf eine Lichtung von gut 100 Metern Durchmesser an, auf der eine Holzhütte stand, wie sie sie eigentlich nur aus Filmen über Indianer und Trapper kannte. Sie war aus ganzen Baumstämmen erbaut. Die Front hatte eine Breite von etwa acht Metern. Da es leicht schräg zu ihnen stand, sahen sie auch auf eine der Schmalseiten, die etwa fünf bis sechs Meter breit war. Gedeckt war das Gebäude mit einem Spitzdach aus Holzschindeln und erreichte dabei eine Höhe von fast fünf Metern, unterbrochen von einem gemauerten, viereckigen Kamin. Dieser überragte das Dach nochmals um anderthalb Meter und überraschenderweise stieg eine schwache Rauchfahne aus ihm in den blauen Abendhimmel auf. Aus der Richtung hinter dem Haus hörte sie das gurgelnde Geräusch eines Baches, der anscheinend direkt hinter der Holzhütte entlang floss.

„So, da wären wir“, meinte WiseGuy fröhlich und ging zu der Holztür, die, wie Tabea direkt auffiel, kein normales Schloss hatte. Es gab in der Höhe von etwa anderthalb Metern einen Holzknopf, den er jetzt ergriff und daran zog. An dem Knopf erschien ein Seil. Er zog es etwa einen halben Meter nach unten und zog dann an einem zweiten Stück Holz, das aus der Tür ragte. Alle hatten ihm dabei fasziniert zugesehen und den Atem angehalten. Es scheinbar gar nicht bemerkend, zog WiseGuy die Tür auf. Er blickte kurz hinein, brummte irgendetwas in seinen Bart und drehte sich wieder zu ihnen herum. „Alles in Ordnung.“

„Hattest du etwas anderes erwartet?“, neckte ihn Mara, die vom Wagen gestiegen war und Donner abschirrte. „Es ist schon seltsam, dass du auch nach all den Jahren noch nicht in der Lage bist, den Schutzzaubern zu vertrauen.“

„Alte Gewohnheit“, erwiderte WiseGuy nur und grinste die drei Mädchen und ihre Mutter an. „Ehe wir uns um das Abendessen kümmern, möchte ich euch noch etwas zeigen.“ Ein Stöhnen ertönte und er fuhr fort: „Keine Angst, ich möchte euch nur noch etwas zeigen, was dann vielleicht am ehesten in der Lage ist, eure letzten Zweifel zu zerstreuen.“ Er machte eine Pause und sah sie nachdenklich an, plötzlich sehr ernst werdend. „Dazu müssen wir nur an das andere Ende der Lichtung. Im Winter vor zwei Jahren hat es nämlich einen sehr starken Sturm gegeben, der hier wahllos einige Schneisen in den Wald geschlagen hat.“

„Den gab es bei uns auch“, meinte Samantha.

WiseGuy wechselte einen kurzen Blick mit Mara. „Da hast du den Grund dafür, dass keiner der Wettermagischen diesen Sturm kontrollieren konnte.“

Mara seufzte. „Das holt die unschuldigen Opfer aber auch nicht wieder ins Leben zurück.“

„Seid ihr bereit?“, wandte sich WiseGuy an die Vier.

„Bringen wir es hinter uns“, ergriff Tabea das Wort und WiseGuy nickte, ehe er sich umwandte und an der Holzhütte vorbei über die Wiese ging. Allen war schon aufgefallen, dass hinter den Beerensträuchern auf dieser Seite keine Bäume standen.

„Passt auf die Dornen auf. Die Brombeeren wachsen hier schneller, als man sie zurechtschneiden kann“, warnte WiseGuy und stapfte vorne weg, einen Stock zur Hilfe nehmend, der neben dem Eingang der Holzhütte gelehnt hatte. Die Beerensträucher überragten ihn hier sogar. Wie eine dichte Mauer umgaben sie diesen Teil der Wiese und der Pfad, den sie betraten, schien in diese Mauer hineingeschnitten zu sein. Niemand sprach ein Wort.

Nach einigen Metern hatten sie den Beerenwall durchquert und standen auf dem Kamm einer Hügelkette. Auch nach all den Jahren war sie an dieser Stelle mit umgestürzten Bäumen übersät, die große Ähnlichkeiten mit den Bildern hatten, die vor drei Jahren nach dem verheerenden Wintersturm durch die Presse gegangen waren. Die ganze Flanke des Hügels war an dieser Stelle wie leer gefegt und eröffnete damit den freien Ausblick auf ein Tal.

„Großer, gütiger Gott!", stöhnte Tabea auf, als sie erkannte, was sie da vor sich sah, hielt sich eine Hand vor den Mund und fing an zu schluchzen.

Samantha starrte nur wie angewurzelt auf das Bild vor ihnen. Nur Natascha und Amanda sahen ihre Mutter verwundert an.

„Was ist denn, Mutti?“ Amanda machte das Ganze auf einmal Angst und sie drängte sich an ihre Mutter. Bisher war es ja eher ein einziges großes Abenteuer gewesen.

„Ist das ...?“ Tabeas Stimme versagte.

WiseGuy verstand sie aber auch so und nickte. „Ja, das ist der Rhein. Wir sind hier ziemlich genau an der Stelle, wo in Bonn die Venusbergkliniken stehen. Da unten ...“, er machte eine ausholende Handbewegung und deutete auf das Waldgebiet direkt zu ihren Füßen, „liegt auf Terra Bonn. So etwa in dieser Richtung liegen der Lange Eugen und der neue Posttower. Da vorne könnt ihr an dem etwas anderen Grün in etwa sehen, wo der Rhein entlang fließt.“

„Was ist das da hinten?“, fragte Samantha mit krächzender Stimme und deutete auf eine Stelle jenseits des Flusslaufes.

„Auf Terra wäre es Sankt Augustin mit seinem Kloster auf dem Hügel in der Mitte des Ortes.“ Er verstummte kurz und musste dann auch schlucken. „Der mittelalterliche Adventsmarkt war schon etwas ganz Besonderes. Ich meine, er ist ja immer noch etwas Besonderes, nur werde ich es wohl leider nie wieder erleben können. Nach den alten Schriften hat es durchaus eine Zeit gegeben, in der die Reise auch in die andere Richtung noch möglich war, aber diese Zeit ist schon Jahrhunderte vorbei. Dafür können wir jetzt nach Sankt Grenwald und zu der sehr beeindruckenden Grenwald Universität mit Fächern, die selbst einen Harry Potter erstaunt hätten. Auch sie bedeckt genau denselben Hügel wie auf Terra das Kloster.“

„Sie haben ja die Wahrheit gesagt“, stellte Tabea fast tränenerstickt fest und WiseGuy sah sie an und nickte traurig.

„Es konnte auf sie nur vollkommen verrückt wirken, aber ja, ich habe die Wahrheit gesagt.“

„Mit allem?“, bohrte Samantha weiter. „Auch mit der Magie und all dem?!“

„Was das anbelangt, kann man mir eher vorwerfen, dass ich sogar noch viel zu viel verschwiegen habe, aber in den nächsten Tagen werdet ihr so oder so noch einiges mehr erfahren.“

Stumm blieben sie stehen und blickten auf das grüne Tal hinunter. Was für ein Unterschied zu der Aussicht, wenn sie jetzt auf Terra gewesen wären. Es hätte wohl immer noch viel Grün gegeben, aber der Mensch wäre dominant gewesen oder genauer gesagt, seine Gebäude. Hier verloren sich die wenigen Häuser in der Weite. Gleich mehrere Greifvögel kreisten auf ihrer Suche nach Beute über den Wipfeln. Es sah friedlich aus, unberührt und nicht von Menschen besiegt, die einfach nicht begreifen wollten, dass sie Teil dieser Natur waren und sie daher gar nicht bezwingen konnten, ohne sich selbst dabei zu besiegen. Aber eigentlich geschahen die meisten Vergehen wider die Natur sowieso eher aus Unachtsamkeit. Wie bei einem kleinen Kind, das sein Meerschweinchen zu Tode liebt, nur weil es sich seiner eigenen Kraft noch nicht bewusst ist.

Das Wetter war jedoch nicht ganz klar, sodass sie nicht allzu weit in das Tal hineinsehen konnten. Tabea seufzte und schnäuzte sich die Nase. Nachdenklich blickte sie auf das Papiertaschentuch in ihrer Hand. Auch von solchen Dingen hieß es jetzt wohl Abschied nehmen.

„Gehen wir wieder zurück“, schlug er vor. „Ihr seid jetzt bestimmt müde und solltet etwas essen und dann eine Runde schlafen.“

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Alle waren in ihre eigenen Gedanken versunken, als sie wieder zu dem Holzhaus zurückgingen. Auch die beiden jüngeren Mädchen hatten bei diesem Anblick begriffen, dass es mehr als ein Spiel war. Aber was sollten sie sich jetzt groß Sorgen machen? Ihnen blieb ja sowieso keine Wahl. WiseGuy drückte mit dem Fuß einige Ranken nieder und half den Vieren hinüber. Er nutzte die Möglichkeit und vergewisserte sich dabei, dass alle vier begriffen hatten, dass ihr altes Leben nun zu Ende war. Nur so konnten sie sich dem neuen Leben öffnen. Es gab Fälle, in denen Übergänger nie akzeptiert hatten, dass es keinen Weg zurückgab und schließlich einfach gestorben waren.

Als sie die Brombeerhecke hinter sich gelassen hatten, konnten sie sehen, dass der Kamin jetzt schon viel dichtere Rauchschwaden in den Himmel schickte. Donner graste friedlich auf der Wiese, die mittlerweile im Schatten lag. Ihre Taschen lagen noch auf der Ladefläche. Ohne weitere Frage gingen alle hin und nahmen ihre Taschen an sich. WiseGuy verstaute Teile der Picknickausstattung in einer großen Holzkiste und packte sich den Rest unter den Arm.

Die Tür stand noch immer weit offen. Tabea fielen erst jetzt die beiden kleinen Fenster auf, die die Reihe der verbauten Stämme unterbrachen. Es erstaunte sie, dass es sogar Glasscheiben gab, auch wenn sie nicht so perfekt aussahen, wie sie es von der Erde gewohnt war. Doch sie erfüllten ihren Zweck. WiseGuy folgte ihrem Blick und meinte dann amüsiert: „Ihr seid hier nicht ins Mittelalter gewechselt! Es gibt viel weniger Technik, aber dafür werdet ihr Sachen erleben, die auch so beeindruckende Dinge wie das Internet mit Wikipedia und der Möglichkeit, mit Menschen in den hintersten Ecken zu kommunizieren, in den Schatten stellen werden. Aber jetzt müsst ihr erst einmal ankommen, denn bisher sind erst eure Körper angekommen.“

Das Innere der Holzhütte war von einer beeindruckenden, einfachen Gemütlichkeit. Der gemauerte Kamin, in dem ein Holzfeuer loderte, verbreitete eine wohlige Wärme. Über den Flammen hing an einer langen Kette ein großer Kessel, aus dem es verführerisch duftete. Als WiseGuy den Anwohnern von Portbach und besonders Mara vor etwa einem Jahr dabei geholfen hatte, die Holzhütte aufzubauen, hatte er sich an einfache Ferienhäuser in Holland erinnert gefühlt. Der Aufbau mit einem zentralen Raum mit Wohn-, Koch und Esszone und ein paar ganz kleinen Schlafräumen an einer Seite erinnerte stark an die platzsparende Bauweise solcher Ferienhäuser, die es dann schafften, auf 60 Quadratmetern acht Schlafmöglichkeiten unterzubringen. Hier gab es jedoch nur zwei ganz kleine Schlafräume an der linken Seite, in denen je nur eine Schlafstelle war. Dafür befand sich mitten zwischen diesen beiden Räumen eine Wendeltreppe aus Holz, die in das Dachgeschoss hinaufführte. Im Winter wäre dieser große Raum vor Kälte gar nicht zu nutzen gewesen. Lediglich zwei Schlafstellen direkt am Kamin hätten Schlaf ohne Erfrierungen ermöglicht. Außerdem war es sehr düster, da an beiden Langseiten nur je ein kleines Fenster eingelassen worden war.

Samantha fiel diese Dunkelheit direkt auf, als sie in die Holzhütte trat. Sie war doch sehr daran gewohnt, dass es in jedem Raum elektrisches Licht gab. Daher grinste sie auch nur still vor sich hin, als hinter ihr Natascha eintrat und in einem Atemzug sagte: „Hmmm, das duftet aber klasse! Gibt es hier denn kein Licht?“

WiseGuy lachte herzhaft und deutete dann auf den Kamin. „Wieso? Das reicht doch.“

Mara drehte die Flamme einer Petroleumlampe höher, die schon auf einem grob gezimmerten Holztisch rechts vom Kamin stand und im Zimmer verbreitete sich sofort ein warmes, gelbes Licht.

„Am besten lasst ihr eure Sachen hier unten“, meinte sie, als sie die Mädchen unschlüssig mit ihren Taschen dastehen sah. Als Letzte kam Tabea herein und Mara deutete auf die linke Schlafkammer. „Wenn es Ihnen recht ist, können Sie in diesem Zimmer schlafen. Wenn Sie möchten, können Sie da auch die Gepäckstücke der Mädchen ablegen, aber Sie können sie auch genauso gut hier an der Wand stapeln.“

Sie ging zu der Anrichte, die hinter dem Esstisch mit den sechs Stühlen stand, öffnete die Schublade, holte sechs Löffel heraus, öffnete dann eine der drei Holztüren im unteren Teil und nahm einen großen Brotkorb und sechs Teller aus Steingut heraus.

„Soll ich Ihnen helfen?“, bot sich Tabea an.

„Gerne. Wenn Sie mir bitte die Teller anreichen würden.“

Mara stellte den Brotkorb auf dem Tisch ab, ging mit den Tellern zum Kamin und schwenkte dort den riesigen Kessel an einer metallenen Aufhängung von der Flamme weg und zu sich heran. Die Mädchen hatten sich flüsternd geeinigt und öffneten jede ihre Tasche und kramten darin herum. Mit ihren Kulturtaschen und ihren Nachtgewändern kletterten sie nach oben. Die Treppe knarrte und sie verschwanden nach oben.

WiseGuy ging noch einmal hinaus, um noch etwas Brennholz zu holen. Die Mädchen würden oben schon zurechtkommen. Noch kam ein wenig Restlicht durch die beiden Fenster herein. Ob sie auch Frederic entdecken würden? Er grinste verschmitzt. So hatte er die Fledermaus getauft, die sich tagsüber an die höchste Stelle des Dachs direkt neben dem Kamin hängte und den Tag verschlief. Vielleicht war Frederic ja aber auch schon durch eines der Fenster entschwunden.

„Iiiiiihh, eine Fledermaus!“, hörte er eines der Mädchen von oben quietschen.

„Frederic war also noch nicht zum Essen ausgeflogen“, dachte er grinsend und nahm die Axt mit, die innen neben der Tür an der Wand lehnte. Als er ein paar Minuten später mit einem Korb voll handlicher Holzstücke zurückkam, waren die Mädchen gerade wieder heruntergekommen. Sie erzählten ihrer Mutter von der unmöglich riesigen Fledermaus, die oben wohnte. Offensichtlich war sie beim Herannahen der Eindringlinge geweckt worden und hatte sich dann nach ein paar Ehrenrunden im Dachboden dafür entschieden, erst einmal auf die Jagd nach einem schmackhaften Abendessen aufzubrechen.

„Und wie gefällt es euch sonst da oben?“, fragte er, als er gerade einmal eine Lücke in dem Bericht erwischte.

„Die Betten sind cool“, meinte Natascha und ihre Augen leuchteten. „Nur ein wenig kratzig.“

„Ich könnte euch hier aus der Truhe ein paar Decken mitgeben“, bot Mara ihnen an und deutete auf eine große Truhe, die hinter der Tür stand. „Aber jetzt geht euch bitte erst die Hände waschen und kommt dann zum Essen.“

„Und wo ist die ... äh ... Toilette?“, fragte Samantha. „Oder muss man dafür hinter die Büsche?“

„Samantha“, rügte sie ihre Mutter streng.

„Damit hat sie gar nicht so unrecht“, erwiderte WiseGuy und erntete vier erschrockene Blicke und einen herzhaften Lacher von Mara. „Kanalisation, Toiletten und Bäder werdet ihr hier nicht überall finden, auch wenn das Wissen der alten Römer hier die Jahrhunderte recht gut überlebt hat. Bei der Konstruktion der Toilette mit Wasserspülung hinter dem Haus habe ich aber persönlich mit geplant und gebaut und ich bin recht stolz auf das Ergebnis. Gleich daneben ist eine Quelle, die dann zur Reinigung dient.“ Er stellte den Korb mit dem Holz neben den Kamin und legte noch die letzten Scheite, die schon dort lagen, auf das Feuer. „Wer nicht mit schmutzigen Händen essen möchte, folge mir bitte.“ Er nahm einen Span und zündete den Docht in einer weiteren Öllampe an, die die verkleinerte Ausgabe von der war, die auf dem Esstisch stand.

Bis auf Mara, die das Brot mit einem riesigen Messer in Scheiben schnitt, folgten ihm alle Anwesenden hinaus. Vor der Tür wandte er sich nach links, und nachdem sie um die Ecke des Hauses gegangen waren, sahen sie ein kleines Holzhaus mit einem Herz in der Tür.

„Wieso ist da ein Herz?“, fragte Amanda und WiseGuy zuckte nur mit den Achseln. „Ich meinte mich zu erinnern, dass solche Gebäude immer ein Herz in der Tür haben, aber wieso das so ist, das kann ich dir nicht sagen. Ich habe mich nur durchgesetzt und der Tischler hat auf mein Bitten hin eines hineingeschnitten und dann von innen ein Stück Tuch davorgehängt, damit sich da keine Fledermaus niederlässt.“

Natascha schüttelte sich. „Das wäre ja auch noch schöner. Wenn man so mitten in der Nacht aufs Klo muss und da kommt so ein Tier durch das Loch geflogen.“

„Das kann immer noch von unten ...“ WiseGuy sprach den Satz nicht zu Ende und grinste das junge Mädchen nur an, langsam beobachtend, wie die Erkenntnis über die Bauweise in ihr aufkeimte.

„Das ist ja schrecklich“, stöhnte sie.

„Und gelogen“, endete WiseGuy. „Die Bauweise hat so etwas natürlich auch berücksichtigt.“

„Du bist einfach ... schrecklich“, ereiferte sich Amanda und boxte ihn.

„Amanda ...“

„Lassen Sie schon. Ich habe es ja verdient“, meinte WiseGuy lachend und kitzelte Amanda, während Natascha sich ihrem Schicksal ergab und als Erste das Haus mit dem Herz in der Tür aufsuchte.

„Herr WiseGuy ...“, begann Tabea und grinste dabei leicht.

„WiseGuy“, korrigierte dieser fast reflexartig.

„Genau. Sollen wir nicht zum Du übergehen? Nach allem, was schon passiert ist und vielleicht noch passieren wird, erscheint mir das Sie irgendwie unpassend.“

„Dafür danke ich Ihnen, respektive Dir.“ Er reichte ihr seine Hand. „Du heißt ...“

„Tabea.“ Sie nahm die Hand, konnte sich aber noch dazu durchringen, ihn zu umarmen.

„Danke, Tabea und willkommen in Terralt.“

Verwirrt sah sie ihn an.

„Dieser Schritt kann nur bedeuten, dass du jetzt langsam anfängst, dich damit abzufinden, dass ihr nicht mehr auf der guten, alten Erde seid. Es ist das erste Mal, dass ich ‚Neue‘ auf Terralt begrüße, aber es fällt sogar mir auf, dass keine von euch wild um sich schlägt und unbedingt sofort wieder zurück will. Mara hat so etwas wohl auch schon erlebt und musste sich selbst verteidigen.“

Tabea blicke WiseGuy auf eine so eigentümliche Art an, das er richtig gespannt auf ihre Antwort wartete. „Was du erzählt hast, war zuerst schon schwer zu schlucken, aber man kann jetzt nicht behaupten, dass uns alle vier im Moment viel mit der alten Erde verbindet. Die Scheidung von meinen Exmann liegt noch nicht wirklich lange zurück.“ Sie machte eine Pause und WiseGuy wartete weiter gespannt. „Dann bin ich gerade dabei, mich von einer ziemlich bindenden christlichen Gemeinschaft zu lösen und das hat zumindest schon einmal dazu geführt, dass die Mädchen eigentlich keine intensive Freundschaften mehr haben. Für sie ist es einfach ein riesiges Abenteuer und für mich selbst ist es auch eine Art Rettung. Aber das mit der Magie kann ich noch nicht glauben.“

„Macht nichts. Das kommt auch noch.“

Nachdem sich alle erleichtert und dann in dem eiskalten Wasser protestierend die Hände gewaschen hatten, gingen sie wieder hinein und setzten sich an den Tisch. Der Eintopf, den Mara zubereitet hatte – mit WiseGuys Unterstützung, was dieser aber verschwieg –, schmeckte allen hervorragend, genau wie das Brot, was Tabea immer noch überraschte.

„Das schmeckt so intensiv, wie ich noch keines, das ich gegessen habe“, erklärte sie verwundert und WiseGuy nickte wissend. „Das trifft auf die meisten Dinge zu, die man hier schmecken oder riechen kann und ich habe auch noch nicht herausfinden können, warum das so ist. Wenn es hier nicht so wenig moderne Dinge gäbe, die uns auf der Erde bewegungslos und träge werden lassen, wäre ich wahrscheinlich schon aufgegangen wie ein Hefeklos. Noch etwas Wein, Tabea?“

„Gerne. Der schmeckt auch ungewöhnlich gut. Wo kommt er her?“

WiseGuy grinste und hielt das Weinglas auf Augenhöhe zwischen sich und das Feuer. „Er kommt gar nicht weit von hier aus dem Tal, das auf der Erde das Ahrtal genannt wird.“

Tabea sah ihn überrascht an, was WiseGuy bemerkte.

„Wie ich sehe, hast du auch schon den einen oder anderen Rotwein von der Ahr genossen.“

„Ich dachte, er käme aus Italien oder Frankreich ...“

„Der Transport würde ihn nur schwer bezahlbar machen.“ Genussvoll nahm er einen tiefen Schluck. „Zwei Dinge haben diesen famosen Roten ermöglicht. Zum einen sind vor etwa 200 Jahren zwei halbwüchsige Kinder, die in großer Liebe entflammt von zu Hause weggelaufen sind, nach Terralt gelangt. Dort machten sie dann das, was sie zu Hause gelernt hatten, nämlich einen Weinberg bestellen. Und der andere Anteil ist das über Jahrhunderte verfeinerte Wissen über die Herstellung von gutem, roten Wein durch die Kirche.“

„Hier gibt es 'die Kirche'?" Tabea war ehrlich überrascht.

WiseGuy erhob sich und half Mara dabei, den Tisch abzuräumen und das Geschirr in einen großen Korb zu legen, mit dem es in der Wasserstelle gereinigt werden konnte. Er sah Mara fragend an, doch diese deutete nur leicht zu Tabea und meinte dann: „Ist schon gut. Das mache ich. Du bist hier der Magier der Worte und hast da deine Aufgabe zu erfüllen.“

Die beiden jüngeren Mädchen schienen schon fast zu schlafen, so müde waren sie, doch Samantha war dem Gespräch sehr interessiert gefolgt.

„Lasst uns doch ans Kaminfeuer setzen“, schlug WiseGuy vor und Tabea und er setzten sich auf die einfache Couch, die aus einem Holzgestell und einigen straff gefüllten Säcken in Ocker- und Rotbrauntönen bestand und für drei Erwachsene Platz ließ. Die Mädchen setzten sich auf drei der fünf Sitzkissen, die etwas nachgaben und so niedrige aber bequeme Sitzmulden formten. Samantha ließ ihre Mutter und WiseGuy nicht aus dem Auge.

WiseGuy sah einen Moment zu, wie sich die flackernden Flammen in der blutroten Flüssigkeit in seinem Glas brachen, und begann dann zu erzählen.

„Was jetzt kommt, berührt eine Reihe wichtiger Fragen, die auch mit der Frage zu tun haben, warum es Terralt eigentlich gibt und ob vielleicht noch mehrere Parallelwelten existieren.“

„Da sich hier auch die Gelehrten drüber streiten, möchte ich mir nicht anmaßen, es besser zu wissen. Allerdings macht es den Anschein, dass es wohl noch mehrere Parallelwelten gibt. Sie können beispielsweise dann entstehen, wenn es in einer Welt einen Wendepunkt gibt, der zu entscheidend unterschiedlichen Entwicklungen führt, je nachdem in welcher Richtung sich das Schicksal wendet. Viele dieser Welten unterscheiden sich nur unwesentlich von der, von der sie sich abgespalten haben und scheinen wieder miteinander zu verschmelzen.“

Die Tür knarrte leise, als Mara wieder hereinkam.

„Das war bei der Welt, die sich jetzt Terralt nennt, was so viel wie 'alternative Erde' heißt, nicht der Fall. Sie ist eine Welt, die sich an einem Punkt vor etwa 2000 Jahren von der Erde, wie wir sie kennen, abgespalten hat.“

„Was ist geschehen?“, warf Samantha die Frage ein, auf die WiseGuy hingesteuert hatte, weil ihr die Geschichte einfach zu langsam ging.

„Jesus ist nicht ans Kreuz genagelt worden“, sagte WiseGuy bloß und sah sie ernst an.

„Wie bitte?“ Tabea traute ihren Ohren nicht.

„Jesus ist nicht ans Kreuz genagelt worden“, wiederholte WiseGuy und richtete dabei seinen Blick auf Tabea. Einen Augenblick herrschte absolute Stille, die nur von dem knisternden Holz im Kamin unterbrochen wurde.

„Und das war schon der Grund.“ Samantha schwirrte der Kopf.

Wieder nickte WiseGuy. „Kein christlicher Glaube, der mit einem Mord beginnt, egal wie rechtmäßig er damals erschienen sein mag, egal ob nur die römischen Besatzer mit ihrem Stadthalter oder die Einheimischen dafür verantwortlich gemacht werden sollen. Kein christlicher Glaube, in dessen Namen zahllose Kriege geführt wurden und unzählige Glaubensrichtungen und unbezahlbares Wissen vernichtet wurden. Keine Möglichkeit für die Machthungrigen der Geschichte, sich das Mäntelchen des Christentums überzulegen und in der Folge keine Bevölkerungsexplosionen, wie sie geschichtlich gesehen fast immer nach großen Kriegen aufgetreten sind.“

Er hielt kurz inne.

„Und ja. Es gibt eine Kirche, die den Lehren Jesus folgt und sich auch ohne all die Gewalt zu der größten Kraft in der Gegend, die wir Europa nennen, gemausert hat. Und das, ohne alle anderen Möglichkeiten zu zerstören. Sie hat es wie auch auf der Erde geschafft, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und damit eine Weisheit erreicht, wie ich sie auf der Erde nicht empfunden und gefunden habe.“

„Das ist jetzt ziemlich schwer zu verdauen“, stellte Tabea fest und WiseGuy nickte.

„Das kann ich nachempfinden. Das geht allen so, die von Terra nach Terralt kommen, aber die meisten finden sich dann doch recht schnell in die Ordnung ein, die sich hier entwickelt hat. Nur ganz selten ist jemand darunter, der oder die sich weigert und bewusst die Augen verschließt. In der Regel sind es solche Menschen, deren ganzer Lebensmittelpunkt dabei zu verschwinden droht und die das Gefühl haben, alles, nach dem sie gestrebt haben, mit einem Mal zu verlieren.“

Er machte wieder eine Pause.

„Und damit bin ich dann endlich bei deiner Frage angekommen. Ja, es gibt eine christliche Kirche, auch wenn ihr erleben werdet, dass sie sich sehr von der euch bekannten unterscheidet. Auch hier ist Jesus zu seinem Vater aufgestiegen und sitzt zur Rechten Gottes. Doch das geschah etwa zehn Jahre nach dem Zeitpunkt, an dem er bei uns ans Kreuz genagelt wurde. Wie bei uns spielen Brot, Fische und Wein eine große Rolle in der Bibel. Nur das Kreuz ist als Symbol nicht vorhanden, da es hier nichts symbolisiert.“

„Wie du schmecken kannst, hat der Wein hier unter der Betreuung durch die Kirche nicht gelitten.“ Damit leerte er sein Weinglas, erhob sich und stellte es vorsichtig auf dem Tisch ab. „Damit sollten wir uns jetzt aber in unsere Betten begeben ... jedenfalls alle, die sich noch selbst begeben können“, fügte er hinzu und deutete auf Amanda und Natascha, die beide eingeschlafen waren.

Natascha konnten sie ja noch wecken, jedenfalls in einen Zustand bringen, in dem sie nicht mehr schlief und fast alleine gehen konnte, aber Amanda ... keine Chance. Schließlich schob WiseGuy Tabea mit einem „Darf ich?“ zur Seite und hob sie aus ihrem Sitzkissen hoch. Mit dieser unwillig vor sich hinmurmelnden Last stieg er die Treppe hinter Samantha und Amanda hoch. Dort ließ er sie oben sanft auf das Bett niedergleiten, das sie sich schon ausgesucht hatte, nachdem Mara noch rasch eine der Decken auf den mit Heu gefüllten Säcken, die als Matratze dienten, ausgebreitet hatte.

Die auch hier üblichen Einzelschritte, bestehend aus dem Ausziehen, Waschen und Zähne putzen, mussten heute einmal entfallen.

Als sie wieder unten waren, zog sich auch Tabea schon nach kurzer Zeit in ihr Zimmer zurück und Mara und WiseGuy räumten nur noch ein wenig auf.

Mara ging in das andere kleine Zimmer und WiseGuy machte es sich auf dem Sofa bequem. Es kehrte wieder Ruhe ein in der Holzhütte direkt oberhalb des Rheintales.

Doch nicht alle Menschen hatten sich schon zur Ruhe begeben. In der Universität von Sankt Grenwald waren immer noch einige Studenten der magischen Künste auf und sprachen dem Bier zu, das unterhalb der Universität gebraut wurde. Es waren schon etwas höhere Semester, die natürlich die Veränderung in der Magie gespürt hatten, als sich das Portal öffnete. Und nun waren sie neugierig, wen es da nach Terralt verschlagen haben mochte. Einer der Studenten, der die Fähigkeiten des Suchers trainierte, tat sich mit einer Kommilitonin zusammen, die zu den Träumern gehörte, und machte sich auf die Suche. Sie hatten das schon mehrfach gemacht und die Menschen um Sankt Grenwald belauscht oder genauer gesagt ihre Träume. Natürlich war das verboten, aber sie waren sich sicher, schon nicht erwischt zu werden.

Mara war durch den Übergang noch immer hoch sensibilisiert und spürte auch im Halbschlaf das zugegebenermaßen recht geschickte Anklopfen und war plötzlich hellwach. Vorsichtig stand sie auf und war froh, dass sie die quietschende Tür nicht fest geschlossen hatte. Sie trat hinaus in das Wohn- und Esszimmer, in dem WiseGuy schon sanft schnarchte. Genauer gesagt murmelte er Unverständliches vor sich hin und wälzte sich auf dem Bett hin und her. Leise kam sie näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie sandte einen leichten Impuls zu ihm und auch er riss mit einem Mal die Augen auf und wäre aufgesprungen, wenn sie ihn nicht festgehalten hätte.

„Was ist ...“

Mara legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete ihm an, ihr nach oben zu folgen. Vielleicht würde sie seine Kraft benötigen, um die Kinder zu schützen. Die magischen Energien, die sie geweckt hatten, waren mittlerweile nach oben gewandert, das spürte sie. So leise wie möglich gingen sie nacheinander die knarrende Holztreppe hinauf. Oben am Treppenabsatz blieb Mara so unvermittelt verblüfft stehen, dass WiseGuy fast in sie hineingelaufen wäre. Sie schüttelte verwundert den Kopf und trat einen Schritt zur Seite, damit auch WiseGuy sehen konnte, was sie so überrascht hatte.

Die drei Mädchen lagen auf den Betten, die um den Kamin herum aufgebaut worden waren. Von ihnen aus gesehen, lag links des Kamins Samantha, vor dem Kamin Amanda und von Natascha sahen sie nur den Kopf. Alle drei lagen auf dem Rücken und jede hatte ihren rechten Arm oberhalb der Decke. Genauer gesagt schwebte die rechte Hand jeweils etwa zehn Zentimeter über dem Herzen. Alle drei murmelten ganz leise vor sich hin, obwohl sie alle eindeutig tief am Schlafen waren und selbst WiseGuy spürte, wie sich die drei magischen Schilde der drei Mädchen miteinander verbanden und den neugierigen, ungebetenen Gast einfach abblockten und aussperrten. Wer auch immer hinter dem Spionageangriff steckte, gab jedoch nicht so schnell auf und verstärkte den Druck.

Nun erschienen noch drei linke Hände über der Bettdecke, mit der geöffneten Hand in die Richtung weisend, in der Sankt Grenwald lag.

Mara schloss ihre Augen und studierte die Szene mit ihren Fähigkeiten, die denen eines normalen Suchers ähnelten. Sie sah, wie die Schilde der Mädchen mit einem Mal eine Art geöffneter Schale bildeten und die angreifende magische Energie wieder gebündelt in die Richtung zurücksandten, aus der sie gekommen war.

Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, dann senkten alle drei immer noch fest schlafend ihre Hände, wälzten sich ein wenig auf ihren Betten herum und schliefen weiter.

Mara musste bei aller Verwunderung grinsen. In Sankt Grenwald gab es jetzt mindestens eine Person, die morgen schreckliche Kopfschmerzen ertragen musste, wahrscheinlich eher zwei, da das auch der Preis eines so verbundenen Handelns war. Hier blieb ihnen jedenfalls im Augenblick nichts mehr zu tun. Sie gab WiseGuy durch Zeichen zu verstehen, dass nun alles in Ordnung war und dass sie jetzt wieder hinuntergehen sollten. Dieser nickte und ging so leise wie möglich voran.

Unten angekommen bat sie WiseGuy, immer noch durch Zeichen, Wasser zu holen. WiseGuy nickte und nahm den Holzeimer, der neben dem Buffet stand, und ging hinaus, während Mara das Feuer wieder in Gang brachte. Dabei dachte sie über das gerade Gesehene nach. Im Kern war das, was geschehen war, eigentlich unmöglich oder zumindest mehr als ungewöhnlich. Es kam durchaus vor, dass Grenzgänger von der Erde auch über magische Talente verfügten, die in Terralt dann langsam zum Vorschein kamen. Und das war gerade der Punkt: langsam! Das hieß zumeist erst nach mehreren Monaten oder sogar Jahren. Aber in der ersten Nacht einen vollkommen unbewussten Schutzschild und dann sogar einen Zurückwerfer zustande zu bringen ...? Davon hatte sie bisher weder gehört noch gelesen und das, obwohl ihre Spezialität in der Universität die Portale, die Grenzgänger und alles, was damit zusammenhing, gewesen waren.

Seit Katharina, die Frau von WiseGuy, im Archiv und der Bibliothek der Grenwald Universität arbeitete, hatte sie Einsicht in Akten bekommen, die seit Jahrhunderten niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte. Sie arbeitete gerne mit Katharina zusammen, da eigentlich immer Dinge auftauchten, für die es noch nicht einmal Hinweise gegeben hatte. Aber solch eine Stärke und das auch noch unter anderem bei einem kleinen Mädchen von gerade einmal sieben Jahren!

Sie hatte die alte Asche größtenteils durch den Rost befördert und legte jetzt neue Scheite auf die noch schwach schwelende Glut und hängte dann den zweiten, kleineren Kessel an den Haken. Die Haustür quietschte leise, als WiseGuy mit dem vollen Eimer von der Quelle zurückkam und den Kessel, der WiseGuy immer an den von Miraculix, dem Druiden aus den Asterix-Comics erinnerte, gluckernd füllte.

Dann starrten sie beide erst einmal ins langsam größer werdende Feuer.

„War das gerade das, was ich meine, dass es war?“, fragte WiseGuy schließlich leise.

„Mehr als das“, erwiderte Mara. „Die Mädchen haben sich nicht nur geschützt, sondern auch zurückgeschlagen, und das auf eine Art und Weise, die ich in dieser Form bisher noch nicht erlebt habe.“

WiseGuy nickte und ließ sich wieder auf der Couch nieder, auf der er wenigstens ein paar Stunden hatte schlafen können. Die Nacht war jetzt vorbei. Das war ihm klar.

„Hast du mitbekommen, wer von den dreien auf die Idee mit dem Parabolspiegel gekommen ist?“, fragte er und Mara sah ihn erst verständnislos an. WiseGuy konzentrierte sich und erzeugte eine Reihe von Bildern, die den Begriff beschrieben, und lud Mara dazu ein, sie sich anzusehen. Es begann mit einem groben Bild der drei Mädchen und einem durch sie gebildeten Parabolspiegel, der etwas, das wie herankommende, weiße Strahlen aussah, reflektierte und in einem fernen Punkt, an dem ein Strichmännchen zu sehen war, wieder vereinigte. „Ist das Physik? Das war noch nie meine Stärke.“

WiseGuy nickte nur und wartete weiter ab.

„Ich glaube gesehen zu haben, dass Samantha angefangen hat, aber sicher bin ich mir nicht“, meinte Mara schließlich und holte einen Krug aus der Anrichte und ihren Rucksack, der neben der Anrichte auf dem Boden lag. „Ich habe mich mehr darauf konzentriert, herauszufinden, wer der ungehobelte Flegel war, der sich da aus lauter Neugier einschleichen wollte.“

„Und?“

Mara zog eine Augenbraue hoch und nickte. „Ich habe beide identifizieren können. Zwei Studenten aus höheren Semestern von der Sankt Grenwald Universität.“

„Zwei?“

„Ja, Krissan Namens und Heleen Eckholm. Heleen ist eine Sucherin mit der Fähigkeit, Menschen im Schlaf aufzuspüren und ihre Träume zu betreten und Krissan ist dir ja auch nicht unbekannt.“

WiseGuy nickte und ihn erschauerte. „Und ob! Das ist der älteste Sohn von Professor Namens und ich komme einfach nicht darüber hinweg, wie frappierend die Ähnlichkeit zu einer Familie ist, die Katharina und ich auf der Erde kannten. Ist er nicht das, was ihr einen 'Sammler' nennt?“

„Ja, genau. Das, was sie gemacht haben, ist natürlich strengstens verboten, ganz besonders bei Neuankömmlingen, die sich nicht wehren können ... das heißt, die sich ‚normalerweise‘ nicht wehren können“, verbesserte sich Mara und füllte Kräuter in ein Stoffsäckchen, hängte es in die Kanne und goss Wasser dazu. „Diese Kombination von Traumsucher und Sammler ist aber schon fast genial. Trotzdem kann ich das jetzt nicht so einfach ignorieren.“

WiseGuy holte von einem Holzbord über der Anrichte zwei Tassen herunter und stellte sie auf den Tisch.

„Du rufst ihn also morgen an?“, erkundigte sich WiseGuy und musste unwillkürlich grinsen. Dieser Satz wäre auch für die Erde völlig normal gewesen. Nur auf Terralt hatte er eine etwas andere Bedeutung.

„Nicht ganz. Ich werde ihn jetzt anrufen. Professor Namens hatte mich beim letzten Streich seines Sohnes darum gebeten. Der Tee muss jetzt sowieso noch ein paar Minuten ziehen.“

Sie setzte sich neben WiseGuy auf die Couch, berührte mit ihrem Zeigefinger das Amulett, das sie normalerweise verborgen unter ihrer Oberkleidung trug, schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie würde den Professor wahrscheinlich erst wecken müssen. So überraschte es sie umso mehr, als sie fast augenblicklich den Kontakt spürte, als ihr Geist den von Professor Namens berührte. Der Professor war immer noch oder schon wieder am Arbeiten.

WiseGuy wartete und goss schließlich Tee in beide Tassen. Was ihn völlig umgehauen hatte, als er die Bekanntschaft von Professor Namens gemacht hatte, war die Tatsache, dass er Professor an der Universität war und eine neue Art der sicheren magischen Verbindung zwischen zwei magisch Begabten entdeckt und verfeinert hatte. Er hatte drei Kinder hatte, zwei Jungen und ein Mädchen. Auch von seinem Typ waren er und die Kinder Abbilder einer Familie, die er in Bonn gekannt hatte, bis hin zu fast winzigen Kleinigkeiten.

Der Tee war noch etwas zu heiß, aber schmeckte gut. WiseGuy hatte es aufgegeben, zu versuchen, die Bestandteile zu identifizieren oder darüber zu trauern, das Kaffee auf Terralt so schwer zu bekommen und dann so teuer war.

Ansonsten sah er Maras Mienenspiel zu und wartete ab. Sie hatte mit einer sehr ernsten Miene angefangen, aber schließlich sah sie eher schadenfroh aus. Schließlich nahm sie ihre Hand vom Anhänger, öffnete die Augen und grinste.

„Ihr seid euch einig geworden?“

„Das kann man so sagen. Heleen und Krissan werden in zwei Stunden einen kleinen Schock erleben“, erläuterte sie zufrieden und dankte WiseGuy kopfnickend für den Tee. „Beide werden um sechs Uhr morgens unsanft geweckt werden und nach einer kurzen Strafpredigt ohne Frühstück zu Fuß hierher geschickt werden.“

„Aua!“, kommentierte WiseGuy nur und Mara nickte.

„Professor Namens und ich sind übereingekommen, dass die beiden, wenn sie so neugierig auf die neuen Übergänger sind, doch gleich selbst vorbeikommen können. Dann erfahren sie alles aus erster Hand, können bei der Schulung und der Versorgung hier auf der Hütte helfen ...“

„... und verpassen dabei dann auch noch das große Fest, das – wann war das noch einmal? Irgendwann übernächste Woche? – stattfinden wird“, schloss WiseGuy und Mara zuckte nur entschuldigend mit den Achseln und lachte leise.

„Das heißt also, dass heute gegen Mittag zwei hungrige und wahrscheinlich sehr müde Studenten ankommen werden“, fasste WiseGuy zusammen und stand auf. „Wie wäre es, wenn ich mal wieder mein Glück als Angler versuche?“

„Eine gute Idee. Und ich bereite das Backhaus vor, damit wir Brot backen können.“

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Als WiseGuy etwa eineinhalb Stunden später wieder mit mehreren prächtigen Fischen zurückkam, war die Sonne schon vollends aufgegangen und die unterschiedlichsten Tiere gingen ihrem Tagwerk nach. Das Fischen, mit allem was dazugehörte, war definitiv eines der Dinge, die WiseGuy erst im Laufe der letzten Jahre in Terralt gelernt hatte. Vorher hatte er nichts damit zu tun gehabt und sich darauf beschränkt, seine Fische an der Theke im Supermarkt zu angeln. Dass er eine Scholle –natürlich bereits ausgenommen – schmackhaft zubereiten und auch erfolgreich essen konnte, war schon mehr als die meisten Fischstäbchen- und Fischfilet-verwöhnten Zeitgenossen in Bonn vermochten. Aber Fische so richtig zu fangen und dann vorzubereiten, musste er von Grund auf lernen. Und hier wäre auch nie jemand auf die Idee gekommen, Fischen als 'Sport' zu bezeichnen. Wer fischen konnte, tat dies, um den Fisch zu essen und aus keinem anderen Grund. Er hatte einmal im Gespräch versucht, einem Terraltler klar zu machen, was mit Fischen als Sport gemeint war, musste seine Bemühungen dann aber aufgeben.

Als er sich der Holzhütte näherte, begrüßte ihn der Duft frischen Brotes, den das Backhaus bereits verströmte. Mara hatte den Teig schon am Vortag vorbereitet und würde wahrscheinlich auch gleich neuen Teig ansetzen, wenn sie jetzt noch zwei zusätzliche Esser dazubekommen würden. WiseGuy kannte die beiden Missetäter, auch wenn er Heleen nur ein paar Mal begegnet war. Zu der Professorenfamilie Namens hatten seine Frau und er jedoch schon ein sehr freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Es sah Krissan ähnlich, dass er erwischt worden war. Das passierte eigentlich fast immer, wenn er etwas nicht ganz Erlaubtes tat. Das hinderte ihn aber nicht daran, die Strafe hoch erhobenen Hauptes zu erdulden und sich dann sofort wieder etwas Neues auszudenken. Heleen war da viel schwieriger zu lesen. Sie war gleichzeitig hübsch und unscheinbar und genauso gerne unsichtbar, wie Krissan es liebte, im Vordergrund zu stehen. WiseGuy hatte seine Zweifel daran, dass sie so einfach von Krissan zu dem verbotenen Eindringen in die Privatsphäre von Schläfern überredet worden war.





Er ging zu einem kleinen Schuppen an der Seite des Holzhauses, öffnete die mit einem Holzstück gesicherte Tür und hing den Haken mit den ausgenommenen Fischen an eine Stange, an der schon ein herrlicher, geräucherter Schinken hing. Bis dahin war noch nichts Ungewöhnliches an seinem Tun, bis auf die Tatsache, dass er darauf achtete, die Fische direkt über eine Steinplatte zu hängen, die mit Symbolen und Zeichen geschmückt war. Er grinste über sich selbst, als ihm auffiel, wie normal ihm das mittlerweile vorkam, Dinge frisch zu halten, indem er sie in ein magisches Zeitfeld einschloss, denn genau das bewirkten diese Zeichen über der Platte bis hinauf in eine Höhe von etwa einem Meter. Deswegen hing der Schinken auch bewusst außerhalb des magischen Feldes.

Sein Magen knurrte laut und vernehmlich. Genau! ‚Eier mit Schinken‘ klang wie eine gute Idee und der Schinken war noch nicht angeschnitten worden. WiseGuy ging und wusch sich seine Hände, ehe er wieder in den kleinen Schuppen zurückkehrte. Dort schnitt er mit dem Messer, dass er immer an seinem rechten Schenkel in einer Schutzhülle trug, ein paar dünne Scheiben ab und legte sie auf ein Brett, das genau für diesen Zweck an einem Haken an der Wand hing.

Als er auf die Türe der Holzhütte zuging, wurde sie gerade von innen geöffnet und Mara kam mit mehreren geflochtenen Körben leise heraus.

„Hallo Mara. Sind die Ladys immer noch nicht wach?“

„Noch nicht so ganz. Von oben kann man wohl schon ganz leise Unterhaltungen hören, aber Tabea war wohl wirklich sehr müde.“

„Spätestens, wenn ich jetzt ein paar Rühreier vorbereite, werden sie schon alle herunterkommen.“

Mara nickte und schaute dann kritisch auf den Berg geschnittenen Schinkens.

„Aber brauche nicht alle Eier auf.“

Er öffnete leise die Tür und trat ein, die Tür nicht hinter sich schließend. Es war einfach ein zu schöner Morgen und die Morgensonne sollte ruhig hereinscheinen. Mara hatte den Tee schon zubereitet und auch Milch, die sie gestern mitgebracht hatten, hingestellt. Ob die den Mädchen schmecken würde, bezweifelte WiseGuy aber sehr. Mit dem Getränk gleichen Namens, dass sie kannten, hatte diese frische Milch nicht so viel gemeinsam. Er wechselte den Kessel gegen eine sehr flache Variante aus und hänge ihn fast direkt über das lodernde Feuer. Dann holte er eine Scheibe fetten Specks und legte sie in die Mitte. Er hörte auch, wie sich die Mädchen oben leise unterhielten, und grinste. Sie klangen nicht aufgeregt und das beruhigte ihn.

Nach dem fetten Speck folgten der geräucherte Schinken und dann acht Eier sowie ein paar Kräuter. Langsam breitete sich ein betörend guter Duft in der Hütte aus. Als er vorsichtige Schritte auf der Treppe hörte und leises Wispern, drehte er sich gar nicht um und tat, als würde er nichts hören. Die Mädchen kamen langsam herunter und es schienen alle drei zu sein.

„Wenn ihr euch gewaschen habt, können wir frühstücken“, meinte er mit einem Mal, immer noch, ohne sich umzudrehen.

„Das ist gemein“, beschwerte sich Amanda schmollend.

„Was? Dass ihr euch vorher waschen sollt?“, tat WiseGuy bewusst unwissend und drehte sich grinsend zu ihnen um. Amanda hatte schon fast den Fuß der Treppe erreicht, gefolgt von Natascha und Samantha.

„Spielverderber“, meinte Samantha nur und die drei Mädchen schwebten fast hocherhobenen Hauptes durch die Tür.

WiseGuy wandte sich wieder dem Kessel zu. Teflon war schon eine praktische Erfindung, die es in Terralt leider nicht gab. Er nahm einen Lappen, hob den Kessel aus der Halterung und stellte ihn auf der Steinumrandung des Kamins ab. Nun öffnete sich auch die einzige noch verbliebene, geschlossene Tür und eine sehr verschlafen aussehende Tabea trat hervor und gähnte herzhaft, wurde rot, als sie WiseGuy sah, und hielt sich rasch die Hand vor den Mund.

„Hallo Tabea. Es ist wirklich noch ziemlich früh und das auch noch an einem Sonntag.“

„Entschuldige trotzdem. Habe ich da nicht eben die Mädchen gehört?“

„Ja. Sie sind draußen am Waschbecken.“

Mara kam herein, auf jeder Hand einen Korb mit einem riesigen, noch dampfenden Brot balancierend.

„Warte, ich helfe dir.“ Tabea nahm ihr einen der Körbe ab. „Das duftet fantastisch.“

„Dann hat sich die Mühe ja schon gelohnt.“ Draußen war lautes Kreischen zu hören.

„Das wird definitiv mehr als eine Katzenwäsche“, stellte WiseGuy trocken fest und deckte den Tisch.

Er sollte recht behalten. Alle drei, aber Natascha ganz besonders, waren ziemlich nass, als sie hereinkamen und Natascha zitterte leicht. Die Mädchen nahmen die Plätze vom Vorabend ein und Mara legte Natascha wortlos eine der Decken von WiseGuys Couch über die Schultern.

„Danke, Mara. Ich liebe es, heute Abend in klammen Decken zu schlafen.“

„Stell dich nicht so an.“

Als Tabea kam, fingen alle an zu essen, wobei Mara das Brot schnitt und sich jeder aus dem Kessel mit dem Rührei bediente.

WiseGuy sah sich kurz an, wie alle um den Tisch herum saßen, und seufzte. „Irgendwie müssen wir da noch für zwei weitere Personen Platz machen.“ Die drei Mädchen und ihre Mutter sahen ihn erstaunt an.

„Bekommen wir Besuch?“, fragte Samantha und WiseGuy nickte.

„So in der Art. Krissan Namens und Heleen Eckholm, zwei Studenten von der Universität von Sankt Grenwald haben sich so interessiert an euch gezeigt, dass sie damit beide einen Tutorenjob in dieser schönen Holzhütte gewonnen haben“, erklärte er trocken.

Die Mädchen sahen sich kurz an und legten eine blitzschnelle Diskussion ohne jedes Wort ab.

„Könnte es sein, dass sie sich dafür erst letzte Nacht qualifiziert haben?“, fragte schließlich Samantha nach und die Mädchen schauten wie gebannt auf WiseGuy und Mara, die erstaunt schluckte.

„Das könnte man so sagen“, meinte WiseGuy schließlich etwas ausweichend.

„Ich habe euch doch gesagt, dass es ein Mann und eine Frau waren“, ereiferte sich Amanda.

„Okay, du hast ja recht.“

„Was meint ihr damit?“, hakte Mara nach.

„Wir hatten letzte Nacht alle drei so eine Art Traum, in dem ein junger Mann und eine junge Frau vorkamen. Sie waren sehr neugierig und haben ziemliche doofe Fragen gestellt ... wer wir so wären und was wir hier wollten und so ein Kram“, erklärte Samantha.

„Zuerst war das ja ganz spannend, aber die Fragen wurden noch doofer und irgendwann hatten wir keine Lust mehr und haben sie gebeten, uns in Ruhe zu lassen“, fuhr Natascha fort. „Doch die wollten nicht und dann hat Samantha etwas vorgeschlagen, was sie vor Kurzem in der Schule hatte und das haben wir dann einfach ausprobiert.“

„Samantha wollte nicht glauben, dass die wirklich da waren. Dabei haben wir noch nie alle gleichzeitig dasselbe geträumt!“, beendete Amanda die Beschreibung. „Und die kommen jetzt hier hin?“

Mara nickte. „Ich habe sie erwischt, als ihr sie aber schon abgewehrt hattet. Danach habe ich den Vater des Jungen informiert. Was sie gemacht haben, ist nicht erlaubt.“

„Wenn die böse sind, warum kommen die dann hier hin?“, fragte Amanda stirnrunzelnd.

„Sie sind nicht wirklich böse, sondern es gehört sich einfach nicht, jemanden auszuspionieren“, korrigierte WiseGuy. „Das Mädchen kenne ich nicht so gut, aber der Junge ist in Wirklichkeit sogar sehr nett, auch wenn er gerne mal Sachen macht, die nicht ganz erlaubt sind, einfach um zu beweisen, dass er es kann.“

„Und was machen die dann hier?“, erkundigte sich Natascha.

„Erzählen, wie es so in Terralt ist und mit euch spielen, im Haushalt helfen und all so was“, zählte WiseGuy auf.

„Wieso können die denn so etwas?“, bohrte Samantha weiter.

„Viele Menschen hier haben irgendwelche magischen Fähigkeiten und die mit besonderen und besonders starken lernen dann manchmal auf einer der Universitäten, damit umzugehen.“

Die nächste, unvermeidliche Frage kam von Natascha: „Haben wir auch solche Fähigkeiten?“

Mara und WiseGuy sahen sich kurz an, was keiner der anderen entging.

Mara antwortete schließlich: „Eigentlich dauert es erst einige Wochen oder Monate bis man das bei Übergängern ...“

„Bei wem?“

„Die Menschen, die von Terra herüber gewechselt sind, werden auf Terralt 'Übergänger' genannt.“

„Macht Sinn.“

„.Also, 'Übergänger' entwickeln erst sehr spät solche Fähigkeiten.“ Sie räusperte sich. „Nur was ihr da heute Nacht geschafft habt, zeigt, dass ihr auf jeden Fall magische Fähigkeiten besitzt. Nur welche es sind, kann jetzt noch niemand sagen.“

„Cool“, meinte Amanda nur und grinste. „Und was machen wir jetzt?“

„Spülen und Abtrocknen“, konnte sich WiseGuy nicht verkneifen.

„Das ist doch blöd. Dafür kommen doch die beiden Neuen!“, nörgelte Natascha.

„Bist du vielleicht ein wenig faul?“, fragte WiseGuy grinsend.



Gottesdienst auf Terralt

Das Beseitigen der Frühstücksspuren ging schnell von der Hand. Danach erkundeten Amanda und Natascha etwas die nähere Umgebung des Holzhauses, während Samantha und Tabea mit nicht so großer Begeisterung Mara dabei zusahen, wie sie die Fische, die WiseGuy gefangen hatte, vorbereitete.

Der Übergang und Terralt wurden von niemandem angesprochen, jedenfalls nicht direkt. Das Wetter war fantastisch und alles um sie herum war bei aller Geschäftigkeit entspannt und langsam. Der normale Alltag in Bonn war dagegen viel hektischer und durchgeplanter gewesen.

Mara höhlte eins der älteren großen Brote aus und füllte den ausgelösten Fisch, einige Gemüsesorten und wieder frische Kräuter hinein, feuerte nochmals das Backhaus an und legte das gefüllte Brot in einer großen Metallschale hinein.

Sie hörten die Mädchen, die sich bei ihrem Streifzug wohl wieder dem Holzhaus näherten. Amanda beschwerte sich lauthals über irgendetwas, aber sie verstanden noch nicht, worum es ging.

Ganz allmählich erreichte ein tiefer, leiser Ton die Hörgrenze und wurde lauter. Tabea und Samantha schauten sich irritiert um, ohne den Ursprung dieses Tones genau lokalisieren zu können, bis WiseGuy sein Hemd noch etwas mehr öffnete und ein ovales Amulett an einem Lederriemen herausholte. Es maß etwa fünf bis sechs Zentimeter im Durchmesser und bestand aus Metall. Es gab einige eingeritzte Zeichen. Die drei etwas Größeren in der Mitte – ein Krug, eine Feder mit einem kleinen Behälter und ein stilisierter Fisch – schienen ganz schwach grünlich zu glühen und erzeugten den tiefen Ton. Mara tat es ihm nach und holte ein ähnliches Amulett an einer Kette aus feinen Goldringen hervor, das viel feiner gestaltet war. Auch ihre drei mittleren Symbole – ein Krug, ein Steinbogen und ein Fisch – glühten schwach grün und erzeugten den Ton.

„Was ist das?“, fragte Amanda neugierig, die mit ihrer Schwester gerade wieder das Holzhaus erreicht hatte.

„So wird hier auf Terralt zum Gottesdienst gerufen“, erklärte WiseGuy.

„Cool.“ Amanda schien ein Lieblingswort zu haben.

„Sie haben hier Gottesdienste?“, fragte Tabea erstaunt.

„Warum nicht?“ Mara schloss die Klappe, vergewisserte sich, dass das Holz für seine Aufgabe ausreichen würde, und ging dann rasch zur Quelle, um sich die Hände zu waschen. „Gott ist überall, also kann man auch überall einen Gottesdienst abhalten“, meinte sie noch, ehe sie um die Ecke bog.

„Können wir mitmachen?“, kam von Samantha die Frage, auf die WiseGuy gehofft hatte, denn der Gottesdienst spielte auf Terralt eine sehr entscheidende Rolle. Er wusste, dass nur wenigen Kindern eine Verbindung zu ihrem Glauben mitgegeben wurde. Dass diese Frage jedoch sofort gekommen war, überraschte und freute ihn.

„Dann kommt bitte mit herein“, lud Mara sie ein, als sie zurückkam, sich die Hände an ihrem Rock abtrocknend.

Als die Vier, die am Vortag noch ganz normal auf der Erde in Bonn aufgewacht waren, hereinkamen, fiel ihnen auf, dass ein kleiner Kasten, der hinter der Treppe an der Holzwand hing, offen stand und ihm offensichtlich eine Holzfigur entnommen worden war, die jetzt mitten auf dem Tisch stand. Vor ihr standen zwei keine Porzellanschalen und ein Porzellanteller mit ein paar Stückchen Brot. Mara ging gleich noch einmal zu dem Kasten und entnahm ihm noch vier Porzellanschalen und stellte sie vor die Holzfigur. Alle erkannten sofort, dass diese Figur Jesus darstellen sollte, auch wenn er nicht an einem Kreuz hing, sondern aufrecht da stand und die Hände zum Segnen ausgestreckt hatte.

Mara versetzte die Figur und gab ihnen durch Zeichen zu verstehen, sich so an den Tisch zu setzen, dass alle einen freien Blick auf die Figur hatten. Der Ton war leicht angeschwollen und nahm jetzt wieder ab. Dafür verstärkte sich das sanfte Glühen der Amulette.

WiseGuy setzte sich links neben die Figur an den Tisch und Mara rechts. Die Vier nahmen die restlichen Plätze um den Tisch herum ein und warteten gespannt ab. WiseGuy und Mara umfassten die Amulette mit der rechten Hand und berührten dann die Figur mit ihrem linken Zeigefinger am Sockel.

Die Amulette erloschen, aber die Holzfigur schien jetzt ganz leicht zu glühen.

„Dürfen wir auch?“, fragte Natascha, nachdem sie in einer stummen Unterhaltung der drei Mädchen zur Sprecherin erkoren wurde.

„Dürft ihr was?“, fragte Mara etwas irritiert nach.

„Na, die Figur anfassen. Wir sind auch ganz vorsichtig.“

„Ähm ... natürlich.“

Amanda war die Erste, die sich über den Tisch streckte und den Sockel mit ihrem linken Zeigefinger berührte.

Mara hatte absolut keine Reaktion erwartet und war deshalb umso erstaunter, dass ein leichtes gelbes Leuchten erschien und auch noch verharrte, als Amanda wieder vorsichtig ihren Finger zurückzog.





Nächstes folgte Tabea. Bei ihr schien das Leuchten ganz kurz stärker zu werden.

Dann folgte Samantha. Ein rötlicher Schimmer erschien.

Als letzte kam Natascha. Bei ihr verfärbte sich das Schimmern leicht bläulich.

Mara schüttelte verwirrt den Kopf. Weder war es zu erwarten gewesen, dass sich überhaupt etwas tat, noch hatte sie je diese Farben in dieser Reinheit erlebt.

Sie wurde von Natascha aus ihren Gedanken gerissen.

„Was haben wir da jetzt eigentlich gemacht?“

„Man kann sagen, dass ihr euer Interesse daran angemeldet habt, beim Gottesdienst mitzumachen“, beantwortete WiseGuy die Frage. „Wir hatten ja eigentlich vor, euch das alles erst einmal zu erklären, ehe ihr mitmacht.“

„Wieso? Ich finde das cool so“, meinte Amanda. „Und was kommt jetzt?“

Mara hatte Mühe, ihre Verwirrtheit abzuschütteln und musste sich zwingen, wieder in die Schwingung der Situation zurückzukommen.

„Ihr könnt jetzt eure Augen schließen und euch vorstellen, mit allen Menschen verbunden zu sein, die sich jetzt zusammengefunden haben, um Gott für diese herrliche Welt zu danken. Für alles, was darin ist und für Jesus, seinen Gesandten, der der Besondere unter den Besonderen ist und uns den Weg gezeigt hat, ein Leben in seinem Sinne und nach seinen Regeln zu führen.“

Alle schlossen ihre Augen und lauschten mit allen Sinnen.

„Das klappt so nicht“, beschwerte sich Amanda nach einigen Augenblicken leise, als sich Mara und WiseGuy schon mit dem Ganzen und den Vielen verbunden hatten und den Satz nur noch nebenbei wahrnahmen.

„Vielleicht versuchen wir es noch einmal mit dem Finger, aber jetzt alle gleichzeitig“, hörten sie Natascha vorschlagen.

WiseGuy taten die Mädchen schon fast leid. Er hatte fast ein halbes Jahr gebraucht, bis er es schaffte, in die Magie der Gemeinschaft aller, die an den einen Gott glaubten, einzutauchen, bis er dann auf einmal die Nähe der anderen spürte, die Geistebene wahrnahm und gemeinsam mit ihnen Gott verehrte. Deshalb wurde er auch fast aus seiner Andacht herauskatapultiert, als er mit einem Mal Samanthas zufriedenen Seufzer hörte.

„Ja. So ist es schon viel besser.“

Er spürte mit einem Mal alle vier neben sich in der Ebene der göttlichen Magie und nahm sie als helle Flecken ungewöhnlicher Farbe wahr. Wie konnte das nur möglich sein? Diese Ebene erschien grenzenlos und enthielt Millionen Lichter all derer, die Anteil an dem göttlichen Bewusstsein hatten. Es war wie eine gigantische, zweidimensionale Ebene mit Verdichtungen an der Stelle, wo es Städte gab, und weniger dichten Lichtern, wenn ein Landstrich wenig bewohnt war oder wenn es niemanden gab, der an den Einen glaubte, was auch immer für einen Namen er gerade tragen mochte. Während des Gottesdienstes konnten sich viele fast frei bewegen und mit anderen Teilnehmern in Austausch treten. Es konnte fast alles ausgetauscht werden, von Gefühlen bis hin zu Wissen. Dies war auch der Grund, dass die Religionen, die an einen Gott glaubten, so stark zugenommen hatten und die Religionen, die an viele Götter oder alleine an Naturphänomene glaubten, langsam verdrängten, ohne sie brutal zu vernichten oder auszurotten. Sehr oft blieb der Glaube an die Kräfte der Natur auch noch weiter bestehen, verband sich aber mit dem Glauben an den einen Schöpfer und die Werte und Ziele, für die er stand. Und dies waren nicht die Ziele Einzelner nach Macht und Reichtum. Ein weiterer Grund, der auf Terralt Kriege verhindert hatte.

Nach einiger Zeit siegte bei WiseGuy aber die Neugierde und er verabschiedete sich vom Gottesdienst, der mittlerweile auch wie eine Art Welle parallel zum Mittagszeitpunkt um die ganze Welt wanderte. Ein Gottesdienst, der, wenn man so wollte, 24 Stunden dauerte, ehe er zu Ende ging.

Er öffnete seine Augen und stutzte.

Alle vier Neuen berührten den Sockel und hatten ihre Augen fest geschlossen. Doch sie waren eindeutig nicht am Schlafen. Die Spiegelbilder unterschiedlicher Empfindungen huschten über ihre Gesichter.

WiseGuy blieb still sitzen und wartete. Als nächste öffnete Mara ihre Augen. Sonst blieb sie doch immer viel länger Teil der Welle? Ob sich vielleicht auch neugierig war? Amüsiert sah WiseGuy, wie auch sie die Vier anstarrte und den Kopf schüttelte.

Dann warteten sie zusammen. Wenn die Welle weiterrollte, kehrte das Bewusstsein schließlich wieder ganz von selbst zurück. Es dauerte aber noch einige Minuten, bis schließlich alle vier fast gleichzeitig die Augen öffneten und langsam ihre Finger wieder vom Fuß der Statue zurückzogen.

„Cool“, war natürlich Amandas erstes Wort.

„Stimmt“, meinte Samantha. Natascha und Tabea sagten gar nichts, sondern nickten nur. Mehr wurde nicht geredet, da alle gespannt darauf warteten, was jetzt noch passieren würde.

„Die nächsten Schritte hängen jetzt davon ab, was die Beteiligten wollen, und ob der Gottesdienst in einer Kirche, mit einer größeren Gruppe von Menschen oder in einem kleineren Rahmen stattfindet“, erklärte Mara. „Es kann aus der Bibel vorgelesen werden oder dem Buch, das für die jeweilige Religion im Zentrum steht.“

„Es gibt auch andere?“, fragte Tabea erstaunt.

Mara nickte. „Kann jemand von euch erraten, was die einzige Bedingung ist?“

„Dass es sich um eine Religion handelt, die den Einen Gott verehrt?“, schlug Samantha etwas unsicher vor.

„Oder die Eine Göttin“, stimmte Mara nickend zu. „WiseGuy hat mir erklärt, dass es auch auf Terra für verschiedene Gruppierungen verschiedene Bücher gibt, die den Einen Gott verehren, wie den Koran und die Thora. Wichtig ist dabei auch noch, dass es ein Regelwerk gibt, das die Regeln beinhaltet, wie sie im Christentum durch die Zehn Gebote dargestellt wird.“

„Und was ist mit den Religionen, die dem nicht entsprechen?“, fragte Tabea nachdenklich.

„Sind das die schwarzen Flecken in der Ebene?“, hakte Natascha nach und dieses Mal konnte Mara ihre Überraschung nicht verbergen.

„Die hast du bemerkt?“, fragte sie fassungslos nach. „Und das bei eurer ersten Teilnahme an der Zeremonie, bei der ihr noch ohne ein Amulett als Hilfsmittel mitgemacht habt! Ich weiß ehrlich nicht, was ich davon halten soll! Aber, um deine Frage zu beantworten, ja, die schwarzen Flecken oder negativen Lichter können so etwas darstellen. Auch noch andere Dinge, aber es stimmt.“

„Sieht man auch, wenn jemand böse war?“, fragte Amanda und sah sie mit großen Augen an. Wieder konnte Mara nur schlucken.

„Ja. Das kann durchaus passieren.“

„Cool.“

„Könntest du vielleicht einmal mit diesem 'cool' aufhören!“, forderte ihre Mutter sie genervt auf und Amanda sah sie betont unschuldig an, bis sie ihrem Blick nicht mehr standhalten konnte und entschuldigend grinste.

„Ist okay.“

„Das ist jetzt auch nicht besser“, meinte Samantha nur trocken.

Langsam fingen die zwei Amulette wieder an, ganz leicht zu leuchten.

„Was geschieht jetzt?“, fragte Natascha aufgeregt.

„Wie nähern uns der heiligen Verbindung mit Gott. Wir feiern sie, indem wir zeigen, dass wir nicht vergessen haben, was Jesus uns gelehrt hat, als wir ihm zuhörten und dann von den Gaben nahmen, die er mit uns teilte. Das wird durch den Wein und das Brot symbolisiert. An wichtigen Feiertagen gibt es Brot in Form eines Fisches oder sogar wirklich Wein, Brot und Fisch“, erklärte Mara.

„Nicht Wein als Symbol seines Blutes?“, erkundigte sich Samantha und Mara schüttelte erschaudernd den Kopf.

„Nein. Auf Terralt ist es das Symbol des Zusammenseins mit ihm und Gott. Ich habe mich lange mit WiseGuy und seiner Frau unterhalten und stimme ihm zu, dass das wahrscheinlich der Grund ist, warum sich die Erde in Terra und Terralt gespalten hat. Wie ich schon erwähnt habe, wurde Jesus in dieser Wirklichkeit nicht ans Kreuz geschlagen.“

Sie hatte den Satz fast emotionslos gesprochen und teilte die kleinen Becher mit Wein aus, sodass jeder einen vor sich stehen hatte, ehe sie den kleinen Teller rundgehen ließ.

Amanda und Natascha mussten verarbeiten, dass es ihnen erlaubt sein sollte, etwas Wein zu trinken. Tabea und Samantha griffen dagegen wie in Trance zu und versuchten zu begreifen, was dieser kleine Satz von Mara bedeutete, welche Auswirkungen dahinter standen. WiseGuy hatte es ja schon erwähnt, aber hier stand das Ganze in einem anderen Zusammenhang und war in das Erlebnis des seltsamsten Gottesdienstes eingebettet, den sie je erlebt hatten.

WiseGuy räusperte sich und erklärte dann nach einem kurzen Blick zu Mara: „In Terralt ist nie ein Mahatma Gandhi in Erscheinung getreten, da Jesus seinen Frieden auch im Umfeld von Gewalt verkörpert hat. Hier hat Jesus noch etwa zehn Jahre gelebt, ehe er auf ebenso mysteriöse Art und Weise verschwunden ist, wie bei der Wiedergeburt, die wir auf Terra als Pfingsten feiern. Auch ist er seinen Getreuen noch mehrmals erschienen, ehe er letztendlich in einem Licht verschwand. Es gibt auch ein rein christliches Fest zu Pfingsten.“

„Genug jetzt.“ Mara hob ihren Becher hoch und hielt ihn vor sich hin, während sie mit der anderen Hand das Stück Brot hielt.

„Jesus, wir danken dir für den Weg, den du uns aufgezeigt hast und vor uns gegangen bist. Wir danken dir für das Vorbild, das du uns gelebt hast, und bezeugen hier, dass wir alles tun werden, was uns möglich ist, um deinem Vorbild zu folgen und uns damit Gott zu nähern.“

Damit hob sie das Brotstückchen an den Mund und kaute es ein paar Sekunden, ehe sie es mit dem Wein herunterschluckte.

Die ganze Zeit über war die Holzfigur in schwach glühende, wechselnde Farben getaucht gewesen. Als die anderen es Mara nachmachten, nahm das Glühen kurz zu und erlosch dann.

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„Es ist üblich, dass sich alle Anwesenden nach der Zeremonie umarmen“, erklärte Mara und machte es mit Natascha vor.

Tabea sah danach immer noch sehr nachdenklich aus.

„Können wir dir vielleicht helfen, Fragen beantworten oder Ähnliches?“, bot sich WiseGuy an, doch Tabea schüttelte den Kopf.

„Nein. Im Moment weiß ich nur nicht mehr, was ich glauben soll. Auch wenn ich die Ebene nur sehr schwach wahrgenommen habe, lässt mich die Realität hier in Terralt zweifeln, ob ich an das Richtige geglaubt habe.“

„Zweifele nicht am Inhalt, sondern höchstens an der Form“, riet ihr WiseGuy sanft. „An der Richtigkeit der Zehn Gebote wirst du nie gezweifelt haben oder daran, dass uns ein einigender Gott leitet. Daran hat sich auch hier nichts geändert. Die Geschichten im Neuen Testament sind hier praktisch identisch mit dem, was du kennst. Es ist nur etwas länger als das Wort Gottes, das dir bisher bekannt war und die Kapitel mit dem Leidensweg Christi und seiner Kreuzigung fehlen. Du bist hier nur nicht gezwungen, dich durch Kriege, Vernichtungen ganzer Völker, Entrechtung der Juden und andere Dinge zu kämpfen, die in seinem Namen von Menschen begangen worden sind, die in Wirklichkeit nur nach Macht und Einfluss gierten. Seine Liebe zu dir ist immer noch dieselbe.“

Tabea schluckte, nickte dann aber schließlich zaghaft. Sie kam, immer noch tief in Gedanken versunken, mit hinaus, als Mara die Becher an der Quelle wusch und dann alles wieder in die Box packte.

Spätestens jetzt begriff sie, warum Mara sie erst noch in dieser Holzhütte festhielt, ehe sie mit der neuen Realität konfrontiert wurden, die gleichzeitig so ähnlich und so grundverschieden sein würde. Sie war sich noch nicht sicher, ob sie diese neue Realität würde annehmen können.

„Und noch etwas“, holte sie Mara nochmals aus ihren ganz privaten Gedanken. „So überraschend die Zeremonie auch schon für euch gewesen sein mag, möchte ich euch nicht verschweigen, dass wir einen wichtigen Teil ausgelassen haben, nämlich die eigentliche Gemeinschaft der Gläubigen.“ Sie machte eine Pause.

„Die Striche“, meinte Natascha und machte ganz große Augen.

„Wie bitte?“

„Die Punkte waren mit ganz dünnen Strichen verbunden.“ Sie wurde unsicher, als Mara sie fast erschrocken anstarrte. „Jedenfalls sah das so aus ...“

„Bitte entschuldige, Natascha. Ich wollte dich jetzt nicht verunsichern, aber dass dir das überhaupt aufgefallen ist ... Es gibt viele ­­­­­­­­­Terraltler, die diese Verbindungen niemals sehen können und ihr ... Du hast recht. In einer Kirche spürt man diese Nähe zu Gott und untereinander natürlich viel stärker, aber was du beschreibst, ist der wichtige Kern des Gottesdienstes. Wenn Kinder alt genug sind, um die Gebote zu begreifen und die Welle zu erkennen, werden sie von ihrem Paten mit in die Gemeinschaft genommen.“ Sie musterte die Vier nachdenklich.

„Es ist vielleicht eine Fügung Gottes, dass in Kürze noch zwei Terraltler kommen werden. Damit sind wir dann vier und jeder kann sich um eine von euch kümmern und ein Pate sein. Das ist ein Prozess, der normalerweise zwischen drei und sechs Monaten dauert, aber ich habe so das Gefühl, dass bei euch eine Woche schon ausreichen wird.“

Sie schloss kurz die Augen, legte die Rechte an ihr Amulett und schien zu lauschen. Nach wenigen Augenblicken brach sie in Gelächter aus und schüttelte den Kopf. „Wir sollten jetzt das Essen vorbereiten. Krissan und Heleen sind gerade dabei, mit der Fähre den Rhein zu überqueren und Krissan scheint quasi nichts zum Frühstück bekommen zu haben. Das behauptet er zumindest.“

„Du kannst so mit ihm reden?“, fragte Amanda erstaunt und setzte dann an: „Coo... ich meine, toll.“



Wiedergutmachung

Nach dem Gottesdienst gingen die vier Neuankömmlinge hinaus, um zu spielen oder nur, um sich in die Sonne zu setzen und ihren Gedanken nachzuhängen. WiseGuy kümmerte sich um das Mittagessen, während Mara noch frische Kräuter und Beeren suchen ging. Die Mädchen boten sich an, ihr zu helfen und sie entschied sich schließlich dafür, Natascha mitzunehmen. Das schien ihr die nächstliegende Wahl zu sein, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum dies so war.

Natascha war überrascht über das Wissen, das Mara bei der Suche an den Tag legte. Die Beeren hätte sie ja auch noch erkannt aber bei den Kräutern, im Besonderen denen, die man für einen Salat nehmen konnte, war sie doch ehrlich beeindruckt. Auf Maras Nachfrage hin erklärte sie ihr, dass sie eigentlich nur die Sachen kannte, die schon fertig vorbereitet im Supermarkt zu bekommen waren. Mara konnte wohl den zeitlichen Vorteil einer solchen Einrichtung erkennen, hatte aber Schwierigkeiten zu begreifen, warum man auf Terra nicht auch einfach in den Wald ging, dorthin, wo das Essen eigentlich herkam. Natascha konnte da leider nicht so viel erklären, sodass die Beantwortung dieser Frage wohl warten musste, bis sie die Erwachsenen aus Terra fragen konnten. Ein Argument fiel aber auch Natascha sofort ein.

„Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie viele Menschen hier auf der Erde leben? Wenn die alle in den Wald gingen, wäre der nach Kurzem kahl gefressen.“

Mara sah sie nachdenklich an und nickte dann. „Das ist für mich immer noch schwer vorzustellen, aber wenn ich jetzt sehe, wie wenig ihr über die Natur, die euch umgibt, wisst, wird es schon klarer. Na, was haben wir denn da? Diese Pilzart ist aber dieses Jahr früh dran!“, rief sie aus, als sie an einen Waldsaum kamen.

„Sind die essbar?“, fragte Natascha zweifelnd.

„Wären sie wohl, aber sie schmecken nicht besonders. Sie eignen sich aber hervorragend für eine Heilcreme gegen leichte Verbrennungen“, erklärte Mara und pflückte ganz vorsichtig einige schon größere Pilze, sorgsam darauf achtend, das Geflecht, in dem die Pilze ruhten, nicht zu beschädigen.

„Warum bist du denn so vorsichtig beim Pflücken?“, fragte Natascha verwirrt.

„Weil das auch Lebewesen sind, auch wenn sie keine Beine, Arme und gefährliche Gebisse haben. Dieses Leben wahrzunehmen, ist vielleicht schwieriger, weil es leiser, langsamer und ganz anders ist. Es ist aber dennoch Leben und damit zu ehren. Unterschätze nie die Kraft einer Pflanze. Ein Baum ist leise und kann trotzdem mit seinen Wurzeln Felsen auseinander sprengen. Und deswegen ist es nur richtig, wenn man vorsichtig mit Pflanzen umgeht.“

„Aber ist es dann nicht Mord, wenn man Salat isst?“

„Wir sind auch nur Teil der Natur, Teil der Schöpfung und um zu überleben, müssen wir die Energie, die wir zum Leben benötigen, aus der Natur bekommen. Wenn wir uns weigern, Tiere und Pflanzen zu essen, missachten wir damit das Geschenk unseres eigenen Lebens, das uns von Gott gegeben wurde. Das zu verachten wäre noch schlimmer, da es das Größte ist, was er uns gegeben hat, noch größer als Jesus.“

Natascha sah sie sehr nachdenklich an, ehe sie wieder den Rückweg zur Holzhütte antraten.

Diese Nachdenklichkeit hielt immer noch an, als Mara schon anfing, die Beeren und Kräuter zu einem Nachtisch und einem Salat zu verarbeiten. Amanda gab Samantha durch Zeichen zu verstehen, dass sie Natascha jetzt für völlig durchgedreht hielt und diese zuckte nur grinsend mit den Schultern.

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Natascha stand vor einer Eiche, die am Rande der Lichtung stand, hatte beide Handflächen auf die rissige Rinde gelegt und schaute gedankenverloren in die Krone hinauf. Schließlich schloss sie die Augen und versuchte das zu erreichen, was den Baum ausmachte. Niemand bemerkte das schwache Leuchten, das mit einem Mal ihre Hände umgab, oder spürte die Stille, die sich zunächst ringförmig um sie herum auszubreiten und dann wieder aufzulösen schien. Sie wurde erst durch einen schrillen Pfiff aus ihrer Versunkenheit geweckt, der anscheinend von der Stelle kam, von der aus sie in das Tal des Rheins hinuntergeblickt hatten.

„Das ist wieder einmal typisch Krissan“, erklärte WiseGuy kopfschüttelnd, als er an die Tür trat. „Er muss natürlich wieder die steilste Stelle zum Aufstieg benutzen, die es hier überhaupt gibt.“

Mara erwiderte den Pfiff mit einem eigenen und ging dann hinüber zum Durchbruch in der Brombeerhecke, wo sie den Pfiff wiederholte. Es dauerte nur zwei, drei Minuten, ehe der braunhaarige Schopf eines recht groß gewachsenen, sehr schlaksigen, dünnen jungen Mannes von etwa 20 im Durchbruch erschien, gefolgt von einer jungen Frau etwa gleichen Alters in einem Kleid, das wie grüner Samt aussah. Sie hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar und wache, lustige Augen. „Wie kann jemand lustige Augen haben“, stutzte Samantha und sah zu, wie die nicht wirklich schlanke junge Frau hinter dem Jugendlichen durch die Breche kam. Das war aber auch der Eindruck, den sie letzte Nacht gehabt hatte. Die Jugendliche hatte neugierig, aber irgendwie 'lieb' gewirkt und es war eher der Junge schuld gewesen, der sie zu diesem Parabolspiegel gezwungen hatte. Sie wusste nicht genau, wie sie beide einordnen sollte. Sie waren beide mehrere Jahre älter als sie, aber noch keine Erwachsenen. Sie sah aber erst einmal abwartend zu, wie WiseGuy und Mara auf die beiden Neuankömmlinge zugingen, die beide ziemlich fertig aussahen.

„Hallo ihr alle“, warf der Junge einen Gruß auf die Lichtung und grinste breit, während er seinen großen Rucksack abnahm und neben sich ins Gras setzte. „Schön habt ihr es hier.“ Er sah sich neugierig um.

„Hallo Krissan und du musst Heleen sein.“ Mara ging auf das Mädchen zu und hielt ihr die Hand zum Gruß hin.

„Hallo, werte Frau ...“

„Mara“, unterbrach sie diese und umarmte das Mädchen kurz. „Hattet ihr eine angenehme Reise?“

„Na, sie begann etwas abrupt und früh“, stellte der Junge trocken fest und schüttelte ihr auch die Hand. „Aber da sind wir ja wohl selbst dran schuld. Schöne Grüße übrigens von meinem Vater an dich und WiseGuy.“

WiseGuy kam auch herüber und begrüßte erst Heleen und dann Krissan. „Ich danke dir und hätte mich noch mehr gefreut, wenn ich dich bei einem anderen Anlass wieder getroffen hätte.“

„Vielleicht war es ja Gottes Wille“, gab der Junge grinsend zurück und wandte sich dann den Mädchen zu und verbeugte sich tief vor ihnen. „Bitte verzeiht mir mein ungebührliches Verhalten von letzter Nacht. Hätte ich gewusst, welch holde Weiblichkeit ...“

„Ich muss dich warnen“, unterbrach ihn Mara. „Gleich um die Ecke gibt es ein wildes Bienenvolk, und wenn du noch weiterhin so viel Zuckersüßes um dich verbreitest, kommen die Bienen bestimmt gleich angeflogen. Und für solche Notfälle habe ich dann garantiert keine Heilsalbe übrig.“

Krissan tat sehr beleidigt und zwinkerte den verdutzten Mädchen zu. „Aber Mara. Du würdest mich doch nicht einfach vor Schmerzen gepeinigt am Boden wälzen lassen.“

„Zügel dich mal etwas“, meldete sich jetzt mit einem Mal das Mädchen zu Wort. „Gestern Nacht hast du Mist gebaut und das kannst du jetzt auch nicht mit so einem Geschwafel aus der Welt schaffen.“ Dann wandte sich das Mädchen ebenfalls an die Mädchen, knickste, senkte den Kopf und meinte mit heller, klarer Stimme. „Ich entschuldige mich bei euch. Was wie ein Scherz im Wirtshaus anfing, ist etwas außer Kontrolle geraten und ich kann euch nur versichern, dass wir euch zu keinem Zeitpunkt schaden wollten. Auch wenn dieser störrische Esel“, sie deutete auf Krissan, „ja einfach nicht aufhören konnte, als ihr deutlich kundgetan habt, dass wir nicht länger stören sollten. Und was immer ihr gemacht habt, um uns los zu werden, mir dröhnt der Kopf immer noch ein wenig davon.“

Die Mädchen tauschten rasch einige Blicke aus, auch mit ihrer Mutter, die mittlerweile natürlich eingeweiht worden war und schließlich antwortete Samantha:

„Wir nehmen deine Entschuldigung an und deine auch, wenn du aufhörst, so einen Quatsch über uns zu erzählen und wieder normal redest.“

„Ich danke dir und deinen Schwestern.“

„Wir danken dir und deinen Schwestern“, korrigierte Krissan und grinste weiter.

„Und wenn du mich noch einmal so einen Hang hochtreibst ...“

„Was dann?“

„Dann lass ich dich bei den Arbeiten nicht mehr abschreiben.“

„Nein. Nur das nicht!“, entsetzt fiel Krissan auf die Knie und Heleen drehte ihm ihren Rücken zu, grinste die Mädchen an und zwinkerte ihnen zu.

WiseGuy klatschte in die Hände und meinte dann kritisch: „Ich habe ja schon bessere Theatervorführungen gesehen, aber diese Szene war doch schon recht bemerkenswert. Also darf ich vorstellen: Hier vorne, diese dünnen ein Meter achtzig mit dem losen Mundwerk gehören Krissan Namens, 19 Jahre alt und Student der Grenwald Universität und angehender Sammler. Auf der Erde wäre das wohl Informationsbeschaffung und -bearbeitung. Diese wohlgeformte, dunkelblonde Schönheit ...“, interessiert sah er zu, wie Heleen feuerrot anlief, „ist Heleen Eckholm. Auch sie ist eine Studentin der Grenwald Universität und kann die erreichen, die sich tagsüber zuverlässig verschließen können, aber nachts ... schlafen. Zusammen mit einem Informationsbeschaffer ... aber das habt ihr ja schon selbst erlebt.“

Mara sah die beiden abschätzend an. „Außerdem sind beide schmutzig, durstig und hungrig und das Mittagessen ist fertig.“

„Essen und trinken?“, wiederholte Krissan die beiden herrlichen Worte und rollte seine Augen gen Himmel. „Herr, ich danke dir.“

„Wer hat denn gesagt, dass beides auch für dich gedacht sei“, zog ihn WiseGuy auf.

Das Mittagessen wurde dann eine entspannte und fröhliche Angelegenheit. 'Die Neuen' ordneten sich problemlos in die kleine Gemeinschaft mit ein. Es gab nie einen Zweifel daran, wer von den beiden Studenten extrovertierter war. Heleen ließ Krissan erzählen und meldete sich nur, wenn er gar zu dick auftrug, und wies ihn dann mit wenigen Worten zurück, was sie Samantha sehr sympathisch machte.

Krissan nahm das dann aber in der Regel auch gutmütig hin. Am Tisch war es dann zumeist Natascha, die sich fröhlich mit ihm stritt. Irgendwann ließ Krissan nebenbei einen Satz fallen, der sie erröten ließ. „Natascha, du erinnerst mich irgendwie an meine kleinere Schwester. Sie sieht wohl vollkommen anders aus als du, da sie lange, blonde Haare hat, aber als sie in deinem Alter war, war sie auch genauso elfenhaft.“

Ab diesem Zeitpunkt hatte er bei Natascha einen Stein im Brett.

Mara hatte während des Essens genau zugesehen, wer mit wem sprach und meinte dann, als sie die in Honig geschwenkten Beeren gegessen hatten:

„Ehe wir uns jetzt nach dem Essen vielleicht noch etwas entspannen, möchte ich noch eine Formalie hinter uns bringen. Auch wenn die Übergänger sich nun schon aus eigener Kraft am Gottesdienst beteiligt haben ...“ Sie machte eine Pause und sah Heleen und Krissan an, die beide große Augen machten und sie ungläubig anstarrten. „Ich möchte mich an den üblichen Weg halten und dafür sorgen, dass alle die bestmögliche Einführung in die Besonderheiten unseres Glaubens erhalten. Daher wird jede der Ladys einen Paten aus Terralt erhalten.“

„Ich habe mir angesehen, wie ihr miteinander umgeht, und bestimme daher die folgenden Paarungen: Amanda wird von WiseGuy betreut werden, Natascha erhält Krissan zur Seite, Heleen wird sich um Samantha kümmern und ich werde Tabea in unsere Kultur einführen.“

„Seid ihr alle damit einverstanden?“

Man kann jetzt nicht behaupten, dass Maras Erklärung Jubelszenen hervorgerufen hätte, aber es gab auch keine Widersprüche. Alle Beteiligten schauten einander an und waren eigentlich recht zufrieden mit den Paarungen.

Heleen und Krissan hatten jeder unter anderem auch das terraltische Äquivalent zu Zelten und Schlafsäcken mit und stellten die Zelte auf der Wiese auf. WiseGuy besorgte ihnen noch ein paar mit Heu gefüllte Säcke aus der Vorrats- und Futterstelle etwas abseits der Wiese, wo sie auch immer die frischen Esswaren und das Heu und den Hafer für Maras Pferd abholten. Dann hinterließ er einige kurze Zeilen auf einem Zettel, den am nächsten Morgen der Bauer vorfinden würde, der sie aus Portbach versorgte. Er war an den Bürgermeister gerichtet und informierte ihn über die beiden Neuen, auch wenn Mara sicher war, dass er auch von Professor Namens schon unterrichtet worden war. Vielleicht konnte er ja auch etwas an der Unterbringung der beiden Neuen drehen. Mit 19 waren beide schon ein wenig zu alt, um auch oben im Dachboden untergebracht zu werden und die beiden Schlafzelte waren nun wirklich minimal, auch wenn beide versicherten, dass das schon vollkommen okay sei.

Ganz zwanglos verbrachten sie den Nachmittag und spielten ein wildes Spiel mit Holzschlägern und zwei Bällen, die Tennisbällen ähnelten und beide gleichzeitig im gegnerischen Feld zu Boden fallen mussten, damit eine Partei einen Punkt bekam.

Es gab eigentlich nur eine Regel:

Die Bälle durften nur mit den Schlägern berührt werden. Da aber gleichzeitig zwei Bälle im Spiel waren, wurde es schnell und chaotisch.

Abends saßen alle wieder um den Kamin herum und Mara erzählte ein Märchen, dem alle gebannt zuhörten. Amanda saß dabei auf dem Schoß ihrer Mutter und bekam von dem Märchen nicht wirklich viel mit, da sie schon mehr am Schlafen als wach war.

„Hier ist es viel schöner als zu Hause“, flüsterte sie ihrer Mutter zwischendurch ins Ohr.

„Wie meinst du das?“, fragte Tabea verwundert nach.

„Hier sagt uns kein anderer, wie wir sein müssen.“

„Es ist manchmal aber einfacher, so zu sein, wie andere es wollen“, erwiderte sie nach einiger Überlegung.

„Auch dann, wenn du eigentlich ganz anders bist?“

Was sollte sie dazu bloß sagen?

Schon nach kurzer Zeit beschlossen sie, in ihre Betten zu verschwinden und als sie schon in ihren Betten waren und schliefen, reckte und rekelte sich Frederic. Er entfaltete seine Schwingen, drehte eine Runde im Dachboden, stellte fest, dass beide Fenster offen waren, und verschwand in der Nacht.

Kurz bevor sie einschliefen, durchbrach Natascha noch einmal die Stille.

„Samantha, schläfst du schon?“

Ein Knurren war alles, was ihre große Schwester als Antwort hervorbrachte.

„Was ist?“

„Eigentlich nichts.“

„Glaube ich nicht.“

„Ich wundere mich halt, dass es uns so leicht fällt. Irgendwie ist hier alles so ... passend und richtig“, man hörte, wie sehr es sie beschäftigte. „Ich denke natürlich auch noch immer an Bonn und so, aber irgendwie fühlt es sich an, als würde ich hier hingehören und nicht nach Bonn.“

Stille.

„Das geht mir genauso“, gab Samantha leise zu. „Ist ja immer noch besser, als wenn wir unheimliches Heimweh hätten, wo wir doch nicht wieder zurück können. Und jetzt versuche einfach zu schlafen.“

„Okay, Sam“, kam Nataschas Antwort aus dem Dunkel. „Und ... Danke.“

„Ist schon gut.“

Der nächste Tag verlief ganz anders als der Sonntag. Es gab keinen Gottesdienst und die vier Grazien hatten stattdessen 'Unterricht'. Es gab aber keinen festen Stundenplan, sondern Mara lenkte das Ganze sanft. Sie hielt sich zuerst etwas im Hintergrund, um festzustellen, wie lernfähig die Grenzgänger waren, und war sehr überrascht. In etwa 15 Jahren hatte sie nur selten Kinder erlebt, aber diese Drei waren schon erstaunlich. Besonders Amanda passte nicht zu den anderen Kindern ihres Alters, die Mara von ihrer Hilfe in der Schule von Portbach kannte. Ihre Auffassungsgabe war beeindruckend, und wenn sie etwas interessierte, biss sie sich förmlich daran fest und ließ nicht locker, ehe sie es verstanden hatte. Doch wenn sie etwas nicht interessierte, konnte man nur versuchen, ihr klar zu machen, warum es wichtig war. Wenn es gelang ... gut. Wenn nicht ... Pech gehabt. Ein Glück, das WiseGuy die Magie der Worte beherrschte.

Natascha und Krissan bildeten ein sehr seltsames Paar. Der junge, unbekümmerte Mann mit seinen 19 Jahren und Natascha lieferten sich wahre Wortgefechte, die beileibe nicht immer nur Krissan gewann. Beide hatten jedoch Spaß an diesen Auseinandersetzungen.

Samantha und Heleen bildeten dann das dritte, seltsame Gespann. Beide waren eher still und zurückhaltend, aber durch Heleen lernte Samantha, dass das durchaus keine Schwäche bedeuten musste. Heleen war sich ihres Wertes durchaus bewusst und achtete schon darauf, dass sie nicht zu kurz kam. Samantha fragte sie einmal, was sie denn eigentlich studieren würde und Heleens Antwort gab ihr zu denken.

„Das weiß ich eigentlich gar nicht. Bisher weiß ich nur, dass ich ein Talent habe, das groß und stark genug ist, um zu studieren, denn sonst hätten sie mich nicht an die Uni geholt. Der Rest wird sich schon noch ergeben.“

Am späten Nachmittag kamen sie von einer Wanderung durch den Wald zurück zum Holzhaus. Auch Tabea hatte nun gelernt, dass der Wald, durch den sie schon so häufig gegangen war, noch viele Geheimnisse enthielt. Plötzlich sahen sie einen großen, bunten Holzwagen direkt vor dem Holzhaus auf der Wiese stehen. Zwei Männer saßen auf den Stufen zur offenen Tür und auf der Wiese graste ein mächtiges Pferd. Es war ein Kaltblüter, der so einen Wagen viel williger ziehen würde und auch lange nicht so eigenwillig war, wie Donner sein konnte, wenn er keine Lust hatte. Donner hatte sich bewusst weit von diesem neuen Pferd entfernt postiert und graste, das andere Pferd ignorierend. Einer der beiden Männer war von einer beeindruckenden Rundheit und strahlte Autorität aus. Der andere war ein junger, schlaksiger Bursche Mitte 20.

„Hallo Mara“, meinte der dicke Mann jovial, als sie näherkamen.

„Hallo Herr Bürgermeister. Was verschafft uns denn die Ehre Ihres Besuches?“ Sie kam näher und schüttelte ihm die riesige Hand. Der Händedruck war fest und ganz und gar nicht schwabbelig.

„Nachdem wir die Depesche von Professor Namens erhielten, habe ich mich mit Simon Tardes besprochen ...“

„Er ist wieder in Portbach?“, unterbrach ihn Mara erstaunt und der Bürgermeister nickte.

„Jedenfalls sind wir übereingekommen, dass ihr hier ganz gut einen Wohnwagen brauchen könntet, wo jetzt die beiden ... ähm ... freiwilligen Helfer angekommen sind.“ Er grinste die beiden Studenten breit an, „Wenn ich mich recht entsinne, hat Donner ja schon einmal so einen Wagen gezogen.“

„Das stimmt. Es hat aber weder ihm noch mir viel Spaß gemacht“, erklärte Mara. „Es waren schon ein paar zusätzliche Äpfel notwendig, um ihn zu überreden.“

„Dachte ich mir. Ein Sack Äpfel liegt im Innern unter der Bank“, meinte der Bürgermeister nur trocken. „Jedenfalls dachten wir uns, dass wir deinen leichten Wagen wieder mitnehmen und euch den Wohnwagen für die Zeit hier überlassen können.“

„Spätestens, wenn das Wetter einmal etwas schlechter werden sollte, ist das bestimmt eine gute Idee“, stimmte Mara zu. „Aber die Kosten ...“

„Mach dir darüber keine Gedanken. Professor Namens hat sich darum schon gekümmert.“ Er hielt kurz inne. „Außerdem habe ich ein ... naja, ungewöhnliches Schreiben von Meister von Hohenried, deinem Gildenmeister erhalten. Er hat mich gebeten, dich in jeder Hinsicht zu unterstützen. Er schreibt etwas von einer 'Investition in die Zukunft', aber das habe ich, ehrlich gesagt, nicht verstanden.“

„Meister von Hohenried öffnet freiwillig seine Geldschatulle?“, wiederholte Mara wirklich erstaunt und schüttelte den Kopf.

Der Bürgermeister schaute dann neugierig zu den anderen Bewohnern des Holzhauses hinüber.

„Guten Tag, WiseGuy. Dich kenne ich ja und der junge Mann ist ganz offensichtlich ein Namens und muss daher Krissan sein. Die junge Frau hat terraltische Kleidung und ist daher Heleen, aber beim Rest muss ich passen.“

Mara holte rasch die bisher versäumte Vorstellung nach. Der Bürgermeister gab jedem die Hand und war zu jedem gleich freundlich. WiseGuy schaffte es nicht, auch nur eine Art von Regung mit zu bekommen, denn er kannte die magische Fähigkeit, über die der Bürgermeister verfügte. Bei direkter Berührung konnte er sofort sagen, ob jemand 'gut' oder 'schlecht' war. Das war für einen Bürgermeister, der viel mit unbekannten Menschen zu tun hatte, natürlich äußerst hilfreich.

„So, dann lass uns mal in die Hufe kommen, damit wir noch rechtzeitig zum Abendessen wieder in Portbach sind. Schirr einmal Brutus an, Karl, und dann machen wir uns auf den Weg.“

Karl brummte nur und trottete zu Brutus hinüber, der nun wirklich alles andere als kämpferisch aussah. Nach einigen Minuten war das gewaltige Pferd vor dem nun fast lächerlich wirkenden leichten Wagen von Mara angeschirrt und der Bürgermeister kletterte nach einem letzten Händedruck auf den Bock neben Karl, während der Wagen sich schon fast bedenklich zur Seite neigte.

„So, dann macht euch noch ein paar schöne Tage hier. Wir sehen uns dann in etwa zwei Wochen, sonntags, vor der Messe in Portbach. Ich danke Gott dafür, dass er eure Schritte nach Portbach gelenkt hat, auch wenn ihr wahrscheinlich noch eher Trauer darüber empfinden mögt. Fahr los, Karl.“

Mara schüttelte den Kopf, als sich Brutus dann ganz gemächlich in Bewegung setzte. Der Bürgermeister hatte sich schon reichlich seltsam verhalten. Keine Frage nach den beruflichen Fähigkeiten von Tabea, kein Hinweis darauf, dass die Gemeinschaft von Portbach sie schon sehnsüchtig erwartete. Es wirkte so, als wüsste er etwas, was sie nicht wusste. Ob das mit den Händedrucken zusammenhing? Oder mit dem Schreiben ihres Gildenmeisters? Das Schreiben war ganz offensichtlich direkt an ihn gerichtet gewesen, sonst hätte er es ihr übergeben. Dieser Übergang war anders als alle, die sie bisher erlebt hatte.

„Was ist Portbach?“, riss sie Tabea aus ihren Gedanken heraus, als der Bürgermeister im Wald ihren Blicken entschwand.

WiseGuy übernahm die Beantwortung.

„Kennst du die Stadtteile Endenich und Duisdorf?“, fragte er und Tabea nickte.

„Hier auf Terralt heißt der größte Ort in der Gegend aus naheliegenden Gründen Portbach und liegt dort, wo auf Terra diese beiden Stadtteile zu finden sind. Alles in allem wohnen in Portbach etwa 500 Menschen und mit den umliegenden Gehöften sind es dann etwa 1000, wenn man auch den kleinen Ort auf der anderen Rheinseite mit zählt.“

Während er dies erklärte, waren Amanda und Natascha schon in den Wohnwagen hochgeklettert, gefolgt von Krissan.

„Das ist ja supercool“, hörten sie Amanda rufen und ihre Mutter erwiderte nur von außen.

„Amanda!“

Ihr erhitztes Gesicht erschien schmollend in der Tür. „Aber das ist wirklich ... so“, verteidigte sie sich. Neben ihr erschien die grinsende Natascha. „Das ist wirklich klasse hier. Das sieht so ähnlich aus wie in diesem Film, den wir mal ausgeliehen haben. Da kam doch ein Wohnwagen vor und das ist hier so ähnlich, nur noch viel kleiner“, sprudelte sie hervor.

„Kannst du dich an einen Film mit einem Wohnwagen erinnern?“, fragte Tabea ihre Älteste, doch die zuckte nur die Achseln.

„Nicht wirklich, aber da wir ja häufiger DVDs ausleihen, kann das durchaus sein. Gab es nicht mal eine mit den Fünf Freunden in einem Wohnwagen?“, grübelte sie und auch Tabea konnte sich jetzt dunkel erinnern. Sie hatten zu Hause keinen Fernsehanschluss gehabt. Dieser Teil des Fernsehers war schon seit Jahren kaputt, aber Tabea hatte ihn auch bewusst nie reparieren lassen oder einen Fernsehanschluss gemietet. Was nicht da war, konnte die Kinder nicht negativ belasten. Heute kamen auch schon tagsüber, wenn sie arbeiten musste, Dinge im Fernsehen, die für Kinder, besonders wenn sie alleine in das Rechteck starrten, alles andere als geeignet waren. An den Kinderfilm nach einem der Bücher von Enid Blyton konnte sie sich jetzt auch wieder erinnern.

„Nun kommt schon“, forderte Natascha sie ungeduldig auf und Tabea folgte seufzend der Aufforderung. Krissan kam schon wieder heraus, als sie an den drei Stufen ankam und rief zu Heleen hinüber: „Der Wagen scheint echt gut in Schuss zu sein. Und er hat auch zwei Liegen, eine breitere im hinteren Teil und eine im vorderen. Das ist dir ja wahrscheinlich wichtig, oder?“

„Worauf du Gift nehmen kannst!“ Heleen sah ihn stirnrunzelnd an.

„Ich verstehe wohl gar nicht, was du meinst, aber Gift hätte ich sonst auch nicht genommen.“

„Erstaunlich, wie er es schaffte, so unendlich unschuldig auszusehen“, dachte WiseGuy bei sich.

„Gemütlich“, sagte Tabea nur, als sie mit Amanda an der Hand wieder herauskam und die Stufen hinunter kletterte. „Und damit soll man auch weite Reisen machen können?“

„Soweit mir bekannt ist, reisen die Fahrenden damit kreuz und quer durch Europa und auch durch Teile von Asien und Nordafrika und vermieten die Wagen auch schon einmal, wenn Bedarf ist.“

„Und Toiletten?", fragte Tabea.

„Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Meine Frau hätte sie auch genau jetzt gestellt.“ Er grinste, als Tabea ihn stirnrunzelnd ansah. „Ich muss euch leider enttäuschen, aber Toiletten gibt es hier nicht. Auch die Eisenbahnen arbeiten hier noch mit Löchern im Boden. Nur die Luftschiffe haben natürlich Toiletten.“

„Eisenbahnen? Luftschiffe?“, wiederholte Samantha erstaunt.

WiseGuy nickte. „Ich bin jetzt beileibe kein begnadeter Zeichner, aber ich kann euch gleich ein paar Zeichnungen zeigen. Es gibt mit Holz und Kohle befeuerte Züge und Fluggeräte, die Zeppelinen ähneln. Ich hatte, glaube ich, schon einmal erwähnt, dass es hier lange nicht so altmodisch ist, wie man zuerst annimmt.“

Samantha war nachdenklich geworden, deutete dann über die Lichtung in die Richtung, in der die Schneise hinunter zum Rhein verlief. „Könnte es vielleicht sein, dass da unten am Rhein auch eine Bahnlinie entlangläuft?“

„Die Kandidatin hat 100 Punkte“, gab sich WiseGuy geschlagen. „Auf halbem Weg zwischen dem Rhein und der Hügelkette verläuft eine Bahnlinie in Richtung Süden. Wie bist du da jetzt so schnell drauf gekommen?“

„Gestern hörte ich seltsame Geräusche und noch seltsamer aussehende Wolken stiegen über den Bäumen auf.“

„Aber, um auf das Problem Toiletten und Wohnwagen zurückzukommen, unterwegs reicht in der Regel ein Busch und an Rastplätzen steht entweder eine Wirtschaft oder es wird rasch eine Latrine angelegt..“ Er kam damit einer Frage von Natascha zuvor. „Also einfach ein Loch im Boden, wenn möglich wieder hinter einem Busch oder mit einer Decke verhängt. Das Fehlen von Toilettenpapier habe ich schon sehr häufig bedauert und manchmal auch das von starken Reinigungsmitteln.“

„Geht das denn, die beiden zusammen in dem Wohnwagen?“, wollte Tabea noch wissen.

„Und damit wären wir bei dem Thema 'Volljährigkeit', worüber wir ja auch schon mehrmals gesprochen haben, Mara“, meinte WiseGuy und gab die Frage damit an diese weiter.

„Können wir nicht ins Haus gehen und vielleicht langsam mit den Vorbereitungen fürs Abendessen anfangen?“, schlug Krissan vor.

„Kannst du eigentlich immer nur an das eine denken?“, zog ihn Heleen auf.

„Wäre dir das andere denn lieber?“

„Womit wir wieder beim Thema wären“, stellte WiseGuy trocken fest und lachte.

Sie gingen hinein und setzten sich um den Tisch, während Amanda und Natascha unter den wachen Augen von Heleen noch einmal zum Wohnwagen zurückkehrten.

„Als WiseGuy mir das Konzept von 'Volljährigkeit' erklärte hat, hatte ich erst große Mühe, es zu verstehen“, gab Mara zu und schenkte frisches Quellwasser an alle aus, die etwas trinken wollten. „Es erscheint mit unsinnig, ein Alter festzulegen und dann zu behaupten, dass jedes Kind, das es erreicht, auf einmal erwachsen sein soll. Besonders als WiseGuy dann noch darauf hingewiesen hat, dass dieses Alter in verschiedenen Ländern auch noch unterschiedlich ist. Wie soll ein Kind denn erwachsen werden, wenn es nicht im Laufe der Zeit immer mehr Verantwortung mit übernehmen kann? Auf Terralt hat es die Kindheit weitestgehend hinter sich gelassen, wenn es als vollständiger Teil der Gemeinde einem Gottesdienst beiwohnen kann, ohne von seinen Eltern mitgenommen zu werden.“

„Und das ist dann wann?“, erkundigte sich Tabea, der schon etwas Übles schwante.

„So etwa zwischen 11 und 14.“

„Ist das nicht sehr früh?“ Tabea wurde schummrig in der Magengegend, wenn sie daran dachte, dass die Beschreibung sowieso auf Samantha, aber in gar nicht so langer Zeit auch auf Natascha zutreffen würde.

„Das kann man gar nicht so einfach beantworten“, mischte sich jetzt WiseGuy ernst ein. „Abgesehen davon, dass es auch noch die Paten gibt, die eine sehr wichtige Rolle spielen und bei einem Fehlgriff auch rasch ausgetauscht werden können, wachsen die Kinder hier schon um einiges schneller auf, als es auf Terra behauptet wird. Außerdem gibt es ein Problem nicht, das auf Terra sehr viele Probleme hervorruft.“

„Und das wäre?“

„Ungewollte Schwangerschaften“, meinte er nur zur kompletten Verblüffung Tabeas.

„Wie soll das möglich sein?“

„Du hast die Amulette schon gesehen“, stellte WiseGuy fest und Tabea nickte. „Ein Mädchen bekommt sie spätestens bei Auftreten der ersten Monatsblutung – übrigens einer Veränderung, die auf der Ebene, auf der der Gottesdienst stattfindet, zu erkennen ist – so ein Amulett.“ Er grinste. „Wann ein Junge seins bekommt ist dann wahrscheinlich auch klar.“

Samantha wurde rot und nickte.

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Das sollte in den nächsten Tagen nicht die einzige verblüffende Erkenntnis sein, die die Grenzgänger machten. Sie lernten viel über Terralt, unabhängig davon, ob der Unterricht in der Gruppe oder im Zweiergespräch stattfand. Doch sie sollten nicht die Einzigen bleiben, die von den Schulungen profitierten. Heleen war die Person, die vielleicht am stärksten aus dem Gleichgewicht geriet und dann in der Folge davon profitierte.

Ein paar Tage, nachdem der Wohnwagen gekommen war, waren Krissan und sie zusammen mit Natascha und Samantha hinuntergeklettert und hatten sich einen Weg zum Rhein gebahnt, der sich träge durch sein nicht befestigtes Bett wand. Große Bäume wuchsen an beiden Ufern und die Fahrrinne war viel schmaler, als sie sie von Terra kannten. Es war eine Fahrrinne und es gab auch viele kleinere und größere Boote, die auf ihr kreuzten und dabei Segel, Ruder oder auch Stangen zum Staken benutzten. Die Mädchen waren fasziniert von den unterschiedlichen Bauweisen der Kähne und der fehlenden Hektik. Natürlich wurden schon einmal lauthals Flüche ausgetauscht, wenn ein Kahn einen anderen so dicht ans Ufer gedrängt hatte, dass dieser wieder auf Sand gelaufen war und nun wieder flott gemacht werden musste. Aber sonst war es herrlich friedlich und das Wasser war kalt, sauber und erfrischend.

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Die nächste Kette von teilweise vollkommen überraschenden und fast schon erschreckenden Ereignissen begann zwei Tage später, als Heleen und Natascha sich alleine auf der Wiese vor der Holzhütte befanden, während die anderen einen Ausflug machten. Sie wollten versuchen, die ungefähre Stelle zu finden, an der sie, also ihre Schwestern und ihre Mutter auf der Erde gelebt hatten. Natascha hatte zum Erstaunen aller geäußert, dass sie lieber von Heleen noch mehr über die Geschichte von Terralt erfahren wollte. Die anderen waren dann ohne sie losgelaufen.

Nun saßen Natascha und Heleen nebeneinander auf den Stufen des Wohnwagens und ließen sich von der Sonne bescheinen. Sie saßen still nebeneinander.

„Was ist jetzt der wirkliche Grund?“, fragte Heleen schließlich und Natascha öffnete ihre Augen und war sehr darum bemüht, kein erstauntes Gesicht zu machen.

„Wie meinst du das?“

„Dein Interesse für Geschichte in allen Ehren, aber ich nehme dir das jetzt nicht wirklich ab.“

Beide schwiegen einige Augenblicke.

Plötzlich fragte Natascha: „Wenn du jemanden im Schlaf besuchst, wie erreichst du diese Person?“

Heleen wandte ihren Kopf Natascha erstaunt zu. „Ich verstehe jetzt wirklich nicht, worauf du hinaus willst.“

Natascha errötete leicht und senkte ihren Blick auf das niedergetretene Gras direkt vor dem Wagen. „Na, ich dachte, dass du vielleicht über diese Ebene gehst, auf der der Gottesdienst stattfindet ...“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739356242
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Schlagworte
Schwarzmagie Prophezeiung Magie Fantasy Terralt Parallelwelt Assasinen Steammagic Science Fiction

Autor

  • Dirk Richter (Autor:in)

Seit nicht ganz 10 Jahren habe ich wieder begonnen zu Schreiben. Was in der Kindheit mit Jugendromanen anfing dreht sich jetzt komplett um die Erforschung der Parallelwelten von Terra, zu denen die Menschen auf der Erde vor vielen Jahrhunderten jede Verbindung verloren. Meine Aufgabe ist es jetzt, diese Welten zu erforschen und es begann mit der Begleitung einer Mutter und ihrer drei Töchter auf unsere magische Zwillingswelt: Terra Alterna - Terralt.
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Titel: Terralt - Band 1 - Die drei Hüterinnen