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Dereliction

New Bristol

von Mark B. Hives (Autor:in)
361 Seiten

Zusammenfassung

Gewinner des 2. Platzes beim Tolino Media Newcomerpreis 2021. Das sagt die Jury: „Trübe Endzeitstimmung? Fehlanzeige. Selten war Science-Fiction witziger, spannender und emotionaler! Mark B. Hives hat mit Dereliction eines der unterhaltsamsten Bücher des Genres geschrieben. Begleite Alexius auf der Reise nach New Bristol und überzeuge dich selbst! P.S.: Bereitet auch Nichtkennern des Sci-Fi-Genres beste Lesestunden!“ Klappentext Hey, ich bin Alexius. Wir schreiben das Jahr zweitausend- sechshundert-irgendwann und leider ist die Erde schon vor langer Zeit vor die Hunde gegangen. Zusammen mit meinem Pa und zwei Freunden lebe ich in einem Wohnbereich unter der Universität. Da ich ziemlich gerne lese – und eigentlich sowieso nichts Besseres zu tun habe – darf ich einmal in der Woche mit ‘nem kratzigen Schutzanzug in der Bibliothek nach Büchern suchen. Etwas Neues finde ich zugegebenermaßen seit Jahren nicht mehr, trotzdem bleibe ich optimistisch. Meine Geschichte führt mich mitunter nach New Bristol, einer riesigen, unterirdischen Siedlung. Na ja, zumindest ist das mein Informationsstand.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Deutsche Erstausgabe

© Mark B. Hives / Marco Bugno 2020

Umschlagskonzeption & Gestaltung: César Pardo, Mark B. Hives

Artwork von: Jeff Purnawan

ISBN: 979-8-682-37290-4

Vertrieb im Self-Publishing

www.markhives.com

1

Head-Up

 

 

 

Die Uni ist wieder mal, na ja, leer halt. Ich mach’ die ganze Übung hier jede Woche und glaube langsam werde ich wahnsinnig. Immer dieselben alten Mauern und dieselben morschen Regale mit alten Büchern, die ich allesamt schon gelesen habe. Trotzdem hoffe ich Mal für Mal, etwas Neues zu finden, lässt mich Pa ja nicht außerhalb der Universität suchen. »Campus! Sonst nehme ich dir Eddy weg!«, höre ich mich mit höhnischer Stimme murmeln. Leere Drohungen, mein Vater ist dafür viel zu nett. Nun ja, immerhin ist die wöchentliche Bücherrettung hier eine recht erfreuliche Abwechslung zu meinen üblichen Gefilden.

Die Universitätsbibliothek ist bis auf die vermoderten Holzregale in überraschend gutem Zustand. Riesige Marmorsäulen ragen etwa fünfzehn Meter in die Höhe, wo sie die fast vollständig erhaltene, gewölbte Decke zusammenhalten. Einige Tische stehen sogar beinahe auf vier Beinen. Die Stühle aus Kunststoff halten sich ebenfalls recht gut für ihr Alter. Hab’ ich auch schon persönlich getestet. Manchmal sitzt meinereiner in aller Selbstverständlichkeit hier und stellt sich vor, wie hunderte von Menschen herumwuseln, Lektüre und Wissen austauschen und sich über ihre Lieblingsromane unterhalten. Außer meiner eigenen Vorstellung habe ich jedoch nicht gerade viel Informationen zu dem Innenleben einer Bibliothek in alten Zeiten. Bücher zu diesem Thema sind ironischerweise eher rar.

Im Moment stehe ich regungslos da, auf meinem HUD, kurz für Head-up-Display, blinken Zahlen und piepsen Töne, welche ich seit Jahren ignoriere. Ich schaue mich um: Dieselben vier Regale an der Nordwand sind – nicht sonderlich überraschend – immer noch an derselben Stelle zu finden. An der Westseite ist schon lange tote Hose. Das brauchbare Holz der ehemaligen Gestelle dort haben wir verwendet, um einen Zugang zur Galerie zu bauen. Die eigentliche Wendeltreppe war bereits eingestürzt, als meine Eltern hier ankamen. Pa hat mir mit der Rampe geholfen, damit ich oben nach weiteren Büchern stöbern kann. Tatsächlich habe ich die ersten paar Male einige brauchbare Sachbücher gefunden, über Geschichte und Geografie, welche mich zwei, drei Wochen faszinierten. Eins davon war eine Zusammenfassung der Führer der freien Welt der letzten Jahrhunderte. Wirklich objektiv war das Buch in der Darstellung der Persönlichkeiten jedoch nicht. Anscheinend gab’s schon damals ein paar Idioten. Na ja, war zu erwarten. Sachbuch, nicht Sachlichbuch.

Über die improvisierte Rampe bewege ich mich, begabt wie ich bin, mit nur einmal Stolpern zum zweiten Stock. Vielleicht ist ja ein Wunder passiert und dort oben sieht’s nun anders aus ... nope, alles gleich. Langsam habe ich das Gefühl, die Langeweile bringt unsere Spezies schlussendlich zum Aussterben. Okay, vermutlich die Knappheit der Scrubber für die Schutzhelme zuerst. Oder Wasser, ziemlich sicher Wasser.

Von hier oben hat man eine recht gute Übersicht über die Bibliothek und sieht durch ein paar glaslose Fensterrahmen auch ein bisschen Außenwelt. Grau- und Brauntöne dominieren die Aussicht, weitere Farben sucht man vergeblich. Manchmal bin ich traurig, dass ich draußen nie Bäume wie die in den Büchern oder Pflanzen wie in unserer Hydrokultur sehen werde. Aber irgendwie mag ich die Grautöne mehr als die meisten anderen Verbliebenen.

Neue oder noch lesbare Bücher hat’s hier oben leider auch nicht. Wie letzte Woche und in den Unzähligen davor. Beim obligatorischen Blick über das verzierte Geländer der Galerie in das sechs Meter darunter liegende Erdgeschoss wird mir ein bisschen mulmig. Ich hab’ Höhen noch nie gemocht. Die Menschen früher hatten das Problem wohl nicht, die übrig gebliebenen Monumente in der Außenwelt sind teilweise so hoch, dass sie den Himmel berühren. Weit außerhalb der Reichweite der gelegentlichen Exkursionen meines Vaters sieht man bei klarer Sicht sogar eine Struktur mitten im Nirgendwo, welche kilometerweit in die Höhe ragt, wie ein Kabel ohne Ende. Reiner Wahnsinn, ich bekomm’ ja schon hier oben weiche Knie.

Beim Abstieg über die improvisierte Rampe knirscht und knackt die Konstruktion unsympathisch wie immer. Ich bin vielleicht zwei Meter in der Höhe, auf gestapelten Tischen, Stühlen und Holzbrettern, als das Knirschen durch einen neuen, lauteren und noch unsympathischeren Ton ersetzt wird und die Rampe, auf welcher ich vor einer Sekunde noch fest gestanden bin, unter mir zusammenbricht. Ich versuche mich, clever wie ich bin, vergeblich an der Luft festzuhalten, bevor ich Kopf voran auf eine Tischplatte einen Meter weiter unten knalle, diese einseitig nachgibt und mich minder sanft Richtung Marmorboden lenkt. Der Aufprall wird zwar durch den Schutzanzug, den ich trage, abgedämpft und das Plastoglas-Visier des Schutzhelms ist beinahe unzerstörbar, aber die unvorteilhafte Landung auf der Wirbelsäule schmerzt trotzdem höllisch.

»Fuck!« Die Zahlen in meinem Head-up-Display blinken in einem neuen, schnelleren Tempo.

»Alex, alles okay?«, ertönt eine Stimme im Comlink des Helms und ich werde daran erinnert, dass mein Vater mich eben doch nicht ganz alleine raus lässt.

»Eagle One an Papa Eagle, Konstruktion ist unsicher, bin umgefallen, over.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Negativ, nur ein bisschen wackelig, kehre zur Basis zurück, over.«

»Dann bis gleich.« Im Hintergrund höre ich, wie Lily sich erkundigt, ob es mir gut geht. Mein Vater antwortet, während er sich scheinbar vom Comlink wegbewegt mit genervter Stimme: »Ja, aber wenn ich das nächste Mal ein Buch über Militärfunk finde, verbrenne ich es.«

»Das hab ich gehört Papa Eagle, over und out.«

Die Treppe zum Wohnbereich befindet sich zwei Gänge weiter im Audimax, ein rundlicher Saal mit einem Plastoglas Podium in der Mitte und etwa 300 Sitzplätzen rundherum. Der gesamte Raum ist fast wie neu, obwohl wir einiges an Mobiliar geborgt oder für wichtigere Ressourcen getauscht haben. Die Treppe zu unserem Wohnbereich befindet sich direkt unter dem Podium. Das selbst dient dabei als Hebel für die versteckte Falltür zur Treppe. Die gesamte Anlage unterhalb wurde vor hunderten von Jahren gebaut und war angedacht für die Studenten der Universität als Schutzbunker bei Atomkriegen oder anderen Krisen. Deshalb ist sie auch mit einer Sicherheitsschleuse und drei vermeintlich redundanten Filter- und Kühlsystemen – von denen nur noch eins funktioniert, ausgestattet. Die noch bestehenden Siedlungen weiter innerhalb der Stadt wurden erst viel später gebaut und sind deshalb teilweise moderner ausgerüstet als mein Zuhause. Der Großteil der Verbliebenen weiß nichts von unserem Wohnbereich und das ist auch gut so.

Nachdem ich die Treppe etwa 15 Stufen nach unten steige, nehme ich Hose und T-Shirt von der Garderobe und öffne mühsam die erste Schleusentür. Mittlerweile ist zu den blinkenden Zahlen auf meinem HUD auch noch ein ziemlich fieser Warnton dazugekommen. Herrlich. Mit der Tür hinter mir wieder verschlossen, betätige ich innerhalb der Schleuse die üblichen Hebel mit den üblichen Bewegungen. Die Lüftungsanlage zischt und die warme Luft um mich herum kühlt ab. Selbst mit dem Schutzanzug spürt man die heiße Luft an Händen und Füssen. Die volle Ladung der Hitze erhält, wer gewisse Geschäfte zu erledigen hat, da die Anzüge dafür unpraktischerweise ausgezogen werden müssen. Wer sich das ausgedacht hat, ist offensichtlich Masochist. Levi war der Einfachheit halber schon ein paarmal nur mit Helm und ohne Anzug draußen, der Irre.

Nachdem das kleine Lämpchen über der inneren Schleusentür endlich in einem gedimmten gelb-grün aufleuchtet, öffne ich die Klammern in der Mitte des Anzugs welche vom Hals bis knapp oberhalb der Hüfte reichen. Bereits nach der zweiten Klammer lockert sich der graue Anzug über meinem gesamten Körper. Der Helm hat eine ähnliche Funktionsweise: Mit zwei Klammern, vorne am Hals und hinten am Genick, lockert sich der flexible Durillium-Stoff des Innenmaterials über der Haut. Das An- und Ausziehen der Schutzbekleidung ist dadurch ein Kinderspiel.

Unter dem Anzug wird keine Kleidung getragen, da die Kühlung über eine Reaktion der elektronengeladenen Stofffasern und der Haut stattfindet. Je nach Einstellung friert man dadurch schon fast. Doch der große Vorteil dabei ist, dass wir vor der Schleuse eine Garderobe mit frischen Klamotten aufstellen können, welche durch die irrespirable, aber doch warme Luft immer schön vorgewärmt ist, wenn man nach Hause kommt. Jackpot!

 

 

2

Zuhause

 

 

 

Obwohl unser Wohnbereich verglichen mit der Luft der Außenwelt kühl ist, spüre ich immer wieder Wärme, wenn ich eintrete. Trotz der kahlen Betonwände- und Böden im nur 2x2 Meter großen Eingangsraum begrüßt mich hier ein Gefühl der Geborgenheit. Die Tür hinter mir verriegle ich rituell und setze Anzug und Helm auf Ihre jeweiligen Ladestationen. Eine weitere Ausrüstung lädt bereits seit letzter Woche. Eine vollständige Ladung dauert bei unseren drei verbleibenden Solarpanels etwa vierzehn Tage. Immerhin hält der komplette Anzug dann fast zwei Monate, vorausgesetzt man ersetzt die Scrubber im Helm jede Woche.

Direkt gegenüber der Schleuse geht es in den zweitgrößten Raum des ganzen Wohnbereichs – das Wohnzimmer. In der Mitte steht ein eckiger Klapptisch mit sechs Kunststoffstühlen aus dem Audimax, für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir mal Gäste hätten. Rechts und links geht es zu Zimmern und Hydroplantage und an der Nordwand befindet sich eine kleine Küche. Der Raum ist leer bis auf Lily, die Reis, Kartoffeln und Kräuter fürs Abendessen vorbereitet.

»Wo sind denn alle?«, frage ich. Nach dem ‘Unfall’ vorhin hätte ich erwartet, dass zumindest mein Vater am Tisch sitzt und mich vorwurfsvoll mustert. Lily dreht sich überrascht um, sie hat wohl nicht gehört, dass ich wieder zuhause bin.

»Oh Alexius, da bist du ja! Ist alles okay?« Wie der Wind manövriert die zierliche Lily am Klapptisch vorbei und umarmt mich wie immer viel zu fest, sodass mein sonst schon brummender Kopf fast explodiert. »Ich hab’ mir Sorgen gemacht, dein… Aufschrei, bist du verletzt?«

»Wenn du weiter versuchst, mich zu erdrücken, dann vielleicht.«

»Entschuldige«, sie lächelt und lässt los, Freiheit! »möchtest du einen Tee?«

Lily Cruz ist Mitte 40, sieht aber immer noch aus wie 25 und man mag vermuten, das liegt an der absurden Menge Kräutertee, die sie trinkt. Sie ist unbestritten das Herz dieses Ortes.

»Nein danke, weißt du, wo die anderen sind?«, frage ich erneut.

»Dein Papa und Levi sind im Wartungsraum, irgendwas mit der Wasseraufbereitung, das sollen die Männer lösen.« Lily scheint nicht wirklich besorgt. »Ach und Alexius, ich hab‘ dir Eddy geflickt. Er liegt auf deinem Bett.«

»Also hat er wieder beide Augen?«

»Natürlich, und ich habe ihn einmal mehr mit ein bisschen Lavendel aus der Hydroplantage präpariert.«

»Das hast du aber Levi nicht erzählt, oder? Er macht sich immer darüber lustig.«

»Das würde ich nie tun, mein Grosser.«

»Danke Lily, du bist ein Engel! Ich geh mal zu Pa. Möglich, dass ich den Anzug geschrottet habe.«

 

Der Wartungsraum liegt direkt östlich des Wohnzimmers und ist etwa ein Drittel so groß. Mein Vater und Lily’s Mann Levoras beugen sich über die Wasseraufbereitungsanlage. Bemerkt hat mich bisher noch niemand. Entweder bin ich zu leise oder alle hier zu taub.

»Cav, der Scheiß liegt nicht an der Anlage!«, sagt Levi in seiner tiefen, rauhen Stimme. Sein brauner Vollbart und die buschigen Augenbrauen verschleiern sein kantiges Gesicht und seine freundlichen grau-grünen Augen. Lily nennt ihn oft ihren Teddybären, wie Eddy, mein – fürs Alter völlig angemessenes – Plüschtier. Einfach in groß. Mehr als zwei Meter groß.

»Und seit wann bist du der Experte in Sachen Wasser Levi?«, entgegnet Pa.

»Seit ich’s trinke.«

Mein Vater wirft Levi einen fragenden Blick zu und fängt an zu lachen. Levi wirkt erst ein bisschen verwirrt, lacht dann aber auch mit. Er ist vielleicht nicht der hellste Stern am Himmel, aber ich bin froh, gehört er zu uns.

»Du trinkst vor allem zu viel Whisky, mein Freund.«, sagt Pa grinsend und schüttelt dabei den Kopf.

»Schön wärs, ich sag’ schon lange wir brauchen ‘ne Brennerei hier unten.«

»Dafür!«, melde ich vom Türrahmen aus. Fast synchron drehen sich beide um. So unterschiedlich sie sein mögen, sind sie seit beinahe drei Jahrzehnten Freunde und solange ich denken kann meine Vorbilder. Cavanough Blake, auch bekannt als mein Pa, ist nur knapp 1.80m groß – neben Levi ein Zwerg. Er ist schlank und flink in Körper und Geist, bis auf sein Knie, dass die 53 Jahre langsam spürt. Seine dichten dunkelbraunen Haare sind bereits angegraut und seine braunen Augen wirken zugegeben trauriger seit dem Tod meiner Ma, aber immer noch herzlich.

»Oy Lex, hab’ dich gar nicht reinkommen gehört«, antwortet Levi. Pa begrüßt mich mit einem Lächeln und Nicken »Hey mein Junge.«

»Dein Pa und ich versuchen grad herauszufinden, weshalb das Teil hier rumspackt«, sagt Levi mit einem Tritt gegen den Wassertank.

»Die Saat nebenan wird nur noch teilweise bewässert, eine der Reihen können wir bereits vollständig umgraben«, ergänzt Pa mit einem kritischen Blick auf die von Levi getretene Stelle.

»Habt ihr die Leitungen schon gecheckt? Wenn’s ja nur zum Teil funktioniert, ist vielleicht irgendwas in der Hydrokette verstopft.«

Das gesamte automatisierte Bewässerungssystem nennen wir so.

»Siehst du Cav! Sag’s ihm Lex! Meine Worte!«, erwidert Levi lebhaft. Kein gutes Zeichen.

»Sei nicht zu sehr geschmeichelt Levi, die Leitungen können nicht das Problem sein. Dasselbe Rohr führt zu den letzten beiden Hydrokulturen, nur eine davon ist betroffen. Die Kette ist intakt.« Mein Vater hat Recht. Wenn Lily das Herz ist, ist Pa der Kopf.

»Ich lass euch das durchkauen. Pa, könntest du danach dein geschultes Mechaniker-Auge auf meinen Anzug werfen?« Ich hoffe, ich habe nichts kaputt gemacht. Wenn doch, hilft vielleicht das Kompliment. »Bin nur so ein bisschen von der Rampe gestürzt und dann hat das HUD recht untypisch rum geblinkt und gepiepst. Nicht so normales piepsen, sondern so fiep fiep fiep.« Pa zieht seine Augenbrauen hoch. »Ich geh’ dann mal.« Bevor er antworten kann, laufe ich zurück ins Wohnzimmer und verschwinde durch den gegenüberliegenden Gang in meinem Zimmer.

Dort angekommen muss ich mich erstmal hinlegen. Die Betten hier sind nichts Weiteres als ein Metallgestell bespannt mit Stoff. Wahrscheinlich hat das Streben nach einer richtigen Matratze schon mehr Menschen getötet als Durst. Mein Zimmer ist nicht sonderlich groß, die eine Wand ist vollgestellt mit über 200 Büchern, an der anderen steht ein Bett. Dazwischen kann man knapp stehen. Licht kommt von einer einzelnen LED-Lampe an der Decke und stellt sich um 21 Uhr automatisch aus. Als ich klein war, hatte ich das Zimmer noch mit Aia geteilt. Für fast zehn Jahre wohnten hier vier Familien, statt wie jetzt nur Pa, ich, Levi und Lily und der Platz war aufgrund der lebenswichtigen Hydrokulturen knapp. Mein Vater sagte mir damals, dass die Soto’s und Hartman’s in die Siedlung gezogen seien und ich dafür ein eigenes Zimmer bekomme. Das machte zu der Zeit in meiner kindlichen Logik noch Sinn, heutzutage nicht mehr wirklich, aber nachgefragt hab ich seither nie. Vielleicht weil ich befürchte, dass die Wahrheit zu viel für mich ist.

Zum Lesen bin ich gerade zu erschöpft. Stattdessen drehe ich mich zur Seite und sehe, wie Eddy mich anstarrt. Eddy ist mein Teddybär, ich war anscheinend früher nicht sonderlich kreativ. Pa erzählt heute noch, wie er dachte, ich hätte ihn Teddy genannt und dass ich das T einfach nicht richtig aussprechen konnte. Ich glaube, er war erleichtert, als ich ihn auch bei voller Sprachfunktion noch Eddy nannte. Ich höre ihn heute noch sagen: ‘Immerhin, mein Sohn hat einen Buchstaben Kreativität’.

Ma hat Eddy vor 15 Jahren für mich gemacht, kurz bevor sie starb.

3

New Bristol

 

 

 

Beim Abendessen sitzen Levi und ich als erste am Tisch, während Lily einen Topf nach dem anderen auf den wackligen Klapptisch stellt. Pa stößt eine Minute später dazu. Nachdem Lily dann den vierten und letzten Topf vor uns auf den Tisch stellt, setzt auch sie sich hin.

»Kartoffeln sind in den zwei größeren Töpfen, Reis in den zwei kleineren. Erbsen sind leider aus.« Lily kocht fast jeden Tag für uns. Helfen lässt sie sich nur selten.

»Riecht wie immer fantastisch«. Erwidert mein Pa. Levi stürzt sich bereits auf die Kartoffeln.

»Danke Lily! Sieht super aus!« Ich nehme mir einen Löffel Reis. »Pa, hattest du Zeit, den Anzug zu checken?«, frage ich.

»Ja.«

»Und?«

»Dem Anzug geht’s gut, aber der Scrubber ist im Eimer. Schwer zu sagen, ob das an deinem ‘Bisschen-Sturz’ liegt oder das Teil durch ist.« Verständnisvoll wie immer, der Mann. »Jedoch ist das auch nicht relevant. Wichtig ist, in einem der Anzüge ist jetzt ein älterer Scrubber und sonst haben wir keinen Vorrat mehr. Deshalb muss wohl jemand nach New Bristol und neue Scrubber organisieren. Levi und ich haben entschieden, dass du mit 19 alt genug bist.«

Hat er das wirklich gerade gesagt?

»Auch wenn du immer noch ‘nen Teddy hast«, spottet Levi und lacht.

»Echt jetzt? Ich darf mit?« Das Ganze habe ich eigentlich schon seit einiger Zeit aufgegeben. Seit ich 14 bin, darf ich die Universität durchsuchen, außerhalb jedoch nicht. Pa meint zu meinem Schutz. Ich hätte wohl jederzeit einfach ausbüchsen können, aber dafür bin ich offenbar nicht mutig genug.

»Du wirst Levi begleiten, mein Knie macht mir zu schaffen und Levi ist sowieso der Überlebenskünstler. Ich werde hier an unserem Comlink bleiben und euch bei der Navigation helfen.«

»Navigation?«

 

Die Reise nach New Bristol, der größten Siedlung der Region, sollte etwa drei Tage dauern. Mein Pa hat mich mehrfach auf die Gefahren der Expedition hingewiesen. ‘Andere Menschen außerhalb der Siedlung wenn immer möglich vermeiden, Comlink stets eingeschaltet, nicht unter offenem Himmel schlafen und niemals den Helm ausziehen.’ Der letzte Punkt scheint mir recht offensichtlich.

Weniger offensichtlich war für mich die Tatsache, dass Pa im Comlink in unserem Wohnbereich allem Anschein nach schon vor Jahren ein Nav-Modul installiert hatte. Er wusste also bei meinen Buch-Such-Exkursionen immer genau, wo ich bin. Erst hat mich das ein wenig enttäuscht, da ich es doch geschätzt hatte, dass er mir vertraut. Jedoch habe ich keine Zeit, mich darüber aufzuregen, und verstehe die Maßnahme. Nun ja, jetzt bin ich sowieso erleichtert, ansonsten würden wir nur nach Levis Intuition navigieren, was wohl nicht ganz einfach wäre, auch wenn er den Weg kennt. Es kommt in der Außenwelt oft zu starken Sandstürmen, Gewittern und anderen sichteinschränkenden Ereignissen. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, ich sei total entspannt.

Während mein Pa mehrfach wiederholt hat, wie wichtig seine Regeln sind und mich damit nervös macht, wirkt Levi tiefenentspannt. »Keine Sorge Lex, da draußen bringt dich höchstens die Langeweile um«, meinte er, als wir die Anzüge für den Trip vorbereiteten. Gegen Langeweile habe ich zum Glück jahrelang in der Universität trainiert. Außerdem habe ich noch ein Buch eingepackt, um mir in den Pausen die Zeit zu vertreiben.

Lily hat für uns je drei vakuumierte Mahlzeiten zubereitet, welche die Hitze der Außenwelt überstehen sollten. Zusätzlich haben wir je in etwa die Menge Kräutertee dabei, die Lily an einem Tag trinkt. Levi hat darauf bestanden, dass wir Tee mitnehmen anstatt ‘nur’ Wasser, da durch die Temperatur draußen mitgebrachte Flüssigkeiten schnell um die 60°C heiß werden. Ich zitiere: ‘Warmes Wasser schmeckt nach nichts!’ Ich lass das mal so stehen. Die Camelbaks fassen fünf Liter und können direkt unter unseren Rucksäcken getragen werden.

Mittlerweile haben wir fast alles vorbereitet. Die Anzüge sind aufgeladen und funktionstüchtig, Proviant und Wasser sind bereit. Levi und Pa kommen gerade aus dem Zimmer, wo sie vermutlich die letzten Punkte besprochen haben, offensichtlich ohne mich. Ich bin aber noch immer zu aufgeregt, um mich darüber zu beklagen.

»Alles bereit Lex?«, fragt Levi, während er Richtung Eingangsbereich stolziert.

»Jep, alles bereit, Onkel!« Weshalb nenne ich ihn Onkel? Das mach’ ich sonst nie!

Levi lacht über meine Nervosität: »Ha, danke mein kleiner Neffe! Cav, dein Sohn ist ein Mädchen!«

»Als wärst du vor deiner ersten Reise draußen nicht auch nervös gewesen!«, entgegne ich mit einem Kopfschütteln.

»Dafür hatte ich damals keine Zeit Junge! Aber wenn’s dir hilft, ich hab in den Helm gekotzt, sobald ich im Freien war!«, grölt Levi und klopft mir auf die Schulter. »Ich geb’ dir noch zehn Minuten Zeit. Damit wir was zum Tauschen haben, demoliere ich oben das Plastoglas Podium und pack’ ein was geht. Du kannst dann den Rest davon einpacken. Danach geht’s los!« Levi küsst Lily auf die Stirn und zieht an mir vorbei in die Schleuse. Nachdem er Anzug und Helm mit überraschender Geschwindigkeit angezogen hat, packt er Camelbak und Rucksack und wirft meinem Pa noch einen bestätigenden Blick zu, bevor er die innere Tür schließt. Mein Vater steht beim Klapptisch und winkt mich nochmal zu sich.

»Hör zu Alex. Ich werde die ganze Zeit den Comlink hier auf dem Esstisch lassen. Es ist wichtig, dass du die Verbindung offen hältst, egal was passiert. So hören wir, wenn es Probleme gibt, und können Hilfe organisieren. Verstanden?«

»Roger!«, erwidere ich ein wenig spöttisch und mit angedeutetem Salutieren. Mein Vater verdreht die Augen.

»Ich weiß, dass du aufgeregt bist. Levi kennt sich aus und wird dich beschützen, halte dich immer an ihn. Lasst euch unterwegs gegenseitig nicht aus den Augen.«

»Check.«

»Und Alex, sei vorsichtig.«

»Werd ich, Pa!« Mit einer kurzen Umarmung sage ich ihm und Lily auf wiedersehen und bewege mich in Richtung Schleuse.

 

Tag 1

Im Audimax sitzt Levi bereits gelangweilt und starrt an die vollständig erhaltene Decke, neben ihm ein kleiner ‚Haufen‘ Plastoglas, welcher für meinen Rucksack gedacht ist. Der Raum oberhalb des Eingangs zu unserem Wohnbereich wurde deutlich stabiler und langlebiger gebaut als der gesamte Rest des Universitätsgebäudes. Ich ziehe im Geiste meinen Hut vor den Menschen, welche vor etwa fünfhundert Jahren an dem Bau des Raums beteiligt waren. Mein Comlink aktiviert sich:

»Levi, Alex, könnt ihr mich hören?«, erklingt Pas Stimme in meinem Helm. Levi senkt seinen Blick im selben Moment, immer noch sichtlich gelangweilt, und antwortet: »Laut und deutlich, Cav.«

»Eagle One an…«

»Eagle Two wohl eher, Lex!«, unterbricht mich Levi spöttisch.

»Eagle… na gut… Two an Papa Eagle,« ich will ja den großen Mann nicht verärgern, »Signal laut und deutlich, over.«

»Alex, das ganze hier ist kein Spiel, ich wäre froh, du würdest es ernst nehmen.«

»Roger, genau deshalb mache ich das auch Pa, over.«

»Wie auch immer ... Levi, wie sieht das Wetter aus?« Levi schaut zum Ausgang während er sich aus seiner Langeweile-Position aufrafft. »Mein Lieblingswetter, klar und nicht atembar«, erwidert er mit einem Zwinkern. Seine Gelassenheit scheint echt zu sein, was mich im Gegenzug auch ein wenig beruhigt.

»Gut, du kennst den Weg bis zum ersten Safepoint.« Pa wirkt ein wenig gestresst. »Ich bin hier, falls ihr mich braucht.«

Levi steht mittlerweile neben mir und packt das Plastoglas in meinen Rucksack. Dann drückt er plötzlich die Taste an der rechten Seite seines Helmes. Der kleine Knopf wechselt die Frequenz auf den direkten Comlink zwischen gepaarten Anzügen. Er legt erneut seine Hand auf meine Schulter: »Junge, mach dir keine Sorgen. Dein Pa ist schon besorgt genug«, versucht mich Levi weiter zu beruhigen. Er greift kurz hinter sich und ich werde vom Anblick einer Pistole überrascht. »Die hier wird uns noch zusätzlich beschützen!« War die Waffe die ganze Zeit in unserem Wohnbereich? Woher hat er sie? Wozu brauchen wir sie? Brauchen wir sie überhaupt? Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Sein Versuch, mich zu beruhigen, ging gerade gehörig nach hinten los.

Außer in Illustrationen der Konflikte der Vergangenheit, habe ich noch nie eine Waffe gesehen. Aber der kurze Lauf aus Stahl, der Kunststoff-Griff mit einer Art Schalter am oberen Ende und insbesondere der Abzug sind Hinweis genug. Ich will gerade anfangen zu sprechen, als Levi kurzerhand den Knopf an meinem Helm drückt. »Cav wollte nicht, dass ich dir die hier zeige,« er wedelt mit der Pistole »aber du bist alt genug. Dennoch muss er ja nicht wissen, dass ich gegen seine Regeln verstoße.«

»Wofür brauchen wir die? Woher hast du sie?«, sprüht es aus mir heraus, da ich mich nicht für eine Frage entscheiden kann.

»Zum Schutz. Und aus New Bristol. Vor etwa 10 Jahren haben Cav und ich den dritten Anzug deiner Ma dafür getauscht. Die Dinger sind ziemlich selten, vor allem dieses hübsche Modell hier.« Levi wendet seinen Blick auf die Waffe. »Multipistole, zwei verschiedene Läufe und Modi, 30-Schuss-Magazin und schützt zuverlässig, wie Lily’s Kräutertee gegen Dünnpfiff.«

»Zum Schutz vor was?«

»Dünnpfiff.«

»Ich meine die Waffe, Levi.«

»Mach dir keine Sorgen Lex. In 10 Jahren hab’ ich das Ding einmal betätigt, aber ich hab’ lieber etwas dabei, dass ich nicht brauche, als etwas nicht dabei, das ich brauchen könnte!«

 

Mittlerweile habe ich mich ein wenig beruhigt. Wir sind jetzt seit sechs Stunden unterwegs und so wie es aussieht kurz vor dem von meinem Pa und Levi vorgesehenen ersten Rastplatz. Ein altes Wohngebäude mit integriertem Schutzraum, welches sie scheinbar bei jeder ihrer Exkursionen verwendet hatten. Nach der Offenbarung der Pistole im Audimax hat Levi darauf bestanden, dass wir den Comlink zu Pa wieder öffnen. Er hat wohl mehr Angst vor den Predigten meines Vaters als ich. Nach ein paar Stunden unterwegs hat er mir dann aber die Geschichte erzählt, wie er die Waffe ein einziges Mal verwenden musste. Ein Roamer, so nennen wir die Verbliebenen, die von Siedlung zu Siedlung reisen und Tauschwaren und andere Überlebende suchen und überfallen, hätten ihn und Pa in der Nacht überrascht. Als einer davon versuchte seinen Rucksack mit dem gesamten Inhalt des Trips zu stehlen, wachte Levi auf. Er konfrontierte den Übeltäter, als dieser ein Vibromesser zog und in seinen Worten ‘damit anfing rumzufuchteln’.

»Ich hab’ nicht lange gezögert und abgedrückt. Keine Ahnung, ob der Kerl das überlebt hat, hatte keine Zeit die Pistole auf nicht tödlich zu stellen. Cav und ich sind danach gleich abgehauen, man weiß ja nie. Seitdem hab’ ich das hier!« In dem Moment hatte Levi ein etwa fünfundzwanzig Zentimeter langes, weißliches Messer gezogen, welches wie die Pistole in einem speziellen Kunststoff-Holster unter seinem Rucksack versteckt war. Anscheinend vibriert die Klinge so schnell, dass man es nicht spüren, oder mit blossem Auge erkennen kann. Oder Levi hat einen Schaden und das ist einfach ein Messer. Die Geschichte war schon ein wenig besorgniserregend, aber ich muss zugeben, recht faszinierend. Mein bisher spannendstes Erlebnis war die Entdeckung eines noch lesbaren Exemplars von Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway.

Derweil hatte ich mir erhofft, dass die Welt außerhalb der Universität interessanter ist. Jedoch war das Novum ‘Außenwelt’ bereits nach etwa zwei Stunden verwelkt. Die Grautöne der alten Ruinen und Straßen und die Brauntöne des toten Bodens lassen mich sogar irgendwie den Campus vermissen. Der einzige Lichtblick in all der Tristheit sind die alten Schilder der Geschäfte und die Überreste alter Fahrzeuge. Eine grüne Tafel mit der Aufschrift Star und ein vermeintlich roter Sportwagen zum Beispiel. Meist sind die Gebäude jedoch nur eingestürzter Stein und Stahl und die ehemaligen Autos verkommene und graue Blechskelette. Immerhin, der klare Himmel lässt mich die viel zu heiße Sonne bestaunen.

»Wir sind da«, sagt Levi unbeeindruckt. Anscheinend ist das moderne, noch robust aussehende Gebäude fünfzig Meter vor uns unser Nachtlager. Endlich. Obwohl wir zu Hause regelmäßig Sport treiben, waren die sechs Stunden ganz schön anstrengend.

Levi wartet am Eingang auf mich. Zusammen betreten wir das alte Haus, das verglichen zum Rest der Straße noch ziemlich instand wirkt. Der Korridor direkt nach dem Eingang führt in einen großen Raum, welcher an einer Fensterfront endet. Die Decke in der Mitte dort ist eingestürzt, aber ansonsten sieht das hier noch ganz gemütlich aus.

»Hier geht’s lang!«, meldet sich Levi hinter mir, während ich in der Mitte des Raumes die Überbleibsel der Decke anstarre. An der Wand hinter mir, neben dem Korridor, durch den wir gerade gekommen sind, befindet sich rechts eine Treppe in den ersten Stock und links eine Art versteckte Tür. Jedoch scheint dies keine normale Tür zu sein, denn sie hat die jahrhundertelange Hitze und die regelmäßigen Naturkatastrophen anscheinend heil überlebt. Als Levi die Tür mit viel Krafteinsatz öffnet und sich dadurch Staub und Sand von ihr lösen, begreife ich auch, weshalb. Die Tür besteht aus etwa dreissig Zentimetern purem Stahl. Wer braucht so eine Tür?

»Ziemlich viel Stahl«, sage ich verdutzt.

»Jep, genug, um in der Nacht nicht ausgeraubt zu werden«, erwidert Levi.

»Was ist denn dahinter?«

»Vier weiße Wände. Nichts Spannendes. Cav vermutet eine Art Schutzraum für die arme Sau, die hier gelebt hat. Wohl nicht viel gebracht!«, spottet Levi.

Ein leerer, viel zu weisser Raum im Erdgeschoss, mit einer viel zu dicken Stahltür, in einem Haus, das offensichtlich stabiler gebaut wurde als der Rest der Nachbarschaft.

»Was ist im oberen Stock?« Ich weiß nicht, weshalb mein Interesse geweckt ist, aber dieser Raum ergibt für mich keinen Sinn. Schutzräume wurden früher fast ausschließlich unterirdisch gebaut, mit Ausnahme von Hochbunkern aus dem 20. Jahrhundert. Selbst nachdem vor vierhundert Jahren klar wurde, dass die Erde nicht mehr zu retten ist, wurden Siedlungen und Luftschutzräume beinahe immer im Untergrund gebaut. Einige Menschen bauten eigene Wohnbereiche unterhalb ihrer Häuser, oder rüsteten die vorhandenen mit modernen Luftfiltern und Wasseraufbereitungsanlagen nach. Die meisten dieser privaten Schutzräume hielten den Wetterbedingungen jedoch nicht lange stand. Die regelmäßigen Stürme, Überschwemmungen und Erdbeben kosteten so Millionen von Menschen ihr Leben. Wer es nicht in eine der hochmodernen Siedlungen schaffte oder sonst Glück hatte, wurde einfach von der Erde verschlungen. Unser Planet hatte sein letztes bisschen Mitgefühl bereits vor langer Zeit zur Seite gelegt. Trotzdem, der kleine Raum hier steht noch, allen Widrigkeiten zum Trotz.

»Oben? Ein Großteil ist eingestürzt, aber die Aussicht ist nicht von schlechten Eltern. Ich mach’ mich hier drin schon mal breit«, sagt Levi nickend in Richtung Stahltür. Er kennt meine Neugier.

Die massive Betontreppe führt mich zu weiteren Fenstern. Der Rest des oberen Stocks liegt, wie Levi gesagt hat, in Trümmern. Die Decke erstreckt sich ein paar Meter in den Raum, bevor sie an verschiedenen Stellen nicht mehr vom Boden zu unterscheiden ist. Fensterglas ist, wie ebenfalls zu erwarten, auch hier nicht zu finden, doch die Fensterrahmen scheinen stabil genug, um so einigen Stürmen standzuhalten.

Levi hat Recht, der Ausblick ist beeindruckend. Aber bedrückend zugleich. Unterwegs sieht man nur selten an den Trümmern vorbei und erst jetzt realisiere ich, dass wir uns auf einem Hügel befinden. Von hier oben sind die Ruinen der umliegenden Gebäude nur kleine, aneinandergereihte Häufchen Steine. Bis auf ein paar standfeste Mauern, welche immer noch beinahe so hochragen, wie das Haus, in dem wir uns befinden, verdeckt nichts den Blick auf die riesigen Gebäude der Innenstadt. Dort entdeckt man zwischen den alten Hochhäusern und Monumenten hie und da Trümmer und weitere Ruinen, aber man könnte von hier aus fast meinen, es wäre alles in Ordnung. Obwohl mir der Anblick fremd ist und ich das Städteleben nur aus Geschichten und Erzählungen kenne, spüre ich nicht die erwartete Kälte und Trostlosigkeit, sondern ein Gefühl der Wärme und Hoffnung. Mein Blick fixiert sich jedoch nicht auf die imposante Innenstadt, sondern auf den endlosen grauschwarzen Strich dahinter, welcher den Horizont in zwei teilt. Als ich die Struktur mit 14 Jahren das erste Mal gesehen hatte, suchte ich in all meinen Büchern nach Hinweisen. Gefunden habe ich nichts. Auch Pa und Levi habe ich gelöchert mit Fragen, auf die sie keine Antwort hatten. Pa meinte, das sei einfach ein Relikt der alten Zivilisation, vermutlich ein Gebäude, das nie fertiggestellt wurde. Levi hingegen ist davon überzeugt, dass Außerirdische unseren Planeten aussaugen.

»Eagle Two an Papa Eagle, bitte kommen, over.« Es gab unterwegs nur wenig Notwendigkeit, meinen Vater zu kontaktieren, Levi kennt den Weg. Dennoch fühle ich mich gerade irgendwie klein und alleine.

»Ja, Alex? Alles okay?«, erklingt mein Comlink nach ein paar Sekunden. Ich hoffe, Pa sitzt nicht die ganze Zeit vor dem Comlink-Gerät.

»Alles im grünen Bereich! Pa, haben du und Levi schon mal versucht, zu dem endlosen Turm hinter der Stadt zu kommen? Over.« In all den Jahren habe ich die Frage noch nie gestellt. Sie erschien mir nicht wichtig. Aber bei dem Anblick frage ich mich, wie man nicht neugierig werden kann.

»Zum Alien-Saugnapf? Bist du wahnsinnig?« Ich hatte fast vergessen, dass Levi auf demselben Kanal ist.

»Wir hatten nie länger darüber nachgedacht«, meint mein Vater. »Die Entfernung ist schwer einzuschätzen. Ohne Fahrzeug ist das Risiko zu groß, dass man nicht genügend Rationen dabei hat oder die Akkuladung ausgeht. Plus, Levi hat Angst davor, seit er ein paar Bücher deiner Sci-Fi Kollektion gelesen hat.«

»Ich bin nur vernünftig«, erwidert Levi ein wenig trotzig.

»Wieso fragst du, mein Junge?«

»Nur so. Der Ausblick hier ist ziemlich beeindruckend. Over.«

»Ich weiß, was du meinst. Ihr habt Glück mit dem Wetter.« Pa wirkt ein wenig nachdenklich. »Jedoch würde ich vorschlagen, dass ihr euch jetzt mal ausruht. Bei Sonnenaufgang geht’s weiter und das Schlafen in Anzug und Helm ist nicht gerade die komfortabelste Form der Erholung.«

»Ja Papa«, kichert Levi im Comlink.

»Und schau zu, dass sich Levi benimmt.«

»Roger, Papa Eagle. Gute Nacht, over und out.«

Hier oben werde ich wohl auch nichts über den mysteriösen Raum herausfinden. Sei’s drum, Pa hat recht, ich geh’ schlafen.

 

Tag 2

Mein Rücken schmerzt. Die erste Nacht in der Außenwelt war alles andere als gemütlich. Levi schnarcht lauter als der Weltuntergang, selbst mit ausgeschaltetem Comlink war er noch deutlich zu hören. Der weiße Betonboden ist auch nicht gerade schonend und mit dem Rucksack als Kissenersatz konnte ich zwar den Nacken schonen, aber meine Wirbelsäule schreit dennoch um Hilfe. Levi hingegen ist topfit. Nachdem wir bei Sonnenaufgang von Pa, unserem persönlichen Weckdienst, in den Tag begrüßt wurden, war es Zeit für die tägliche Ration. Dafür wechselt man einfach den Anschluss des mit Kräutertee gefüllten Camelbaks an einen der vakuumierten Rationsbeutel. So kann man Lily’s pürierte Kreationen durch den Schlauch ‘genießen’. Nicht die luxuriöseste Mahlzeit, aber tut seinen Zweck.

Danach sind wir noch eine halbe Stunde verweilt. Ich habe erst vergeblich nach weiteren versteckten Türen oder Schubladen gesucht. Der Raum ist wohl doch nicht so mysteriös. Später habe in ich in meinem mitgebrachten Buch, Die Wunder der Welt von Marco Polo, gelesen. Ich dachte mir, eine Geschichte über eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse passt gut zur Situation, obwohl ich es zum zweiten mal lese und die Tour hier bisher nicht ganz so abenteuerlich ist. Und das Essen auf Marco’s Reise war bestimmt auch besser. Nach der Lektüre ging’s dann vorwärts mit unserer eigenen Spritztour.

Mittlerweile sind wir, vier weitere Stunden später, in einem dichteren Gebiet angekommen. Hier reihen sich die Ruinen größerer Gebäude auf beiden Seiten der mehrspurigen Straße aneinander. Bruchteile versperren oft den Weg und der bisherige Fußmarsch entwickelt sich immer mehr zu einer Kletterpartie. Immerhin, die Bewegung lindert meine Rückenschmerzen.

Das Wetter wird zunehmend unangenehmer. Starke Windböen sind an der Tagesordnung, begleitet von einem dicht bewölkten Himmel, welcher unwahrscheinlich nah über unseren Köpfen schwebt. Levi meint, es wird wohl bald regnen.

»Levi, Alex, in etwa zwei Kilometern wäre der nächste Rastplatz«, meldet Pa über den Comlink.

»Eagle Two an Papa Eagle, Roger. Wetter sieht sowieso recht FUBAR aus. Over.«

»’Fubar’? Ich glaube nicht, dass man das Wort für das Wetter verwendet. Wie dem auch sei, Levi, könnt ihr einen Teil des Plastoglases zusätzlich noch gegen Wundsalbe und Penicillin tauschen? Unser Medizinkasten ist leer.«

»Penicillin? Wofür brauchen wir Antibiotikum, Cav?«, erwidert Levi überrascht.

»Nur zur Vorbeugung.«

»Penicillin kostet mehr als ein bisschen Plastoglas. Soll ich ‘zur Vorbeugung’ mein Bein verkaufen?«

»Du findest schon was zum Tauschen.« Mein Pa verschweigt uns etwas, und Levi scheint das ebenfalls zu realisieren.

»Cav, weshalb brauchen wir Penicillin?«

»Nichts Schlimmes, Levi. Lily hat sich bei der Ernte geschnitten, wir haben die Wunde gewaschen und bandagiert, also: nur zur Vorbeugung.«

»Okay Cav. Melden uns wieder, wenn wir am Safepoint sind.«

»Over und out«, ergänze ich, selbstverständlich.

Levi lässt mich aufrücken und drückt erneut den Knopf an seinem Helm. Ich tue es ihm gleich.

»Penicillin, zur Vorbeugung. Warum hat dein Vater das Gefühl, ich sei ein Idiot?«, fragt Levi mit einem missbilligenden Blick.

»Er will vermutlich nur nicht, dass du dir zu viele Sorgen machst.«

Wir wissen beide, dass sich Lily’s Wunde wohl bereits entzündet hat, oder zumindest Anzeichen dafür bestehen. Der Schnitt wird zwar nicht allzu tief sein und es ist wahrscheinlich, dass alles von selbst verheilt, aber Pa will kein Risiko eingehen. Sonst würde er nicht nach einem Antibiotikum fragen, was zu den wertvollsten Gegenständen gehört. Dafür wird Levi wohl sein Messer oder sogar seine Multipistole tauschen müssen.

»Wird schon nicht schlimm sein. Verheilt vermutlich von selbst und dann haben wir zu Hause Penicillin auf Vorrat, ist doch super!«, versuche ich Levi und mich selbst ein wenig zu beruhigen. Mehr als ruhig zu bleiben können wir im Moment sowieso nicht tun, außer schneller laufen, was Levi sich augenscheinlich schon zu Herzen nimmt.

Während wir auf den offenen Comlink-Kanal wechseln, bemerke ich, wie die Innenstadt stetig näher rückt. Die Hochhäuser, die ich zuvor noch aus der Ferne betrachtet hatte, werden Schritt für Schritt imposanter. Ein Wunder, dass diese Monster die letzten wieviele-auch-immer Jahre überlebt haben.

»Lex, Kopf runter!« Levi befindet sich bereits an der Spitze des Trümmerbergs, welchen wir gerade mühsam hochklettern.

»Was ist los?«, frage ich, während ich oben ankomme.

»Roamer, vermutlich.«

Ich riskiere einen Blick über die Steinkante und erblicke 20 Meter vor uns drei Gestalten, welche mit suchender Visage direkt auf uns zu kommen. Shit!

»Was tun wir?«, flüstere ich Levi zu. Mein Herz beginnt zu rasen und trotz Kühlung fühle ich plötzlich kalten Schweiß am ganzen Körper. Levi checkt die Lage.

»Verstecken wird nichts. Wenn wir wieder runterklettern, hören sie uns und wir sind im schlimmsten Fall nur noch Beute. Keine andere Wahl. Wir sagen Hallo.«

Ist er wahnsinnig?

»Cav, alles mitbekommen?«, wendet sich Levi über den Comlink an meinen Vater.
»Alles klar, Levi.« Pa hat scheinbar nichts an Levi’s Plan auszusetzen?

»Alex, halte dich an Levi.« Bevor ich ihm antworten kann, um meinen Unmut über die Strategie auszudrücken, packt mich Levi am Arm, steht auf und zieht mich mit hoch, bis ich schlussendlich regungslos und entgeistert neben ihm stehe. Mir fällt erst jetzt auf, dass es angefangen hat zu regnen.

»Oy, Freunde!«, ruft Levi mit einer Hand in der Luft und der anderen mittlerweile auf meiner Schulter. Die drei Gestalten in ihren pechschwarzen Schutzanzügen fixieren ihren Blick auf uns. Einer von ihnen zieht seine Waffe.

»Sachte Freunde, wir sind keine Gefahr, nur auf der Durchreise. Okay für euch, wenn wir weiter dorthin wandern, während ihr hier weitermacht, mit was auch immer ihr gerade so macht?«, sagt Levi, zeigt Richtung Innenstadt und macht einen vorsichtigen Schritt vorwärts.

»Schön steh‘n bleiben, sonst baller’ ich dich ins Niemandsland!«, erwidert eine schrille Männerstimme, die offensichtlich zu dem recht kleingewachsenen Herren mit der Waffe gehört.

»Niemandsland, hm? Hast du dich schon mal umgeschaut, Tarik?« Die zweite, weibliche Stimme kommt aus der Person in der Mitte und klingt weitaus angenehmer. »Nimm’ die Waffe runter, du Idiot.«

»Was, wenn das Roamer sind und die an unsren Scheiß woll‘n?«, erwidert der Kleinere und grinst. »Schau’ dir den langen Lulatsch mal an, der säuft sicher aus der Dachrinne. Da hab ich meine Knarre lieber bereit«.

»Lulatsch?«, entgegnet Levi in vorgetäuschter Empörung.

»Entschuldigt meinen Freund hier«, übernimmt die Frau in der Mitte wieder das Wort. »Tarik wird immer ein bisschen ... angespannt, wenn wir auf Fremde treffen. Mein Name ist Cara, das hier ist Jesper.« Sie nickt zu ihrer Linken, wo der dritte Unbekannte steht. Der Mann ist fast so großgewachsen wie Levi, dunkelhäutig und trotz der schlechten Sicht sieht man seine emotionslosen, hellgrauen Augen durch sein Visier. Beim Anblick läuft es mir kalt den Rücken herunter. Tarik verstaut seine Waffe wieder im Holster an seiner Hüfte.

»Und ihr seid?«, fragt Cara.

»Levi, und das hier ist Lex, mein Neffe.«

Hätte ich ihn wohl lieber nicht Onkel genannt.

»Levi und Lex ... freut mich.« Cara’s Stimme und Körpersprache strahlen eine Ruhe aus, die es schwierig macht, sie einzuschätzen. »Ihr seid auf dem Weg nach New Bristol?«, fragt sie.

»Jep, seit drei Tagen unterwegs, besuchen einen Freund der Familie.« Ich brauche einen Moment, bevor ich realisiere, dass ich Levi besser nicht korrigieren sollte. Weiterhin still bleiben, Alex.

»Drei Tage, hm? Muss wohl ein bedeutsamer Freund sein. Na dann, wir wollen euch ja nicht weiter aufhalten. Gute Reise.« Cara bewegt sich zur Seite und gestikuliert theatralisch Richtung Innenstadt. Levi kneift meine Schulter und wir spazieren los.

»Ach, jetzt hätte ich fast etwas vergessen! Bevor ihr geht, wir sind so ein bisschen knapp bei Kasse. Tarik hier tauscht unsere Waren immer gegen sonderbare Pillen, deshalb wäre ich recht dankbar um eine kleine Spende.« Levi und ich stehen mittlerweile zwischen Tarik und Jesper, während Cara den Weg vor uns wieder versperrt. Levi’s Ausdruck verändert sich merklich.

»Sorry, wir haben nichts dabei, außer zwei weiteren Rationen und Wasser.«

»Och… Eure Rucksäcke sehen aber ganz schön vollgepackt aus. Ich dachte, ihr hättet vielleicht was Kleines für mich!«, erwidert Cara, welche die Freundlichkeit in ihrer Stimme mittlerweile gegen Verschmitztheit getauscht hat. Sie wirft einen Blick zu Jesper: »Jesper Schatz, würdest du dem netten Herren mit seinem Rucksack helfen?«

Er nickt und bewegt sich mit einer Hand an seinem Holster langsam auf Levi zu. Ich muss schleunigst etwas dagegen unternehmen. Wenn Cara und Co. die Multipistole und das Messer unter Levi’s Rucksack entdecken, dann endet das Ganze vermutlich in einem Desaster.

»Onkel Levi, wieso lügst du? Wir haben doch noch das Plastoglas für Fynn dabei. Vielleicht können wir ja davon ein bisschen was abgeben?« Völlig unvorsichtig und plump packe ich meinen eigenen Rucksack nach vorne und öffne ihn so, dass das Plastoglas sichtbar wird. Ich hoffe, der Plan geht auf.

Cara wendet sich mir zu, während sie Jesper signalisiert zu warten: »Hast du gerade Fynn gesagt?« Schonmal ein gutes Zeichen.

»Ja! Onkel Fynn, der Freund, von dem Onkel Levi erzählt hat. Er braucht Plastoglas für seinen coolen Robo-Arm! Irgendwas mit 'nem Sensor oder so.«

Nimmt man mir den naiven Jungen ab? Übertreibe ich? Ich kenne Fynn Isaacs nur aus Erzählungen meines Pas und bin ziemlich sicher, dass man in einer Armprothese kein Plastoglas verwendet, aber wer weiß das schon. Pa hat erzählt, Fynn hätte den Roboter-Arm vermutlich aus einer alten militärischen Einrichtung. Relevant ist hier vor allem die Tatsache, dass Isaacs scheinbar mit eiserner Hand regiert und von den meisten gefürchtet wird. Ich erhoffe mir, dass Cara in diesem Aspekt nicht anders ist und es wirkt so, als hätte ich recht gehabt. »Wir haben genug dabei, ist sicher kein Problem, wenn ihr ein bisschen etwas davon haben wollt.«

»Der Junge labert doch nur Scheiße! Nehmen wir endlich ihr Zeugs und hau‘n ab«, mischt sich Tarik ein.

»Schnauze, Tarik!«, bellt Cara. Von der zuvor merkbaren Besonnenheit in ihrer Stimme ist nichts mehr zu hören. Ihre Fassade hat sie abgelegt und ich begegne einer kalten Durchtriebenheit, während sie mich nachdenklich mustert. Sie berechnet wohl das Risiko, das sie eingeht, falls ich die Wahrheit sage. Weiter so Alex.

»Fynn Isaacs ist tot«, erwidert sie plump. Was? Oh Mann, woher soll ich das denn wissen? Der letzte Trip meines Pas ist bereits ein Jahr her, die Möglichkeit das Fynn in der Zeit gestorben ist, besteht. Verflucht nochmal!

»Sie lügt«, ertönt es leise in meinem Comlink. Pa rettet uns!

»Weshalb lügst du denn? Wir hatten gerade erst Kontakt mit Fynn.«

»Er hat gefragt, ob er Morpheus wieder bereitstellen soll.«

»Er hatte nachgefragt, ob er Morpheus wieder bereitstellen soll.« Keine Ahnung was Pa mir da diktiert, aber der kapitulierende Ausdruck Cara’s bestätigt, dass mein Vater klüger ist als sie. »Also, möchtet ihr jetzt ein bisschen Plastoglas haben oder nicht?«

Cara schaut zu Jesper, dessen Emotionslosigkeit immer noch der, einer Kartoffel gleicht. Zugegebenermaßen einer ziemlich bedrohlichen Kartoffel. Trotzdem reicht der kurze Blickaustausch offenbar für einen Entschluss. Tarik wird derweilen, wohl nicht das erste Mal, von der Entscheidung ausgeschlossen. Obwohl ich angespannt bin, muss ich mir ein Grinsen verkneifen.

»Grüßt Fynn von mir«, knurrt Cara, während sie den Weg wieder frei macht. Dieses Mal ohne Theatralik und mit klar sichtbaren Stirnrunzeln. Levi nickt mir zu und antwortet mit einem Lächeln: »War ein Vergnügen, Cara, ‘nen schönen Tag noch!«

Erfolg!

 

Wir sind erst etwa zehn Minuten wieder unterwegs, aber in stillschweigender Vereinbarung haben wir das Reden, für den Fall, dass Cara uns folgt, unterlassen.

»Heilige Scheiße!«, bricht Levi die Stille. »Junge Junge, du hast sie nicht mehr alle.«

»Wieso denn?«, frage ich mit einem breiten Grinsen.

»Wie du die Hexe verarscht hast. Fynn Isaacs? Gewiefter kleiner Bastard!«, lacht Levi laut los, während er wieder seinen Arm um meine Schulter legt.

»Alex?«, meldet sich Pa zögerlich über den Comlink. Mein Vater ist die Vorsicht in Person, die Funkstille nach der Begegnung war zu erwarten.

»Eagle Two an Papa Eagle, Entwarnung, alles klar, over.«

»Alexius, was ist in dich gefahren?« Ich verstehe nicht ganz.

»Papa Eagle, bitte wiederholen, nicht verstanden, over.«

»Ist dir bewusst, was passiert wäre wenn dein kleines Psychospiel misslungen wäre?«

»Was? Ich hatte keine Wahl! Die Situation war kurz vor der Eskalation. Ich weiß von Levi’s Pistole! Hätten die Banditen die gesehen, dann hätten wir jetzt nichts mehr dabei oder würden irgendwo regungslos im Regen liegen! Over!«

»Alex, im schlimmsten Fall wären das Plastoglas und die Waffe weg. Das sind keine Killer, das sind Gauner. Wäre aber deine Geschichte nach hinten los, dann hätten sie vielleicht eine Ausnahme gemacht.«

»Sei nicht so streng Cav, der Junge hat recht. Ich war kurz davor die drei aufzumischen, Lex hat das verhindert«, unterbricht Levi.

»Ach und was wäre passiert, wenn ich nicht hier gewesen wäre oder der Comlink nicht funktioniert hätte? Du weißt genau, was passiert wäre! Offensichtlich ist diese Cara nicht dumm! Und sowieso, warum zum Teufel hast du Alex deine Waffe gezeigt? Wir hatten eine Abmachung!« Ich glaube, ich habe meinen Vater noch nie so wütend erlebt. Aber ich verstehe nicht wieso. Habe ich etwas falsch gemacht? Ich fühle mich schuldig und bin mir gerade nicht sicher, wie ich reagieren soll. Zum Glück antwortet Levi:

»Lex war aufgewühlt. Ich hab’ versucht, ihn zu beruhigen. Und sowieso Cav, du übertreibst. Dank deinem Sohn haben wir die Waffe und das Plastoglas, und haben damit genug für die Medizin für Lily. Da ist es mir Jacke wie Hose, wie riskant das Ganze war! Und tu’ nicht so, als hättest du nicht denselben Scheiß versucht. Irgendeine clevere Manipulation, die uns aus der Bredouille holt, das schreit förmlich Cav! Du solltest stolz sein auf den Jungen, anstatt ihm Schuldgefühle einzureden, weil er so ist wie du!« Levi hat noch immer seinen Arm um meine Schulter. Ich will nicht, dass die beiden streiten, aber ich bin froh verteidigt er mich. Trotzdem, Pa hat in einem Punkt nicht unrecht. Ohne ihn wäre die Begegnung vermutlich anders ausgegangen. Ich hatte keine weiteren Anhaltspunkte, nachdem Cara behauptet hat, dass Fynn Isaacs tot sei. Hätte ich länger gezögert, hätte sie uns durchschaut. Aber was sonst soll ich machen? Einfach da stehen und nichts tun?

Pa antwortet nicht auf Levi’s Argumente. Die Spannung zwischen ihm und mir macht mich fertig. Ich muss das Ganze entschärfen.

»Sorry Pa. Ich weiß du machst dir Sorgen um mich. Aber Levi hat recht, wir brauchen das Plastoglas für Lily. Das Risiko musste ich eingehen. Und dank dir hat das Ganze dann auch geklappt. Wir sind ein Team, oder etwa nicht? Du warst der Meinung, dass ich alt genug bin, um das hier zu machen. Also bist du doch wohl auch der Meinung, dass ich alt genug bin, um Entscheidungen zu treffen. Wenn das so ist, dann würde ich erwarten, dass du mich nicht behandelst wie ein Kind, das mit dem Feuer spielt, sondern wie einen Mann, der eine Entscheidung getroffen hat.«

»Du bist alt genug, um Levi zu begleiten, Alex. Und du bist clever, das würde ich nie bestreiten. Aber was du da draußen tust, hat Konsequenzen. Ernsthafte Konsequenzen. Ich werde nicht immer hier sein, um deinen Allerwertesten zu retten, wenn du so mit deinem Leben spielst. Solange ich das muss, bin ich mir nicht sicher, ob du wirklich alt genug bist.«

Ich weiß, dass er mich nur beschützen will. Trotzdem, er behandelt mich noch immer wie ein Kind. Wieso kann er nicht einfach zugeben, dass ich das Richtige getan habe?

»Okay Papa Eagle, notiert. Over und out.«

»Alex…«

»Over und Out

 

Tag 3

Das Gebäude, in dem wir übernachtet haben, hatte dieses Mal keinen geheimnisvollen Raum. Außer ein einzelnes heruntergekommenes Zimmer war davon auch nicht viel übrig. Jedoch war der Eingang durch Trümmer der umliegenden Bauwerke ausreichend verborgen, dass man sich darin ziemlich sicher gefühlt hat. Mein Rücken hat dieses Mal die Nacht ein bisschen besser überstanden, trotzdem freue ich mich jetzt schon darauf, wenn wir heute in New Bristol in einem anständigen Bett schlafen können.

Der Kontakt zu Pa war auf dem Rest des Weges zu Safepoint 2 spärlich. Über den Vorfall gestern haben wir nicht mehr gesprochen. Auch Levi war nach der Diskussion nicht an Konversationen interessiert. Ich frage mich, ob er unterdessen Pas Meinung teilt oder wie ich einfach keine Lust auf weitere Predigten hatte.

Mittlerweile sind wir in der Innenstadt angekommen. New Bristol befindet sich nicht weit von hier, unter einem alten Park. Jedoch bin ich momentan zu sehr damit beschäftigt die in den Himmel ragenden Hochhäuser anzustarren, als dass ich mir darüber Gedanken mache.

»Ein paar Regeln für New Bristol, Lex«, startet Levi die erste Konversation des Tages.

»Menschen vermeiden? Mich an dich halten? Keine eigenen Entscheidungen treffen?« Zugegebenermaßen bin ich noch immer ziemlich genervt.

»Darum geht’s nicht.«

»Sorry.«

»Folgendes: Beim Eingang zu New Bristol gibt’s eine Art Sicherheitscheck. Fynn ist ein paranoider Bastard, das heißt, Waffen sind innerhalb der Siedlung nicht erlaubt und werden konfisziert. Außer seine Schergen natürlich, die tun, was sie wollen.« Levi wirkt angespannter als sonst.

»Was, wenn wir dein Messer oder die Pistole für die Medizin tauschen müssen?«

»Dann werde ich von zwei Idioten eskortiert, um die Waffe zu holen, und kann sie anschließend tauschen.«

»Dafür gibt’s ein System?«

»Da drin gibt’s für jeden Scheiß ein System. Deshalb wäre ich froh, würdest du wenn immer möglich in meiner Nähe bleiben. Ich weiß das hörst du nicht gerne, aber der kleinste Übertritt da drin und sie werfen dich raus. Je nachdem ohne Helm und ohne Anzug.«

»Also … Todesstrafe?«

»Kluger Junge!«

»Ist das nicht ein bisschen extrem?«

»Isaacs steht auf Kontrolle. Und sucht wohl Gründe um die Population da drin klein zu halten. Dein Pa hat dir ja bestimmt ein paar Dinge über ihn erzählt.«

»Ja, aber nicht, dass er ein Psychopath ist.«

»Wie auch immer. Mach’ keinen Scheiß da drin.«

»Verstanden, Chef!«

Auf was genau habe ich mich da eingelassen?

 

Beim Park angekommen, steht links und rechts des Eingangstores, über mindestens einen Kilometer in beide Richtungen, eine etwa drei Meter hohe Mauer. Oberhalb dieser sieht man Überreste eines Metallgeländers. Der Eingang selbst besteht aus zwei riesigen Toren im Stil der Geländer, welche in beeindruckendem Zustand offen stehen. Das Innenleben des Parks wirkt hingegen alles andere als glanzvoll. Wo früher vermutlich Bäume, Gebüsche und Blumen die Parkanlage zu einem universalen Treffpunkt gemacht haben, steht jetzt– na ja, gar nichts. Der Boden besteht aus trockener Erde und Sand. Einige Pfade sind noch mit hellgrauen Betonplatten gepflastert und inmitten des Parks erblickt man einen einzelnen Wegweiserpfahl aus Stahl, an dem ein Dutzend Pfeile hängen, die allesamt in unrealistische Richtungen zeigen. Unterhalb dieser Einöde steckt jedoch mehr Leben, als heutzutage noch glaubwürdig erscheint. Einst waren es fast fünfzigtausend Menschen, welche in New Bristol zusammengepfercht Unterschlupf fanden. Die Zahl ist heute deutlich kleiner, nicht nur aufgrund der angeblich drastischen Maßnahmen Fynn Isaacs’, sondern auch wegen immer knapper werdenden Ressourcen. Wenn ich mir den Park hier so anschaue, ist mein inneres Bild von New Bristol vermutlich glamouröser als die Realität.

Der Eingang in die Siedlung ist überraschend unscheinbar. Ein Brunnen in der Mitte des größten Platzes des Parks ist geschmückt mit einem fast fünf Meter hohen Octahedron, das scheinbar über eine, auf den ersten Blick beinahe unsichtbare, Stahlverbindung auf der Spitze des mehrstöckigen Brunnens balanciert. Und zu meinem Erstaunen steht die ganze Konstruktion noch. Einfach ohne Wasser, logischerweise.

Neben dem Platz ist ein winziges Gebäude mit den dicksten Betonwänden, die ich je gesehen habe. Darüber befindet sich ein gewaltiges Skelett aus Aluminiumrahmen, welches erfolglos die Form eines alten Gewächshauses darzustellen versucht.

»Kommst du, Lex?« Levi wartet bereits vor dem kleinen Betonblock neben dem Platz, während ich gedankenlos vor dem Brunnen stehe und die Konstruktion bewundere.

»Weshalb baut man sowas? Und wieso steht es noch?«, frage ich verdutzt.

»Keine Ahnung. Wir werden’s wohl nie herausfinden«, antwortet Levi, offenbar uninteressiert an einer Unterhaltung darüber. Er ist wohl schon ziemlich oft daran vorbei gelaufen.

»Ich komme ja!«, entgegne ich, bevor er noch ungeduldiger wird.

 

Innerhalb des Betonbunkers findet man eine uninteressante Treppe, die im Zickzack etwa fünfzehn Meter nach unten führt. Um nicht zu stolpern, aktivieren Levi und ich die beiden Lichter an unseren Helmen und Anzügen. Am Ende angekommen sehe ich nichts, außer einer unscheinbaren Stahltür. Die Erzählungen meines Pas über New Bristol scheinen mir mit jedem Schritt ein wenig übertrieben. So hightech sieht’s hier nicht aus. Levi öffnet die Tür und siehe da: Dahinter befindet sich, oh Wunder, eine weitere Treppe. Okay, ich muss zugeben, die hier ist interessanter: Die scheinbar aus Aluminium gefertigten Stufen werden mit jedem Tritt ein bisschen breiter. Der Durchgang unten misst dadurch mindestens zehn Meter. Ich erkenne den Sinn zwar nicht, doch immerhin sieht‘s irgendwie cool aus.

Nach etwa dreissig weiteren Treppenstufen stehen wir endlich vor dem Eingang zu New Bristol. Oder besser gesagt, den drei Eingängen. Ich vermute, dafür gibt es einen guten Grund, bin aber zu fasziniert von der Bauart der Schleusentüren. Pa hatte doch recht. Die vier Meter hohen, oben abgerundeten Durchgänge sind alle fast drei Levis breit und bestehen vollständig aus Glas. Ich sehe weder eine Türklinke noch sonst einen Hinweis darauf, wie man die Türen öffnet. Eine Art rundlicher Leuchtstreifen oberhalb der Bögen beleuchtet den Vorraum, in dem wir uns befinden. Dahinter sieht man drei identische alabasterweiße Luftschleusen, im Vergleich zu unserer fehlt darin jedoch die Garderobe mit meiner vorgewärmten Kleidung. Was für ein Mensch bin ich, dass mir so etwas als Erstes auffällt.

»Und welche der drei Sci-Fi Türen lässt uns jetzt rein?«, frage ich.

»Normalerweise die in der Mitte.« Levi steht einfach nur da und starrt die Tür an.

»Sollen wir klopfen oder so?«

»Nö.«

Nur einen kurzen Moment später verschwindet die mittlere durchsichtige Tür in der Decke und der Leuchtstreifen darüber wechselt die Farbe in ein grelles Grün. Eine freundliche Frauenstimme erklingt: »Bitte eintreten.«

»Oh… okay, die Schleuse spricht.« Aufregend.

»Lass’ dich davon nicht bezirzen«, antwortet Levi, während wir den verblüffend weißen Raum betreten.

»Die Schleuse wird nun versiegelt und der Luftzyklus gestartet. Bitte warten.«

Die Tür hinter uns schließt sich, dieses Mal aber in einem langsameren Tempo. Sinnvoll. Die Lüftungsanlage zischt um einiges kürzer als bei uns zuhause.

»Die Luft in der Schleuse ist respirabel. Etwaige Schutzhelme können nun ausgezogen werden.«

Levi zieht seinen Helm nicht aus, sondern stellt die Kühl- und Luftmodule aus, bevor er das Visier öffnet und mir zunickt. Ich tue es ihm gleich.

»Das Sicherheitspersonal wird nun die vorgeschriebene Kontrolle durchführen. Bitte verschränken Sie Ihre Hände an Ihrem Nacken und bleiben Sie ruhig.« Perplex schaue ich zu Levi, welcher nur kurz unbeeindruckt den Kopf schüttelt.

»Hände auf den Schädel!«, schreit eine durch einen Helm gedämpfte Männerstimme, bevor ich überhaupt realisiere, dass die innere Tür bereits geöffnet ist. Zwei schwer bewaffnete und gepanzerte Gestalten stehen in Bereitschaft, ihre Gewehrläufe auf uns gerichtet. Nicht die Begrüßung, die ich mir erhofft hatte. Aber ich gehorche, während Levi weiterhin sichtlich genervt da steht.

»Beruhigt euch, ihr paranoiden Bastarde!«

»Levoras?«, antwortet einer der Wachen. Es überrascht mich nicht wirklich, dass Levi hier bekannt ist.

»In Fleisch und Blut, du Blechkopf! Ein Wunder, dass wir genau deine Schicht als Türsteher erwischen«, erwidert Levi, während er auf die beiden zugeht.

»Lange nicht gesehen! Wieder einmal kein Whisky oder Bier zuhause, du alter Gauner?« Die zwei Wachen nehmen ihre Waffe runter und stecken sie an ihre scheinbar magnetische Brustplatte. Ihr ganzer Körper ist gepanzert in schwarz-rotem Durillium, Aluminium und Karbon. Die dunkel getönten Visiere lassen fast keine Gesichter erkennen, dennoch scheint Levi zu wissen, wer sich dahinter versteckt.

»Ach was, ich bin doch nur hier, um deine hübsche Rüstung zu bestaunen. Immer noch Fynn’s Sklave, Hartman?«

Moment, Hartman?

»Du bist nur neidisch, dass wir hier eine Bar haben, während du jeden Tag Kartoffeln frisst und Lilys Tee trinkst.« Ist das David Hartman!? Die ein wenig heisere, aber behagliche Stimme kommt mir definitiv bekannt vor. Pa hat wohl doch nicht gelogen, als er mir erzählte die Hartmans und Sotos seien in die Siedlung gezogen.

Levi dreht sich zu mir und wendet sich wieder an den vermeintlichen Bekannten: »Du solltest meine Begleitung ja noch kennen.«

»Alex?« Er öffnet sein Visier und ich sehe ein vertrautes, aber sichtlich gealtertes Gesicht. Durch seine dunkle Haut erkennt man die Falten nicht so schnell, doch die schwarzen Augenbrauen haben bereits einige graue Akzente und seine runden, grünen Augen scheinen erschöpfter, als ich sie in Erinnerung hatte. Die untypische knubbelige Nase, gepaart mit dem markanten Kinn lassen jedoch keinen Zweifel: Das ist David. »Du bist ganz schön groß geworden. Siehst aus wie dein Vater, ich wette, unter dem Helm hast du dasselbe wellige Haar, auf das ich immer neidisch war«, ergänzt er, mit einem herzlichen, aber irgendwie reumütigen Gesichtsausdruck.

»Hey Dave!«, erwidere ich plump. Ich hatte nie wirklich ein besonderes Verhältnis zu ihm oder seiner Frau Isa, dennoch war er immer ein guter Freund. Vor allem Levi versteht sich eins a mit ihm. Komm schon Alex, ein bisschen mehr Elan, schließlich kennt dich der Mann dein Leben lang. »Schön dich zu sehen! Wie geht’s Isabella?«

»Gut, gut! Sie wird sich freuen, dass ihr beide wohlauf seid« David nickt und wendet sich wieder an Levi. »Du kennst das Prozedere Levi, deine Waffen bitte. Alex, für dich gilt dasselbe.«

»Lex hat nichts dabei«, erwidert Levi, während er seine Multipistole und das Messer aus dem Holster nimmt. »Die zwei will ich aber wieder haben!«

»Im Gästetrakt sind noch ein paar Räume frei. Wie immer sind eine Mahlzeit und eine Nacht von Fynn spendiert. Hier ist der Datachip mit dem entsprechenden Guthaben.« David reicht Levi zwei kleine gläserne Kärtchen. »Ich vermute, ihr seid hier für Ressourcen. Der Tauschhandel ist für heute bereits geschlossen. Ihr könnt morgen wie gewohnt im Zentrum eure Geschäfte erledigen. Denkt daran, wenn ihr länger bleiben wollt, dann müsst ihr etwas für weiteres Guthaben eintauschen. Kein Guthaben und ihr fliegt raus.«

»Hab ich das nicht schon mal gehört? Ah doch, die letzten zehnmal«, spottet Levi.

»Du weißt, dass das Protokoll ist. Aber inoffiziell, ich bin heute Abend im Thistle anzutreffen, falls ihr Lust auf einen Drink habt.«

»Wenn du zahlst, logo«, entgegnet Levi schelmisch.

David geht nicht darauf ein und fährt fort: »Alex, ich vermute Levi und Cav haben dich über die Regeln hier aufgeklärt. Behalte also den alten Schnorrer hier im Auge.«

»Werd’ ich machen, David«, antworte ich grinsend.

Der andere gepanzerte Mann geht zur Seite und David drückt ein paar Knöpfe an einem Terminal. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Gang in dem wir stehen, keinen Ausgang zu haben scheint. Die Wand hinter David, an welcher sich eigentlich ein weiterer Durchgang befinden sollte, sieht aus wie, na ja, eine Wand. Es verwundert mich nicht, dass zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden, um Eindringlingen entgegenzuwirken. Jedoch wirkt all das ein bisschen extrem für eine Siedlung, die ja primär als sicherer Hafen für Überlebende dienen soll. Eventuell bin ich aber auch einfach zu überfordert, um den Sinn dahinter zu erkennen. Das alles hier ist neu für mich. Nicht nur die Reise, welche schon stressig genug war, sondern vor allem andere Menschen. Irgendwie realisiere ich erst jetzt, dass ich eigentlich mein ganzes Leben zu niemandem Kontakt hatte, außer zu meiner Familie. Ich war zufrieden, deshalb hat mich das nie gestört. Doch in diesem Moment in dem ich hier stehe und begreife, dass hinter dieser mysteriösen Wandtür hunderte, wenn nicht tausende von Menschen leben, bin ich so gut wie nicht mehr funktionsfähig.

Wie durch Magie verschwindet die Wand. Der runde Raum, in den wir eintreten, verschlägt mir den Atem. Mit einem Durchmesser von mindestens dreissig Metern, tadellosen weißen Wänden und dunkelgrauen Böden, fühle ich mich wie in einem meiner Sci-Fi-Romane. In der Mitte des Saales verschleiert eine ebenso runde Plastoglas-Mauer die gegenüberliegende Seite.

»Ist da drin Wasser?!«, frage ich Levi fast schon kreischend.

»Jep, Wasser ist hier keine Mangelware.«

»Der Tank ist gigantisch!«, sage ich erstaunt.

»Du siehst nur einen Bruchteil des Tanks, Junge. Das Ding reicht bis in die unterste Etage«, erwidert Levi, als wäre es nichts nicht beeindruckend.

»Wie viele Stockwerke hat New Bristol?«

»Hundertzehn.«

Ich bin sprachlos. Wir hatten zuhause schon öfters Wassermangel. Wenn es längere Zeit nicht regnet, leert sich der Wassercontainer langsam und die Aufbereitungsanlage schaltet sich aus. Zum Glück stürmt es regelmäßig, sodass wir vermutlich nie verdursten werden, aber das hier? Einhundertzehn Stöcke Wasser in einem Tank mit wahrscheinlich zwanzig Metern Durchmesser?

»Woher kommt all das Wasser?«, frage ich ungläubig.

»Grundwassersee, Regenwasser und Wasserrecycling. Wasser ist kostenlos hier. Gibt genügend für alle.«

»Wie viele Menschen leben denn noch hier?« Erst jetzt fällt mir auf, dass in dem gesamten Raum niemand sonst zu sehen ist.

»Keine Ahnung, ein paar tausend oder so. Massig davon wirst du hier aber nicht antreffen, die meisten bleiben in ihren Stockwerken. Hier oben sind für gewöhnlich nur Reisende und sonstige Gäste.«

»Also ist der Stock hier ein Hotel?«

»Sozusagen. Ein ziemlich totes Hotel. Sie nennen es Hub.«

Vor uns entdecke ich weiß leuchtende Wegweiser. Bazar, Kantine und Gästezimmer befinden sich links, rechts ist offenbar eine Bar namens Thistle inklusive Brauerei, der Queen Square und das VHR Center. Geradeaus sind die Lifte in die unteren Stöcke und der Zugang zu einer Hydrokultur, gekennzeichnet durch ‘Hydroplantage 1’.

»Hier gibt’s eine Brauerei?« Pa hat mir das verschwiegen. Aber ich weiß jetzt immerhin, dass er nicht übertrieben hatte.

»Brauerei und Thistle. Das einzig Gute an der Bude hier.«

»Eagle Two an Papa Eagle–«.

»Vergiss das gleich wieder. Hier unten funktionieren unsere Comlinks nicht. In den Gästezimmern hat’s jeweils eigene Geräte, die wir verwenden können. Ich weiß den Code für den Kontakt zu Cav. Wenn wir da sind, richte ich dir das ein.«

»Darf ich mich noch umschauen?« Meine Neugier ist geweckt.

»Erst laden wir unser Zeugs im Zimmer ab und ziehen uns um. Danach geb’ ich dir eine Tour.«

»Yeah, danke! Moment, umziehen? Ich hab’ null Kleider dabei? Ihr habt nicht gesagt, ich soll Kleidung mitbringen!«

»Keine Angst, auch für das gibt’s hier ein System ...«, sagt Levi genervt.

 

Der Weg zu den Zimmern war etwa so menschenlos wie die Außenwelt. Anscheinend soll das später im Thistle, der stockwerkeigenen Bar, und wenn der Bazar geöffnet ist, anders aussehen. Meine Nervosität hat sich immerhin ein bisschen gelegt. Ich bin jedoch immer noch wie vor den Kopf gestoßen, sobald ich die viel zu weißen Wände anschaue. So sauber.

Die Zimmer, die wohlgemerkt nur erreichbar sind, wenn man durch den Gang mit all den Geschäften geht, sind recht großzügig. Etwa neun Quadratmeter, mit einem in der Wand integrierten Bett, einer bescheidenen Dusche, welche ich bereits mit Freude benutzt habe, einem kleinen runden Tisch inklusive einer Sitzbank – ebenfalls teilweise innerhalb der Wand – und einem geräumigen, abschließbaren Schrank, man vermute es, in der Wand. Dadurch wirkt der blau-weiße Raum um einiges größer, als er eigentlich ist. Levi und ich müssen kein Zimmer teilen. Das bedeutet, ich werde verschont von seinem Schnarchkonzert. Gott sei Dank!

Innerhalb des Schrankes platziere ich meinen Anzug und nehme mir die bereitgelegten anthrazitfarbenen Hosen und das dazu passende graue Shirt. Auf dem befindet sich mittig ein violettes Octahedron, die gleiche Form, welche ich schon an der Oberfläche bestaunt habe. Scheint, als wäre das New Bristols Logo. Die Kleidung muss gemäß Levi angezogen werden, obwohl ich den Anzug mittlerweile recht komfortabel finde. Na ja, Regeln sind Regeln.

Levi hat vorhin den Comlink auf meinem kleinen Tisch mit Pa verbunden. Der Code hat vierundzwanzig Zahlen und ich soll ihn auswendig lernen. Bisher schaffe ich knapp zehn, ohne auf den Zettel zu linsen.

»Lex, kannst du mich hören?«, erklingt Levis Stimme aus dem Gerät.

»Eagle Two an Eagle One, laut und deutlich, over!«

»Gut. Cav, hörst du uns beide?«

Fast eine Minute warten wir, bevor mein Pa antwortet:

»Ja, bin hier, braucht ihr was?«

»Nein, aber die Comlinks funktionieren somit. Ich geh’ jetzt mal ‘ne Stunde pennen, Lex, danach gehen wir auf deine Tour.«

»Verstanden Eagle One, Tour um zwanzighundert, over.«

»Gefällt dir New Bristol, Alex?«, fragt mein Vater, während ich mich auf eines der beiden überraschend gemütlichen Betten lege.

»Der Wassertank ist verrückt! Übrigens, wieso hast du mir nie etwas von der Bar und der Brauerei erzählt? Over.«

»Kein spezifischer Grund, schien mir nicht relevant.«

»Na ja, ich hatte nur irgendwie nicht erwartet wir landen hier in einem – viel zu sauberen – Vergnügungspark. Welcher scheinbar nicht sonderlich gut besucht ist, over.«

»Auch wenn die Hülle verlockend ist, der Inhalt ist dennoch oft verfault. New Bristol ist viel Schein, vor allem der Stock, in dem ihr euch befindet. Ich wollte, dass du dir selbst ein Bild davon machst, du bist klug genug.«

»Levi zeigt mir nachher den Rest des ‘Scheins’ und Hartman hat uns auf einen Drink ins Thistle eingeladen, over.«

»Gut, dann viel Spaß. Richte doch einen Gruß an David aus. Und sieh’ zu, dass Levi bei einem Drink bleibt. Er kann sonst ganz schön laut werden.«

»Du Langweiler!«, nuschelt Levi im Halbschlaf.

Pa und ich können uns das Lachen nicht verkneifen. Es wirkt, als wäre er nicht mehr verärgert, was mich freut. Ich würde am liebsten stundenlang mit ihm über New Bristol plaudern, spüre aber langsam die Erschöpfung der Reise.

»Ich muss mich auch noch ein bisschen ausruhen, Pa. Melde mich nochmal, bevor wir schlafen gehen! Bis später, over und out!«

»Bis dann, Alex!«

 

»Aufwachen, Lex!«, reißt mich Levis Stimme vor der Tür aus dem Schlaf. »Zeit für deine Tour und meinen Drink!«

»Komme.« Halb wach stolpere ich Richtung Tür und öffne sie.

»Gut geschlafen, Kleiner?« Levi grinst über beide Ohren. Ich sehe vermutlich aus, als wäre ich gerade von den Toten auferstanden. So fühle ich mich auf jeden Fall.

»Ja, danke.«

»Siehst gut aus! Bereit?«

»Natürlich!«, erwidere ich mit gezwungenem Elan. Ich versuche, mein widerspenstiges Haar irgendwie in Ordnung zu bringen.

»Nicht vergessen, das hier sieht vielleicht aus wie ein Vergnügungspark, aber es gibt strenge Regeln. Also benimm dich!«

Levi trägt dieselbe Kleidung wie ich. An seinem gigantischen Körper wirkt das für mich überlange Shirt jedoch ein bisschen kurz. Und eng.

»Steht dir, das Shirt! Betont deine Kurven!«

»Ha-ha! Ich krieg kaum Luft, du Witzbold!«, entgegnet Levi mit grimmigem Blick. »Lass uns losgehen, ich hab Durst!«

»Okay, auf geht’s!«

Während wir durch die noch immer leeren Gänge Richtung Bazar spazieren, erzählt Levi: »Die Kleidung die wir tragen mit dem hübschen Violett identifiziert uns als Gäste. Grün und blau heißt Bewohner der Siedlung, rot Sicherheitspersonal und wenn jemand weiß trägt, dann erschieß ihn.«

»Was? Wieso das denn?«

»Nur Isaacs trägt Weiß.«

»Du magst den Typen nicht, hm?«

»Was denkst du? Wer Kleidung vorschreibt, damit er als kleine einzigartige Schneeflocke besser heraussticht, verliert meiner Meinung nach jeglichen Respekt.«

»Schon mal nach dem Grund gefragt?«

»Dein Pa hat ein paarmal mit dem Psycho gesprochen, ich erst einmal und da ging’s um einen Job. Also nein.« Wir sind mittlerweile beim Wassertank angekommen. »Wie auch immer, magst du Bäume?«

»Wie bitte?«

»Bäume?«, wiederholt Levi verwundert. »Noch nie Bäume in deinen Büchern gesehen oder davon gelesen? Grün, groß, brauner Sta-«.

»Natürlich weiß ich, was Bäume sind, aber was soll die Frage?« Wir laufen um den riesigen Wassertank herum und zu unserer Linken befinden sich zwölf Aufzüge mit Zahlen-Displays darüber, welche allesamt ziemlich zügig hoch und runter ticken. Tatsächlich öffnet sich vor uns eine der Lifttüren und eine Frau und ein Mann, beide mit blauem Logo auf der Brust, schreiten aus dem Lift in Richtung Queen Square. Sind das die ersten neuen Gesichter, die ich in meinem Leben sehe? Irgendwie verrückt.

»Ich frag nur, ob du Bäume magst. Ich mag Bäume«, lenkt mich Levi von der Musterung der beiden Fremden ab.

»Ich hab’ noch nie Bäume ge–«. Beim Einlenken zum Queen Square verschlägt es mir die Sprache. Die Frage war nicht zufällig. Da stehen Bäume. Echte, grüne, riesige Bäume.

»Boah.« Der Raum, der so groß und etwa doppelt so hoch ist wie das Audimax in der Uni, ist geschmückt durch vier mächtige Bäume in jeder Ecke. In der Mitte steht ein Brunnen mit Octahedron, kleiner als derjenige an der Oberfläche, aber mit echtem Wasser, welches über die Skulptur in das Becken darunter plätschert. Darum herum sitzen Menschen auf Sitzbänken und unterhalten sich, einige mit Getränken in der Hand und breitem Lächeln im Gesicht. Der Raum ist absichtlich so gebaut wie ein alter Stadtplatz, mit hübschen gepflasterten Böden und auch die Wände sind entsprechend verkleidet. Das Thistle links ist nicht wie die anderen Bereiche durch einen langweiligen Gang vom Queen Square getrennt, sondern durch eine riesige Fensterfront, durch die man bereits das heitere Innenleben erkennen kann. Auch das VHR-Center auf der gegenüberliegenden Seite ist mit einem großen leuchtenden Schild gekennzeichnet, was die Illusion eines ganz normalen Stadtplatzes weiter wachsen lässt.

»Cool was? Den Platz schau’ ich mir jedes Mal wieder gerne an. Zusammen mit dem Bier ist das hier das Highlight!«

»Wieso ... Wieso wohnen wir nicht hier?«, frage ich, noch immer verblüfft von dem Anblick.

»Ha! Ich gewinne!«, jubelt Levi unerwartet.

»Wie bitte?«

»Cav und ich haben gewettet, ob du die Frage stellst.«

»Ach ja?«

»Jep, Cav meinte, du seist zu clever, um auf die Fassade reinzufallen.«

»Und du dachtest, ich sei dumm genug?« Es nervt mich, dass ich anscheinend so durchschaubar bin.

»Ich bin zutiefst verletzt, dass du so von mir denkst!« Levi lacht. »Nein, ich dachte nicht, du bist dumm, vielleicht ein bisschen naiv, ja, aber nicht dumm. Ich kann’s einfach nachvollziehen, ich hab’ dieselbe Frage auch gestellt.«

»Naiv? Okay. Und was ist die Antwort auf die Frage? Hier gibt’s unendlich Wasser, fast undurchdringliche Sicherheitsvorkehrungen, wahrscheinlich besseres Essen, als bei uns in der Uni, Lily in Ehren, eine Bar in der ich Musik höre, und sogar das Zimmer ist gemütlich. Und«, ich fuchtle mit den Händen, »Bäume!«

»Willst du meinen Grund hören oder den, der dein Vater geben würde?«

»Am liebsten beide, aber fang mit deinem an.«

»Freiheit. Was bringen Bäume, wenn du nicht mal dran pissen darfst.«

Ich weiß, dass er das absichtlich überspitzt formuliert. Für Levi ist Freiheit bedingungslos. Regeln, egal ob übersichtlich oder nicht, schränken ihn zu sehr ein. Er betrachtet eine Regel als gegenstandslos, wenn er den Sinn dahinter nicht erkennt. Damit hat er nicht unrecht, trotzdem ist seine Ansicht ziemlich engstirnig. Jede Gesellschaft der Vergangenheit war gebunden an gewisse Gesetze und Regeln. Ein solches System bietet Sicherheit und Beschäftigung, im Tausch gegen einen kleinen Teil der eigenen Freiheit.

»Ich wollte auch mal hier hinziehen«, ergänzt er, in einem ernsteren Ton. »Hatte mir eingeredet, Lily und ich könnten mit der medizinischen Versorgung hier vielleicht doch noch Eltern werden.« Levi mustert den Boden. »Und mit den meisten Regeln könnte ich mich abfinden.«

»Aber? Weshalb hast du deine Meinung geändert?«

»Als Hartman und Soto beide mit ihren Familien hierher gezogen sind, habe ich lange mit deinem Vater diskutiert. Ich wollte mit Lily nach New Bristol, aber dich und Cav nicht zurücklassen, also habe ich versucht, ihn zu überreden. Wir hatten sogar beide ein Job-Angebot, er als Ingenieur und ich im Sicherheitsdienst. Doch er wollte nicht. Wusste es wieder mal besser, dein Pa.« Seine Stimme wirkt schwerer als sonst. »Also sind wir geblieben.«

»Demnach ist der Grund, weshalb wir nicht schon lange hier leben, mein Pa?«

»Zuerst, ja. Aber ziemlich bald war ich seiner Meinung. Er wusste es halt wirklich besser. Du erinnerst dich ja bestimmt noch an die Sotos?«

»Sicher, Aia wohnte ja in meinem Zimmer und Ichiro war immer witzig.« Zu Ichi hatte ich eine gute Beziehung, er hat mir oft Bücher gebracht, hat mir viel über seine Vorfahren erzählt und hatte immer einen Spruch auf Lager. Ich habe viel von ihm gelernt, und nicht nur japanische Sprichwörter. Offenbar hat er Levi und Pa mindestens einmal das Leben gerettet und dafür werde ich ihm für immer dankbar sein. Und in seine Tochter Aia war ich zugegebenermaßen recht lange verknallt.

»Die Sotos hatten keine Job-Angebote als sie abgeholt wurden, nur Hartman war schon angestellt«, fährt Levi fort. »Aber Ichi wollte unbedingt hier wohnen, also nahm er Melinda, Aia und all seine Wertsachen und ging mit der Eskorte mit. Er hoffte auf einen Job für sich oder Melinda, sollte ja eigentlich auch kein Problem sein, könnte man denken. Aber Fynn entscheidet. Und Fynn hatte entschieden, dass es zu der Zeit keine freien Stellen hat, vielleicht jedoch in naher Zukunft. Also hat Soto mehr und mehr von seinen Wertsachen für Guthaben getauscht, in der Hoffnung, dass sich etwas ergibt. In einer Hydrokultur, als Hauswart, was auch immer. Hätte wohl jeden Scheiß-Job gemacht. Schlussendlich hatte er alles aufgebraucht, bis auf einen Schutzhelm. Hartman konnte die Sotos noch ein Weilchen über Wasser halten, aber irgendwann war nichts mehr übrig. Also wollte Soto Fynn bitten, ihn und seine Familie nach Hause eskortieren zu lassen.« Levi seufzt.

»Und dann?«

»Während Ichi versucht hat eine Audienz mit dem Bastard zu erhalten, haben drei Wachen Melinda und Aia rausgeworfen.«

»Was? Wieso?!«

»Gemäß Hartman wurde Aia mit gestohlenen Rationen erwischt. Ihre Mutter hatte geschworen, dass sie es war, jedoch vergeblich. Die Wachen hatten festgestellt, dass die beiden schon seit Tagen ohne Guthaben in den unteren Stöcken unterwegs waren. Laut Weisung heißt das sofortiger Rauswurf. Normalerweise mit Schutzkleidung. In dem Fall nicht.«

»Und Ichi?«

»Das weiß keiner. Hartman meint, Ichi hätte versucht, Fynn anzugreifen, nachdem die Nachricht zu ihm durchgedrungen war. Mehr weiß er nicht.«

»Wieso hat David den drei denn nicht geholfen?!«

»War nicht im Dienst zu der Zeit.« Levi schüttelt den Kopf.

Die armen Sotos. Ich verstehe Levi. Die Regeln sind nicht nur hart, sie sind herzlos. Es verwundert mich nicht, dass er darin keinen Sinn sieht. Ich spüre Tränen in meinen Augen, wenn ich mir vorstelle, was die Sotos durchstehen mussten. Aber ich versuche, mich zu beherrschen. Obwohl mich seit langer Zeit nur noch Erinnerungen mit Ichi, Melinda und Aia verbinden, schmerzt die Wahrheit. Ich schäme mich fast, dass ich überhaupt eine so naive Frage gestellt habe.

»Tut mir leid, dass ich gefragt habe, wieso wir nicht hier wohnen«, bringe ich knapp heraus.

»Kein Grund, dich zu entschuldigen, Kleiner. Die Frage war berechtigt. Sorry, dass ich dir die Story erst jetzt erzähle,« Levi pausiert kurz, »aber dein Vater war dagegen.«

»Er denkt, ich sei nicht alt genug«, seufze ich.

»Dein Pa hat bestimmt gute Gründe. Sei nicht böse auf ihn. Der Mann ist um einiges klüger als ich.«

Da bin ich mir im Moment nicht so sicher.

»Wieso hast du mir die Geschichte denn jetzt erzählt?«, frage ich.

»Keine Ahnung. Die Reise hat mir gezeigt, dass du alt genug bist für die Wahrheit. Ich war schon vor der Reise der Meinung und geh’ damit gerade gegen die Wünsche deines Vaters. Aber du weißt, was ich von Regeln halte.« Levi versucht zu Zwinkern, scheint jedoch nicht wirklich zu wissen, wie das funktioniert. Zusammen mit seinem Versuch, die Situation mit einem Lächeln zu entschärfen, sieht er aus, als hätte er einen Schlaganfall. Ich kann mir trotz der traurigen Geschichte das Grinsen nicht verkneifen.

»Lass’ uns trinken gehen! Das Leben ist zu kurz, um Geister zu jagen!«, sagt Levi, während er mir auf die Schulter klopft.

»Immerhin bin ich dafür alt genug«, erwidere ich und lächle zurück.

 

Innerhalb der Bar fällt es mir überraschend leicht, die Geschichte von vorhin zu verdrängen. So viele Menschen habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Was natürlich nichts heißt, weil ich so gut wie noch keine Menschen gesehen habe. Aber das Thistle ist riesengroß und alles andere als schlecht besucht. Verzierte Holzimitatwände trennen die unterschiedlich gestalteten Sitzgruppen. Die Farben der Ledersessel und Sofas reichen von verschiedenen Grün und Blautönen, über Dunkelrot, bis hin zum vereinzelten grellen Orange. Die Wände sind in derselben Holzoptik verkleidet wie die Trennwände und werden durch petroleumfarbene Stellen ergänzt. Der ganze Raum ist großzügig und gemütlich zugleich. Viele kleine dekorative Gegenstände hängen an den Wänden oder stehen auf den Tischen. Und auf jedem Tisch steht ein klitzekleiner Blumentopf mit einer Distel. Die schummrige Beleuchtung erschwert es, David ausfindig zu machen, aber mit ein bisschen Glück, sollten wir–

»HARTMAN!«, ruft Levi lauter als die Geräuschkulisse, inklusive einer Band, welche gerade versucht hatte, ein neues Lied anzuspielen.

»Sehr subtil, Levi«, entgegne ich mit einem Nicken.

»Wir wurden eingeladen, ich mache Hartman nur auf seine Gäste aufmerksam!«, beteuert Levi lächelnd.

Während ein Großteil der etwa zweihundert Menschen – in dem nun recht stillen Raum – Levi anstarren, steht David auf der gegenüberliegenden Seite auf und winkt uns zu ihm rüber. Levi und ich laufen im Slalom um die diversen Sitzgruppen herum. Einige Blicke sind noch immer verurteilend auf meinen großgewachsenen und lauten Freund gerichtet. Jedoch scheint niemand seinen Unmut über den riesigen Störenfried ausdrücken zu wollen. Als wir am Tresen der Bar vorbeilaufen, zieht mich Levi kurzerhand in dessen Richtung und wendet sich an die freundlich aussehende, junge Barkeeperin.

»Zwei Bier, Hartman zahlt!«

Die Dame hinter der Bar scheint ein wenig verwirrt und schaut sich kurz um.

»Ich benötige dafür Mister Hartmans Einverständnis oder seinen Chip«, erwidert sie.

Levi dreht sich zu David, der nur noch etwa fünf Sitzgruppen entfernt in ein Gespräch mit zwei weiteren Gästen verwickelt ist. Ich befürchte, Levi wird gleich wieder la–

»HARTMAN, DIE BARKEEPERIN WILL DEIN EINVERSTÄNDNIS!«

Jep, viel zu laut.

David dreht sich kurz um und signalisiert seine Zustimmung grinsend mit einem Daumen nach oben.

»Reicht das als Einverständnis? Zwei Große bitte!«

Die Barkeeperin nickt lächelnd und macht sich daran, zwei ziemlich stattliche Glaskrüge zu füllen. Ich durfte zuhause schon mal mit Levi und Pa Whisky trinken, aber Bier hatte ich bisher noch nie. Nachdem die Krüge gefüllt sind und Levi sie gierig an sich gerissen hat, begeben wir uns zu David und seinen zwei Kumpanen.

Levi stellt die Krüge auf das kleine kupferne Tischchen in der Mitte der Sitzgruppe: »Hartman, immer ein Vergnügen!«

»Nur weil ich zahle, du Gauner! Levi, Alex, das hier sind Sayim und Diza, zwei Kollegen von der Arbeit.« Die sympathischen Fremden nicken uns zu. Die Gesichtszüge der beiden lassen mich vermuten, dass es sich bei ihnen um Bruder und Schwester handelt. Jedoch habe ich gerade nicht genügend Mut, um danach zu fragen. Ihre Haut hat denselben hellbraunen Teint und beide Gesichter sind unwahrscheinlich symmetrisch, abgerundet durch einschüchternd markante Wangenknochen.

»Weil du zahlst, nehm ich keinen teuren Whisky, Hartman! Diza und Sayim, freut mich! Levi!«, entgegnet Levi, während er seine Hand ausstreckt. Ich folge der Geste und grüße mit einem schüchternen »Alex.«

Wir setzen uns hin und Levi reicht mir einen der beiden Krüge, während er seinen eigenen in die Höhe hievt.

»Auf David’s Guthaben!«, prostet Levi grinsend. Auch ich hebe mein Glas kurz und nehme dann meinen ersten Schluck. Gar nicht so schlecht, ein wenig bitter, aber besser als der Whisky, den Levi mal mitgebracht hatte. Ich ertappe mich, wie ich denke ‘daran könnte ich mich gewöhnen’. Jedoch besinne ich mich schnell wieder.

»Und Lex, schmeckt dein erstes Bier?«, fragt Levi in meine Richtung.

»Ganz okay, ja«, erwidere ich, noch immer ein bisschen eingeschüchtert durch all die neuen Eindrücke und Interaktionen.

»Gut! Genieß es, der Geizkragen hier bezahlt uns bestimmt nicht noch eins!«, wendet sich Levi an David.

David lehnt sich nach hinten: »Deine Dankbarkeit erstaunt mich immer wieder.«

In dem Moment erspähe ich einige Sitzgruppen hinter David einen charismatischen Mann in einer weißen Uniform, aus einem Stoff, den ich irgendwo schon mal gesehen habe. Großgewachsen, schlank und mit breiten Schultern sticht Isaacs nicht nur durch seinen Anzug aus der Menge heraus. Seine schwarzen Haare mit einigen grauen Strähnen, der Dreitagebart und die fast perfekte Nase machen ihn auffallend attraktiv. Und sein freundlicher Gesichtsausdruck überrascht mich. Ich hatte mir wohl den Teufel in Person, mit Spitzbart, Augenringen und Dreizack im Gepäck vorgestellt. Der Mann, den ich nun sehe, wirkt mehr wie eine stämmigere Version meines Pas. Wenn Pa eine ziemlich freakige Armprothese hätte, von welcher ich im Moment nur die weiße Hand mit ihren goldenen Fingergelenken erblicken kann.

Fynn trinkt ebenfalls ein Bier und sitzt mit dem Rücken zur Wand. Offenbar führt er gerade ein interessantes Gespräch mit einem rot markierten, dicklichen Herren. Eine Sitzgruppe daneben unterhalten sich drei Männer, gleichermaßen rot markiertes Sicherheitspersonal, allesamt doppelt so breit wie ich. Sie tragen klar sichtbare Holster mit futuristisch aussehenden, rotweißen Pistolen darin. Fynn sieht zwar freundlich aus, aber offensichtlich benötigt er sogar bei einem Drink seine persönliche Sicherheitseinheit. Ich frage mich, was das über ihn aussagt.

»Starr ihn nicht zu lange an, Kleiner«, zieht mich Levi aus meiner Neugier heraus. »Sonst verliebst du dich noch!« Levi und die drei anderen lachen.

»Seine weiße Uniform ist ein gepanzerter Raumanzug.« Mir ist wieder eingefallen, wo ich diese Art Stoff schonmal gesehen habe: Space Survival von James Fisher. Ein Bilderbuch über Technologien für die Raumfahrt. Der weiße Stoff, Polykevlar, wurde für die modernsten Anzüge der ESA aus dem 22. Jahrhundert verwendet. Diese halten jeder Radiation stand, kühlen den Körper auch bei extremen Temperaturen und sind sozusagen unzerstörbar. An so ein Ding kommt man nicht so einfach.

»Wie bitte?«, fragt David verwundert.

»Das ist keine Uniform, sondern ein undurchdringlicher Hightech-Raumanzug aus Polykevlar und Durillium, entwickelt für die Raumfahrt vor hunderten von Jahren«, entgegne ich.

Ich werde von vier Gesichtern ungläubig angestarrt.

»Woher weißt du sowas?«, fragt Sayim.

»Aus einem Buch aus der Uni«, antworte ich.

»Und daran erinnerst du dich noch?«

»Der Junge hat ein irrsinniges Gedächtnis!«, erwidert David. »Hatte er schon als Kind.«

»Interessante Geschichte. Scheinst ein ziemlich kluger Kerl zu sein«, sagt Diza.

»Ganz sein Vater«, ergänzt David grinsend.

Levi redet sichtlich verwirrt dazwischen: »Weshalb hat der Typ einen Raumanzug?«

»Fynn hat so einige Spielereien, das überrascht mich nicht«, antwortet David. »Ich stelle mir solche Fragen schon lange nicht mehr. Solange er mich weiterhin so großzügig bezahlt, kann er tragen, was er will.«

»Großzügig bezahlt, hm?« Levi grinst. »Dann bis gleich!« Er steht auf und läuft ohne Kommentar in Richtung Bar.

»Dein Freund nimmt dich aus, David«, sagt Sayim lachend.

»Noch immer derselbe alte Levi«, entgegnet David, während er widerwillig der Barkeeperin sein erneutes Einverständnis signalisiert.

Als ich mich von Levi wieder zurückdrehe, bin ich plötzlich wie versteinert. Mein Blick trifft zwischen zwei Trennwänden auf ein altbekanntes Gesicht mit kalten, unverkennbaren hellgrauen Augen, die mich anstarren: Jesper. Shit! Nach einer Sekunde wendet er sich wieder von mir ab und schaut in Richtung Band, welche gerade ein unpassend fröhliches Lied spielt. Hat er uns erkannt? Beim ersten Treffen hat das Visier unsere Gesichter vielleicht verschleiert. Was rede ich, der gesamte Raum kennt uns, seit Levi herumgeschrien hat, natürlich hat Jesper uns erkannt. Oh Mann! Ich muss Levi Bescheid sagen!

Ohne ein Wort stehe ich auf und laufe zu Levi an die Bar. Zur Sicherheit unterlasse ich weitere Blicke in die Richtung der vermeintlichen Roamer.

»Wir haben ein Problem«, sage ich, bei Levi angekommen.

»Wieso? Kostenloses Bier Nummer zwei kommt gleich.«

»Die Roamer vom Weg hierher«, antworte ich.

»Die Hexe mit ihren Lakaien?«

»Genau.«

»Was ist mit den Dummschwätzern?«

»Mindestens einer von ihnen sitzt ein paar Reihen hinter uns und hat mich gesehen.«

»Und? Hier gibt’s keine Waffen und beklauen können die uns hier auch schlecht, außer sie wollen graue T-Shirts«, erwidert Levi unbeeindruckt.

»Hat Cara auf dich so gewirkt, als wäre sie sehr versöhnlich?«

Levi denkt kurz nach. »Keine Ahnung, aber wir fragen einfach David nach einer Eskorte für den Heimweg.«

»Ich hab’ vielleicht eine bessere Idee.«

 

Levi drehte kurz eine Runde bis zur Band und zurück. Scheinbar sitzt Cara direkt neben Jesper, der ein schwarzes Sweatshirt inklusive Handschuhe unter seinem New Bristol T-Shirt trägt. Levi hat sich bereits darüber lustig gemacht. Von Tarik hingegen hat er im ganzen Thistle nichts gesehen. Mit meinem Plan ist er einverstanden, auch wenn er nicht glaubt, dass er funktionieren wird. Doch wir sind uns beide einig, dass eine Eskorte nicht zwingend vor Cara und Co. schützt. Mein Vater wäre bestimmt dagegen, aber wir haben einen Plan.

Zeit, den naiven Jungen zu spielen!

Während David und seine Freunde über die ungemütlichsten Teile ihrer Uniform debattieren, stehe ich auf und laufe durch die Sitzgruppen zwischen mir und meinem Ziel. In voller Sichtlinie zu Cara und Jesper, setze ich mich direkt zu Fynn Isaacs. Die drei Wachen gegenüber zucken rasch, realisieren jedoch zu spät, dass ich bereits neben ihrem Schützling sitze. Auch Fynn wirkt überrascht, doch mein aufgesetztes kindliches Grinsen scheint Wirkung zu zeigen. Die Situation eskaliert nicht. Ich schlucke kurz tief.

»Mister Isaacs, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber kann ich für einen Moment hier sitzen und so tun als würde ich Sie kennen?« Cara schielt in meine Richtung, doch hören kann sie mich nicht.

Fynn zögert kurz. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Mein Onkel Levi und ich hatten eine eher unangenehme Begegnung auf dem Weg nach New Bristol und um die Situation zu entschärfen, habe ich gelogen und erzählt, Sie wären ein guter Freund der Familie«, antworte ich, noch immer mit einem aufgesetzten Lächeln und völlig übertriebenen Kopfbewegungen, womit ich – vermutlich erfolglos – versuche die Verehrung eines naiven Jungen für seinen coolen Onkel Robo-Arm zu imitieren.

»Und nun wünschen Sie, die Illusion aufrecht zu erhalten, richtig?«, schlussfolgert Fynn korrekt. Seine Stimme und sein Ton sind eine Mischung aus Ruhe, Höflichkeit und Bestimmtheit. Ich hätte nicht erwartet, dass ich trotz meinem Zirkus hier mit Respekt behandelt werde. Schon gar nicht, dass er mich siezt.

»Mister Isaacs ist kein Ausstellungsstück, dass du einfach so für deine Masche einsetzen kannst, Kleiner!«, redet der dickliche Sicherheitsangestellte energisch dazwischen. Eher die Reaktion, die ich erwartet hatte.

»Ned, wie du weißt, kann ich für mich selbst sprechen«, entgegnet Fynn scharfzüngig.

»Entschuldigen Sie, Sir«, krebst er zurück.

»Verzeihen Sie dem alten Ned hier, er ist lediglich überrascht. Nur sehr selten setzt sich ein Fremder ohne jegliches Zögern zu mir. Dies wird bestätigt durch die eher rostige Reaktionszeit meines Sicherheitsteams hier. Offenbar sind wir für die einfachsten Aufgaben nicht mehr vorbereitet.« Fynn wirft einen Blick auf die drei Männer nebenan, welche sich gegenseitig vorwurfsvoll anglotzen. »Wie dem auch sei. Ich bewundere Ihre Unverzagtheit. Ich bin Fynn.«

»Alex. Alexius Blake«, antworte ich, mein Lächeln mittlerweile nicht mehr ganz so vorgetäuscht. Sein Charme ist bemerkenswert. »Ich kann leider meine Hand nicht zur Begrüßung anbieten, sonst merken die Ganoven, dass wir uns nicht kennen.«

»Verstehe. Ich vermute, es handelt sich bei besagten ‘Ganoven’ nicht um Einwohner New Bristols? Da ich bei dem Vorfall nicht präsent war, kann ich sonst nichts gegen die Missetäter unternehmen, denn auch sie sind Gäste. Dessen ungeachtet biete ich meine Gesellschaft jedoch gerne an, falls dies deinem Plan dient, Alexius.«

»Vielen Dank!«

Wieso ist er so nett?

»Eine Bedingung habe ich jedoch, wenn ich weiterhin ein Teil dieser kleinen Finte sein soll«, ergänzt Fynn.

»Sicher, was denn?«

»Wir hören uns das Lied an, welches gerade angespielt wird.«

Ein bisschen verwirrt stimme ich mit einem Nicken zu und drehe mich wie Fynn zur Band. Levi wirft mir einen ungläubigen Blick zu und ich zucke kurz mit den Schultern.

Die Musikgruppe besteht, wie ich erst jetzt bemerke, nur aus einer Sängerin mit einer Gitarre und einem älteren Herren, der Geige spielt. Wir hören oft Musik zuhause, da Pa auf einer Exkursion einen betagten, funktionstüchtigen FLAC-Player gefunden hatte. Aber erst jetzt fange ich an, die Live-Musik und deren Nuancen wahrzunehmen.

 

Soon’s a flower in the dirt

And no one cowers to the world

Then oceans, and mountains will rise

Oh my child don’t be fearful

Be brave and be wild

The next chapter is only for the wise

 

We can hurt, we can cry

Let our past eat the inside

Let us all be imprisoned by what we crave

But my child, don’t you see

Let it go, let it be

The next chapter is only for the brave

Das langsame, fast schon kitschige Lied und der liebliche Gesang der jungen Dame passen gut zusammen. Die Melodie im Anschluss, welche anstelle eines Refrains gespielt wird, stimmt mich traurig und fröhlich zugleich. Ich verstehe zwar nicht, weshalb das melancholische Lied für Fynn relevant ist, aber ich kann es nachempfinden.

»Schöner Song«, sage ich, nachdem die zwei Musiker das nächste Stück anstimmen.

»Allerdings. Musik ist der Schlüssel zur Seele und dieses Lied stammt aus meiner Heimat. So, Alexius Blake, erzähle mir doch etwas über dich. Zu den Zuschauern unserer Unterhaltung musst du dir im Moment keine Gedanken machen. Ihr seid hier sicher.«

»Über mich?«, ich überlege und betone das mit mehr ‚ähm‘ als mir lieb ist. »Ich komme von außerhalb und wohne mit meinem Pa zusammen. Nichts Spannendes.« Besser ich verrate nicht zu viel.

»Cavanough, richtig?«

Moment, was?

»Woher kennen Sie meinen Vater?«

»Bitte, nenn mich Fynn. Ich wollte deinen Vater schon mehrfach für die Kolonie gewinnen. Sein Talent für Elektronik ist bemerkenswert, und das, obwohl er nie eine Ausbildung innerhalb einer Kolonie absolviert hat.«

»Wir lesen viel.«

»Davon habe ich gehört. Dennoch bemerkenswert.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie-, sorry, du, meinen Vater noch kennst. Gemäß seinen Erzählungen hattet ihr nur kurze Begegnungen.«

»Das ist auch nicht gelogen. Ein gutes Gedächtnis ist manchmal ein Fluch, aber meistens ein Segen.«

Er redet mir aus der Seele. Oft ist es nicht einfach, sich an fast alles zu erinnern. Der philosophische Hauch wirkt zwar ein wenig aufgesetzt, dennoch fasziniert mich der Mann. Ein paar kurze Interaktionen mit Pa über die Jahre hinweg, und die Erwähnung meines Nachnamens und schon hat Fynn die Puzzleteile zusammengesetzt. Ich könnte noch etwas lernen von ihm.

»Darf ich dich was fragen?«, sage ich, in der Hoffnung, dass das Eis mehr als genug gebrochen ist.

»Selbstverständlich«, erwidert Fynn, weiterhin überaus höflich.

»Weshalb trägst du einen Raumanzug?« Die Frage brennt mir zu sehr auf der Zunge.

Fynn wirkt zwar nicht erstaunt, jedoch zögert er mit einer Antwort, was untypisch erscheint.

»Du bist ein gewiefter junger Mann, Alex. Tatsächlich ist meine Kleidung nicht gerade klassisch. Ich muss dich aber leider enttäuschen, falls du erwartet hättest, ich wäre Astronaut.« Fynn lächelt. »Der Anzug war bereits hier, als ich die Funktion übernommen habe. Ich trage ihn, weil er mir Schutz bietet und außerordentlich gemütlich ist.«

»Schutz wovor?« Grab nicht zu tief Alex, er ist nicht dein Freund.

»Schutz vor schlechten Menschen. Oder guten Menschen, die gerade einen schlechten Tag haben. Eine Sicherheitsvorkehrung.«

»Sicherheitsvorkehrungen kehren Unsicherheit hervor.« In einem Moment kann ich nicht sprechen und in anderen laber ich zu viel. Oh Mann.

»Ha! Clever!« Fynn lacht laut. »Der junge Mann begegnet mir mit Aphorismen.«

»Entschuldige, manchmal denke ich zu wenig, bevor ich spreche.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Deine Aufrichtigkeit ist erfrischend.« Fynn legt seine kalte, linke Hand auf meine Schulter und sagt mit gemäßigter Stimme. »Und du hast nicht Unrecht. Ich habe viele Feinde. Deshalb auch Ned und meine anderen, langsamen Freunde hier.« Er mustert grinsend sein Sicherheitsteam. »Vergib mir, wenn ich diese Unsicherheit durch ein paar Sicherheitsvorkehrungen aufhebe.«

Als Fynn sich wieder zurücklehnt, fällt mir auf, dass Jesper und Cara nicht mehr an ihrem Platz sind. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich wegen ihnen hier sitze. Wenn sie die Unterhaltung beobachtet haben, sollte das zumindest so gewirkt haben, als hätten wir nicht gelogen und der mächtigste Mann New Bristols sei unser Freund. Ob das hilft, weiß ich nicht, aber auf alle Fälle fühle ich mich ein wenig erleichtert.

»Vielen Dank für deine Hilfe, Fynn. Nochmal sorry für die Störung, ich lasse dich jetzt in Ruhe den Abend genießen und gehe zurück zu meinen anderen Freunden.«

»Keine Ursache, es war mir eine Freude, Mister Blake. Richte doch einen Gruß aus an deinen Vater.«

»Werde ich tun.« -lichst vermeiden. Pa würde vermutlich nicht jubeln, wenn er erfährt, was ich wieder für Risiken eingehe.

Ich stehe auf und laufe zurück zu Levi. Auf dem Weg schiele ich noch ein bisschen im Raum herum, finde aber keine Cara und keinen Jesper. Hoffentlich haben sie’s geschluckt, auf Nimmerwiedersehen, ihr Schurken!

 

4

Enthüllungen

 

 

 

Besser geschlafen habe ich selten. Ob das an dem überdurchschnittlich gemütlichen Bett liegt oder an all dem Bier? Mein Schädel brummt auf jeden Fall. Ich wette, Levi gehts erfreulicher, er hat in dem Aspekt mehr Übung.

Nachdem ich mich gestern mit Fynn unterhalten hatte, wollten David und seine Freunde ganz genau wissen, worüber. Vor allem weil Fynn seine Hand auf meine Schulter gelegt hatte, was scheinbar ziemlich untypisch ist. Ich habe langsam das Gefühl, ich hätte mit einer völlig anderen Person gesprochen, als den Fynn, welchen Levi, Pa und all die New Bristolianer kennen.

Nach zweieinhalb Bier hatte ich dann bereits genug und bin ins Zimmer. Auf dem Rückweg habe ich noch einmal die Bäume bestaunt, in meinem Zustand wohl unnatürlich ausführlich. Wie zu erwarten war, wollte Levi länger bleiben und die Stimmung war zu heiter, als dass ich eine Empfehlung dagegen abgegeben hätte. Levi mag David und ein bisschen Müßiggang muss sein. Wir konnten dadurch immerhin unsere Sorgen wegen Lily’s Zustand ein wenig unterdrücken. Gemäß Pa geht es ihr okay, aber selbst wenn das nicht so wäre, würde er uns das nicht mitteilen, da wir sowieso nichts dagegen tun können.

Heute stehen die Mahlzeit und der Tausch unserer Waren auf dem Programm und dann geht’s nach Hause. Um spätestens 9:00 Uhr wollen wir hier raus sein, um möglichst weit zu kommen und die Reise auf zweieinhalb Tage verkürzen zu können.

»Eagle Two an Eagle One, bist du wach? Over«, melde ich mich bei Levi über den Comlink. Mit Pa hatte ich gestern Abend schon Kontakt, habe jedoch das Gespräch mit Fynn mal vorsichtshalber ausgelassen.

Levi scheint noch im Tiefschlaf zu sein.

»Leeeeviiiii! Aufsteeeehen! Over!«, versuche ich ihn zu wecken.

»Alex? Alles okay bei euch?«, meldet sich Pa unverhofft.

»Eagle two an Papa Eagle, jep, alles im Grünen. Levi schnarcht vermutlich nur zu laut, um mich zu hören, over.«

»Schon an seine Tür geklopft? Der Comlink ist nicht laut genug um einen Levi im Tiefschlaf zu wecken.«

»Verstanden Pa, ich geh mal klopfen, over und out.«

Ich hämmere so hart ich kann an die dünne Stahltür. Jedoch bekomme ich keine Reaktion. Bei dem Lärm wäre Levi bestimmt wach, wenn er noch schlafen würde. Vielleicht ist er bereits zum Bazar oder in die Kantine. Würde ich ihm nicht übel nehmen, mein Magen knurrt ebenfalls.

Zurück im Zimmer informiere ich Pa kurz:

»Eagle Two an Papa Eagle, Levi ist nicht mehr in seinem Zimmer, vermutlich bereits bei der Mahlzeit, ich gehe mal nach. Man hört sich an der Oberfläche, over.«

»Okay, sei vorsichtig und meldet euch, sobald ihr draußen seid.«

»Roger, bis dann, over und out!«

Da ich nicht weiß ob wir nochmal zurück zum Raum gehen, ziehe ich mich noch kurz um. Die Gästebekleidung falte ich säuberlich zusammen und deponiere sie in dem Wandschrank. Keine Ahnung, ob die irgendwann gewaschen wird, aber Levi konnte ja nicht warten, um mir die Kleidungssystematik weiter zu erläutern. Nachdem ich den Schutzanzug wie gewohnt angezogen habe, schnalle ich den Helm an meinen Rucksack, damit ich ihn nicht rumschleppen muss, und laufe los. Danach durchquere ich das menschenleere Gästequartier und biege Richtung Bazar ab. Dort treffe ich auf ein reges Treiben. Auf beiden Seiten des breiten Bazar-Gangs befinden sich jetzt geöffnete Ladengeschäfte, welche allesamt gut besucht sind. Etwa einhundert Unbekannte, in Schutzanzügen oder Shirts mit violetten, blauen und grünen Logos auf der Brust, treiben sich in dem mindestens fünfzig Meter langen Gang herum und verschwinden zeitweise in einem der Geschäfte. Levi wäre leicht zu erspähen in der Menge, jedoch sehe ich im Moment keinen großen, bärtigen Mann in einem Anzug. Bei dem Anblick der vielen Menschen beginne ich daran zu zweifeln, dass mich Levi hier wirklich alleine lassen würde. Ich glaube, ich würde mich selbst hier nicht alleine lassen wollen. Macht er das absichtlich? Oder ist vielleicht irgendetwas passiert? Plötzlich fühle ich, wie sich eine Panikattacke ankündet. Was wenn Levi gar nicht erst in sein Zimmer gekommen ist? Levi würde mich doch nicht alleine lassen?! Verflucht nochmal, ich bin ein Idiot.

Anstatt wie bisher gemütlich durch die Gänge zu spazieren, renne ich los. Im Slalom zische ich um die, mich befremdlich anstarrenden Figuren herum in Richtung der Kantine. Nachdem ich den Bazar innerhalb weniger Sekunden abgelaufen habe, biege ich beim Wassertank zweimal links ab, direkt in den Bereich, wo wir unsere gratis Mahlzeit abholen könnten. Der riesige Raum ist zugestellt mit Tischen und Bänken, überall tummeln sich Menschen, welche bereits ihre Mahlzeit zu sich nehmen. Ich stehe direkt vor der automatischen Eingangstür und scanne den Raum so gut ich kann. Nichts. Am Rationen-Dispenser stehen zwei Wachmänner. Falls Levi hier war, haben sie ihn vielleicht gesehen. Im Schnellschritt laufe ich an der Schlange wartender Menschen vorbei und stoppe direkt vor einem der beiden Wachen.

»War vorhin ein großgewachsener Mann hier und hat sein Essen abgeholt? Über zwei Meter, Bart, kurze braune Haare, vermutlich in einem Schutzanzug?«, frage ich überhastet und außer Atem.

»Nicht das ich wüsste«, antwortet eine der Wachen uninteressiert.

»Junge, wenn du etwas zu essen willst, stell dich hinten an«, ergänzt der zweite Sicherheitsmann.

»Ich will nichts essen, ich suche meinen Freund! Ich kann ihn nicht finden!«, entgegne ich aufgeregt.

»Sorry Junge, wir merken uns nicht jeden, der hier seine Ration abholt. Also zisch ab, du hältst die Schlange auf.«

Ohne darauf einzugehen, drehe ich mich um und laufe zügig wieder zur Eingangstür. Die beiden sind keine Hilfe. Selbst wenn Levi hier war, wirklich aufmerksam ist hier niemand. Obwohl ich hier drin als Einziger in einem Schutzanzug rumrenne, habe ich das Gefühl, ich bin unsichtbar. Beim Zurücklaufen überfliege ich noch einmal den Raum, in der Hoffnung, dass ich Levi vorhin vielleicht einfach verpasst habe. Logischerweise ist das Wunschdenken. Was mache ich jetzt? An der Eingangstür bleibe ich kurz stehen und versuche, mich zu beruhigen. Die Aufregung vernebelt meine Urteilsfähigkeit. Bleib ruhig, Alex. Wo könnte Levi sein? Ist er vielleicht doch in seinem Zimmer? Nein, er hätte das Klopfen sicher gehört. Wenn er also nicht zum Zimmer zurück ist, wo ist er dann?

Das Thistle ist meine nächste Station. Dieses Mal völlig uninteressiert an den Bäumen, laufe ich direkt zum Eingang der Bar. Die manuelle Holztür ist abgeschlossen. Durch die Fenster sehe ich, dass der gesamte Raum leer ist. Geschlossen. Wenn Levi da drin irgendwo wider Erwarten rumliegen würde, könnte ich ihn von hier aus nicht erkennen. Ich muss David finden. Um schneller vorwärtszukommen, nehme ich den Helm, welcher mir beim Rennen zig mal in die Rippen geschlagen hat, vom Rucksack und ziehe ihn an.

In vollem Tempo eile ich zu New Bristols Eingang. Ich weiß nicht, ob David im Dienst ist oder ob die Wachpositionen rotieren, aber dort habe ich die besten Chancen. Die versteckte Tür bleibt anscheinend geöffnet, solange niemand von außen in die Schleuse geht. Die beiden Wachen, welche in voller Panzerung am Eingang auf verschiedene Bildschirme starren, schrecken kurz auf und ziehen ihre Waffen, als ich auf sie zu renne. Abrupt halte ich an und realisiere, dass ich vermutlich wie eine Bedrohung wirke. Außer Atem mustere ich die beiden Wachen.

»David?!«

Mir ist völlig bewusst, dass ich wahrscheinlich wie ein Verrückter erscheine.

»Nicht so schnell mein Freund, wo willst du denn hin in dem Tempo?«, fragt eine der beiden Wachen.

»Sorry, ich suche einen Offizier. David Hartman, ist er hier?«

»Dave, hm. Nicht hier, im Dienst in den unteren Stockwerken, soviel ich weiß.«

»Wie komme ich zu ihm?«, frage ich ungeduldig.

»Gar nicht, als Gast hast du keine Freigabe für die unteren Levels.«

»Ich muss aber zu ihm.«

»Dann musst du warten, bis seine Schicht vorbei ist und dann kannst du zum Eingang der Kaserne und dort nachfragen.«

»Dafür habe ich keine Zeit!«

»Pech für dich!«, antwortet der abgestumpfte Blechkopf.

»Ach Henry, sei doch nicht so ein Arschloch zu dem Jungen. Er hat offensichtlich ein Problem und braucht Hilfe«, mischt sich nun der andere, sitzende Wachmann mit genervter Stimme ein.

»Halt’s Maul Cash, du bist hier nicht der Boss!«, erwidert der erste wieder in einem abschätzigen Ton, der seinesgleichen sucht.

»Nein, nein, Henry, natürlich bist du der Boss. Ein hirn- und herzamputierter Boss, aber immerhin der Boss. So, ich muss schnell für kleine Wachmänner. Natürlich nur wenn du mich entschuldigst, Boss. Ach, eigentlich schnurzpiepegal, ob du mich entschuldigst, kannst mich ja bei Fynn verpfeifen, du Petze.« Ohne auf eine Antwort zu warten, oder Henry mit einem Blick zu würdigen, steht der jüngere Wachmann mit dem untypischen Namen ‘Cash’ auf und läuft zu mir. Bei mir angekommen, bleibt er kurz stehen und nickt Richtung Queen Square. Er scheint vertrauenswürdig, also folge ich ihm.

»Entschuldige den Halbaffen da hinten. Henry hat den Anstand nicht gerade mit Schaufeln gefressen«, sagt Cash, nachdem wir ein paar Meter entfernt sind. Beim Queen Square laufen wir zur Wand gegenüber dem Thistle. Er bleibt stehen.

»Leider kann ich Dave über meinen Comlink nicht erreichen, das kann nur die Zentrale. Die Channels sind für die meisten auf die Stockwerke begrenzt, sonst gibt’s zu viel Gelaber. Was brauchst du von Dave?«

»Mein Freund Levi ist verschwunden. In sein Zimmer komme ich nicht und sonst ist er auch nirgends zu finden. David ist ein guter Freund von früher und die einzige Person hier, die ich wirklich kenne.«

»Verschwunden? Wenn er nicht nach draußen ist oder ein Zauberer ist, kann er hier schlecht verschwinden. Wie heißt du?«

»Alexius. Oder Alex. Oder Lex.«

»Kay, Alexius Alex Lex, ich geh schnell in die Kaserne und bitte die Zentrale den Daveman nach oben zu rufen. In der Zeit gehen du und ich dann zu dem Zimmer von deinem Freund, check?«

»Okay. Danke für die Hilfe!«

»Kein Problem, dafür sind wir da. Die meisten auf jeden Fall. Glaube ich. Nicht Henry, der Intelligenzverweigerer. Bis gleich.«

Cash hält seinen Arm gegen die mit Steinen verzierte Wand vor uns. Wieder einmal, wie durch Magie, öffnet sich darin ein Durchgang, in dem er kurzerhand verschwindet. Die Anzahl an versteckten Türen hier ist irgendwie beunruhigend.

Ich setze mich auf eine Bank unterhalb einem der Bäume und atme kurz tief durch. Hoffentlich geht es Levi gut. Ich habe Angst. Er würde mich nie freiwillig hier so sitzen lassen. Die schlimmen Gedanken machen mir zu schaffen, aber ich probiere sie so gut wie möglich zu unterdrücken. Ich muss versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren. Trotzdem spüre ich, dass ich kurz davor bin loszuheulen. Reiß dich zusammen Alex.

Kaum habe ich mich ein wenig beruhigt, öffnet sich die versteckte Tür wieder und ein Wachmann tritt aus ihr heraus. Erst bin ich mir nicht sicher, ob es sich um Cash handelt, die Rüstungen sehen alle exakt gleich aus, bis auf ein paar Details die vermutlich den Rang identifizieren lassen, ich aber noch nicht interpretieren kann. Aber seine Körpersprache lässt mich ihn von den anderen, meist stramm stehenden, einschüchternden Wachen unterscheiden. Er wirkt eher gelassen, fast schon gleichgültig. Das macht ihn sympathischer als die gepanzerten Karbon- und Durillium-Blechbüchsen, mit denen ich heute sonst das Vergnügen hatte.

»Dave wird gerade informiert, er soll uns bei euren Zimmern treffen. Mit der hier«, Cash zückt eine der gläsernen Chipkarten »können wir schauen, was in dem Zimmer von deinem Freund so los ist. Masterkey!«

 

»Bist du bereit?«, fragt mich Cash vor Levi’s Zimmertür. »Es ist gut möglich, dass dein Freund regungslos da drin liegt.«

Seine Direktheit erwischt mich auf dem falschen Fuß. Genau solche Gedanken wollte ich mir nicht machen. Ich vergesse fast, zu atmen, und bringe keine Antwort heraus. Bevor ich mich fassen kann, hält Cash seine Chipkarte an die Tür »Wird schon schiefgehen!« Er reißt die Tür auf.

Als sie sich öffnet, sehe ich vor meinem inneren Auge all die Horrorszenarien, welche ich versucht habe, zu verdrängen. Aber der Raum ist leer. Keine Spur von Levi. Auch sein Rucksack mit dem Plastoglas, sein Anzug und sein Helm sind nirgends zu finden. Nur das dunkelgraue Shirt und die anthrazitfarbenen Hosen liegen zerknittert auf dem Boden.

»Ist das der richtige Raum?«, fragt Cash.

Ich nicke.

»Dann ist dein Freund anscheinend wirklich verschwunden. Immerhin lebt er. Vermutlich. Da bin ich erleichtert, ich hatte herzlich wenig Bock auf eine Leiche.« Cashs Mitgefühl ist alles andere als herzerwärmend. Ich versuche, es ihm nicht übel zu nehmen, wenigstens hilft er mir.

»Können wir herausfinden, wer noch hier drin war?«, frage ich mit Blick zum Comlink auf den Tisch.

»In dem Zimmer? Hier kommt nur die Person mit der spezifischen Chipkarte rein, oder eine Wache mit Bewilligung und Masterkey, so wie wir gerade. Wieso?«

»Levi würde mich nicht im Stich lassen«, antworte ich.

Mittlerweile habe ich eine Vermutung, wer dahinter steckt. Ich erinnere mich an ein altes heuristisches Prinzip: Ockhams Rasiermesser. Die einfachste Erklärung ist meistens die richtige und die einfachste Erklärung ist Cara. Aber wieso? Selbst wenn unser Plan gestern nicht aufgegangen ist, nach all dem, was ich über New Bristol gehört habe, wer würde es hier riskieren, für ein bisschen Plastoglas jemanden zu entführen? Und wenn es nicht um das Plastoglas ging, dann wieso Levi und nicht mich? Schlussendlich bin ich derjenige, der gelogen hat und bestimmt auch ein kleineres Risiko als der zwei Meter Mann.

»Alex?«, ertönt eine vertraute Stimme hinter uns an der Tür.

Ich drehe mich um und da steht David, Visier geöffnet. Sein Gesichtsausdruck ist mindestens so besorgt wie mein eigener. Es spendet mir Trost und gibt mir Hoffnung, dass ich nicht ganz alleine bin.

»David! Weißt du, wo Levi ist? Ging er gestern in Richtung Zimmer? Weißt du noch wann?«, schießt es aus mir heraus.

»Wieso, was ist los?«

»Ich kann ihn nirgends finden.«

»Er ging etwa um Mitternacht zurück in sein Zimmer. Bist du sicher, dass er nicht einfach beim Frühstück in der Kantine ist?«

»Dort habe ich schon nachgeschaut. All seine Ausrüstung ist weg und sein Comlink ist ausgeschaltet. Was wenn Cara ihn erwischt hat?«

»Falls sie das war, finden wir sie und ziehen sie zur Rechenschaft, bisher wissen wir aber noch nicht genug.« David schaut zu Cash. »Danke für deine Hilfe, Cash. Ich übernehme, du kannst wegtreten.«

»Nö«, antwortet Cash trocken.

»Was meinst du mit ‘Nö’? Du bist Rekrut, ich bin Offizier. Findest du die Antwort nicht ein bisschen respektlos?«

»Sorry Dave, war nicht so gemeint. Aber ich will nicht zurück zu Henry, dem Penner. Ich helfe lieber euch.«

»Henry ist dein Vorgesetzter, Cash.«

»Henry ist ein Arschgesicht, David.«

David verzieht kurz seine Miene, aber gibt dann nach: »Na gut. Ich informiere Henry. Schau dir die Überwachungsvideos der Schleusen an. Ebenfalls müssen wir die Logs prüfen, ob in der Nacht Bewilligungen für Master-Chipkarten herausgegeben wurden. Prüf das bitte, in der Zwischenzeit rede ich mit Alex und wir schauen uns hier um.«

»Verstanden Bossmann, bin gleich zurück!«, antwortet Cash und verschwindet schnurstracks aus der Tür.

»Alex, hast du Cav schon informiert?«

»Nein.«

David läuft zum Comlink und stützt sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab: »Du solltest ihn informieren.«

»Pa behandelt mich wie ein Kind. Ich will zuerst Levi finden.« In Wirklichkeit gebe ich mir selbst die Schuld an dem ganzen Fiasko. Ich muss das ausbaden, nicht Pa.

»Na gut, deine Entscheidung, du bist alt genug.« David steht wieder auf und sieht sich in dem Zimmer um. »Hier drin werden wir vermutlich nicht viele Hinweise finden. Ich sehe keine Anzeichen für einen Kampf oder einen Einbruch.«

»Könnt ihr nicht irgendwie Fingerabdrücke scannen oder sowas?«

»Wir haben schon ein paar Spielereien, aber sowas leider nicht. Und selbst wenn wir das könnten, hätten wir keine Datenbank. Vor allem nicht für Außenstehende wie euch«, antwortet David. »Gehen wir zu Cash, vielleicht finden wir so mehr heraus.«

 

 

Eigentlich dürfte ich nicht mit in diesen Teil der Kaserne, aber scheinbar hat David genügend Autorität, um die Regeln ein bisschen zu verbiegen. Durch den versteckten Eingang in der Steinmauer sind wir in einen weniger glamourösen Raum gekommen. Hier sind die Wände karg, in einem dunklen Grau, ebenso wie die Böden. Die Decken sind tiefer und die runden Lampen leuchten in einem kalten Weiss und blenden schon fast. Der erste Raum scheint eine Art Aufenthaltsraum zu sein, in dem sich ein paar Wachen gerade eine Mahlzeit gönnen. Vier Gänge führen entweder zu den Personalliften, den Ruheräumen, oder zu unserer Rechten zu der Schleuse, welche nur für das Sicherheitsteam gedacht ist. Mehrere kleine Einbuchtungen innerhalb der Gänge deuten auf weitere versteckte Türen. Vermutlich damit Sicherheitspersonal schnell und ohne Umwege zu den jeweiligen Orten gelangen kann. Ich hätte mehr Wachen in Rüstungen erwartet, bisher habe ich nur zwei entdeckt. Etwa ein Dutzend andere tummeln sich ohne entsprechende Uniform in den Räumlichkeiten herum.

David und ich begeben uns zu der Schleuse. Dort finden wir Cash und einen weiteren Herren, die sich an einem riesigen Bildschirm das Filmmaterial der letzten acht Stunden ansehen. Die Bilder darauf sehen aus, als wäre ein hellblauer Filter darüber gelegt, und verleihen den Eindruck eines klareren Bilds als meine eigene Sehkraft. Verrückt.

Cash hat seinen Helm ausgezogen und ich sehe das erste Mal sein Gesicht. Seine wuscheligen schwarzen Haare, sein Kinnbart und die eher feminineren Kurven seines Gesichts lassen ihn jünger aussehen, als ich wegen seiner Art und Körpersprache vermutet hätte. Sogar ich bin vermutlich älter als er. Dennoch wirkt er bereits erwachsener als ich. Mir wird immer bewusster, wie viel Auswirkung die Isolation unseres Zuhauses auf mich hatte.

»Cash, was gefunden?«, sagt David, während wir uns noch auf die beiden zu bewegen.

»Hey Boss! Nope, sieht bisher alles normal aus. Wir hatten nur zwei Gäste in der Nacht, aber die kamen rein, nicht raus. Security- und Bewohnerschleuse waren durchgehend leer.«

»Bist du sicher?«, fragt David.

»Jep, haben uns das Ganze jetzt zweimal im Schnelldurchlauf angesehen. Hier ist niemand raus.«

»Und die Masterchipkarten? Irgendwelche Aktivitäten dort?«

»Nope, nichts Neues. Ich vermute, eurem Freund wurde aufgelauert und dann die eigene Karte entwendet. Oder sie wurde im Vornherein gestohlen.«

»Also ist Levi noch irgendwo in New Bristol?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Nicht zwingend«, antwortet David mit besorgtem Blick zu Cash. »Cash, melde uns bei Mister Isaacs an.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752136920
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Hoffnung Post-Apokalypse Realismus Freundschaft Klimawandel Abenteuer Soft Sci-Fi Humor Jugendsprache Roman Dystopie Utopie Science Fiction

Autor

  • Mark B. Hives (Autor:in)

Geboren im mystischen Jahre 1988 in der idyllischen Schweiz, erzählt der Autor - also ich - seit mindestens 30 Jahren Geschichten. Einige Zeit lang erzählte er diese Geschichten in der Form von Musik. Der Sprechgesang hatte es ihm - also mir - angetan. Kleine Erfolge konnte er mit seinen Songs und Stories feiern, doch immer fehlte etwas. In der Hoffnung die Antwort auf diese Lücke in seinem Leben zu finden, begann er ein Buch zu schreiben. Ihm gefiel es. Also schrieb er es zu Ende.