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Der Axolotlkönig

von Sylvia Rieß (Autor:in)
200 Seiten
Reihe: Märchenspinnerei, Band 1

Zusammenfassung

Eine Träne im Wasser. Ein Splitter im Herzen. Ein verwunschener Prinz. Als der Spiegel ihrer Großmutter zerbricht, verliert Leonie mit der Erinnerung an sie auch den letzten Halt in ihrem Leben. In der Schule nur als Brillenschlange gehänselt und verlacht, hat sie längst aufgegeben dazugehören zu wollen. Ihr bleibt nur eine Möglichkeit, mit allem fertig zu werden. Eine beschissene Möglichkeit, wie Fynn meint. Nur kann er ihr gerade keinen guten Rat geben, weiß er ja selbst nicht einmal, warum er sich in Leonies Aquarium wiederfindet. Nur noch 20 cm groß mit glitschiger, kupferfarbener Haut und seltsamen Wucherungen dort, wo eigentlich sein Hals sein sollte, werden die zehn Quadratmeter ihres Zimmers seine neue Welt. Bevor er das Rätsel seiner Verwandlung allerdings lüften kann, enthüllt eine blutige Scherbe ihm Leonies bitteres Geheimnis. Nun hat er die Wahl: Will er weiter in Selbstmitleid baden, oder wird er die helfende Hand, die Leonie braucht? Froschkönig trifft Schneekönigin. Im Axolotlkönig spinnt die Autorin Sylvia Rieß die Elemente zweier weltbekannter Märchen in einer witzig-modernen und zugleich düsteren Romanze zusammen, die uns zeigt, wie wichtig es ist, die Welt manchmal mit anderen Augen zu sehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Axolotlkönig



Der Axolotlkönig


oder der kupferne Fynn



von

Sylvia Rieß


frei nach einem Märchen der Brüder Grimm



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Widmung



Für alle Leonies dieser Welt.

Prolog

Die junge Frau mit der Haut wie geschmolzene Nougatcreme muss für sich feststellen, dass sie das alles gar nicht mehr wirklich gewohnt ist.

Die stickig-schwüle Feuchtigkeit in der Hütte treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn, obwohl der Regen draußen gerade eigentlich für Abkühlung hätte sorgen sollen. Salzige Tropfen suchen sich den Weg zwischen den ebenholzfarbenen Brauen entlang den breiten Nasenrücken hinab und verirren sich auch von ihrem Nacken aus zwischen die Schultern.

Dort fangen sie sich im Nylongewebe des Sporttops und erinnern sie daran, dass es eine dumme Idee war, diese Kleidung zu wählen. Doch in den traditionellen, bunten Baumwollroben fühlt sie sich schon lange nicht mehr wohl. Keine Identität mehr für sie, bloß noch eine Verkleidung.

Ungeduldig wandern ihre Augen jetzt durch das schummrige Zwielicht der Hütte. Kurz streifen sie das frisch ausgeweidete Huhn auf dem Tisch. Die Gedärme liegen in einer Schale daneben. Der Geruch von Blut schwängert die Luft. Sie wendet sich ab.

„Was willst du hier, wenn dich das alles doch nur noch anwidert?“, fragt aus dem Dunkel des hinteren Raumes eine Stimme in schnellem, verwaschenem Französisch.

Die junge Frau muss über die Antwort lange nachdenken, ballt dabei die Fäuste um den Brief, den sie mitgebracht hat.

Eigentlich hat die Alte Recht. Eigentlich will sie nicht hier sein. Diese ‚Wurzeln‘, dieses Erbe, was ihr Gegenüber einst in ihr sah, das ist ihr kein Stück mehr vertraut, stößt sie nur noch ab.

Durch das zerknüllte Papier spürt sie allerdings die kleine Scherbe, die darin eingewickelt ist. Sie presst die Finger so fest zusammen, dass die Enden sich langsam in ihre Haut bohren.

Bevor sie jedoch hindurchschneiden können, hebt sie die Hand und lässt das Schriftstück mit seinem Inhalt auf dem Tisch neben die Teile des zerlegten Huhns fallen.

„Ich kenne jemanden, der dringend deine Hilfe braucht.“

Ihr klares, beinahe akzentfreies Englisch zerschneidet die dicke Luft und sie spürt förmlich, wie die Spannung zwischen ihr und der Alten wächst.

Diese macht keine Anstalten, von ihrer Waschschüssel mit Linsen wegzukommen und sich den Brief auch nur anzusehen.

„Viele Leute da draußen bräuchten sie“, entgegnet sie abweisend.

„Bon Maman“, bittet die Jüngere besänftigend und schiebt den Zettel in ihre Richtung, „sie ist ein Kind. Sie ist verzweifelt und allein, und wenn du ihr nicht hilfst, dann weiß ich nicht, wo sie Halt finden soll.“

Die Alte erhebt sich; gemächlich, langsam. Sie tritt an den Tisch, wischt die nassen Finger an ihrer bunten Schürze trocken. Sie sind dunkler, viel dunkler als die der jüngeren Frau.

Kurz begegnen sich die schwarzen und die schokoladenbraunen Hände, als die Alte den Brief entgegen nimmt. Sie wickelt ihn zunächst auseinander und lässt ihn dann achtlos fallen. Die kleine Scherbe hingegen, die darin verborgen war, dreht sie lange in der Hand hin und her.

„Ich weiß jetzt, warum du zu mir kommst“, sagt sie knapp. „Ist das ein Stück von dem, was sie verletzt hat?“

Die Jüngere nickt.

„Und das ...“, sie hebt den Brief hoch, hält ihn falsch herum.

„Darauf sind erst vor Kurzem ihre Tränen gefallen. Die brauchst du doch für den Zauber.“

Nun nickt die Alte.

„Und der Name?“, will sie als letztes wissen.

Die Jüngere druckst herum. Die schwarzen Augen ihres Gegenüber nageln sie allerdings fest.

„Sie nennt sich selbst ‚GhostGirl‘ in einem Internet-Forum. Das müsste doch reichen. Oder?“

Ohne ein weiteres Wort schleudert die Alte alles zurück auf den Tisch. Hühnerblut spritzt auf den zerknüllten Zettel und benetzt auch die Scherbe.

„Oma, bitte!“, platzt es aus der Jüngeren heraus. „Bitte, du musst ihr einfach helfen.“

„Du hast nichts gelernt! Du weißt, es ist gefährlich ohne den Namen. Den richtigen Namen.“

„Aber …“

„Kein Aber. Du weißt, was passieren kann.“

„Wenn du es nicht tust, werde ich ...“

„Gar nichts wirst du! Dafür habe ich dir die alten Lehren Ezilis nicht beigebracht. Du könntest alles nur noch schlimmer machen.“

Die Jüngere sieht das Zittern, das durch die Hände der alten Frau läuft. Sie weiß, das geschieht nur, wenn diese Angst hat.

Es macht sie wütend. Ihr Leben lang hat die Großmutter diese Zauber gesprochen; für so viele. Immer hatte sie sie einweihen wollen; verlangt, dass sie ihr Erbe antrete. Doch jetzt, jetzt, wo sie freiwillig kommt, obwohl sie doch schon so lange draußen ist aus all dem Elend und der Armut und dem Aberglauben, jetzt traut sie sich auf einmal nicht!

„Wenn du dir zu fein dazu bist, es für eine Weiße zu tun, also schön, dann werde ich selbst den Zauber sprechen.“

Sie klaubt die Sachen wieder vom Tisch, tritt durch den Vorhang aus gewebten Bananenblättern, lässt die stickige Luft und den Geruch nach Schweiß und Blut hinter sich.

„Nicht, Cecille!“, hört sie es noch hinter sich, „Du weißt nicht, mit was du dich da anlegst.“

1.

12. November


Fynn


Ich sprinte die Stufen hinauf, um noch rechtzeitig in die Aula zu kommen. Wir haben heute Vorspielen für das Schulfest nächsten Monat. Ausgerechnet da muss ich zu spät sein! Die Jungs werden mich steinigen.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, bemerke ich zu spät, dass mir jemand entgegen kommt. Wir rumpeln frontal zusammen. Ich kann mich gerade so noch abfangen. Sie knallt hin. Als ich mich umdrehe, um mich zu entschuldigen, sehe ich, dass es nur Brillenschlange ist.

„Pass doch auf, Mensch!“, fahre ich sie genervt an, dann haste ich weiter.

Völlig außer Atem komme ich in die Aula, wo Jonas zu erklären versucht, wo ich stecke.

„Alles cool, bin schon da“, keuche ich, werfe ein gewinnendes Lächeln in die Runde und schwinge mich mit einem lässigen Satz auf die Bühne.

Bis eben haben meine Beine gezittert und mein Herz raste wie ein Dampfkraftwerk. Jetzt streife ich den Gitarrengurt über die Schulter, trete vors Mikro und der Scheinwerfer trifft mich. Augenblicklich werde ich ruhiger. Das hier ist mein Element.

Ich höre wie Marv den Takt vorzählt.

„A one, a two, a one, two, three.“

Jonas haut in den Bass und ich in die Saiten meiner E-Gitarre. Dann rocken wir die Hütte.

Ich bin übrigens Fynn, Schüler der 10d am Goethe Gymnasium in … Ach egal! Das Provinzkaff kennt eh keiner. Hier will niemand wirklich bleiben und eines Tages gehe ich ohnehin nach Hollywood.

Woher ich das weiß? - Hatte ich schon erwähnt, dass ich Fynn bin? Der Fynn Kaiser. Der hipste Junge in der Stadt. Leadsänger und Gitarrist der 'Shattered Mirrors', der coolsten Band, die diese langweilige Schule je gesehen hat?

Dass wir super sind, brauche ich nicht extra zu erwähnen, oder?

Unser Musiklehrer hat gemeint, wir sollten mal bei 'Germany's got Talent' oder was ähnlichem auftreten. Unsere Songs sind selbst geschrieben. Unsere Musik ist echt und griffig. Nicht das übliche Popgesülze, das im Radio rauf und runter läuft.

Obwohl ich eben noch aus der Puste war, treffe ich jeden Ton. Ich sehe die Lehrerinnen im Publikum schmelzen. Selbst unser Direktor wippt mit dem Fuß im Takt mit. - Der Auftritt ist genehmigt, das weiß ich jetzt schon.

Wir beenden den ersten Song. Dann kommt der zweite, er ist gefühlvoller. Ich habe ihn extra geschrieben, um die Mädels zu beeindrucken. Man glaubt gar nicht, was man damit so alles erreichen kann. Sogar Cilly, die zwei Stufen über mir ist, hat nach einem Konzert in unserer Garage schon mit mir rumgeknutscht. Ich wette, das hätte sie nicht, wenn ich nur so ein Typ aus der Zehnten wäre.

Aber wie ich schon erwähnte, bin ich Fynn Kaiser. Mein Vater ist CEO von Kaiser Designs.

Opa war mal einfach ein kleiner Förster, der das Glück hatte, nicht beim Staat sondern in der boomenden Holzindustrie zu landen. Heute handeln wir mit Tropenhölzern und haben neben einer gut gehenden Designer-Möbelkette auch einen Vertrag mit einem Autowerk für Nobelflitzer, das von uns Echtholz-Innenarmaturen bezieht. In einem Wort: Mein Vater ist stinkreich.

Da er selbst auch so ein, zwei dieser schicken Karren bei uns rumstehen hat, ist unsere Garage an sich schon der Burner. Dort Konzerte zu geben ist das Jahreshighlight für jeden. Da wir aber nicht blöd sind, laden wir nicht jeden ein. Da wird der Hype gleich dreimal größer.

Das Einzige, was bisher noch nicht geklappt hat, war, uns auf Youtube bekannt zu machen.

Ich weiß nicht, wie diese Newcomer-Talente das machen, von einem auf den anderen Tag eine Million Klicks zu haben. Wir haben es mit 'Born to party' bisher nur auf dreitausend gebracht. Ich muss die Jungs dringend überreden, dass wir 'Soulmate' aufnehmen und online stellen. Das ist zwar nicht ganz unser Stil - weil so schnulzig - aber es ist viel mehr Mainstream. Das gibt bestimmt mehr Likes. - Und dann, dann werde ich endlich berühmt!

Das Licht in der Aula geht wieder an, es gibt Applaus, die Lehrer stehen sogar auf.

„Na geht doch, oder?“, raune ich Jonas und Marv zu.

„Ja, aber du hast es fast verkackt, weil du nie pünktlich sein kannst. Was war denn diesmal los? Dein Alter schon wieder?“

Darauf verfinstert sich meine Miene und ich nicke.

„Ja, mein Alter.“



Kaum haben wir unseren Kram von der Bühne geräumt, damit die Theaterfreaks mit ihren Proben anfangen können, verschwinde ich in Richtung der Toiletten. Ich schließe mich in einer der Kabinen ein und hole erstmal tief Luft.

Ich bin froh, dass wir das jetzt hinter uns gebracht haben. War eigentlich von vornherein abzusehen, dass wir spielen dürfen. Aber der Direktor macht immer einen Aufriss wegen der Formalitäten. Immer muss er raushängen lassen, dass er in allen Entscheidungen das letzte Wort hat. - Klar, wenn man daheim die Hosen schon nicht anhaben darf.

Dennoch bin ich nicht ganz so cool, wie ich nach außen hin wohl immer wirke. Grade nicht nach dem Auftritt, den mein Dad daheim wieder hingelegt hat. Sturzbetrunken, das Whiskyglas noch in der Hand; - dass es ein Dalmore Jahrgang 64 war, hat es nicht besser gemacht.

Kotze wegwischen noch vor dem Frühstück. Brauche ich unbedingt!

Und umziehen musste ich mich dann auch noch mal. Mann, Mann, Mann. Ich bin doch nicht sein Kindermädchen. Ich hoffe, er pennt einfach, bis ich heute Nachmittag wieder da bin.

Mit zitternden Fingern ziehe ich eine Zigarettenschachtel aus der Tasche. In der Schule darf nicht geraucht werden. Es tun trotzdem alle. Aber ich sollte mich nicht erwischen lassen. Hab schon zwei Verwarnungen. Bei der nächsten muss ich für vier Wochen die Schulklos putzen.

Fällt mir ja im Traum nicht ein!

Ich stecke die Zigarette an. Huste kurz beim ersten Zug, doch merke ich gleich, wie es mich beruhigt.

Ich bin jetzt kein Dauerraucher. Eigentlich paffe ich bloß; will mir ja die Lunge nicht ruinieren. Aber irgendwie brauch ich das manchmal, grade an 'nem Tag wie heute.

Nach außen müssen wir natürlich ein tadelloses Image pflegen. Auf qualmende Schmuddelrocker steht keiner mehr. Nein. Am besten sollte man ein tierlieber Öko sein, der in seiner Freizeit Elefantenbabys rettet.

Naja, vielleicht such ich mir eine entsprechende Beschäftigung, wenn ich wirklich mal berühmt geworden bin.

Ich höre die Unterrichtsglocke schellen. Dann quietscht die Tür. Hastig werfe ich die Zigarette in die Kloschüssel.

„Fynn? Bist du hier drin?“, meldet sich Marv.

Ich atme erleichtert aus und will ihm antworten, da passiert mit einem Mal etwas Seltsames.

Mir wird erst eiskalt und dann heiß. Etwas in mir zieht sich zusammen. Ein helles Klirren ertönt in meinem Kopf. Irgendwie riecht es nach Regen und muffiger Erde und Blut. Dann ist mir, als würde ich plötzlich keine Luft bekommen. Für Momente glaube ich, in einen schummerigen Raum zu blicken. Schwarze Augen aus einem dunklen Gesicht starren zurück. Erschrocken stolpere ich rückwärts, verliere den Halt, stürze und drehe mich ein paar Mal um mich selbst. Dann macht es 'platsch'.

Als ich wieder zu mir komme, bin ich pitschnass und schwimme in einer riesigen Wasserlache. Um mich her ist alles weiß. Wände, Boden, Decke - alles weiß.

Ich drehe mich verwirrt um. Ich will etwas sagen. Ich höre nur: „Blubb!“

Neben mir schwimmt ein Zigarettenstummel von gigantischem Ausmaß vorbei.

Ich will mir die Augen reiben, weil ich zu träumen glaube. Doch da, wo meine Arme waren, sind jetzt seltsam wachsartige Stummel mit kleinen Händchen und Schwimmhäuten zwischen den Fingerchen.

Ich schreie auf.

„Blubb!“

Ich glaube ich spinne. Nein, denke ich mir. Ruhig Blut. Du bist einfach umgekippt. Kommt schon mal vor bei Stress, und jetzt hab ich grade den abgefahrensten Traum überhaupt.

Ich mache die Augen zu. Zähle bis zehn.

„Blubb, Blubb, Blubb, Blubb, Blubb, Blubb, Blubb, Blubb, Blubb, Blubb.“

Als ich die Augen aufmache, bin ich immer noch in dem weißen Raum mit dem Wasser.

So langsam wird mir klar, dass es die Toilettenschüssel von innen sein muss. Die Zigarette schwimmt auch weiterhin neben mir.

Ich schiele nach oben und mein Blick bleibt kurz unter dem Rand hängen. Angewidert drehe ich mich weg. Für das, was da hängt, habe ich keine Worte, und die Kotze von heute Morgen scheint mir fast schon appetitlich.

Vermutlich hätte ich mich auch übergeben, wenn das in meinem momentanen Zustand möglich wäre. Doch außer einem Kribbeln in Körperteilen, die wie kleine Äste seitlich aus meinem Kopf herausragen, spüre ich gar nichts.

Verdammte Scheiße! Was geht hier eigentlich vor sich?!

Bevor ich allerdings weiter nachdenken kann, höre ich, wie sich erneut die Tür öffnet. Eine Stimme plärrt herum, die ich trotz der Verzerrung durch das Wasser eindeutig als Herrn Bochs identifiziere.

„In der Schultoilette wird nicht geraucht!“

„Ha..ha...ha...hab ich auch gar nicht“, stottert Marv.

Doch Herrn Bochs Geruchssinn kann man nicht täuschen. Ich höre, wie die Tür zu dieser Kabine aufgerissen wird, und er will anklagend auf den Stummel deuten, der als Corpus delicti in der Schüssel schwimmt, da fällt ihm die Kinnlade runter.

Aus meinem neuen Blickwinkel sieht das noch dämlicher aus als sonst. Ich gluckse vor mich hin. „Blubbblubbblubb!“

„Was ist das für ein Vieh?“, entfährt es Marv, der neugierig an die Schüssel herangetreten ist und mich beäugt.

Das hätte er besser nicht gemacht, denn Herr Boch haut ihm deftig eins auf den Hinterkopf.

- Ja, körperliche Züchtigungen sind in der Schule eigentlich verboten, … aber das ist noch nicht bis zu jedem unserer Pädagogen vorgedrungen.

„Als ob du das nicht wüsstest!“, staucht der Boch Marv zusammen und beschuldigt ihn: „Gib zu, du hast versucht, den armen Lurch hier zu ersäufen.“

Ein wenig angewidert, aber entschlossen, krempelt Boch seine Ärmel bis zum Pullunder hoch und angelt dann mit seinen dicken, kurzen Fingern ungeschickt nach mir. Als er mich schließlich in den Händen hält, grinst er zunächst triumphierend. Doch schon im nächsten Moment tritt panische Erkenntnis in seinen Blick und er sieht sich hastig um.

Ich selbst merke schon, dass mir das Außerhalb-des-Wassers-Seins nicht halb so gut bekommt wie die ekelige Toilettenbrühe. Meine Kiemen schreien nach Luft. - Eigentlich total paradox.

Herr Boch hastet mit mir in seinen Fingern durch die Gänge bis zur Rumpelkammer, holt einen Eimer und lässt frisches Wasser ein. Erleichtert tauche ich darin unter, als sein Griff mich schließlich wieder freigibt.

„Was ist das denn?“, höre ich nun immer mehr aufgeregte Stimmen um mich herum.

Dann schiebt sich ein Gesicht mit roten Bäckchen und einer riesigen Hornbrille über den Eimerrand.

Ambystoma mexicanum“, sagt die Brillenschlange altklug.

„Das ist ein Axolotl. Sie gehören zur Gattung der Schwanzlurche.“ - Als wär sie Scheiß-Wikipedia. - „Sie sehen auch im Erwachsenenalter wie Larven aus, weil sie nicht die für Amphibien typische Metamorphose durchmachen.“ - Japp, original Wikipedia! -

Ich sehe mich derweil in ihren dicken Brillengläsern und bin fasziniert von meinen schwarzen Knopfaugen, meiner kupfern schillernden Haut und dem breiten Maul, mit dem ich aussehe, als würde ich in einem fort grinsen. Dabei ist mir so ganz und gar nicht danach.

Axo … was bitte? Schwanzlurch? Ich? Wie konnte das passieren?

All diese Fragen schießen mir auf einmal durch meinen Kopf, während ich mir über eine Sache ziemlich sicher bin: Ich mag nicht die 'für Amphibien typische Metamorphose' durchgemacht haben, aber wenn das keine Metamorphose war, weiß ich es auch nicht!



Eine gute Stunde später, die sich der arme Marv vor dem Co-Rex und dem Direx erklären musste, obwohl er mit dem 'Amphib in den Toilettenräumlichkeiten', wie es im Protokoll jetzt offiziell lautet, nichts zu tun hat, ist entschieden, was mit mir passieren wird.

Herr Boch hatte ins Auge gefasst, ein Aquarium in der Eingangshalle einzurichten, um mich - quasi als Mahnmal - allen Schülern zu präsentieren, die nochmal auf die dumme Idee kommen könnten, ungeliebte Haustiere im Klo ertränken zu wollen.

Gott sei Dank wird daraus nichts. Ich hätte mir nichts Schlimmeres vorstellen können, als den ganzen lieben langen Tag in der Halle unten meine Runden schwimmen und das blöde Anschlagbord begutachten zu müssen. Außerdem wäre ich dann der fürsorglichen Pflege von Bio-Boch anheim gefallen, und der ist dafür bekannt, dass er sogar die Petersilie im schuleigenen Kräutergarten zum Welken gebracht hat – im verregnetsten Sommer seit Beginn des dritten Millenniums!

So bin ich seinen Stummelfingern zwar entkommen, doch die Alternative erscheint mir auch nicht wirklich verlockend.

Da Brillenschlange die Einzige zu sein scheint, die halbwegs etwas mit mir anzufangen weiß, und auch noch erwähnte, dass sie zwei 'Lotl' wie mich schon daheim hat, hat Direktor Berger mich kurzerhand ihr überlassen.

Super!

Leonie Kallenbach, mit vierzehn die Jüngste in der Klasse, die braunen Spaghettihaare immer zu Zöpfen geflochten, immer im Alternativlook mit Stulpen bis zu den Ohren, selbst im heißesten Hochsommer, ist so ziemlich der letzte Mensch, in dessen Zimmer ich den Rest meines Amphibiendaseins verbringen will. - Obwohl - besser als der Bio-Boch.

Aber allein, dass ich das denke, beweist mir, wie sehr ich noch immer unter Schock stehe. Erst so langsam beginne ich zu realisieren, wie bescheuert das ist.

Hallo?!

Ich, ein Amphib?

Ich, Fynn Kaiser, Fynn Legend, der größte Rockmusiker des nächsten Jahrzehnts, soll in einem Glaskasten bei Brillenschlange den Rest meines erbärmlichen Lurchidaseins fristen?

Das kann doch nicht angehen!

Wie ist das überhaupt möglich?

Ich merke, wie mir die Luft - äh das Wasser - im Eimer auf einmal zu dünn erscheint. Ich beginne mich an den pinken Wänden entlangzuschrauben wie ein durchgedrehter Brummkreisel und denke nur: 'Hilfe. Hilfe! Ich will wieder aufwachen.'

Doch das Erwachen kommt nicht.

Dafür höre ich nach gut einer halben Stunde, die ich, in meinem Eimer schwimmend, unter einem Bussitz zwischen den Beinen einer schweigenden Brillenschlange eingeklemmt war, einen erleichterten Seufzer.

Sie springt hastig auf, greift nach meinem Eimer. Er gerät ins Wackeln. Wasser schwappt über, ich fast mit.

Ich werde durch die Luft gewirbelt. Wieder schreit mein Lurchgehirn aufgrund des akuten Sauerstoffmangels auf. Ich gerate gefährlich nah an den rosa Plastikrand, sehe mich schon unter den Füßen lärmender Fünftklässler zertreten werden, die schnatternd den Bus verlassen. Da fängt Brillenschlange mich in letzter Sekunde auf.

Dann ruckt es nochmal. Der Bus hat angehalten. Brillenschlange ist mit mir im Eimer als erstes an der Tür und springt raus. Ich höre, wie ein paar aus unserer Stufe ihr noch etwas hinterherrufen. Doch bis ins Wasser dringt der genaue Wortlaut nicht durch.

Wir sind ungefähr zehn Minuten unterwegs, dann vernehme ich das Quietschen einer rostigen Gartentüre und sehe den Schatten einer Haustür über mir. Ein Schlüssel wird gedreht und wir betreten einen hellen Flur, der oben unter der Decke eine stilvolle grüne Musterborte hat.

„Bin zuhause!“, ruft Brillenschlange scheinbar ziellos in die Räume.

Es kommt keine Antwort. Aber sie hat offensichtlich auch keine erwartet, denn ohne Zeit zu verlieren schleppt sie mich ein paar Stufen hinauf.

Der obere Flur ist ebenfalls hell und, soweit ich das aus meinem eingeschränkten Blickwinkel beurteilen kann, modern eingerichtet. Dann öffnet sie eine weitere Tür und ich habe das Gefühl, dass schlagartig Nacht geworden ist.

Die Wände dieses Zimmers sind in dunklem Violett gestrichen. Es hängen Poster daran von Heath Ledger und ... meine Fresse! - Kurt Cobain ist doch so was von out!

Auch Amy Winehouses überschminktes Gesicht blitzt mich aus der Ecke an. Dazu ein paar düster aufgemachte Bilder von solchen alternativen Mittelalter-Punkrockbands.

Schauderhaft!

Ich werde zu einer kleinen Kommode getragen, die irgendwas zwischen antik und schäbig ist. Darauf steht ein Aquarium. Das einzige beleuchtete, helle und freundliche Objekt im ganzen Raum. Brillenschlange fischt mich aus dem Eimer und lässt mich dann in das Becken gleiten.

Es ist ungefähr einhundert auf fünfzig mal fünfzig Zentimeter lang, tief, hoch. Das also ist nun mein neues Zuhause. Dazu fällt mir nur eins ein: „Blubb.“

2.


Fynn


Nach dem Umbetten in mein neues Heim habe ich wohl erstmal so was wie einen Blackout gehabt. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, außer daran, dass ich in einer Ecke zwischen ein paar Pflanzen saß und immer nur im Kopf vor mich hin wiederholte: ‚Das darf nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein. Das ist alles ein schlechter Traum.‘

Dass es das nicht ist, davon bin ich überzeugt, als ich Dick und Doof kennenlerne. - So taufe ich spontan die anderen beiden Axolotl, die nun auf mich zu geschwommen kommen.

Der eine scheint mich für einen Stein zu halten, denn er stößt mich nur kurz an und schwimmt dann wieder weg. Der andere meint wohl, ich wäre ein fetter Nachmittagsimbiss. Er verbeißt sich direkt herzhaft in meiner rechten Kieme und ich muss mich ganz schön schütteln und wehren, bis ich ihn loswerde.

„Hallo Brillie!“, versuche ich zu rufen.

Die dumme Schnalle muss doch mitkriegen, dass mich ihr dumpfbackiges Haustierchen massakriert. Die kann mich doch nicht neu dazu werfen und dann nicht gucken!

Ich schaffe es vor Dickundhungrig zu fliehen und erhasche einen Blick auf Brillenschlanges Schreibtisch, der direkt neben dem Aquarium steht.

Sie sitzt davor, hat uns den Rücken zugedreht und hämmert mit den Fingern wie eine Bekloppte auf ihrer Tastatur rum.

So ein hohle Nuss!

Ich dachte, sie hat aus Intelligenz zwei Klassen übersprungen. Das hier ist nicht gerade ein Beweis für einen genialen Geist. Wie kann Facebook denn bitte wichtiger sein als ich?

„Hallo, ich bin dein neues Haustier!“

Ich trommle mit meinen Stummelärmchen gegen das Glas und konzentriere mich dabei einen Augenblick nicht auf das Wasser hinter, über oder unter mir und schwuppdiwupp, schon ist wieder der Dicke da.

Ich vermute fast, es liegt daran, dass ich eine andere Farbe habe, als die beiden. Sie sind pink mit dunklen Knopfaugen und sehen aus wie blasse Clowns.

- Wenn ich bis heute noch keine Clownphobie hatte, dann spätestens jetzt. Danke Schicksal! -

Zu meinem Glück sind die beiden aber nicht die einzigen Bewohner meines Glasgefängnisses. Es gibt auch noch einen blauen Krebs.

Als Dickerchen zum dritten Mal versucht, mich anzuknabbern, kommt er angeschwommen und wirft sich dazwischen. Vor seinen Scheren hat die rosa Dumpfnase offensichtlich Respekt, denn er zieht erst einmal ab.

Den Krebs taufe ich derweil Jaques. Irgendwie sieht er französisch aus, finde ich. Außerdem hält er vornehm Abstand zu mir; immer drei Schritte, nie näher dran, nie weiter weg. Dabei beäugt er mich mit scheelem Blick.

Das verschafft mir Zeit zu verschnaufen und meine lädierten Kiemen einer genaueren Inspektion zu unterziehen. Ich stelle fest, dass an einer Stelle ein Stück fehlt und es blutet. Es tut sogar weh.

Ich wusste gar nicht, dass Amphibien Schmerzen spüren können. Aber offensichtlich können sie. Und hungrig können sie auch werden. Superhungrig!

Durch den verkorksten Start in den Tag dank meines Dads hatte ich ja nicht mal Frühstück. Ich hoffe Leonie kommt bald mal von ihrem dummen PC weg und füttert uns.

Was fresse ich jetzt eigentlich so?

Ich sehe mich im Aquarium um. Der Boden besteht nicht aus Sand, wie ich es irgendwie erwartet habe, sondern aus glatten, runden Perlchen, die eher nach Deko als nach artgemäßer Einstreu ausschauen. Es gibt ein paar Pflanzen und Kunststeine, um sich darunter zu verstecken. In einer Ecke steht eine kitschige Schatzkiste, in der Glasedelsteine und ein Ring liegen. Der sieht aus wie aus einem Kaugummiautomaten.

Vorsichtig schwimme ich zu der Scheibe, durch die ich Leonie über die Schulter sehen kann. Sie tippt noch immer. Dann aber sind plötzlich Schritte aus dem Flur auf der Treppe zu hören. Leonies Finger halten über der Tastatur inne. Sie lehnt sich zurück und ich kann zum ersten Mal auf das Dokument schauen, das sie offen hat.

Mit dem Maul an der Scheibe klebend lese ich:


12. November im beschissensten Jahr meines Lebens


Mama musste heute weg. Nach Hamburg. Nur für ein paar Tage, hat ihr Chef gesagt. Aber das können schnell auch mal zwei Wochen werden.

Ich soll brav sein, hat sie gesagt, und Papa keinen Ärger machen. Der hat so viel zu tun wie noch nie zuvor.

Dabei weiß ich das. Ich bin ja kein Baby mehr. Sie braucht es nicht immer extra zu sagen.

In der Schule war es grausam - wie immer. Mein Aufsatz in Deutsch ist ne glatte Eins geworden. Jetzt muss ich mich wieder tagelang Streber nennen lassen und das hässliche Bild von mir und der Brille wird auch wieder die Runde auf Facebook machen.

Ich überlege, ob ich die nächste Hausarbeit einfach mal nicht abgebe. Ich kann die Kommentare bald nicht mehr hören. Vor allem, weil wirklich jeder in der Klasse mitmacht.

Ich hasse sie! Vor allem Stacey. Sie ist die Schlimmste. Aber die Lehrer machen ja auch nichts.

Inkompetente Idioten.

Kein Wunder, dass Papas Praxis bis unters Dach voll ist mit Kindern, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen.“



Leonie scheint ihr Geschriebenes auch noch einmal gelesen zu haben und ist wohl wild entschlossen, den Ergüssen ihrer Seele weitere Zeilen hinzuzufügen, als es an die Tür klopft und eine tiefe Männerstimme zu hören ist.

„Leo?“

Entnervt schiebt sie den Stuhl zurück, macht aber keine Anstalten aufzustehen.

„Was?“, fragt sie und dreht sich in Richtung Tür um.

Dabei lehnt sie sich soweit vor, dass ich jetzt auch das Fenster neben dem Textdokument einsehen kann. Es ist ihr Facebook-Profil. Unter dem Nachrichten-Globus in der Ecke rechts hängt ein rotes Fähnchen mit einer Achtundzwanzig und drei neue Privat-Nachrichten sind eingetroffen.

„Scharfes Bild“, hat eine 'Vi Cky' kommentiert und eine 'Ana Stacia' schreibt: „Mit den Bauklötzen vorm Gesicht wohl eher unscharf.“

Das Foto dazu kenne ich. Das kennt jeder in der Klasse. Es ist schon gut ein halbes Jahr alt. Darauf sieht man im Vordergrund zwei süße Mädels, die einen Kussmund machen. Die eine hat langes, glattes, nachtschwarzes Haar und betörend blaue Augen. Das ist Stacey. Die andere ist blond. Staceys beste Freundin Carlotta. Im Hintergrund sitzt unser Streberlein mit ihrer Lesebrille und den obligatorischen Zöpfen. Außerdem verzieht sie grade das Gesicht ganz komisch, ich weiß nicht mal mehr warum. Vielleicht hatte sie in einer Deutscharbeit mal nur eine Zwei Plus geschrieben. Auf jeden Fall war es so gut, dass Marv das einfach für die Ewigkeit festhalten musste.

'Vom Streberlein gefotobombt. #Brillen-schlange', steht drunter. *grusel*, hat Stacey kommentiert.

Ich kichere. Luftblasen steigen auf. Die tiefe Männerstimme fragt gerade zum dritten Mal, ob sie reinkommen darf. Doch Brillie ignoriert es völlig und klickt die übrigen Kommentare durch. 'Heute schon ein blödes Gesicht gemacht' oder 'Habe deine schicke Brille vermisst' steht da. Auch der Rest ist in einem ähnlich sarkastischen Tonfall gehalten und nach der vierzehnten dummen Bemerkung über ihre Brille, vergeht selbst mir das Glucksen.

Sie beendet Facebook mit einem unsanften Schlag auf die rechte Maustaste, schiebt sich vom Bildschirm weg und springt auf. Unauffällig wischt sie sich mit den Stulpen übers Gesicht und greift nach der Klinke. Dann kommt sie aber nochmal zurück und schließt das Dokument, in dem sie gerade geschrieben hat, bevor sie mit einem genervten Augenrollen auf den Flur tritt.

Der Raum ist leer und ich kann nun auch auf den Rest des Bildschirms schauen, wo noch zwei offene Fenster nebeneinander hängen. Da ich eh gerade nichts Besseres zu tun habe, schwimme ich so dicht es geht an die Scheibe und lasse meine schwarzen Knopfaugen zu einem davon huschen. Axolotl-Freunde-Forum kann ich in Knallgelb auf grünem Hintergrund lesen.

Ach du Scheiße! Es gibt da hunderttausend verschiedene Threads mit nur einem einzigen Thema: Schwanzlurche.

Ich habe das dringende Bedürfnis mir mit der flachen Hand vor die Stirn zu schlagen. - Doch nein, geht ja nicht. Arme zu kurz.

Als nächstes frage ich mich, was man denn wirklich so den lieben langen Tag über meinesgleichen zu berichten hat.

Ich wende den Kopf zu Dick und Doof, die mit den dauergrinsenden Schnauzen auf den Kügelchen am Boden kleben und irgendwelche braunen Pellets inhalieren. Besonders unterhaltsam sieht das nicht aus. Mehr als 'meiner ist immer noch nass und glitschig' kann man da doch nicht austauschen.

Ich starre wieder den offenen Thread an. Er enthält jede Menge Fotos. Wohl alles die Tierchen von Forumsmitgliedern. 'Lotl' nennen die Spinner sie in der Verniedlichung und geben ihnen sogar Namen. Eigentlich interessiert mich das alles nicht, doch dann bemerke ich schnell, dass sie alle irgendwie unterschiedlich aussehen.

Manche sind dunkel, fast schwarz, andere gescheckt und wieder andere sehen aus, als hätten sie sich nicht entscheiden können, was sie eigentlich sein wollen, weil die rechte Körperhälfte anders aussieht als die linke.

'„Flecki“, Harlekin' steht unter einem Bild von einem Axolotl der weiß mit schwarzen unregelmäßigen Tupfen ist. Ein anderer, goldfarbener heißt „Maya“ und der optische Zwilling dazu „Willi“. 'Goldalbino' ist hinter beiden vermerkt.

Ich suche die Bilder durch, doch finde auf Anhieb nur einen, der so aussieht wie ich. Ebenfalls mit rostroten Flecken und diesem Hauch Rosa auf der sonst hellen Haut. '„Smaug“, Copper' lautet der Vermerk unter dem Bild.

Ich staune nicht schlecht. Ich habe mich also nicht nur in eine Spezies verwandelt, um deren Existenz ich bis vor wenigen Stunden nicht einmal wusste, ich bin offensichtlich auch noch eine Farbrarität.

Ha! Selbst so ein dummer Hokuspokus kann nichts daran ändern, dass ich einfach immer etwas Besonderes sein werde. - Ich, Axolotl-Fynn, ein Copper!

Meine Euphorie über die Entdeckung verfliegt aber schnell wieder, denn mehr als 'Blubb' sagen, kann ich damit immer noch nicht.

Wäre ich ein Meerschweinchen oder ein Hamster, dann hätte ich nicht nur süße Knopfaugen und Flauschefell sondern auch scharfe Zähne und könnte mich aus meinem Käfig herausnagen. Selbst als Frosch würde es mir besser gehen, denn dann wäre ich nicht auf das Wasser angewiesen und könnte irgendwie entkommen, um … Ja, um was eigentlich zu tun?

Ich habe keine Ahnung, was da vorgefallen sein könnte, und somit auch keinen Plan, wo ich anfangen sollte, nach einer Lösung zu suchen.

Es ist einfach zum Haareraufen!

Ach ja, stimmt! Haare habe ich ja auch keine mehr.

Dafür tun mir die Kiemen weh, da, wo der blasse Fettsack mich gebissen hat. Es blutet auch immer noch ein wenig, aber Brillie hat das noch nicht einmal bemerkt.

Ich schaue kurz zu dem zweiten Fenster auf dem Bildschirm. Noch ein Forum. Hat sie eigentlich noch was anderes zu tun, als in irgendwelchen schrägen Internet-Communities rumzuhängen?

„Schleiertänzer“ kann ich gerade noch entziffern, doch der Rest ist zu stark verkleinert.

Mit einem Blubb drehe ich mich von der Scheibe weg und gerate ins Grübeln. Am Ende dieses Tages wollte ich eigentlich mit den Jungs feiern, dass wir nen neuen Auftritt haben, und vielleicht hätte ich Stacey sogar ins Kino eingeladen. Bis zum Weihnachtskonzert wollte ich mit ihr angebandelt haben. - Hübscheres Armcandy finde ich in der ganzen Stufe nicht. - Aber jetzt sitze ich hier. Nix mit Band. Nix mit Stacey.

Ich bin etwas, was ich noch nicht so oft in meinem Leben war: ratlos.

Bisher hat sich immer irgendwie eine Lösung für alles gefunden. Im Zweifelsfall war das dicke Portemonnaie meines Alten Herrn die Antwort auf selbst ausweglos scheinende Situationen. Aber das hier, - das ist so schräg, dass ich nicht weiß, wie ich hier wieder herauskommen soll.

Under the sea … down there it's better, cause there it's wetter ... take it from meeeeeeeee!‘, singe ich im Kopf vor mich hin, denn etwas anderes fällt mir grade nicht ein.

Bevor ich aber noch in weniger als zwei Stunden völlig meschugge werden kann, fliegt die Tür wieder auf und Brillenschlange stürmt herein.

„Nein, mir geht es gut! Ich will nichts essen!“, schreit sie über die Schulter, schlägt dann die Tür hinter sich zu und dreht den Schlüssel um.

Sie kommt zurück zum PC, schmeißt sich in ihren Sessel und hockt eine Weile einfach nur mit verschränkten Armen und trotzigem Blick davor.

Etwa zehn Minuten hält sie das durch, gibt danach ein sonderbares Schnauben von sich und wendet sich wieder der Tastatur und dem Bildschirm zu. Mit zwei Klicks ist ihr Dokument von vorhin wieder aufgerufen.

Auch da starrt sie zunächst nur drauf und kaut auf der Unterlippe herum. Dann schlägt sie von einer auf die andere Sekunde mit der flachen Hand auf die Tastatur ein. „OPLO:DIK;SODIOSOIERWOERRL:“, steht jetzt da.

Ihre Finger zittern, zucken kurz zum Löschen-Button, entschließen sich aber letztendlich, es in ihrem bisher Geschrieben stehenzulassen. Wie eine hässliche dicke Buchstabennarbe.

Bevor sie die arme Tastatur ein weiteres Mal malträtieren kann oder zum Weiterschreiben kommt, klopft es aber schon wieder.

„Was noch?!“, fragt sie genervt.

„Magst du deinem alten Vater vielleicht mitteilen, womit er dich grade so tödlich beleidigt hat?“, höre ich die tiefe Stimme.

Sie klingt nett und ein wenig besorgt.

„Nein!“, gibt sie bockig zurück.

„Magst du dann nicht doch essen kommen?“, fragt ihr Vater versöhnlich.

„Nicht, wenn du kochst“, zickt sie weiter.

„Soll ich Pizza bestellen?“, fragt er und es klingt wie ein Friedensangebot. Doch von ihr kommt keine Antwort.

„Also Salami mit Ananas und Sardellen, wie immer“, stellt die tiefe Stimme fest.

„Ja“, ist alles, was sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorbringt.

„Alles klar, in einer halben Stunde ist sie da. Kann ich nicht doch reinkommen?“

Die Klinke wird gedrückt und es rüttelt an der Tür.

„Ich mach Hausaufgaben. Du störst“, bleibt sie stur.

Darauf kommt auch von der anderen Seite der Tür keine Antwort mehr. Man hört Schritte sich auf dem Flur in Richtung Treppe entfernen. Brillenschlange atmet tief ein und schließt die Augen.

Eine Weile sitzt sie noch wie erstarrt, dann aber fliegen ihre Finger wieder über die Tastatur wie die einer Besessenen. Ich kann nur leider nicht mehr erkennen, was sie schreibt. Ihr Kopf ist im Weg.

Ich drehe mich also um und schwimme zum Grund, wo ich vielleicht noch ein paar von diesen grau-braunen Pellets finde. Ich habe wirklich Hunger und würde, glaube ich, alles vertilgen. Sogar so ein Bein von Dick oder Doof sieht plötzlich schmackhaft aus.



3.


13. November


Leonie


Der Wecker klingelt. Es ist Dienstag. Das weiß ich sofort, weil Dienstage die grausamsten Tage der ganzen Woche sind. Ich will liegen bleiben. Einfach nichts tun, starre an meine Zimmerdecke und verliere mich in dem dunklen Violett.

Ach ja, ich sollte mich vielleicht erst einmal vorstellen. Mein Name ist Leonie Kallenbach. Und das ist damit auch alles Tolle an mir.

Leonie, die Löwin. Oder wie der spartanische König Leonidas.

Also, nicht wie diese Muskelvariante aus dem Kinofilm „300“. Nein. Wie der König Leonidas, den es wirklich gegeben hat.

Er war aus Sparta, aber er hat die Schlacht an den Thermopylen damals nicht gewonnen. Im Jahr 480 vor Christus hat er es lediglich geschafft, mit einer wesentlich geringeren Truppenstärke dem riesigen persischen Heer große Verluste beizufügen. Es waren dabei auch nicht nur 300 Mann. Es waren unter anderem 300 Hopliten, ja. Das sind …

Oh nein! Ich tue es schon wieder, nicht wahr?

Kein Wunder, dass alle mich hassen. Ich hasse mich ja selbst dafür, immer alles und jedes noch so winzige Detail zu allem zu wissen, was ich jemals irgendwo gelesen habe. Wenn ich mich ja wenigstens beherrschen könnte und die Klappe halten würde.

Warum kann ich nicht einfach so sein wie andere Mädchen: hübsch, mit einem Sinn für guten Geschmack, und dem, was grade in ist?Vielleicht sogar mit einem schicken Modeblog?

Aber nein. Sowas interessiert mich nicht. Stattdessen musste ich als Büchernerd auf die Welt kommen.

Wenn ich früher mit Oma darüber geredet habe, hat sie immer gelacht und gesagt, dann bin ich eben ihr kleiner Büchernerd, und sie mag mich, so wie ich bin.

Aber was bringt es mir, mich für Dinge zu interessieren, über die ich mit keinem reden kann? Nur mit den Lehrern? Und dann halten mich alle wieder für einen Schleimer und eine Streberin.

Oma hat übrigens auch gesagt, Violett sei die Farbe der Seele, spirituell und magisch und heilend. Je länger ich aber nach oben starre, umso schlimmer fühle ich mich.

Oma …

Sie hat so viel gesagt. Nur heute sagt sie nichts mehr. Nie wieder.

Der lästige Wecker klingelt zum zweiten Mal. Ich würde ihn am liebsten einmal quer durchs Zimmer schmeißen. Nur bringt das halt auch nichts.

Kurz überlege ich, ob ich einfach krankmachen soll. Ich will nicht in die Schule zu den anderen. Nie wieder.

Stacey und ihre Clique lassen mich ja doch nicht in Ruhe. Und in der fünften und sechsten Stunde haben wir auch noch Sport. Gymnastik im Langarmshirt kann wirklich unangenehm sein.

Ich will mich umdrehen. Da klopft es an der Tür. Das ist Papa.

„Nein!“, schreie ich.

Er soll sich wagen, hier einfach so reinzuplatzen, wenn ich nicht angezogen bin!

„Ich hab Frühstück gemacht“, höre ich ihn sagen, während ich mir das Kissen ganz fest auf die Ohren drücke.

Mit zugekniffenen Augen wünsche ich mir dabei, dass ich einfach noch träume und gleich nochmal der Wecker schellt und es dann Omas Stimme ist, die durch die Tür kommt.

'In Tagen, als das Wünschen noch geholfen hat ...', denke ich an den liebsten Satz aus meinem Märchenbuch und weiß doch, dass es diese Tage nicht gibt und nie gegeben hat.

Ich seufze und stehe auf.

Meine Klamotten liegen noch von gestern vor dem Bett, da, wo ich sie fallen gelassen habe. Ich husche schnell rüber in mein Badezimmer und dusche mich kurz. Dann zieh ich mich an.

Vor dem Fenster ist es bewölkt. Also ist heute ein grauer Tag. Graugrüne Leinenhose, graugrünes Oberteil, als Farbklecks hellgrüne Armstulpen und Omas Muschelkette. Zack fertig!

Vom Aquarium aus guckt mein neuer Lotl mich ganz süß mit seinen Knopfaugen an.

Wieso sind diese Dinger eigentlich so goldig und dann leider nicht dafür gemacht, dass man sie streicheln kann?

Ich gucke ihn mir noch einmal genau an. Er ist ein sehr schönes Tier. Ziemlich groß und kräftig. Ich kann gar nicht verstehen, dass Marv so welche hat. Also Lotl im Allgemeinen. Der würde ja nicht mal Salinenkrebse pflegen können.

Ich lege sanft meinen Finger an die Scheibe und habe das Gefühl, der Kleine will mit mir reden. Er kommt ganz nah geschwommen und beäugt mich von oben bis unten.

Ob die Copper klüger sind als die Pinkies? - Muss ich gleich mal im Forum nachhören.



Fynn


Und zack wendet die Dumpfbacke sich von mir ab und hat schon wieder die mumienmäßig einbandagierten Hände über der Tastatur ihres ständig laufenden PCs.

Ist das Ding irgendwie lebenswichtig für sie, frage ich mich. Ich meine, sogar nachts, wenn sie schläft, ist es an. Und andauernd macht es 'pling'.

Die fünfunddreißig neuen Facebook-Meldungen klickt sie heute aber einfach weg und tippt wie wild etwas auf der Forenseite für diese Axolotlspinner. Dann springt sie auf und zerrt eine Kamera aus ihrer Tasche. - Wow, gar kein schlechtes Teil. - Aber, ih! Nein!

„Weg! Ich will nicht, dass mich jemand so sieht. Hör sofort auf damit!!“

Ich schreie sie an, während sie ein Bild nach dem anderen von mir schießt. Als ich merke, dass Verhandeln nicht hilft, versuche ich verzweifelt, mich hinter den Büschen in Sicherheit zu bringen.

Auch das klappt nicht so ganz und entlockt der Brillenschlange hinter der Kamera nur weitere Quietschlaute der Entzückung. Ich drehe mich zur Seite weg und starre in Jaques neugieriges, blaues Gesicht.

„Was willst du eigentlich, du Hohlfrucht?“

Wie immer ertönt allerdings nur ein „Blubb?“ aus meinem aufgerissenen Maul.



Leonie


Ich höre unten Papa verdächtig laut mit den Schüsseln und dem Geschirr klappern. Gleich wird er wieder ungeduldig hochkommen und mir nen Vortrag halten, dass ich nicht immer so ewig im Bad rumhängen soll.

Dabei mach ich das ja gar nicht. Ich will nur Pirats neue Bilder schnell noch einstellen.

Lotilinchen347 hat gestern schon nachgefragt, nachdem wir endlich einen Namen für das Kerlchen gefunden hatten.

Sie hat selbst auch einen Copper. Aber ich finde ihren Smaug nicht halb so schön, wie meinen kleinen neuen Freund.

Oh, guck mal, eine neue Nachricht von Mamba! Ist sie echt schon aus Nigeria zurück? Sie muss mir alles erzählen.

Das ist so cool, dass sie wirklich eine Oma da unten hat. Nach dem, was sie mir bisher so von ihr erzählt hat, muss die sowas wie ne Schamanin sein. Einfach abgefahren.

„Leeeeeeeeeeeeeeeeooooooooooooooooooooo!“

Ach man, doof. Papa schreit, dann ist jetzt echt höchste Eisenbahn.

Ich springe auf. Mamba muss auf ihre Antwort dann wohl noch warten. Hastig greife ich nach meiner Schultasche. Über dem Beutel mit meinen Sportsachen zuckt meine Hand kurz.

Aber nein! Kommt ja gar nicht infrage. Soll mir die Nolte doch nen Verweis schreiben. Vielleicht steh ich dann nicht immer ganz so als Lehrers Darling da.





Fynn


Rumms! Die Tür ist zu! Und ich hocke hier, völlig hilf- und ahnungslos, ausgeliefert der tödlichen Langeweile, Jaques inquirierendem Blick und den beiden fetten Fresssäcken, die schon wieder gefährlich nah in meine Richtung kommen.

Hätte Brillenschlange uns nicht wenigstens noch füttern können? Hat die denn gar kein Herz?

Nicht wirklich wissend, was ich mit mir anfangen soll, schwimme ich zurück zur Scheibe, durch die ich auf Leonies Bildschirm schauen kann. Er ist immer noch an. Nicht mal in den Energiesparmodus hat sie ihn gestellt. Jetzt blinkt da die ganze Zeit dieser rote Balken über der Nachricht.

'Von Schwarze Mamba' lese ich.

Ja, das passt zu Brillenschlange, sich mit so Leuten abzugeben.

Die Seite sieht mit dem schwarz-violetten Hintergrund und der unendlich aufdringlichen Werbung für Handleser und Kartenleger auch verdächtig nach einem Esoterik-Forum aus.

Ich wusste ja schon, dass sie nicht normal sein kann. Aber das?

Eigentlich will ich mich gar nicht weiter dafür interessieren, doch der PC scheint auch fünfzehn Minuten später noch kein Auto-Standby zu kennen und die dumme Nachricht blinkt weiterhin wie blöde. Außerdem bin ich bereits die siebzehnte Runde im Kreis durch das Aquarium geschwommen.

Weiß sie, wie klein sich das von hier drinnen anfühlt?

Schlimmer noch als diese chaotische, verdreckte Innenstadtwohnung des schleimigen Scheißkerls, mit dem meine Mutter angebandelt hat. - Was sie an dem findet, das weiß ich auch nicht.

Neben meiner beschissenen Situation kommt mir nun meine beschissene Familie in den Sinn.

Ob mein Alter überhaupt schon gemerkt hat, dass ich fehle?

Meiner Mutter dürfte es so ziemlich egal sein. Für sie ist nur Robby das Goldsöhnchen, dem sie ständig nachrennt und mit dem sie dauernd telefoniert hat. Ich war mehr oder weniger nur der letzte Versuch, ihre kaputte Ehe zwölf Jahre später noch einmal zu kitten.

Missmutig schüttle ich den Kopf. Es ist unwahrscheinlich, dass in den nächsten einhundert Stunden überhaupt jemandem auffällt, dass ich fehle. Dann könnte sich zumindest Robby daran erinnern, dass ich Geburtstag habe, und versuchen mich anzurufen.

Marv wird vermutlich denken, ich habe meine Drohung endlich wahr gemacht und bin nach Amerika abgehauen. Zutrauen würde er mir das. Er glaubt leider alles, was ich mit meiner großen Klappe von mir gebe.

Ich haue mit dem rechten Stummelarm ins Wasser. Der Effekt ist erbärmlich nicht vorhanden. Mein Blick wandert zurück zu der aufdringlich leuchtenden Nachricht.




Na, du kleiner Trauerkloß.


Ich hoffe, die letzte Woche war nicht ganz so arg wie sonst. Habe dir gute Laune und ein Geschenk mitgebracht. Es ist bereits beim Paketversand abgegeben und auf dem Weg in dein Postfach. Ich hoffe, es bringt ein wenig Farbe in dein Leben.


P.S. Hast du eigentlich das kleine Experiment versucht, von dem wir zuletzt gesprochen haben?


Fühl dich einmal in den Arm genommen,


Mamba“


Aha, denke ich mir und zucke mit den Schultern.

Von was für einem 'Experiment' diese Mamba da redet, will ich vermutlich gar nicht wissen. Vielleicht opfern die Frösche um Mitternacht oder … Ein Schaudern fährt mir durch die glitschigen Gliedmaßen … Am Ende opfern die Axolotl!

Nein. Komm jetzt, Fynn. Beruhige dich mal wieder. Du wirst ja schon paranoid!

Dankbarerweise wende ich mich der neuen Nachricht zu, die blinkend auf dem Bildschirm erscheint. Von einem 'Poison_17'.

Ernsthaft?

Könnt ihr Emos euch nicht kreativere Namen geben.


Hallo GhostGirl,


Haben uns ja länger nicht geschrieben. Was war los? Und immer noch kein Bild? Schade.

Ich müsste eigentlich grad in der Schule sein. Aber hey, das Leben ist zu kurz für sowas.

Warum machen wir nicht morgen zusammen blau?

Ich kenn da ne stille Ecke unten am See. Nur Wasser und Wind und keine Menschen, keine Computer, kein Facebook. Kein ätzender Scheiß.

Ich habe neue Gedichte geschrieben. Also, wenn du magst. Du weißt, wo du mich findest.


Poison“


Ich geb es auf!

In ihrem Leben scheint es nicht eine normale Person zu geben. Schule schwänzen um sich gegenseitig an nem See Gedichte vorzulesen? - Wow!

Und GhostGirl? - Du bist nicht schräg, Brillenschlange. Du hast einen Vollzeitknall!


4.


Leonie


Die Schule war ein Spießrutenlauf durch ein Minenfeld abfälliger Bemerkungen. Stacey, Carlotta und der Rest der Truppe haben die Farbe meiner Kleider mit Rotze verglichen; als hätte mich der Hulk einmal durchgekaut und durch die Nase wieder ausgespuckt.

Haha. Sehr witzig.

Wieso gucken die so einen Kommerz-Müll überhaupt? - Ach ja, genau, wegen diesem blondgelockten Schnösel, der Thor darstellen soll. Den lieben ja alle.

Manchmal würde ich gerne mit bissigen Kommentaren antworten. Sowas wie: 'Immerhin habe ich das Zusammentreffen mit dem Hulk überlebt. Das passiert ja auch nur den Härtesten' … Irgendwie so ähnlich. Nur cooler.

Aber die guten Antworten kommen mir immer erst hinterher. Da haben sie dann alle ihre Gemeinheiten schon per WhatsApp oder Facebook geteilt, twittern sie mit dem Hashtag Brillenschlange und lachen sich mitten im Unterricht kaputt.

Und die Lehrer? - Die versuchen, es zu ignorieren.

Erst neulich, als der Mayer einen cholerischen Anfall wegen Stacey bekam, die mitten in der Klassenarbeit ein Selfie schießen musste, wurde er zum Direktor zitiert, weil die Eltern ihn für den Ausraster verklagen wollten.

Ich glaube, diese Welt ist verrückt. Ja, ganz ehrlich! Und das sage ich jetzt nicht, damit ich mich ein bisschen normaler fühlen kann, in all meiner eigenen Verrücktheit.

Oma hat immer nur den Kopf geschüttelt, wenn ich ihr davon erzählt habe, was bei uns in der Schule so los ist.

Manchmal hat sie gelacht und gemeint, so ein bisschen witzig wäre die Hilflosigkeit der Lehrer ja teilweise schon, aber auch ein Zeichen dafür, dass unsere Zeit vor sich hin krankt; - an mangelndem Respekt, hat sie immer betont.

Und dann hat sie mir von ihrer Schulzeit erzählt, als es noch was mit dem Rohrstock gab, wenn man sich nicht zu betragen wusste. Auf die Finger für die Mädchen. Auf den Hosenboden für die Jungs. Und selbst zu Papas Schulzeiten herrschten noch ganz andere Sitten. Da waren Lehrer und Eltern ein Team. Man überlegte, wie man den schwierigen Kindern beikommen konnte.

Aber heute, sagte sie immer, heute diktieren ja die Flausen der Jugendlichen den Alltag der Erwachsenen. Nur dadurch, hat sie behauptet, könne Papa so gutes Geld für uns verdienen.

Oma war schon schräg, aber ich vermisse sie. Auch jetzt, als ich die Haustür aufschließe, wünsche ich nichts sehnlicher, als dass mir der Duft von ihrem Hackbraten mit Krautwickeln in die Nase steigt. Doch das tut er nicht. Stattdessen rieche ich Ravioli. - Eindeutig aus der Dose.

Sie stehen auf der Theke in der offenen Küche und sind noch lauwarm. Papa hat eine Flasche Cola daneben gestellt - dabei trinke ich die doch schon seit Monaten nicht mehr. Die Phosphorsäure da drin macht meine Knochen kaputt. Über die Konservierungs- und Farbstoffe in meinen grellroten Ravioli denke ich heute mal besser nicht nach. -

Die Tür am Ende des Flurs ist zu. Die Uhr an der Wand zeigt Viertel nach Drei. Das heißt, Papa ist schon wieder in der ersten Sitzung.

Ich schnappe mir den Teller und eine Flasche Wasser und gehe vollbepackt noch mit meiner Schultasche überm Arm nach oben. Dabei löffle ich bereits vor mich hin.

Eine Unart, an die unter Omas strenger Fuchtel nicht zu denken gewesen wäre. Oh nein!

Da wurde gewartet mit dem Essen, bis ich daheim war. Dann Schulaufgaben besprochen, die ich ihr anschließend zu zeigen hatte. Schrieb ich nicht ordentlich, riss sie die Seiten sogar manchmal aus dem Heft und hieß mich, sie neu zu schreiben.

Ich muss lächeln und dann fast weinen. - Wie sehr man so schrullige, nervige Eigenheiten doch vermissen kann.



Fynn


Endlich geht die Tür auf! Ich hatte schon gedacht ich müsste sterben!

So jetzt aber. Jetzt fütterst du uns mit was Anständigem, ja, Brillenschlange? Das da auf deinem Teller sieht zum Beispiel sehr lecker aus.

Ich würde ja fast sagen, meine Augen werden feucht, als ich die Ravioli sehe. Doch unter Wasser ist das auch keine Kunst.

Tatsächlich gehört Brillenschlanges erster Blick diesmal sogar dem Aquarium, nachdem sie ihre Sachen am Schreibtisch abgestellt hat. Und das, obwohl die Nachrichten an ihrem PC noch genauso aufdringlich blinken, wie am Morgen schon. - So wie den ganzen Tag über.

Jetzt aber kann ich verfolgen, wie sie in einer Schublade der schäbigen Kommode nach einer Dose angelt. Sie öffnet den Deckel über mir und ein paar grobe, rotbraune Flocken fallen in das Becken.

Dick und Doof sind sofort zur Stelle, die zum Grund schwebenden Teilchen aufzusaugen. In ihre Nähe traue ich mich aber nicht. Am Ende landet wieder ein Stück von mir in einem ihrer gierigen Mäuler.

Die dunkelbraunen Eulenaugen hinter den dicken Brillengläsern auf der anderen Seite der Scheibe schauen mir eine Weile zu, wie ich so in der künstlichen Wasserpflanze hocke und die anderen nur beim Essen beobachte.

Ich merke schon, das wird noch nichts“, höre ich sie dann sagen und plötzlich fischen ihre Finger nach mir.

Ich weiche zunächst aus, aber schließlich packt sie mich doch und hebt mich in eine Schüssel, die neben ihrer Tastatur steht. Dann schüttet sie mir ein paar der Flocken direkt vors Maul und stellt die Dose neben meine winzige Privatsuite.

'Axolotlpellets – Vollnahrung für mexikanische Schwanzlurche', lese ich darauf.

Diese Deklaration hätte ich aber gar nicht mehr gebraucht, um mich sofort auf die wenig appetitlichen Happen zu stürzen. Ich bin nur froh, dass ich hier mit keinem teilen muss.

Während ich nun esse, fliegen Brillenschlanges Augen über die zwei Nachrichten, die ich bereits am Vormittag gelesen habe. Beide mehrfach. - Mit irgendwas musste ich mich schließlich beschäftigen.

Die von Poison17 schiebt sie in den Hintergrund und macht sich zunächst daran, der Schwarzen Mamba zu antworten.





Hallo Mamba. :)


Du glaubst gar nicht, wie schön es ist, wieder von dir zu hören. Ich hatte ja gehofft, dass du mir aus Afrika schreiben würdest. Du hast doch gemeint, dass ihr da auch Internet habt. Aber ich verstehe, dass du vermutlich zu beschäftigt warst.

Auf deine Überraschung bin ich ja mal gespannt. Nur, mit Farben?

Du weißt doch, damit habe ich es nicht so. Nicht mit so grellen zumindest.

Das Experiment … Nein, dazu kam ich noch nicht. Ich wüsste auch nicht, was ich schreiben soll. Was hab ich schon zu erzählen? Ich bin doch niemand und ich habe auch noch nichts Tolles erlebt.

Aber hey, ich muss dir mal mein neues Haustier zeigen.


Liebe Grüße,


Dein kleiner Geist“


Ich rolle mit den Augen. Wäre ich nicht damit beschäftigt, die Pellets aus Fliegenstückchen und Frischeiprotein herunter zu würgen, hätte ich bestimmt wieder vergnügt vor mich hin geblubbert.

Das ist irgendwie so … treffend und so süß naiv.

Ach ja. Man merkt einfach, dass sie zwei Jahre hinter dem Rest der Klasse hinterher ist. - 'Dein kleiner Geist'. Tststs. - Werd mal erwachsen, Brillenschlange. Dann wird das vielleicht auch was mit echten Freunden.

Als nächstes widmet sie sich der Antwort auf Poisons Nachricht.

Sie tippt ein „Klingt toll und ich würde wirklich gerne mal deine Gedichte hören. Und natürlich auch dich endlich mal kennenlernen ...“, dann aber bricht sie ab und spielt nur mit einem Stift, der neben der Tastatur liegt. Sie dreht ihn in der Hand, kaut darauf herum und wirft ihn schließlich schwungvoll hinter sich.

Eine Bewegung, die sie schon tausendfach gemacht haben muss, denn sie trifft genau den Knopf ihrer Musikanlage, aus deren Boxen im nächsten Augenblick die melancholischen Klänge einer mystisch verzerrten Frauenstimme zu Flötenspiel ertönen.

Ich kann Brillenschlanges Kopf fast rauchen sehen und stelle mir vergnügt vor, was für ein blasser, hagerer Emo wohl auf der anderen Seite der Leitung sitzen muss, dass er auf eine Antwort von ihr sehnsüchtig wartet.

Schließlich aber löscht sie alles wieder und tippt nur:


Hey Poison!


Entschuldige, dass ich noch kein Bild gesendet habe. Ich will unsere Freundschaft nicht kaputtmachen.

Das mit dem Treffen ist vielleicht keine gute Idee. Außerdem kann ich es mir nicht leisten, in der Schule Ärger zu kriegen.

Das Stipendium ist meine einzige Fahrkarte da raus. Und vielleicht treffe ich dann endlich wen in meinem Alter, der mich nicht gleich in eine Schublade steckt.


GG“


Sie drückt hektisch auf Senden, bevor sie es sich nochmal anders überlegen kann. Fast augenblicklich kommen ein helles Geräusch und ein roter Balken mit einer Nachrichtenmeldung rein.


Schade, GhostGirl.


Aber ich gebe nicht auf. Vielleicht stellst du ja dann auch fest, dass du gar nicht mehr nach jemandem suchen musst, der dich versteht.“



Das Lied im Player endet und ein neues ertönt. Es singt von Kälte und Eisblumen an Fensterscheiben. Ich kann nur mit den Augen rollen.



Leonie


Ich schiebe mich vom Schreibtisch zurück. Je öfter Poison darauf drängt, dass wir uns treffen sollen, umso mehr verunsichert mich das.

Ich meine, ich weiß, wie ich auf andere wirke, wenn sie mich ganz real und ohne Monitore dazwischen kennen. Die neuen Facebook-Meldungen mit dem Brillenschlangen-Hashtag sind Beweis genug. Dabei ist es heute noch harmlos.

Oma hat Papa immer in den Ohren gelegen, dass er mir das verbieten sollte in diesem 'asozialen Netzwerk', wie sie es immer genannt hat. Aber dann würde ich ja noch weniger dazugehören und alle würden vermutlich erst recht lästern und ich bekäme es nicht mal mit.

Ich ziehe die Knie an und betrachte den kleinen Pirat. Er hat fast alles aufgegessen, was ich ihm ins Wasser gestreut habe. Marv hat sich garantiert nicht gut um ihn gekümmert, denke ich dumpf. Er tut mir leid. Und er sieht so ganz allein in diesem Glasschüsselchen so einsam aus. Genau so, wie ich mich fühle.

Was meinst du? Ob wir zwei Freunde werden?“, höre ich mich sagen, als meine Finger spielerisch über die Wasseroberfläche streichen.

Ich weiß, dass ich ihn besser nicht zu oft anfasse. Das verträgt seine empfindliche Haut nicht. Er taucht auch direkt soweit zum Grund, wie er kann, um meinen Fingern zu entgehen.

Kluger kleiner Pirat. Menschen sollte man meiden. Die tun einem im schlimmsten Fall nur weh. Und selbst wenn nicht mit Absicht, dann tun sie es, wenn sie einen irgendwann allein lassen.


5.


14. November


Fynn


Der Schreibtisch mit PC und Stuhl davor, darauf ein leerer Notizblock, eine Tasse mit irgendeinem erheiternden Spruch und einem schmierigen, zwei Tage alten Teebeutel darin, die Glasschüssel, in der ich immer extra gefüttert werde, dann kommt die Wand, dann die Seite mit der Tür und dem Bücherregal und dem Durchgang zum Badezimmer daneben, dann wieder gaaaaaaaaaaanz viel violette Wand unter dem Dachgaubenfenster, zehn Grad weiter Kurt Cobain, Subway to Sally, in der Ecke das Bett mit der Musikanlage darüber und … ach ja, immer noch Amy, die mich mit überschminktem Gesicht und fransigen schwarzen Haaren angrinst, dann der Kleiderschrank und dann wieder der Schreibtisch.

Meine Runde beginnt von vorn und ich glaube, wenn ich sie noch einmal schwimmen muss, drehe ich völlig durch. Aber das habe ich gestern den ganzen Tag bereits gedacht und noch ist nichts dergleichen passiert. Ich bin auch nicht aufgewacht, dabei habe ich mehrfach bewusst probiert, gegen die Glaswände zu schwimmen. Ich komme mir nämlich immer noch vor, als würde ich in einem schlechten Traum feststecken.

Brillenschlanges Verhalten wird auch von Tag zu Tag seltsamer. Nicht nur, dass sie die Stunden vor und nach der Schule komplett immer nur drinnen zu verbringen scheint, nein, manchmal macht sie auch so halbherzig Yoga oder vollführt irgendwelche seltsam anmutenden Rituale mit Kerzen und Räucherstäbchen. Dabei starrt sie immer auf eine Reihe Bilder, die oben auf dem Regal bei ihrer Musikanlage stehen.

Seit sie sich gestern noch ein paar Nachrichten als GhostGirl mit der Schwarzen Mamba hin und her geschrieben hat, sitzt sie nun manchmal stundenlang still auf dem Stuhl, die Beine angezogen und starrt mit einem Kuli im Mund auf einen Block vor sich. Ihr Facebook läuft dabei unentwegt und es macht alle fünfzehn Sekunden 'pling'.

Ich halte ab und zu in meiner Runde inne und schaue, ob ich nicht doch einen Blick auf den Bildschirm erhaschen kann. Aber ich sehe da seit Mittag schon nur Brillies knochigen Rücken - heute übrigens in Schlammbraun mit rotverwaschenen Armstulpen bis zu den Ellbogen.

Ich hege irgendwie die leise Hoffnung, dass irgendeiner der Kommentare mir irgendwas über die anderen mitteilt.

Schreiben sie über mich? Vermisst mich denn immer noch keiner?

So langsam könnte ihnen schon aufgefallen sein, dass ich fehle. Gestern Abend war immerhin unsere Bandprobe und die verpasse ich nie.

Doch nein, auch als ich jetzt nach einer weiteren Runde auf den Bildschirm schaue, sehe ich nur wieder die üblichen Frotzeleien mit Hashtags und Grinsesmileys, die schon die ganze Zeit durch Brillies Newsfeed flackern.

Allerdings ist es heute ein wenig belebter als gestern. Sie hat gemeint, sie müsse eins dieser schrecklichen Lieder mit allen teilen, die in einem fort hier im Zimmer laufen. Ich bekomme es nur mit halben Lurchohren mit, weil ich viel zu abgelenkt bin. Irgendwas von Efeu ohne Baum und weiß-nicht-was noch.

Sowas zieht sich doch niemand freiwillig rein! Der Bass ist ja ganz okay. Aber diese Texte! Hat sie da mal hingehört?

Ich bezweifle es, will mich bereits wieder von der Glaswand mit Schreibtisch und Depri-Brillenschlange davor abwenden, als sie sich ein wenig streckt. Eine Meldung, die gleich mehrfach hintereinander auftaucht, scheint ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Für einen Moment sieht es so aus, als ob sie überlegt, dazu einen Kommentar zu tippen. Ihre Finger zucken. Ihr Gesicht ist für Sekunden nicht versteinert. Es scheint tatsächlich einmal eine Gefühlsregung zu zeigen. Sie rutscht auf dem Stuhl hin und her.

Boah was, Brillenschlange? Was gibt es denn da? Was Interessantes? Hat einer peinliche Jugendfotos von einem Lehrer geleaked? Oder ist es wieder was mit dir? Vielleicht was Lustiges? Ein bisschen Lachen wäre jetzt nicht schlecht. Diese Langeweile ist kaum zu ertragen.

Als wären meine Gedanken ihr Befehl, steht sie kurz auf, wühlt in ihrer Schultasche, verlässt dann das Zimmer und ich kann lesen, was dort steht.

Schon nach einem Blick auf die Nachricht klebe ich mit den Lippen an der Scheibe und traue meinen Augen nicht.

Da ist gleich siebenmal hintereinander eine Bilderserie von einem gutaussehenden Jungen mit halblangen, dunkelblonden Haaren geteilt. Einmal im Hemd, ganz brav, einmal in Rockerklamotten, einmal ein Profilbild, das jemand wohl mit einem Handy gemacht hat.

Der Junge bin ich!

Millionärssohn spurlos verschwunden“ – steht über der Nachricht, die aufgemacht ist, wie ein Artikel in der BILD.

Blubb!“

Erst ganz langsam sickert zu mir durch, dass es wirklich ein Artikel aus besagtem Blatt sein muss. - Über mich!

Krass!

Ich hätte ja viel erwartet, aber dass mein Vater so einen Alarm schlagen würde, gewiss nicht.

Ich überfliege kurz den Artikel. … „wurden nur seine Schultasche und seine Armbanduhr in der Schultoilette gefunden. …“

Meine Armbanduhr? Und was ist mit meinem Gitarrenkoffer passiert?!

Doch bevor ich mich aufregen kann, fällt mir wieder ein, dass ich den ja mit dem restlichen Equipment im Lagerraum der Aula gelassen hatte. Die anderen zwei Vollhonks werden es ja wohl geschafft haben, ihn da nicht wegkommen zu lassen!

‚… sachdienliche Hinweise bitte an die Polizei unter folgender Nummer …'

Ich wundere mich noch ein bisschen weiter, dann aber geht mir auf, dass diese Suchaktion nichts bringen wird.

Ich meine, wer käme denn bitte auf die Idee, dass Fynn Kaiser jetzt ein Lurch ist, der in Brillenschlanges Aquarium seine Kreise drehen muss?

In dem Moment kommt sie auch schon wieder ins Zimmer. Was sie draußen gemacht hat, ist nicht erkennbar, interessiert mich aber auch nicht. Ich sinke für die nächste halbe Stunde gedankenverloren zwischen die Pflanzen auf den Grund.

Wie hat mein Alter überhaupt mitgekriegt, dass ich fehle?

Ich meine, ist ja nicht so, dass wir jeden Abend irgendwelche erbauenden Vater-Sohn-Gespräche führen würden. Erst recht nicht, seit meine werte Frau Mama einfach wortlos ausgezogen ist. - Mit drei Rollkoffern voller Kleider und Schmuck, vier weiteren voller Schuhe, in ihrem Benz Cabrio versteht sich. -

Meine Eltern haben zwar nie den Eindruck gemacht, als würden sie eine Bilderbuchehe führen, doch mein Dad war halt immer beschäftigt und meine Mutter wusste sich zu beschäftigen.

Dass ihre Malkurse kaum die Hälfte der Zeit wirklich solche waren, hat mein Vater wohl auch erst spitzgekriegt, als sie ihm die Nummer ihres Scheidungsanwaltes auf den Tisch geknallt hat.

Er kann ja schon mal an die Decke gehen, wenn es was zum Aufregen gibt, aber an dem Tag ist er ganz ruhig gewesen. Er hat sie gefragt warum. Sie hat nur nach oben gedeutet – oben im Haus habe ich meine Zimmer - und gemeint: „Er ist ja jetzt alt genug, dass wir ihm nichts mehr vormachen müssen.“

Mein Dad hat daraufhin nichts zu sagen gewusst. Dabei hat er immer etwas zu sagen. Im Vollsuff kann er die Klappe nicht halten und auch ohne Alkohol gibt er zu allem und jedem seinen Senf dazu.

Aber da, als Mama ihn so angeschaut hat und ich dachte, sie würde jeden Moment in Tränen ausbrechen, da hat er nichts gesagt. Einfach gar nichts. Nicht, dass sie ihm irgendwie wichtig ist, oder dass sie bleiben soll oder irgendwas.

Wir haben es mit ihm versucht, aber sei ehrlich, Matthias, viele Chancen hat das ganze Projekt auch vor sechzehn Jahren schon nicht gehabt. Ich habe keine Lust darauf, den Rest meines Lebens wie ein Geist in diesem Haus leben zu müssen, eher tot als lebendig.

Außer zu deinen Geschäftspartys und Galen sehen wir uns ja eigentlich nicht mehr. Und glaub mir, Fynni wird das verstehen. Er ist ein großer Junge.“

Er stand leider hinter der Tür auf der anderen Seite und hat alles mitbekommen.

Ich war damals kurz versucht, in den Raum zu stürmen und zu sagen, dass er das nicht versteht. Ich meine, so plötzlich? Aus heiterem Himmel?!

Mama hatte immer gesagt, dass sie vor meiner Geburt oft gestritten haben. Dann kam ich auf die Welt. Aber ich hatte nicht verstanden, dass nicht mehr streiten in dem Fall einfach nicht mehr miteinander reden bedeutet hatte.

Für zwei Jahre, bis ich 'aus dem Gröbsten' raus war hat es sie noch einmal zusammengeschweißt, hat Mama mir hinterher erklärt. Aber dann …




Leonie


Ich bin völlig entsetzt, als ich die Nachricht sehe. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich habe jetzt bestimmt eine ganze halbe Stunde auf den PC gestarrt und überfliege einen der Posts nach dem anderen. Überall steht das gleiche drin.

Fynn Kaiser ist nicht etwa krank. Er ist vermisst seit Montagmorgen, als er mich auf der Treppe umgerannt hat.

Die Berichte sind alle sehr ähnlich und kaum einer weiß mehr. Zusammen mit seinen zwei Freunden von der Band und den Lehrern, die in der Aula bei der Probe dabei waren, bin ich eine der Letzten, die ihn gesehen hat.

Meine Finger zittern, als ich Mamba das schreibe. Aber sie ist nicht online und antwortet nicht direkt.

Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Ich habe schon mal die Nummer gewählt, die unter den Anzeigen überall steht, dann aber aufgelegt, bevor jemand dran gegangen ist, denn was könnte ich schon beitragen?

Ich versuche mir das Gespräch vorzustellen:

Hallo, ich heiße Leonie Kallenbach und habe sachdienliche Hinweise im Vermisstenfall Fynn Kaiser.“

Dann schießen Sie los, Frau Kallenbach.“

Nun … äh … ja, ich habe ihn gesehen.“

Wirklich?“

Wann? Wo?“

Am Montag. Er hat mich auf der Treppe umgerannt.“

Haben sie sonst irgendwelche Hinweise? Hat er etwas gesagt?“

Meine Gedanken stocken an diesem Punkt und ich muss mir ein bitteres Lachen verkneifen. Fynn und etwas sagen … ausgerechnet zu mir!

Er hasst mich. So wie sie alle mich hassen, weil ich nicht hübsch bin, sondern langweilig und völlig verkorkst. Eine besserwisserische Brillenschlange mit einem Büchertick. Das bin ich für sie. Mehr nicht.

Und der Polizei wird das, was ich zu sagen habe, nicht helfen Fynn zu finden.

Ich frage mich, was passiert sein könnte. Ist er am Ende wirklich entführt worden?

Genug Geld hat seine Familie ja. Aber seine Eltern haben eigentlich nie den Eindruck gemacht, als würden sie sich deswegen für was Besseres halten.

Papa sagt immer, für Menschen mit so viel Kohle wären sie echt auf dem Teppich geblieben. Und muss wohl so sein, sonst würde ihr Sohn ja keine öffentliche Schule besuchen.

Haben sie aber vielleicht genau das jetzt bezahlen müssen?

Ich meine, andere Kinder aus reichem Haus gehen nicht ohne Grund auf teure Internate oder haben Hauslehrer, oder wenigstens nen Chauffeur und nen Bodyguard.

Fynn hatte nie was dergleichen. Er ist Bus gefahren wie wir alle.

Gut, okay, an seinen Geburtstagen, da hat ihn immer sein älterer Bruder Robert in seinem dunkelgrünen Jaguar abgeholt.

Es hat aber immer den Anschein gehabt, dass Fynn sich wesentlich mehr über seinen coolen Bruder gefreut hat als über diese völlig übertriebene Karre.

Und jetzt ist er weg. Einfach so.

6.


Fynn


Die halbe Nacht hockt sie vorm Rechner. Ich muss mich ja schon ein wenig wundern, dass ihr Vater nicht wenigstens mal nach ihr schauen kommt. Überhaupt, außer zu den Mahlzeiten scheint da recht wenig Kontakt zwischen den beiden zu bestehen. Bleibt nur die Frage, ob das Desinteresse von ihr ausgeht, oder von ihm.

Aber wer weiß. Vielleicht ist sie so, weil ihr Vater so ist.

Eine Weile grüble ich, während im Hintergrund unablässig das Geräusch von hastig tippenden Fingern auf einer Tastatur zu hören ist. Mal macht es pling oder ploff, je nachdem, welcher ihrer Forumsfreunde ihr gerade antwortet. Da es deutlich mehr Ploffs sind, scheint sie in ein sehr intensives Gespräch mit der Schwarzen Mamba verwickelt zu sein. Vermutlich irgendwelche Esoterik-Fragen, die mir eh an meinem braun-gepunkteten Hintern vorbeigehen.

Gedankenverloren kratze ich mich an der rechten Kieme. Ob ich auch mal so werde wie mein Alter?

Nein, kein erfolgreicher Geschäftsmann oder so, sondern ein versoffener Idiot, der es nicht geschafft hat, seine Frau glücklich zu machen, dass sie ihm mit so einem blondgelockten Schnösel davonläuft.

Ich frage mich auch, warum Mama das gemacht hat. Und warum gerade der?

Ich meine, ich kann mir ne Menge tollere, coolere und vor allem auch finanziell besser situierte Männer vorstellen als den. Aber okay, vielleicht liebt sie ja seine Künstlerseele. Oder sie ist seine ‚Muse‘ oder sowas.

Uäh! … Ich hoffe doch, dass auf seiner nächsten Kunstausstellung nicht lauter Bilder von meiner Frau Mama oben ohne rumhängen.

Ich beschließe, mich nie wieder zu so einer Vernissage mitschleifen zu lassen. Förderung der Kunst? Kann Mama ja mal machen, indem sie einfach unserem nächsten Konzert beiwohnt.

Aber ja, fällt mir seufzend ein. Ich blicke von einem meiner Stummelarme zum anderen. Damit werde ich keine E-Gitarren-Saite zum schwingen bringen. Es reicht, um mich an der Kieme zu kratzen und hier Stunde für Stunde meine Runden zu drehen. Zu mehr aber auch nicht.

Ich lasse mich deprimiert auf den Grund sinken. Die Anzeige auf dem PC-Bildschirm sagt mir, dass es fast zwei Uhr ist. Immerhin läuft schon seit Stunden nicht mehr diese Krachmusik. Gedämpft dringt stattdessen Amys ‚Hidden Treasure‘ aus den Boxen. Ich frage mich noch, wie man nur so lange auf einer Stelle verharren kann, dann aber fallen mir die Augen zu.

7.


15. November


Leonie


Oh nein, Scheiße! Verschlafen!

Ich starre ungläubig auf den Wecker neben meinem Bett. Der Bus ist seit 10 Minuten weg.

Hastig springe ich auf, suche meine Kleider zusammen, ziehe mich noch auf dem Weg zum Badezimmer um. Kämmen muss reichen. Für duschen ist keine Zeit. Meine Finger wandern in Richtung der Haarnadel mit dem Frosch am Ende, die Mamba mir aus Nigeria geschickt hat. Aber ich überlege es mir anders, flechte in aller Eile die üblichen Zöpfe und greife nach der Zahnbürste.

Das letzte Mal, als ich die Haarnadel getragen habe, da haben mich alle Ethnotussi genannt. Der Frosch ist in afrikanischem Stil geschnitzt und daher ein wenig abstrakt. Aber gerade das mag ich. Nur noch mehr Spitznamen kann ich einfach nicht gebrauchen.

Grimmig starre ich mein Spiegelbild an. Brillenschlange, denke ich. Kobold, als nächstes, während ich die Haare bewusst über meine viel zu großen, leicht abstehenden Ohren ziehe.

Papa hat mich damit schon aufgezogen, als ich noch ganz klein war. Seinen Puck hat er mich genannt. Was ich natürlich nicht verstehen konnte, bis ich Shakespeare in seinem Regal entdeckte und den Sommernachtstraum gelesen habe. - Puck! Eine kleine, fiese Feengestalt. Das also bin ich für ihn.

Apropos Papa. Wo ist der überhaupt? Warum hat er noch keinen Aufstand vor meiner Zimmertür geprobt, weil ich nicht wach bin?

Dann fällt es mir ein. Gestern war ja sein Paper-Abend. Zumindest einmal die Woche versucht er, neben den ganzen Terminen und Sitzungen auch noch die Zeit zu finden, nicht ganz den Anschluss an die moderne Therapie zu verlieren, wie er es nennt.

Er hasst Fachartikel. Und wenn ich mir so manchen davon durchlese, dann weiß ich auch, warum.

Dinge, von denen er mir erzählt, dass sie in seiner Kindheit einfach ein normaler Prozess des Erwachsenwerdens waren, werden hospitalisiert. Irgendeine Firma findet irgendeine schicke Pille, mit der Kinder diese Probleme nicht mehr haben, oder einfach nur besser unterdrücken können und ‚in der Spur laufen‘, und schon gibt es eine neue Krankheit. Jede Psychodroge soll ja schließlich ihr Potenzial voll entfalten können.

Ja, so schimpft Papa immer. Ich seufze.

Vermutlich ist er einfach beim Lesen eingeschlafen. Dann wird er gleich extra schlechte Laune haben. Vielleicht bleibe ich besser hier oben.

Er hat ab neun schon die ersten Termine außer Haus. Muss zu einem neuen Flüchtlingscamp. - Da sind Anfang der Woche zwölf neue Minderjährige ohne erwachsene Begleitperson eingetroffen. Sie sprechen kein Deutsch. Darum weiß auch keiner so wirklich, was sie erlebt haben. - Wenn er mitkriegt, dass ich verpennt hab, weil ich mich aus dem Chat nicht losreißen konnte, dann verbietet er mir am Ende noch den Computer.

Aber mit Mamba reden musste gestern einfach sein. Ich bin so völlig durcheinander.

Auch jetzt, als ich nur ganz kurz auf den Bildschirm schaue, sehe ich 53 neue geteilte Berichte über Fynns Verschwinden.

Ich lese mich in den neusten Meldungen fest, überhöre das aufdringliche Plingplingpling und versuche, die bissigen Kommentare von Stacey zu ignorieren, die gerade festgestellt hat, dass ‚Brillie‘ ja gar nicht zum Unterricht aufgetaucht ist.

Warum muss sie das denn jedem per Facebook mitteilen? Als ob die das nicht selber sehen würden!

Es ist mittlerweile halb neun und damit Unterrichtsbeginn. Aber es ist mir irgendwie egal. Ich will nicht hin. Mein Kopf blickt schuldbewusst auf den Kalender mit dem Datum von heute. Das ist rot umrandet. Rot ist für Mathearbeiten.

Ich schlucke.

Meine Finger wandern zu dem Internatsflyer, den ich unter meine Tastatur geklemmt habe. Ich weiß wie streng das Stipendiatsprogramm ist.

Dennoch. Ich glaube, ich mach krank. Ich fühle mich auch so.



Fynn


Ungläubig blicke ich durch die Glasscheibe auf Brillenschlange, die regungslos vor dem PC sitzt und keine Anstalten macht, sich zu bewegen. Wie festgetackert. Oder paralysiert.

Ich würde sogar sagen wie zugedröhnt, als hätte sie irgendwas genommen. Aber da ich ihr ja den ganzen Tag zusehen darf, weiß ich, dass sie sowas nicht tut.

Wie kann man nur so phlegmatisch sein?

Ich dachte bisher immer, dass wenigstens die Schule, - also der Unterricht -, sie irgendwie begeistern muss.

Wie sonst schafft man es, in allen Fächern, außer Sport, immer eine glatte Eins zu haben?

Für geschlagene fünfzehn Minuten hält sie das durch. Sitzt einfach nur da, starrt vor sich hin, regt sich keinen Millimeter. Nur ihre Hände hat sie seltsam verkrampft zusammengeballt und sie zittern leicht. Dann ertönt plötzlich ein schrilles, altmodisches Schellen durchs ganze Haus. - Die Türklingel.

Man hört im Erdgeschoss, wie einige Türen aufgehen. Schritte. Stimmen, die sich unterhalten. Was sie sagen, versteht man allerdings nicht.

Schließlich hört man ein lautes Poltern auf der Treppe. Die Schritte kommen den Flur entlang. Die Türklinke bewegt sich. Ein Rumpeln. Wie immer ist abgeschlossen.

„Leonie, bist du noch da drin?“, dröhnt die Stimme ihres Vaters durch die Tür. Sie ist merklich gereizter und lauter als sonst. Irgendwo zwischen Sorge und Zorn, nehme ich an.

Noch immer rührt sich Brillenschlanges Gestalt kein bisschen.

Was ist denn nur los mit der?

Ich schwimme von der PC-Seite des Aquariums hinüber zur Tür-Seite, muss dabei aber aufpassen, Dick und Doof nicht vor die Nase zu geraten. Jaques habe ich wie immer im Schlepptau - drei Scherenlängen Abstand!

So abstrus diese ganze Situation auch ist, ein Teil von mir ist gerade froh darum, denn das gibt diesem Morgen doch eine deutliche Abwechslung zu den stinklangweiligen Tagen davor. Ich bin gespannt, was weiter passieren wird.

Die Türklinke rüttelt heftig. Ein dumpfes Bollern verrät, dass jemand von außen ungeduldig dagegen drückt.

„Ja, ich bin hier“, kommt es da endlich aus Richtung des Computers.

Ich wende den Kopf, sehe, wie Brillenschlange die Armstulpen etwas höher zieht und sich erhebt.

„Leo, bist du krank?“, fragt die tiefe Stimme und jetzt ist eindeutig Sorge darin.

„Hm“, kommt von ihr, was so ziemlich alles heißen kann.

„Mach mal die Tür auf“, fordert die Stimme ihres Vaters jetzt.

Sie steht mitten im Raum, scheint unschlüssig, was sie tun soll. Nachdem das Rütteln an der Klinke aber ungeduldiger wird, geht sie schließlich, sichtlich widerwillig, zur Tür und dreht den Schlüssel.

Mit einem „Was soll denn diese alberne Einschließerei immer?“ steht ihr Vater auch direkt im Raum.

Er mustert seine Tochter kritisch von oben bis unten. Ich stelle fest, wie ähnlich sie ihm ist. Sie hat seine dunklen Haare, die bei ihm aber um einiges gepflegter aussehen als bei ihr. Die großen braunen Augen blitzen scharf und intelligent. Sie sieht neben ihm blass aus, wie ein Schluck Wasser hängt sie da.

Er legt ihr die Hand an die Stirn.

„Lass das. Ich bin kein Baby mehr!“, faucht sie ihn an.

„Fühlst du dich nicht gut? Bist du krank?“

Sie setzt zu einem Kopfschütteln an, nickt dann aber ganz langsam.

„Naja, später mehr dazu“, sagt er, denn er hat die offensichtliche Lüge wohl durchschaut.

„Unten warten zwei Herrschaften von der Polizei.“

„Von der Polizei!?“

Ich spitze interessiert meine nicht vorhandenen Ohren. Brillenschlange wird noch blasser. Fast ungesund grau sieht sie jetzt aus.

„Ja“, setzt ihr Vater hinzu, „sie haben mich darüber informiert, dass meine Tochter heute Morgen nicht zum Unterricht erschienen ist. Darum wollten sie sich erkundigen, ob du dich trotzdem fit genug fühlst, eine Aussage zu machen.“

„Aussage?“

„Na, zu dem Fall mit dem vermissten Jungen. Das Prinzchen vom Kaiser-Empire. Der geht doch bei dir in die Klasse. Sie befragen alle seine Mitschüler, wann und wo sie ihn zuletzt gesehen haben.“

Sie zuckt kurz mit den Schultern, macht den Eindruck, als wolle sie etwas sagen. Ich selbst laufe derweil rot an vor Wut. Ich glaube sogar, das Wasser um mich beginnt ein klein wenig zu brodeln.

Prinzchen?! Hallo?! Hast du sie noch alle?!

Wer so ein verkorkstes Kind hat, sollte wohl mal nicht abfällig über anderer Leute Nachwuchs reden. Schon gar nicht, wenn der anwesend ist!

„Muss ich?“, höre ich Brillenschlange als nächstes fragen, doch der strenge Blick ihres Vaters duldet keine Widerrede.

Bevor sie den Raum verlässt, greift er nach einem bunten Tuch, das auf einem Berg Klamotten liegt, und drückt es ihr in die Hand.

„So todkrank, dass du nicht mit ihnen reden kannst, bist du wohl kaum. Ein bisschen Halsweh, nehme ich an?“

Sie schluckt.

„Die beiden warten im Wohnzimmer. Und wir, mein Fräulein, unterhalten uns danach. Ansonsten können die dich gleich mitnehmen und als Schulschwänzerin abgeben. So Sitten lassen wir hier nicht einreißen.“

Sein Blick zuckt kurz zum PC rüber, doch da ist derzeit nur der Bildschirmschoner zu sehen. - Sie muss ein Tastenkürzel programmiert haben, um ihn an- und auszuschalten. - Man sieht dort bloß Fotos von Dick und Doof sich mit Fotos von Brillenschlange und einer streng dreinblickenden älteren Frau abwechseln. Sie hat genau die gleichen dunkelbraunen Augen wie der Rest der Familie.

Brillenschlangen-Papa schaut daraufhin augenblicklich weg und folgt seiner Tochter aus dem Raum.

8.


Leonie


„Hallo Mamba,


es tut mir so leid, dass ich mich immer bei dir ausheulen komme. Aber heute ist einfach wieder so ein Scheißtag.

Ich will weg. Ich will hier einfach nur weg. Und Papa ist jetzt auch noch sauer auf mich, und den Kommissaren war ich überhaupt gar keine Hilfe. Ich bin sowas von nutzlos.

Sorry. Ich weiß, ich reagiere schon wieder über. Also schön. Tief einatmen, wie Oma es mir immer gezeigt hat. Und dann noch mal von vorn:

Ich habe verschlafen. Und heute war doch die Mathearbeit. Mit dem Halbjahreszeugnis will ich mich fürs Stipendium bewerben.

Was, wenn die rauskriegen, dass ich einfach geschwänzt habe?

Dann darf ich garantiert nicht nachschreiben und dann krieg ich ne Sechs und dann werd ich den Schnitt nicht halten können. Immerhin bin ich ja schon in Sport eine totale Null.

Außerdem war heute die Polizei bei uns zu Hause. Sie haben mich über Fynn ausgefragt. Aber was kann ich ihnen schon über Fynn sagen?

Sie wollten ganz genau wissen, ob er irgendwas gesagt hat, als wir auf der Treppe zusammengeknallt sind. Sie haben gefragt, was er anhatte, ob mir irgendwas aufgefallen ist, ob er was bei sich hatte, außer seiner Gitarre, oder irgendwas.

Ich hatte den Eindruck, sie glauben mir nicht, dass ich nichts weiß. Die Kommissarin hat eine Weile rumgedruckst, als wollte sie mich noch etwas fragen. Dann hat ihr Kollege den Kopf geschüttelt und dann haben sie lange geschwiegen, damit mir noch was einfallen kann.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739392684
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
modernes Märchen Märchenspinnerei Depressionen bei Jugendlichen romantisches Jugendbuch Gewalt im Internet Cybermobbing Froschkönig Urban Fantasy Romance Fantasy

Autor

  • Sylvia Rieß (Autor:in)

Sylvia Rieß wurde 1985 in einer Kleinstadt im Lahntal geboren und wuchs im ländlich geprägten Mittelhessen auf. Mit dem Schreiben von Geschichten hat sie schon früh begonnen. Als vielseitig interessiertes Kind war es auch immer ihr Traum Tierärztin zu werden. Beide Träume hat sie sich bewahrt und arbeitet heute in einer Gemischtpraxis auf dem Land. 2015 wurde mit "Der Stern von Erui" auch ihr erster Titel veröffentlicht.
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Titel: Der Axolotlkönig