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Time to change

Mafia Romance

von Charlene Vienne (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Time to Reihe, Band 1

Zusammenfassung

Aufgewachsen im Mafiamilieu kennt Tommaso Cosolino nur die lieblose, brutale und gnadenlose Art seines Vaters. Als er nach einem Schusswechsel im Sterben liegt, ergibt sich jedoch plötzlich eine neue Alternative. Ein kleines Mädchen erobert sein Herz und um sie zu retten, verlässt er sogar das Land und somit seine vermeintliche Familie. Nach der Flucht beginnt er ein neues Leben, in dem endlich Platz für einen normalen Alltag und somit auch für die Liebe ist. Doch wie lange kann dieser Frieden währen, wenn die Vergangenheit wie ein Schatten über ihm liegt? Band eins der Time to-Trilogie

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Time to change – Time to-Reihe Band 1

© 2020/ Charlene Vienne

www.facebook.com/Charlene.Vienne.Autorin/

Alle Rechte vorbehalten!

 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

 

Umschlaggestaltung

Charlene Vienne; Bilder: pixabay.com

 

Bildmaterial Buchlayout

pixabay.com

 

Lektorat/ Korrektorat

Elke Preininger

 

Erschienen im Selbstverlag:

Karin Pils

Lichtensterngasse 3-21/5/9

1120 Wien

 

 

Dieser Roman wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, lektoriert und korrigiert. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer. Das Buch enthält explizit beschriebene Sexszenen und ist daher für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.

Kurzbeschreibung

 

Aufgewachsen im Mafiamilieu kennt Tommaso Cosolino nur die lieblose, brutale und gnadenlose Art seines Vaters. Als er nach einem Schusswechsel im Sterben liegt, ergibt sich jedoch plötzlich eine neue Alternative. Ein kleines Mädchen erobert sein Herz und um sie zu retten, verlässt er sogar das Land und somit seine vermeintliche Familie.

Nach der Flucht beginnt er ein neues Leben, in dem endlich Platz für einen normalen Alltag und somit auch für die Liebe ist. Doch wie lange kann dieser Frieden währen, wenn die Vergangenheit wie ein Schatten über ihm liegt?

 

Band eins der Time to-Trilogie.

 

 

Kapitel 1

 

 

 

 

 

Sybil Miller, 1. Januar 1999, Chicago

 

»Was ist, wenn er deine Hilfe gar nicht will?« Ich greife seinen Hemdkragen, kralle mich in dem Flanell fest.

»Lass mich los, Mum. Ich muss es einfach tun, es ist vielleicht die letzte Chance.« Er reißt sich von mir los, verschwindet im Dunkeln, und lässt mich und meine Angst zurück.

Obwohl ich versuche, es nicht zu tun, beginne ich zu weinen, schlinge meine Arme um meinen Oberkörper, damit ich aufhöre zu zittern. Ohne Erfolg! Die Wut kommt wieder – stärker als zuvor – verdammter Junge! Warum kann er nicht endlich aus unserem Leben verschwinden? Oder besser gesagt, wieso kommt mein Sohn nicht von ihm los?

Wie eine unheilschwangere Ahnung spüre ich ihr Seufzen, noch bevor ich es höre, drehe mich zu ihr um, und meine zornigen Augen werden sanft, als ich ihr Leid erfasse, ihre Panik, die meiner gleicht und doch so anders ist. »Ich habe Angst!«, wispere ich. Ich will, dass sie versteht, und das tut sie, denn sie rückt näher und nimmt mich in ihre Arme. Zu fühlen, wie ihre Furcht ihren kleinen Körper schüttelt, ist entsetzlich. Sie ist so zart, so verletzlich, und ich verfluche mich zum tausendsten Mal, dass es mir nicht gelungen ist, sie vor ihrem Schicksal zu bewahren.

»Ich kann ihn nicht im Stich lassen«, sagt sie.

Wie von selbst bewegt sich mein Kopf hoch und runter. »Ich weiß«, antworte ich, trotzdem vibriert meine Stimme vor unterdrückter Wut. »Aber wie viele Leute müssen dafür büßen, dass er von einem Leben freikommt, das er doch sichtlich so genießt.«

Wie ein Kind starrt sie mich an. Flehend! Ihre Augen glänzen, und ihre Verzweiflung zwingt meinen Zorn in die Knie.

»Warum hasst du ihn so?«, fragt sie traurig, was mich tief seufzen lässt.

»Ich hasse ihn nicht. Ich kann nur nicht leiden, dass er dich und Chay immer wieder verletzt.«

»Du irrst dich. Er ist nicht, wie du ihn siehst. Das Leben, das er bis jetzt geführt hat, hat das aus ihm gemacht, was du kennst. Er verdient es, glücklich zu sein, so wie jeder andere auch. Früher war ich zu schwach, um ihn da rauszuholen. Jetzt endlich kann ich tun, was meine Pflicht als seine Mutter ist.«

Meine Skepsis lässt sich kaum verbergen. »Wie willst du ihn dort rausholen? Er wird ihn nicht einfach gehen lassen. Das weißt du. Du weißt, von wem wir hier reden.«

Sie nickt mit zusammengepressten Lippen. Jetzt spüre ich ihre Angst, sie ist genauso groß wie meine. Ich greife nach ihren Händen, halte sie fest, versuche, nichts zu sagen, doch es gelingt mir nicht. Bevor ich es verhindern kann, kommen die Worte aus meinem Mund. »Er wird euch jagen, und wenn er euch findet, seid ihr so gut wie tot.«

Ihr Schweigen ist lauter als jede Explosion. Tränen schimmern in ihren Augen, die flehend auf mich gerichtet sind. »Wir lieben ihn«, erklärt sie mir schließlich mit zärtlicher Stimme, dann leise, eindringlich: »Wir haben dich nicht gebeten, ihm zu helfen. Aber lass uns ihm helfen, bitte.«

Dieses Mal ist mein Seufzen deutlich hörbar. »Du verlangst einiges von mir. Du möchtest, dass ich die Sicherheit meines Sohnes riskiere, um deinen aus einem Leben zu befreien, das er womöglich gar nicht verlassen will. Das ist etwas viel, meinst du nicht?

»Würdest du für deinen Sohn nicht das Gleiche tun?«, fragt sie, und ich stimme ihr zu, und doch auch wieder nicht, denn mein Sohn ist unschuldig – ihrer nicht.

 

 

Kapitel 2

 

 

 

 

 

Für einen kurzen Moment wünschte Tommaso, er wäre der Typ, der an das Leben nach dem Tod glaubt. Die Sicherheit, dass danach noch etwas kommt, ihn am Ende dieser Qual irgendetwas Gutes erwartete, das ihm erlauben würde, dem Drängen seines Körpers nachzugeben und ihn sterben zu lassen. Eine bleierne Müdigkeit drückte ihn zu Boden, und die Kraft, die er aufwenden musste, um sich bei Bewusstsein zu halten, raubte ihm buchstäblich den Atem. Keine Frage, es wäre viel leichter, jetzt einfach aufzugeben. Leider war er Realist – dachte er zumindest. Legenden und Mythen ohne unerschütterliche Beweise gehörten nicht in seine Welt. Also entschloss er sich zu kämpfen – er war noch nicht bereit, zu gehen.

Ein leises Ächzen kroch über seine Lippen, bevor seine Augenlider endlich ihren Kampf gewannen und sich öffneten. Sein Kopf lag auf der Seite, und so war ihm lediglich die Aussicht auf eine schmutzige Hausmauer und ein paar weggeworfene Zigarettenstummel, die sich mit dem dreckigen Sud der Straße vollgesogen hatten, vergönnt. Vergeblich bemühte er sich, sein Gesicht in eine andere Richtung zu drehen, doch der stechende Schmerz in seiner Brust beherrschte ihn völlig, lähmte seinen restlichen Körper, raubte ihm die Kraft. Seine Augen schlossen sich erneut, aber das Dunkel hinter seinen Lidern brannte, also schlug er sie wieder auf. Ein Stöhnen war zu hören, diesmal lauter, und er stellte erstaunt fest, dass es sein eigenes war.

Nur einen Moment später erschien wie aus dem Nichts Mikes Gesicht dicht vor ihm.

»Hey, bleib wach!«

Der Versuch zu antworten misslang, doch durch die Konzentration, die Tommaso dafür aufgewendet hatte, schienen seine Nackenmuskeln mit einem Mal wieder zu funktionieren, und er schaffte es schließlich, den Kopf zu drehen. Endlich konnte er den klaren Nachthimmel über sich sehen. Ein paar wenige Farbschauer schmückten den Himmel – Nachzügler der großen Willkommensfeier für das Jahr 1999. Irgendwo krachten Böller, und er zuckte zusammen, weil er für einen Moment sicher war, das Schießen hätte wieder begonnen. Seine Lippen teilten sich und entließen ein heiseres Ächzen. Das Brennen und der Druck in seinem Brustkorb dominierten all seine Empfindungen. Da war nur Schmerz – und sein Körper, der seine letzten Kraftreserven aktivierte, um dagegen anzukämpfen.

Die Zeit verrann, nahm den Schock mit, was ihm nach und nach half, neben dem Schmerz auch die kalte, nasse Straße unter sich wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu fühlte sich das pochende Loch in seiner Brust heiß an. Das Atmen fiel ihm schwer, jeder Atemzug brannte wie Feuer in seiner Lunge und brachte doch nicht die gewohnte Erleichterung – es schien nicht genug Luft da zu sein. Wieder fielen seine Augen zu, und er ließ sich ein bisschen in die schmerzfreie Stille sinken. Es schien zu einladend, einfach einzudösen, dem ganzen Wahnsinn hier zu entfliehen. Die Geräusche rund um ihn vergingen. Das näherkommende Sirenengeheul und das aufgeregte Schreien der Leute verschwammen zu einem undeutlichen Hintergrundgeräusch. Ein leises Summen erfüllte seinen Kopf und versuchte, ihm einen neuen Weg aufzuzwingen, lockte ihn mit der Leichtigkeit der Schmerzlosigkeit. Er sank tiefer, ließ sich darauf ein.

 

Der Druck einer Hand an der seinen riss Tommaso brutal zurück, eine Stimme schnitt scharf in seine Stille und schaffte es schließlich, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es war Mike! Er hielt ihn fest, würde ihm helfen, das hier durchzustehen. Darauf konzentrierte er sich, kämpfte sich aus dem Dämmerschlaf, nur ein Stück – er war noch nicht so weit.

»Komm schon, bleib bei mir, Figo. Joe holt den Wagen, wir bringen dich gleich zu Doc.« Mike klang panisch, und Tommaso wünschte, er könnte ihn beruhigen. Er bemühte sich, zu nicken, doch seine Nerven schienen bereits tot, sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Es kostete ihn seine ganze Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben. Sein Leben hing buchstäblich am seidenen Faden und er kämpfte verzweifelt darum, nicht loszulassen.

Plötzlich war da das Gefühl zu schweben. Er trieb einfach davon, nur ein sanfter Druck an seiner Seite störte die Illusion der Schwerelosigkeit. Erst langsam gelang es ihm, die Empfindung zuzuordnen. Es waren Hände an ihm, und er schloss daraus, dass ihn jemand trug. Wieder bemühte er sich, die Lider zumindest einen Spalt zu öffnen. Als es ihm glückte, konnte er durch einen Schleier aus Tränen Joes Gesicht erkennen.

Weine ich etwa?, dachte er fast belustigt.

Joe schien in Panik mit jemandem zu sprechen.

Tommaso konzentrierte sich auf seine Ohren, aber außer einem dumpfen Dröhnen war da nichts. Durch das Wagenfenster sah er die Häuser in rasender Geschwindigkeit vorbeiziehen. Grell blitzte das Licht der Straßenlampen durch die dunkle Nacht herein. Er fror, begann unkontrolliert zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Irgendjemand legte seine Jacke über ihn, was ihn eine unendliche Dankbarkeit für diesen Jemand empfinden ließ.

Mike drängte sich ein weiteres Mal in sein Blickfeld. Er sprach zu ihm, aber er konnte nichts hören, beobachtete nur fasziniert die Bewegung seiner Lippen. Wieder versuchte er zu sprechen. Er wollte Mike sagen, dass er taub war, doch sein Mund blieb stumm. Verzweifelt schloss er erneut die Augen und sank zurück in die Bewusstlosigkeit.

 

Grelles Licht war das Nächste, was Tommaso sah. Angenehm hell, nicht wie die blendende Qual, wenn man morgens erwachte, oder nachmittags nach einer schweren Nacht. Sofort stellte er fest, dass irgendjemand anscheinend den Ton wieder angestellt hatte. Er konnte das nervöse Gemurmel rund um sich hören, und es schien von vielen Menschen zu kommen. Klar, sie hatten ihn nach Hause gebracht!

»Sie waren plötzlich da. Ich konnte nichts mehr tun. Tommaso stand einfach zu nah, er … er ging sofort zu Boden.« Anthonys Stimme überschlug sich, bevor sie brach.

»Habt ihr sie wenigstens auch erwischt?«

Tommaso erschauerte, als er erkannte, wer dies gesagt hatte – der Capo war also ebenfalls da. Natürlich!

»Zwei, in den Rücken. Der Dritte war zu schnell.«

»Ihr wollt mir erzählen, ihr habt meinen besten Mann verloren, ohne den Auftrag zu meiner Zufriedenheit erfüllt zu haben?«

Der Bass von Salvatores Gebrüll vibrierte an Tommasos Haut. Wäre es ihm möglich gewesen, er hätte gelacht. Das war typisch sein Vater – das Geschäft ging vor. Wenigstens hatte er ihn als besten Mann bezeichnet. Eine Ehre – und das wusste er plötzlich mit Sicherheit –, die er nur dem Umstand verdankte, dass er auf der Schwelle zum Tod stand.

Seine Jungs schwiegen, keiner wollte derjenige sein, der das Scheitern eingestand. Wie gerne nähme er die Schuld auf sich – nichts lieber als das –, aber sein Körper ließ es nicht zu. Die Befehle seines Hirns wurden von seinem Mund sträflich ignoriert.

»Wir werden ihn finden, Capo«, versprach Joe. »Und er wird dafür bezahlen.«

Doc sprach flüsternd mit seinem Vater, doch so verzweifelt Tommaso sich auch anstrengte, er konnte sie nicht verstehen. Mühsam bemühte er sich, den Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln, um erkennen zu können, wer an seinem Bett stand. Endlich erhaschte er einen kurzen Blick auf den weißen Kittel des Doktors. Hinter ihm unterhielt sich Anthony mit Joe.

»Mike, Doc sagt, es ist bald soweit.« Sein Vater trat näher. Mit einem eigentümlichen Ausdruck im Gesicht blickte er auf ihn hinunter. War es Ärger? Bedauern?

»Tommaso wird es nicht schaffen, ruft seine Mutter an.« Salvatores Stimme war vollkommen ruhig, er gab einfach Tatsachen weiter. Dabei suchte er Tommasos Blick, und für einen Moment sahen sie sich tief in die Augen. Salvatores Hand legte sich wie in Zeitlupe auf den Kopf seines Sohnes.

Die Berührung erschien Tommaso fast lächerlich zärtlich in Anbetracht des Umstands, dass sie von einem Mann kam, der unfähig war, Gefühle zu zeigen.

»Addio, mio caro figlio!«, sagte Salvatore traurig lächelnd und mit seltsam belegter Stimme. Danach sandte er ihm ein letztes, angedeutetes Lächeln, bevor er abdrehte und das Zimmer verließ, ohne zurückzusehen.

Was soll das? Tommasos Gedanken überschlugen sich. Warum verabschiedete er sich von ihm? Er war doch noch hier! Plötzlich wurde er wütend, er konnte förmlich spüren, wie der Ärger seine Kräfte mobilisierte. Wie kann er mich einfach aufgeben?

Mike und Anthony saßen auf Stühlen neben seinem Bett, der Doc war im Dunkel verschwunden, das den hinteren Teil des Zimmers versteckte. Seine einzige Aufgabe bestand nun darin, zu warten, bis es vorbei war, um danach Tommasos Tod zu bestätigen. Der Geruch einer Pfeife zog durch den Raum und es war zu hören, wie Mike aufgeregt in sein Handy sprach.

Müdigkeit hüllte Tommaso ein. Es gelang ihm kaum, die Augen offen zu halten. Sein Hals war komplett ausgetrocknet und er schluckte ein paar Mal schwer, versuchte, um Wasser zu bitten, doch kein Ton kam über seine Lippen. Stattdessen fielen seine Lider zu und er sank tiefer in die Stille.

Ich bin noch nicht bereit, dachte er verzweifelt, aber auf einmal wurde alles dunkel.

 

Das Nächste, was Tommaso spürte, war eine kühle Hand an seinem Gesicht. Sein Bewusstsein war zurück, was ihn mit unendlicher Erleichterung überschwemmte. Noch war es nicht vorbei.

Dann plötzlich ein Einstich an seinem rechten Arm. Unter größter Anstrengung schaffte er es irgendwie, die Lider zu öffnen. Sanfte braune Augen musterten ihn. »Chay!« Auch seine Stimme funktionierte wieder.

»Hey, Kleiner!« Chay lächelte, wenngleich seine Stirn in Sorgenfalten lag. »Ich wusste, dass es irgendwann soweit kommen wird. Aber Mann, so bald hatte ich nicht damit gerechnet. Konntest du nicht wenigstens deinen zweiundzwanzigsten Geburtstag abwarten?«

Chay nahm seine Hand und hielt sie fest. Es tat gut, ihn zu spüren, er wurde sofort ruhiger.

»Ich sterbe, oder?«, krächzte Tommaso.

»Der Doc kann nichts tun. Einen Transport ins Krankenhaus würdest du erst recht nicht überstehen.«

»Okay!« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.

Chay beugte sich grinsend über ihn. »Gibst du so schnell auf?«

»Was soll ich tun?«

»Du nichts«, flüsterte er, sein Lächeln wurde geheimnisvoll.

Tommaso versuchte zurückzulächeln und scheiterte. »Ich bin so müde, Chay!«

»Schlaf, mein Bruder! Ich bin hier.«

Und wieder war es dunkel.

 

 

Kapitel 3

 

 

 

 

 

Ein stetiges Piepsen drang durch den dichten Nebel seines Unterbewusstseins. Es störte ihn in seinem Frieden – er wollte nicht aufwachen. In seinem Hals brannte ein Fremdkörper, und das Atmen fiel ihm schwer, trotzdem hatte er seltsamerweise genug Luft.

Neugierig öffnete Tommaso seine Lider. Er lag in einem verdunkelten Zimmer. Nur der blasse Schein einiger Lämpchen der Apparatur neben seinem Bett spendete ein bisschen Licht. Eine Krankenschwester machte sich daran zu schaffen. Sie schien nicht zu bemerken, dass er wach war. Er schloss für einen Moment wieder die Augen, versuchte, sich zu erinnern. Angestrengt durchforstete er seinen Kopf. Doch da war nichts außer Dunkelheit, Stille und …

Aufs Äußerste konzentriert vollzog er einen Körpercheck – die Schmerzen waren noch da, aber sehr schwach. Ein undeutlicher Abklatsch der Tortur, die hinter ihm lag. Dann ein abrupter Schock. Warum war er im Krankenhaus?

Chay, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte ihm gesagt, er würde es nicht schaffen, und doch war er noch da.

Ein leises Stöhnen erklang. Es kam aus seinem Mund, allerdings gedämpft durch den Beatmungsschlauch. Die Schwester drehte sich zu ihm um, ihre Miene war erst erstaunt, dann erleichtert, und schließlich lächelte sie. »Sie müssen absolut stillliegen«, säuselte sie, und er stöhnte innerlich auf. Na klar, als läge es in seiner Macht sich zu bewegen, nicht einmal seine Stimmbänder gehorchten ihm.

Ihr routinierter Griff an seinem Handgelenk prüfte seinen Puls, doch das Ergebnis schien sie nicht wirklich zufrieden zu stellen. »Ich werde sofort einen Arzt holen«, murmelte sie und verschwand.

Als sich die Tür einige Minuten später öffnete, war es nicht Doc, der firmeneigene Doktor, der hinter der Krankenschwester hereinkam. Ein junger Mann in weißem Kittel, mit Hornbrille und einem breiten Grinsen im Gesicht baute sich vor seinem Bett auf. »Mr. Cosolino«, begann er nach einem kurzen Räuspern.

Tommaso blinzelte erschrocken. Nicht gut er kannte seinen Namen.

»Mein Name ist Bill Burton. Ich bin ihr zuständiger Arzt, also wenden Sie sich gerne mit allen Wünschen und Beschwerden an mich.«

Seine Augen zusammenziehend musterte Tommaso ihn verärgert. Sehr witzig, dachte er. Zum einen konnte er nicht sprechen und zum anderen hatte er dem Clown sicher nichts zu sagen.

Dr. Burton prüfte seine Vitalwerte und verabschiedete sich wieder, mit jeweils einem breiten Lächeln an ihn und die Krankenschwester. Tom drückte seinen Kopf zurück ins Kissen; die freundliche Miene des Arztes weckte in ihm das Gefühl, kotzen zu müssen. Typen wie er waren ihm in der Vergangenheit genug begegnet. Aufgewachsen in einem wohlbehüteten Zuhause, geschaffen von Eltern, deren Lebensaufgabe darin bestand, ihren prächtigen Sohn zu unterstützen und ihm alle Steine aus dem Weg zu räumen. Für einen undeutlichen Moment durchströmte ihn Neid auf das perfekte Leben des jungen Mannes, doch er war schnell vorbei und machte Platz für Wut – wie sehr er solche Typen hasste!

Er ließ die Erinnerung an seine eigene Kindheit zu, die kurzen Jahre des Glücks und das abrupte Ende, als alles zerbrach.

 

Sein Vater, Salvatore Abraham Cosolino, hatte aus einer Laune heraus beschlossen, dass es Zeit wurde, einen Erben in die Welt zu setzen. Also hatte er dafür gesorgt, ohne sich davor den Kopf zu zerbrechen, welche Verantwortung er damit vielleicht übernehmen müsste. Er hatte einen perfekten Nachfolger erwartet und ein kleines, hilfloses Wesen bekommen, das ihm eine Frau geboren hatte, die ihn eigentlich nicht mehr interessierte. Tommaso Salvatore Cosolino – sein Sohn, sein Prinz, seine Zukunft.

Cosolino Inc. war seit der Gründung durch Salvatores Vater zu einem riesigen Imperium angewachsen, das den Chicagoer Immobilien-Markt genauso dominierte, wie Salvatore die wichtigen Viertel der Stadt. Es gab kaum jemanden, der ihm nicht einen Gefallen schuldete, und kein anderes Unternehmen, das es gewagt hätte, ihm bei einem Geschäft in die Quere zu kommen. Taten sie es dennoch, kam es sehr gelegen, dass er als Capo vor so gut wie nichts zurückschreckte, um seine Ziele zu erreichen. Nicht umsonst war er im Kreise der Cosa Nostra aufgewachsen.

Das Leiten einer solchen Firma duldete natürlich keine Nebenjobs. Nachdem er jedoch seine Ehefrau Claire und ihren gemeinsamen Sohn aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatte, stellte er schnell fest, dass die Geburt von Tommaso eine weitaus größere Veränderung mit sich brachte, als er gedacht hatte. Seine junge Frau erholte sich schlecht von der zweitägigen anstrengenden Niederkunft und so kam es, dass er bereits zwei Wochen später genug vom Familienleben hatte. Claire war sehr schwach, aber er hatte keine Lust, zusätzliche Pfleger und Krankenschwestern in sein Haus zu holen. Ganz abgesehen davon ging ihm das Geplärre des Babys furchtbar auf die Nerven. Seine Machenschaften verlangten absolute Diskretion, und einen Haufen Pflegepersonal hier zu haben, hätte die ungestörte Ausübung seiner Geschäfte extrem gefährdet. Das galt es zu verhindern!

Also entwickelte er einen Plan, der außerdem dazu diente, der Tatsache aus dem Weg zu gehen, dass seine Ehefrau nicht gut auf seine diversen Geliebten reagierte. Daher übergab er sie, zusammen mit dem Säugling und zwei seiner verlässlichsten Mitarbeiter, in die häusliche Pflege ihrer Schwester Sybil. Gut, Claire und Sybil waren nicht blutsverwandt, lediglich gemeinsam in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Trotzdem oder vielleicht sogar deshalb standen sie sich näher, als er es je bei einer nicht sizilianischen Familie erlebt hatte. Irgendwo hatte es einmal einen weiteren Bruder gegeben, doch über ihn wurde nie gesprochen. Und Salvatore war sicher der Letzte, der dieses Thema auf den Tisch gebracht hätte.

Der Umstand, seine Frau und seinen Sohn zwar nicht in der Nähe, aber unter Kontrolle zu haben, erwies sich als absolut praktisch. Daher verzichtete er darauf, sie wieder zu sich zu holen, nachdem es Claire besser ging. Stattdessen stattete er das Haus, in dem sie jetzt wohnten, recht großzügig aus und sorgte mittels monatlicher Geldzuwendung dafür, dass es den beiden an nichts fehlte. Zur Überwachung der Verfassung seines Sohnes wurde eine ewig mies gelaunte Gouvernante eingestellt. Auch dieser Umstand hatte einen Mehrwert. Es amüsierte ihn, wie sehr sich seine junge Frau darüber echauffierte, dass ihr die Kinderfrau in die Erziehung hineinpfuschte, und außerdem war dafür gesorgt, dass jedes Wort, das in ihren vier Wänden fiel, an ihn weitergetragen wurde. Die Gouvernante blieb bis zu Tommasos drittem Geburtstag bei ihnen und aus späterer Sicht wurde Tommaso klar, für wie viele Probleme zwischen Claire und Salvatore sie wahrscheinlich verantwortlich gewesen war.

Ihr Lauschposten wurde danach neu besetzt. Zwei Männer, als Bodyguards getarnt, waren Tag und Nacht an der Seite Tommasos, also zumindest im Haus, sodass es Claire weiterhin unmöglich war, auch nur einen Schritt mit ihrem Sohn zu machen, ohne dass der Capo davon erfuhr.

Solange sich Tommaso zurückerinnern konnte, hatte Salvatore seine Tante Sybil verabscheut, wenngleich sie von ihm geduldet wurde, wohl aus Dankbarkeit, da sie ihn von der Last seiner Familie befreite. Der Grund für diese Abneigung blieb ihm lange verborgen, aber je älter er wurde, umso klarer zeichnete sich ab, dass es absolut auf Gegenseitigkeit beruhte. Seine Tante vermied es, im Haus zu sein, wenn er kam, und wechselte mit seinen Männern nur in Notfällen ein Wort. Sie sprach auch nicht über Salvatore – nicht mal mit seiner Mutter, zumindest nicht, solange er ebenfalls im Raum war.

Salvatore ließ bei seinen Besuchen deutlich erkennen, dass sein Interesse nur seinem Sohn galt. Dennoch verhielt er sich seiner Frau gegenüber höflich distanziert. Tommaso versuchte in seiner viel zu kurzen Kindheit, den Glauben aufrecht zu erhalten, dass sein Vater seine Mutter irgendwann wirklich geliebt hatte, zumindest für eine Weile. Er kannte die Geschichte. Sie war so jung gewesen, als sie ihm begegnete, kaum sechzehn. Der attraktive, reiche Sizilianer hatte sie heftig umworben und sie hatte sich beeindrucken lassen. Von den teuren Restaurants und wertvollen Geschenken. Trotzdem war sie so standhaft geblieben, dass Salvatore sich schließlich gezwungen sah, sie in einer schlichten Zeremonie zu Mrs. Cosolino zu machen. Zwei Monate später war sie schwanger geworden – und etwa zu diesem Zeitpunkt hatte er das Interesse an ihr verloren.

Entgegen den sporadischen Stippvisiten in der Anfangszeit von Tommasos Lebens begann sein Vater, sie ab seinem dritten Geburtstag regelmäßig zu besuchen. Einmal pro Woche kam er vorbei, und dafür wurde Tommaso geschniegelt und gestriegelt und in einen der teuren Anzüge gesteckt, die sonst in seinem Schrank versauerten. Der Stoff kratzte und zwickte, so sehr, dass er oft zwei Nächte vorher schon Alpträume davon hatte. Oder von der Tortur des Kämmens! Das war auch so eine Sache, die sich wie tiefe Narben in seine Erinnerung gebrannt hatte. Seine anfangs noch strohblonde Haarpracht war etwas, das seine Mutter und Tante Sybil regelmäßig in Verzückung versetzte. Sie bestand bis zu seinen Teenager-Jahren aus extrem widerspenstigen Locken, anscheinend ein Erbe irgendeiner Urgroßmutter. Hatte sich jedoch sein Vater zum Besuch angekündigt, wurden diese mit einem nassen Kamm solange bearbeitet, bis auch die letzte Biegung daraus verschwunden war, und anschließend mit einer seltsamen durchsichtigen Masse festgepappt. Er hasste es und Chay ließ keine Gelegenheit aus, ihm zu erklären, dass er aussah, wie ein Musterschüler.

Chay! Einer der Lichtblicke seiner Kindheit. Er war sein Cousin, und einer Liaison Sybils mit einem furchtbar gutaussehenden, jungen Indianer entsprungen. Tommaso liebte es, gemeinsam mit seinem Cousin ihren Erzählungen zu lauschen, und er bemühte sich redlich, seinem eigenen Vater gegenüber auch nur halb so viel Ehrerbietung und Liebe entgegenzubringen, wie Chay sie anscheinend für die Erinnerung an seinen Dad empfand. Es gab Bilder von diesem geheimnisumwobenen Mann, und Tommaso war überzeugt, dass er ihn gemocht hätte. Leider hatte das Glück seiner Tante ein schnelles und schreckliches Ende gefunden. Ihr Verlobter war bei einem Raubüberfall auf offener Straße erschossen worden. Sybil und er waren gerade auf dem Heimweg von der Kirche gewesen, den Termin für die Hochzeit in der Tasche, die Liebe in den Augen. Vorbei!

Die Schreie, mit denen seine Tante manchmal nachts aus ihren Alpträumen aufschreckte, ließen auch die anderen im Haus ihren Schmerz nicht vergessen. Beinahe jedes Mal, wenn ihr Weinen durch die Räume schallte, verließ Tommaso sein Bett und stürmte über den Gang, um zu Chay in die Federn zu kriechen. Tief in sich hatte er immer gewusst, dass der ihn in diesen Momenten genauso brauchte, wie er ihn. Und so hatten sie dagelegen, sich aneinander festhaltend – vereint in Schmerz und Angst.

Chay hatte ihn stets Tom genannt, weil ihn sein richtiger Name zu sehr daran erinnerte, nach wem er benannt worden war und er zumindest teilweise im Bilde war, warum Sybil so ein Problem mit Salvatore Cosolino hatte. Trotzdem hatte er sich geweigert, mit ihm über dieses Thema zu sprechen. Tommaso war irgendwie immer klar gewesen, dass er es Claire zuliebe getan hatte.

Tommasos Kindheit war, von den Besuchen seines Vaters abgesehen, eine absolut glückliche Zeit gewesen. Bei seiner Mum und Sybil fand er Liebe und Geborgenheit. Sie erzogen ihn zu einem höflichen, rücksichtsvollen Jungen, der trotz der Versuchungen, die die etwas gewöhnungsbedürftige Umgebung bot, nie auch nur den Wunsch verspürte, vom rechten Wege abzukommen.

Natürlich war er kein Engel. Bereits früh ließ er sich von Chays Vorliebe für Mark Twains Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn anstecken. Deren Erlebnisse inspirierten die beiden immer wieder zu neuen Streichen, was dazu führte, dass sie mehr als genug Unsinn trieben und in ihrem Streben nach dem absoluten Spaß die Grenzen öfter als einmal überschritten. Das brachte ihnen regelmäßig Stubenarrest ein, was allerdings leicht zu ertragen war, da Chay immer einen Weg kannte, sich in sein Zimmer zu schleichen. War das nicht möglich, schrieben sie sich heimliche Nachrichten, die das Hausmädchen für sie hin und her schmuggelte. Unterschrieben waren diese stets mit Tom und Huck – und beide fanden das Ganze furchtbar abenteuerlich.

Alles änderte sich kurz vor Tommasos zwölftem Geburtstag. Der Wendepunkt in seinem Leben kam für ihn jedoch so unerwartet und überraschend, dass er ihn erst zur Kenntnis nahm, als er bereits vorüber war.

Chay war einige Wochen zuvor neunzehn geworden. Die letzten Tage vor Tommasos Ehrenfest wich er ihm praktisch nicht von der Seite, was seltsam war, weil er die Monate vorher eigentlich immer öfter ausgegangen war. Es hatte Tommaso nicht gefallen, dass er so oft weg gewesen war, aber er hatte versucht, ihn zu verstehen. Chay war dabei, erwachsen zu werden, er selbst war noch ein Kind. Er wusste, er liebte ihn, trotzdem war ihm klar, dass er auch Zeit für sich benötigte.

Und dann war er plötzlich wieder ständig zu Hause. Er, Claire und Sybil steckten auffällig oft ihre Köpfe zusammen und sprachen davon, dass sie alle in Kürze zu seiner Großmutter nach Europa reisen würden. Natürlich versuchten sie, zu verhindern, dass Tommaso ihre Pläne mitbekam, doch in der Aufregung hatte Chay wohl vergessen, wie viele Verstecke sie in all den Jahren gefunden hatten, von denen aus man die Erwachsenen bequem belauschen konnte. Und so hörte Tommaso praktisch alles, begriff jedoch nicht einmal die Hälfte davon.

Was ihn aber noch mehr durcheinanderbrachte, war das Verhalten seiner Mum. Sie schien ständig in Panik zu sein und hatte wenig Zeit für ihn. Stattdessen dominierten häufige Streitgespräche zwischen ihr, Chay und Sybil die Tage, und der Inhalt dieser Diskussionen gab ihm erst recht Rätsel auf. Seine Mum war unzufrieden, dass ES so langsam voranging. Sie verlangte, dass ES viel eher über die Bühne gehen sollte, da sie es satthatte, in der Angst zu leben, ER würde sonst vorher zuschlagen. Wenn sie aber bei Tommaso war, beobachtete sie jede seiner Bewegungen, und ihre Augen bekamen dabei einen verzweifelten, ängstlichen Blick. Weit öfter als normal schloss sie ihn einfach fest in ihre Arme, sagte ihm, wie sehr sie ihn liebte. Ihre intensive Fürsorge machte ihn nervös – normalerweise war sie keine typische Glucken-Mutter.

Einige Wochen vor Tommasos Geburtstag hatte Chay das erste Mal seine Freundin mit nach Hause gebracht. Amayeta, eine indianische Schönheit, die nicht nur wahnsinnig nett, sondern auch augenscheinlich bis über beide Ohren in Chay verliebt war, und er nicht weniger in sie. Diese Tatsache amüsierte Tommaso natürlich sehr, und er ließ keine Gelegenheit aus, seinem Cousin das dementsprechend kindisch zu präsentieren. Was ihn danach allerdings erschütterte, war, wie minimal Chay auf seine Scherze und Neckereien einging. Nicht mal ärgerlich wurde er darüber – er reagierte eigentlich gar nicht. Und ungefähr zu jener Zeit begann er, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Diese wuchsen und erreichten ein paar Tage vor seiner Geburtstagsparty ihren Höhepunkt. Ein Streit zwischen seinen Eltern – auch wenn ihm diese Bezeichnung bisher niemals als richtig erschienen war – lockte ihn spätabends aus seinem Zimmer nach unten. Salvatore hatte eigene Pläne für den Ehrentag seines Sohnes, doch Claire widersprach ihm zum ersten Mal, seit Tommaso denken konnte, so vehement, dass die Auseinandersetzung eskalierte. Chay ging dazwischen, was Salvatore natürlich bis aufs Äußerste reizte. Die darauffolgende Schreierei und die Tatsache, dass sein Cousin mit einer Waffe bedroht wurde, führten bei Tommaso zu einer Art Schockstarre, gepaart mit Atemschwierigkeiten. Der daraus resultierende Schwächeanfall, der ihn zu Boden sinken ließ, rettete Chay das Leben. Salvatore zog sich Tommaso zuliebe zurück, eine für den Capo absolut untypische Handlung, die vielleicht zum ersten Mal zeigte, wie viel ihm dann doch an seinem Sohn lag.

Die Party kam, und zur Überraschung aller war der Tag gefüllt mit Spaß, Harmonie und Freude. Sie aßen Kuchen, Tommaso packte seine Geschenke aus, und sie sangen Lieder. Es war wirklich perfekt – zumindest bis zu dem abrupten Ende, weil Chay und seine Freundin die Feier frühzeitig verließen. Amayeta ging es von einer Minute auf die andere furchtbar schlecht, weshalb Chay sie so schnell wie möglich zu einem Arzt bringen musste. Tommaso blieb ein wenig enttäuscht zurück, und obwohl er nicht genau wusste, warum, wuchs in ihm der Gedanke, dass hinter Chays plötzlichem Aufbruch sein Vater steckte. So als hätte er ihn aus dem Weg geschafft. Denn eines war klar! Chay hätte sich ihnen in den Weg gestellt – Salvatores Männern, die etwa dreißig Minuten später auftauchten, Claire und Sybils Protest ignorierend, und Tommaso mitnahmen. Einfach so –, und ihn zu seinem Vater brachten. In dessen neue Villa in Hyde Park.

Irgendwann, bei einem der letzten Besuche Salvatores, hatte er seinem Sohn Bilder seines kürzlich erworbenen Anwesens gezeigt. Trotzdem war Tommaso überrascht, als er aus der Limousine stieg. Das Haus war riesig – eigentlich protzig –, erschien ihm wie ein Palast. Typisch für den Capo und seine Firma. Tommaso kannte den Ausdruck, den seine Männer für seinen Dad verwendeten, auch wenn er nicht genau wusste, was dieses Wort bedeutete.

David Brown, der englische Butler, führte ihn durch einen scheinbar endlosen Säulengang und dann über eine breite Treppe nach oben. Tommasos Hände waren schweißnass und die Aufregung verursachte ihm Übelkeit. Das Ambiente seiner Umgebung entsprach der Idee, den Betrachter bestmöglich einzuschüchtern, und das funktionierte. Er war beeindruckt, bemühte sich jedoch redlich, sich das nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Im ersten Stock steuerten sie auf eine große Doppeltür zu, und Tommaso spürte seine Angst wachsen. Der Abgang seines Vaters am letzten Wochenende verhieß nichts Gutes. Er erinnerte sich mit einem Mal an sein vor Zorn gerötetes Gesicht, als er das Haus verlassen hatte, und eine dunkle Vorahnung füllte seinen Magen mit Eis.

David hielt an, beugte seine Knie etwas, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu gehen. Viel war dazu nicht notwendig, er war nur einen Kopf kleiner als er. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, Tommaso. Er ist dein Vater. Alles, was er tut, macht er aus dem Glauben heraus, dass es das Beste für dich ist.«

Tommaso nickte, und obgleich es Davids Worten nicht gelang, ihn zu beruhigen, erfüllte ihn doch ein Gefühl der Dankbarkeit für den Versuch. Es stimmte ihn ein wenig positiver, dass es anscheinend zumindest einen MENSCHEN im Umfeld seines Vaters gab.

Der Butler schob ihn an den Schultern in den Raum und schloss hinter ihm die Tür, wo er reglos stehen blieb. Sein Herz hämmerte panisch schnell in seiner Brust – er war allein mit IHM. Vor Furcht zitternd drängte er sich zurück gegen das Holz der Tür und spähte angestrengt in die Schwärze des Zimmers. Die Dunkelheit wurde lediglich vom schwachen Licht einer Stehlampe durchbrochen, doch als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, bemerkte er die Hand seines Vaters, die ihn näher winkte. Salvatore lehnte in seinem hohen Ledersessel hinter dem unwirklich riesig wirkenden Schreibtisch. Sein Gesicht war im Schatten verborgen.

Fast geräuschlos trat Tommaso nach kurzem Zögern auf ihn zu, der dicke rote Teppich schluckte seine Schritte. Bei ihm angelangt, blieb er stehen. Nun konnte er ihn genau sehen. Unglaublich, aber wahr – er lächelte.

»Buon compleanno!«

Tommaso runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, Sir.«

Salvatore schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist italienisch, mein Sohn. Und es bedeutet ›Alles Gute zum Geburtstag‹.«

»Danke, Sir.«

»Hattest du eine schöne Feier?«

»Ja, Sir.«

Schweigen.

Salvatore stand auf und ging auf seinen Sohn zu. Ohne auf sein ängstliches Zurückzucken zu achten, legte er ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn mit in Richtung Fenster. »Komm mit, figlio mio«, murmelte er dabei.

Tommaso blinzelte immer wieder nach oben zu seinem Gesicht und versuchte, seine Stimmung, seine Absicht zu erraten.

»Tommaso. Als mein Sohn ist es dir bestimmt, einmal eine Firma zu übernehmen, die so mächtig ist, wie du dir das nicht einmal im Traum vorstellen könntest. Ich …« Er lächelte überheblich auf ihn hinunter, »… wir … sind sehr reich, mein Junge. Und all das Geld und die Macht gehören irgendwann dir.« Er lachte leise auf. »Als mein Vater nach Amerika kam, verließ er den sicheren Schoß seiner Familie, um hier ganz von vorne anzufangen. Es ist unsere Aufgabe, das, was er geschaffen hat, am Leben zu erhalten. Es ist harte Arbeit, die Firma zu leiten, doch Gott sei Dank habe ich Hilfe dabei. Meine Männer stehen zu hundert Prozent hinter mir. Sie gehorchen mir ebenso vorbehaltlos wie ich, im Gegenzug dafür, für sie sorge. Das Wichtigste in unserem Geschäft ist Kontrolle und absolute Loyalität.«

Interessiert starrte Tommaso seinen Vater an. So lange hatte er noch nie an einem Stück zu ihm gesprochen.

»Es ist nun an der Zeit, dass wir dich auf diese Aufgabe vorbereiten. Deshalb wirst du ab sofort bei mir wohnen und hier von Privatlehrern unterrichtet werden. David wird dir dein Zimmer zeigen.«

»Aber, Sir? Weiß Mum davon, dass wir zu dir ziehen?« Tommaso war verwirrt. Warum hatte sie ihm nichts erzählt?

»DU kommst zu mir, Tommaso. Sonst niemand.« Salvatore ging zum Schreibtisch zurück und drückte auf die dort angebrachte Klingel. Sofort öffnete sich die Tür und der Butler stand darin.

»Und was wird aus Mum, Tante Sybil und Chay?« Jetzt war Tommaso wirklich entsetzt. Er begann, die Gründe für das Verhalten seiner Familie in den letzten Wochen zu erahnen.

Sein Vater starrte ihn nur mit ausdrucksloser Miene an und Tommaso wusste, er würde keine Antwort von ihm bekommen. David stand plötzlich hinter ihm, legte ihm eine Hand auf seine Schulter, und er gehorchte und ging mit ihm.

 

Um 21:48 Uhr an diesem Abend endeten Tommasos Kindheit und sein bisheriges Leben. Alles, was er bis dahin zu wissen geglaubt hatte, was ihm richtig und real erschienen war, löste sich auf. Verwischte zu einem unwirklichen, trüben Nebel, der ihn einfing und für die nächsten Jahre gefangen halten sollte. Joe erschoss einen Mann, kaum älter als Chay, und Tommaso stand daneben und ließ es zu. Er wusste weder, was der Typ getan hatte, noch wie er hieß, doch instinktiv erkannte er, dass es keinen Unterschied machte, wüsste er es.

Der Mann kniete bebend am Boden, blickte gehetzt und panisch zu Joe auf. Salvatore bevorzugte Blickkontakt bei seinen Exekutionen, Schüsse in den Hinterkopf waren etwas für Feiglinge, meinte er. Jetzt stand er bedrohlich nahe hinter seinem Sohn und seine Hände lagen mit festem Druck auf dessen Schultern.

Tommaso kämpfte gegen seine Angst und das Wissen, dass das, was diesem jungen Mann hier passierte, falsch war, egal welches Verbrechen er vielleicht begangen hatte. Er wollte sich selbst zwingen, den Mund aufzumachen. Ihn aufzumachen und seinem Vater die Ungerechtigkeit entgegen zu schreien. Doch er blieb stumm.

»Loyalität ist das Wichtigste, Tommaso. Wir müssen unseren Männern trauen können. Wenn das nicht der Fall ist …« Salvatore stockte kurz, während Joe ein hartes Lachen ausstieß und seine Waffe entsicherte.

»… dann musst du herausfinden, wo die Schwachstelle liegt und sie entfernen.« Die leise Stimme seines Dads jagte einen Schauer über Tommasos Rücken. Er bemerkte, dass auch Joe ihn neugierig beobachtete, während er weiter den jungen Mann bedrohte. Seine Reaktion schien beiden furchtbar wichtig zu sein. Und da ihn seine Mutter dazu erzogen hatte, seinem Vater stets Respekt zu zollen und, soweit möglich, seinen Wünschen zu entsprechen, bemühte sich Tommaso tapfer, ruhig zu bleiben und nicht zu schreien.

Bis zu dem Moment, als Joe abdrückte, war er sich eigentlich sicher gewesen, dass sein Dad, oder besser gesagt Joe, einen Rückzieher machen würde. Vielleicht hatte er auch gehofft, dass, wenn er den Abzug betätigte, eine Fahne, auf der ›BÄNG‹ geschrieben stand, herauskäme. Doch nichts davon geschah. Der Schuss war laut und der Geschmack der Luft danach war fremd und scharf. Sie brannte gemeinsam mit den ungeweinten Tränen in seinen Augen.

Erschrocken wich er ein Stück zurück und prallte gegen seinen Vater, während er beinahe neugierig auf das kleine Loch in der Stirn des Jungen starrte. Dann plötzlich – es kam ihm vor wie Stunden, obwohl kaum zwei Sekunden vergangen waren – sank der leblose Körper zu Boden. Blut sickerte rund um seinen Kopf in den dicken, hellen Teppich, doch so schockierend der Anblick auch war, gelang es ihm nicht, seine Augen abzuwenden. Das erste Mal in seinem Leben verspürte er die Faszination des Todes und es war ihm ebenso unmöglich, wegzusehen, wie den Leuten, die an einem Verkehrsunfall vorbeikamen.

Nach und nach ging sein Adrenalinspiegel zurück und auch sein Herzschlag normalisierte sich. Er bemerkte nicht, dass er seine schweißnassen Handflächen an seiner Hose trockenrieb, so als würde das Blut des Jungen daran kleben.

Sein Vater klopfte ihm anerkennend auf die Schultern. »Gratuliere, du bist wirklich mein Sohn. Ich weiß, dass du Angst hattest, aber du hast sie nicht gezeigt!«

Das war das erste Kompliment, das er von Salvatore bekommen hatte, dennoch konnte er sich nicht darüber freuen. Zu genau wusste er, was seine Mutter und Tante, was Chay davon gehalten hätten, wenn sie ihn jetzt sehen könnten. Schnell verdrängte er den Gedanken an ihr Entsetzen, ihre Abscheu, denn viel mehr ängstigte ihn sein eigenes Gefühl. Da war kein Bedauern, keine Panik oder Angst geblieben, sogar die Trauer über den Verlust seiner Familie war verschwunden. Er stand einfach da und fühlte nichts, denn das war um ein Vielfaches besser als der Schmerz.

 

 

Kapitel 4

 

 

 

 

 

Ein Pochen schreckte Tommaso aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf, und für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Erst langsam kam die Erinnerung, beinahe gleichzeitig mit dem zweiten Klopfen. Er versuchte zu sprechen, doch er scheiterte, weil ein Beatmungsschlauch in seinem Hals steckte. Es klopfte erneut, er wartete schweigend, und schließlich trat der Besucher auch ohne Einladung ein.

Es war ein Cop. Das sah Tommaso sofort. Wieder wunderte er sich, warum er hier war. Anscheinend in einem öffentlichen Krankenhaus, ohne Schutz, ohne Doc.

»Mr. Cosolino. Freut mich, dass es Ihnen besser geht. Ich bin Detective Marcus Spinelli. Ich wurde Ihrem Fall zugeteilt.« Der Blick des Mannes glitt abschätzend über Tommasos vereiste Miene. »Das heißt, wir werden sehr viel miteinander zu tun haben die nächste Zeit, also schlage ich vor, Sie zügeln Ihren Hass auf mich ein bisschen.«

Tommasos beinahe stechend grüne Augen spiegelten allzu deutlich seine Abscheu gegen Polizisten wider, was diesem ein höhnisches Grinsen entlockte. »Versuchen Sie es wenigstens, okay?« Er ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder. »Ich denke, Sie wollen wissen, was hier los ist, Mr. Cosolino – oder darf ich Sie Tommaso nennen?« Aufmerksam musterte der Detective seine Reaktion.

Tommaso verdrehte die Augen.

»Ich deute das als ein Ja. Nun … Mr. Chayton Miller hat Sie vor etwa drei Wochen hierhergebracht. Als klar war, dass Sie überleben werden, hat er mit uns einen Deal ausgehandelt. Doch ich denke, die Einzelheiten sollten Sie wohl eher von ihm hören.« Er plauderte noch einige Minuten weiter, über Rechte und Möglichkeiten, die Tommaso jetzt hatte, aber Tommasos Gehirn hatte sich nach der Erwähnung von Chays Namen ausgeklinkt.

Was sollte das wieder bedeuten? Was zur Hölle war hier los? Und vor allem – wo war er hier?

Als Spinelli schließlich sein Zimmer verließ, blieb Tommaso mit dem Wirrwarr seiner Gedanken zurück. Wut und Zorn beherrschten die ersten Stunden, verwandelten sich aber langsam in Neugier und schlussendlich in Ungeduld. Er konnte es nicht fassen, dass dieser Cop so eine Bombe platzen ließ und Chay dann nicht auftauchte.

 

Er kam am nächsten Morgen. Wahrscheinlich war er der Meinung, es wäre besser, die Nachricht erst sacken zu lassen. Tommaso hatte die Nacht mit Grübeln verbracht, versucht, Pläne zu schmieden, ohne zu wissen, auf welche Situation er überhaupt reagieren musste.

Was hatte sein Cousin den Cops erzählt? Spinelli hatte von einem Deal gesprochen – aber was war das für eine Vereinbarung? Was steckte für eine Bedingung dahinter?

Chay wusste, wie eng er an seinen Vater, an die Firma, an die Familie gebunden war. Es war undenkbar, sich gegen ihn zu stellen – das musste ihm doch klar sein! Natürlich war ihm im Gegensatz dazu bewusst, wie sehr Chay dieses Leben widerstrebte, das hatte er ihm mehr als einmal gesagt. Nie im Streit, so war er nicht. Manchmal schien er dreißig und nicht sieben Jahre älter als er. Vielleicht lag es an den indianischen Wurzeln, die er in sich trug.

Der nette, freundliche Doktor war bereits früh morgens gekommen, um Tommaso den Schlauch aus dem Hals zu ziehen. Danach war er noch neben seinem Bett stehen geblieben, den Blick erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Was erwartete er – einen Dank, Jubel?

Als Tommaso nicht reagierte, ging er, stieß jedoch in der Tür mit Chay zusammen. Sein Kopf knallte gegen den muskelgestählten Oberkörper, und Tommaso begann automatisch zu grinsen – der Größenunterschied war wirklich zu witzig. Auch der junge Arzt schien überrascht, blickte auf den zwei Meter-Riesen vor ihm und wich schließlich mit einer gemurmelten Entschuldigung zurück. Chay sah nicht minder verwundert auf ihn hinunter und drängte sich endlich an ihm vorbei. Der Weißkittel verschwand aus dem Zimmer, und die Tür fiel mit leisem Klicken ins Schloss.

»Hey, Huck!«, krächzte Tommaso. Trotz drei Tassen Wassers herrschte in seiner Kehle immer noch Dürre.

»Hey, Tom!« Chay trat näher und er sah, dass er etwas, oder besser gesagt, jemanden hinter seinem Rücken versteckte. Derjenige ging ihm bis knapp über die Hüfte und hatte lange schwarze Haare.

»Du darfst mir keine Nutten mitbringen. Verstößt gegen die Vorschrift«, versuchte Tommaso zu scherzen, immer noch heiser.

Chay lachte nicht – kein gutes Zeichen. Seine Stirn war gerunzelt und er schüttelte fast unsichtbar den Kopf. Er wirkte nervös und angespannt.

Unsicher blickte Tommaso zu ihm auf, wartend.

»Tom …« Chay stieß kurz die Luft aus und lächelte dann. »Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist … Sue … meine Tochter.« Er zog das Mädchen zärtlich hinter sich hervor und in seine Arme. Die Kleine schien etwa sieben Jahre alt zu sein, hatte ein süßes herzförmiges Gesicht, und ihre Augen waren unglaublich schön, tiefgründig und grün – ungewöhnlich für eine Squaw. Sie kamen Tommaso irgendwie bekannt vor.

»Warum hast du sie denn so lange vor mir versteckt?« Er runzelte verwirrt die Brauen, entspannte sein Gesicht aber, als ihm ein Gedanke kam. »Ich war wohl kein guter Umgang für eine junge Lady, was?« Langsam kam seine Stimme wieder.

»Das hat mehrere Gründe, wir kommen später dazu«, fertigte Chay ihn kurz ab.

Sue kam lächelnd auf das Bett zu. »Hi, Tom! Mein Dad hat mir so viel von dir erzählt.«

Tommaso konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Ihre Stimme weckte eine vertraute, aber tief verborgene Sehnsucht in ihm. »Hi, Sue! Freut mich, dich kennen zu lernen.«

Mit der Selbstsicherheit einer jungen Dame nahm sie auf dem Stuhl davor Platz. »Hast du Schmerzen?«, erkundigte sie sich ungemein erwachsen klingend, während sie ihn mit besorgtem Blick musterte.

Sein Grinsen wurde breiter. »Nein, die pumpen mich hier so mit Drogen voll, dass ich eigentlich gar nichts mehr spüre.«

Sie kicherte und Chay trat hinter sie und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Auch er lachte leise. Die Situation wirkte so unwirklich, dass Tommaso plötzlich schmerzhaftes Bedauern empfand, denn er fürchtete, jeden Moment aus einem Traum zu erwachen.

Das Lachen verklang. Sue hatte sich zu Chay gewandt, der ihre Hand genommen hatte. »Wartest du bitte draußen bei Grandma? Ich muss etwas mit Tom besprechen«, flüsterte er ihr zu.

Ernsthaft nickend stand die Kleine auf. »Bye, Tom. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

»Bye, mia piccola, das hoffe ich auch.« Überrascht merkte er, dass er es genauso ernst meinte, wie es klang. Wäre sie eine Frau, würde er plötzlich an Liebe auf den ersten Blick glauben, aber so? Die Verbundenheit, die er zu dem Mädchen fühlte, war schon fast unheimlich.

Als sie gegangen war, setzte sich Chay auf den Stuhl. Es war ihm anzusehen, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.

Tommaso musterte ihn fragend. »Wie hast du mich hierher geschafft?« Die Schnelligkeit, mit der die Frage aus seinem Mund geschossen war, zeigte ihm, wie neugierig er auf die Antwort war.

»Mit dem Auto.« Chay schmunzelte vorsichtig.

»Sehr witzig! Du weißt, was ich meine. Das hier sieht nicht aus wie Salvatores Privatsanatorium, und der Cop hat auch so etwas angedeutet.«

»Tja, dann ohne viel Herumgerede.« Chay lachte unsicher. »Als Mike anrief, um Claire mitzuteilen, dass du im Sterben liegst, hab ich mir bei einem Bekannten ein Toxin besorgt. Das hab ich dir gespritzt.«

Tommaso hob seine Augenbrauen an. »Du hast mich vergiftet? Nett!«

»Ja, sorry, musste sein.« Chay grinste nervös. »Also, diese Substanz hat deine Körperfunktionen wie Atmung und Herzschlag sozusagen auf Sparflamme gestellt. Und Salvatores Doc … Na ja, wir wissen, dass seine Fähigkeiten aufgrund der veralteten Methoden und natürlich auch ein bisschen bedingt durch seine … Vorliebe für Brandy … herabgesetzt sind. Wie auch immer, er hat dann deinen Tod bestätigt.«

»Ach!« War alles, was Tommaso darauf erwidern konnte.

»Deine sogenannte Familie, deine Jungs, hatten es ziemlich eilig, wegzukommen, als es … vorbei war. Ich hatte Salvatore vorher angefleht, im Falle deines Todes, deine Leiche zu deiner Mutter bringen zu dürfen. Er war einverstanden – warum auch immer – vielleicht weil er dachte, es ihr schuldig zu sein. Auf jeden Fall, musste ich dich nur mehr raustragen. War total einfach, eigentlich.«

»Freut mich, dass ich dir keine Schwierigkeiten bereitet habe.« Ironie schien die einzige Möglichkeit zu sein, um dieser surrealen Situation zu begegnen.

»Hier angekommen, hab ich dir das Gegengift gespritzt, und die Ärzte haben begonnen, um dein Leben zu kämpfen. Nach einigen Tagen und einer echt endlosen Nacht, in der wir uns alle sicher waren, dich zu verlieren, ging’s plötzlich bergauf, und kurz darauf warst du über dem Berg.« Er machte eine ausholende Handbewegung über Toms von Schwäche gezeichneten Körper. »Und – voilà – hier liegst du nun. Offiziell tot und doch so lebendig.«

»Offiziell tot …«, wiederholte Tommaso langsam. »Das heißt, mein Vater denkt, ich bin … verstorben?«

»Ja!« Chays Blick war voller Stolz, Tommaso presste die Lippen zusammen und schnaubte ärgerlich, bevor er wieder sprach. »Okay. Ehrlich – ich habe keine Ahnung, was das alles soll, Chay!«

»Du bist frei, Mann. Er denkt, du bist tot. Er wird dich vergessen. Du kannst endlich beginnen zu leben, normal zu leben.« Euphorisch war Chay aufgesprungen, seine Iriden blitzten.

»Wovon frei? Chay, Mann! Du hast meine Familie belogen, du hast mich weggeschleppt wie eine Beute. Ich habe ein Leben, warum sollte ich ein neues beginnen?«

Chays Augen weiteten sich entsetzt. »Das ist nicht dein Ernst. Du willst mir doch nicht erklären, dass du dort nicht raus wolltest? Salvatore ist ein Mörder, brutal und grausam.«

»Das bin ich auch, Chay«, sagte Tommaso leise.

»Nein, er hat dich dazu gemacht. Er hat dich gezwungen – du bist nicht so.«

Tommaso lachte bitter. »Warum sagst du das? Du kennst mich nicht. Wie oft haben wir uns gesehen, die letzten Jahre? Zwei, dreimal im Jahr. Auf ein Essen … oder einen Drink! Ich bitte dich.«

»Was willst du mir damit sagen, Tom? Ich muss dich nicht täglich sehen, um dich zu kennen. Ich sehe deine Seele. Du warst immer wie ein Bruder für mich, und du kannst mir nicht weismachen, dass du das willst, dass es dein Traum ist, dieses Leben zu führen. Das glaube ich dir nicht, Tom.«

»Ich heiße Tommaso, und ich bin kein Kind mehr«, warf er ärgerlich ein und Chay legte die Hände an seine Schläfen.

»Wenn du bei mir warst, warst du immer Tom, und ich werde dich auch weiter so nennen. Ich kenne den Unterschied zwischen Tommaso Salvatore Cosolino und dem Tom, den ich kenne und liebe. Ich weiß, wie du warst, wenn wir uns gesehen haben. Das war kein Irrtum. Ich bin mir sicher, du hast es genossen, wenn wir zusammen waren.«

Tommaso schnaufte wieder. »Klar hab ich das, es waren ein paar Stunden Urlaub vom Geschäft. Jeder genießt die Abwechslung.« Seine Stimme klang wie die eines störrischen Kindes und genauso fühlte er sich auch im Moment. Was fällt ihm eigentlich ein, einfach alles, was mein Leben ausmacht, in Frage zu stellen?, dachte er ärgerlich.

Chay verdrehte die Augen und rieb mit dem Zeigefinger den Rücken seiner Nase. Er schwieg kurz, bevor er mit einem lauten Seufzer die Arme hob. »Okay! Geh zurück! Ich werde den Cop los. Ich hab ihm noch keine Details genannt, nur ein paar Infos über kleine Fische, mit denen ihr zu tun hattet. Es ist also noch nichts passiert. Bleib hier, lass dich gesund pflegen und dann geh zurück.« Er stieß ein heiseres Lachen aus. »Leb dein erfülltes Leben weiter.«

Tommaso lag still und wartete auf das »Aber«. Bei Chay kam nach so einer Ansprache immer ein »Aber«, und er enttäuschte ihn auch diesmal nicht. »Aber vorher hörst du dir meinen Vorschlag an. Du sollst die Optionen kennen, die du hast. Okay?«

Tommaso konnte nicht verhindern, dass er neugierig wurde. Mit einem zarten Lächeln sah er zu ihm hoch. »Mann, ich bin ans Bett gefesselt, ich kann sowieso nicht weglaufen, also schieß los.«

»Da draußen vor der Tür, Tom, da steht deine Mutter. Auch Sybil ist da. Du könntest einfach mit den Cops sprechen – nur ein paar Infos, du musst nicht mal alle in die Pfanne hauen. Der Deal ist nicht auf Details basierend aufgebaut. Ich bin doch kein Idiot – ich hatte nie vor, dich zu etwas zu zwingen.« Chay hatte die Worte hektisch und praktisch ohne zu atmen ausgestoßen, was ihn jetzt nach Luft schnappen ließ.

»Fertig?« Tommaso konnte nicht anders, als zu grinsen.

Chay grinste ebenfalls. »Fast.« Er stieß die Luft aus, bevor er fortfuhr. »Erzähl ihnen so viel du kannst, und danach musst du einfach nur fit werden. Und wenn du wieder auf dem Damm bist, dann geht’s los.«

»Wohin?«

»London. Du weißt, Claires richtige Eltern lebten dort. Sie hatte die letzten Jahre vor ihrem Tod guten Kontakt mit ihnen.«

Tommasos Augenbrauen wanderten wieder hoch. »Ich soll also nach London. Und was genau mach ich da?«

»Du lebst mit uns. Mit deiner Familie, studierst, arbeitest – keine Ahnung. Einfach ein normales Leben führen!«

Er schnaufte. »Ja. Normal für dich, Chay. Für mich klingt das einfach nur langweilig. Ich denke, ich bin nicht geschaffen für so ein Familien-Idyll.« Kurz flammte in ihm das Gefühl des Neides auf, das er gestern auch dem Doktor gegenüber gefühlt hatte. Er verdrängte es.

»Du könntest es versuchen. Für eine Zeit, komm einfach mit. Deiner Mutter zuliebe, mir zuliebe. Ich bitte dich.« Chay lehnte sich in seine Richtung und musterte ihn mit flehenden Augen.

Tommaso stieß ein heiseres Lachen aus. »Und nach einem halben Jahr geh ich zurück – Hi, Dad, bin wieder da. Von unserem Geschäft kann man sich nicht einfach in den Urlaub verabschieden. Wie naiv bist du eigentlich?«

»Dann warst du eben offiziell im Knast, das lässt sich sicher arrangieren.«

»Chay!« Er seufzte.

»Schlaf drüber Mann, wir reden morgen weiter, okay?«

Er nickte. Seine Lider waren wirklich wieder schwer geworden. Außerdem schien das Morphium nachzulassen, der Schmerzpegel war in den letzten Minuten erheblich gestiegen. »Schickst du mir die Schwester mit der nächsten Dröhnung rein, wenn du gehst?«, rief er ihm noch hinterher, Chay grinste und winkte ihm zum Abschied zu.

Während sich die Tür hinter ihm schloss, sah er kurz den ängstlichen Blick seiner Mutter im Türspalt auftauchen, dann war er wieder allein.

 

In Ermangelung anderer Möglichkeiten verbrachte Tommaso die darauffolgende Woche größtenteils damit, gründlich über Chays Vorschlag nachzudenken. Doch so sehr ihn vielleicht die Aussicht auf ein ruhigeres Leben lockte, so wenig wusste er, ob er das wirklich wollte. Selbst wenn es Chay nicht gefiel, es war seine Familie, die er verlassen sollte. Er hatte die Liebe zu seiner Mutter und Chay nicht vergessen, dennoch gehörte sie zu einer Zeit, an die er sich kaum erinnern konnte. Sein Dad und seine Jungs hingegen waren fest in seinem Leben integriert, hatten ihm die letzten Jahre Halt und Vertrauen geschenkt. Salvatore war keine wirkliche Vaterfigur, aber Tommaso hatte sich an ihn gewöhnt. Mit der Zeit hatte er eine immer bessere Vorstellung bekommen, welcher Einsatz und welche Anstrengungen notwendig waren, um so ein großes Unternehmen zu führen. Und so waren sein Respekt und auch ein bisschen die Bewunderung für seinen Dad stetig gewachsen. Der Mantel der Sicherheit, den Salvatore über seine Leute breitete, war nicht aus leichtem Stoff gewoben. Um die Motten davon abzuhalten, Löcher hinein zu fressen, wandte sein Vater Methoden an, die kaum den Gesetzen entsprachen – keine Frage. Die Art, wie er für ihre Sicherheit sorgte, die Brutalität, mit der er und auch seine Mitarbeiter dabei vorgingen, war selten gerechtfertigt, aber für den Erhalt ihres Standards notwendig. Schwäche war etwas, das sie sich nicht leisten konnten! Tommaso hatte es ebenso gesehen – hatte!

Denn während sein Körper gesundete, begann in seinem Kopf ebenfalls eine Art Heilungsprozess. Der Abstand zur Firma – zu seinem Vater – ließ ihn erkennen, was Chay meinte, was seine Mutter immer so entsetzt hatte. Das wiederum führte dazu, sich selbst gegenüber zuzugeben, dass Salvatores Wege vielleicht doch nicht die waren, die er für den Rest seines Lebens gehen wollte.

Die Pausen zwischen seinen Denkzeiten wurden von Besuchen gefüllt. Seine Mum, Sybil und vor allem Chay und Sue kamen täglich.

Claire befand sich in einem Wirrwarr der Gefühle. Einerseits war sie überglücklich, dass Chays Plan geklappt hatte und sie Tom nun endlich der eisernen Faust seines Vaters entrissen hatten, andererseits war sie schockiert, wie tief sich Salvatores Krallen bereits in Tommasos Fleisch geschlagen hatten. Ihr Sohn war da, lag aber vergraben unter dem Figo von Cosolino Inc. Sie erkannte es, an der Art, wie er sprach, an den ablehnenden Gesten, wenn sie von ihrer gemeinsamen Zukunft schwärmte, und sie bekam Angst, dass ihre Schwester mit ihrer Befürchtung recht gehabt hatte. Dass er vielleicht tatsächlich bereits für sie verloren war und gar nicht zu ihr zurückwollte.

Ihre Hoffnung erlebte neuen Aufwind, als sie in den nächsten Tagen beobachtete, wie er auf Sue reagierte. Er schien wie verzaubert von ihr und die Kleine, die ja keine Ahnung hatte, wer er wirklich war, die ihn nur aus den glühenden Erzählungen von ihr und Chay kannte, war von ihm nicht minder angetan. Sue saß stundenlang an seinem Bett und Tommaso genoss es, wirkte wie ein komplett anderer Mensch, wenn sie bei ihm war. Sie mochte ihn aufrichtig, las ihm geduldig aus ihrem Lieblingsbuch vor. Und er, der sich normalerweise keine zwei Minuten auf etwas anderes als das Geschäft konzentrieren konnte, lauschte ihrer Stimme mit entspannter Miene und einem unglaublich warmen Gefühl rund um sein Herz. Sie brachte dem harten Panzer, den er sich in den letzten Jahren mühsam errichtet hatte, mit jedem Tag tiefere Sprünge bei. Schon nach wenigen Tagen gelang es ihm nicht mehr, zu verbergen, wie sehr er sich freute, wenn ihr kleines Köpfchen in seiner Tür auftauchte. Und er bemerkte außerdem, wie groß die Freude seiner Mutter über diese Tatsache war und gab es auf, seine eigene vor ihr zu verstecken.

Sie und Chay schienen sich ungewöhnlich nah zu stehen, lachten viel mit Sue, aber auch miteinander, doch was ihn noch mehr verwunderte, war, dass seine Tante Sybil ebenfalls stets gut gelaunt war. In der blassen Reflexion seiner Kindheit sah er sie als verschlossene, ewig schlecht aufgelegte Frau. Nun jedoch war sie vollkommen anders, als in seinen Erinnerungen. Fröhlich, fast ausgelassen, und selbst ihre, ihm gegenüber so gewohnte Reserviertheit, verschwand mit jedem Tag mehr. Ihr Verhältnis zu seiner Mutter schien sogar noch inniger als früher und auch die Zuneigung, die Claire Chays Tochter entgegenbrachte, war offensichtlich. Gut, in diesem Punkt verstand Tommaso sie nur zu gut – man musste Sue einfach lieben.

Langsam, aber sicher begann er zu erahnen, was er in den letzten Jahren alles versäumt hatte, und in ihm wuchs das Bedauern darüber, dass er diese Zeit nicht mit ihnen geteilt hatte. Die vier waren eine perfekte kleine Familie, und mit jeder Minute, die er sie beobachtete, wurde der Wunsch klarer, dass er dazu gehören wollte.

Anfangs steckte er wie ein hartes Saatkorn unbehandelt in der dunklen Erde seines bisherigen Lebens. Die endlosen Gespräche mit Chay waren wie Regen, der sich durch den fruchtlosen Boden bis zu der Saat kämpfte, um sie zu nässen und keimen zu lassen. Und Sue war die Sonne, die diese Pflanze schließlich zum Wachsen brachte. Und, zumindest für ihn, völlig unerwartet und doch wie vom Schicksal vorausbestimmt, war sie plötzlich größer, als die Angst davor, die vermeintliche Sicherheit seines bisherigen Lebens aufzugeben.

 

 

Kapitel 5

 

 

 

 

 

Den Abend vor seinem Abschied vom Krankenhaus verbrachte er allein in seinem Zimmer. Chay hatte ihm zwei Biere hineingeschmuggelt, die er nun auf dem Stuhl vor dem Fenster genoss, während er in die Dunkelheit hinaus starrte. Der Regen prasselte in großen Tropfen an die Scheiben und verwischte den Blick auf Chicago. Er liebte diese Stadt, sie war seine Heimat. Chays Idee zu folgen, würde bedeuten, dass er sie heute das letzte Mal bei Nacht sah. Er lehnte sich vor, um das Bild in sich aufzusaugen. Er wusste, der Anblick würde ihm fehlen. Und doch war da plötzlich etwas, das er mehr vermissen würde – Sue! Die Kleine hatte ihn berührt, wie es bis jetzt niemandem vor ihr gelungen war. Die Absicht, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und mit ihr und den anderen ein neues zu beginnen, war in seinem Herzen bereits Fakt, nur sein Verstand zögerte noch. Immer konkreter hatte er sich mit dem Gedanken befasst, und die Liste der Nachteile war mit jedem Augenblick kürzer geworden. Er lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück, das regelmäßige Plätschern des Regens machte ihn schläfrig, und nur ein paar Minuten später schloss er die Augen und döste sitzend vor sich hin.

 

Das Öffnen der Tür schreckte ihn auf. Es war seine Mutter. Mit nervösem Blick und einem schüchternen Lächeln trat sie ein und kam auf ihn zu. Sie wirkte unheimlich jung in ihren Jeans und dem weiten Pullover, den er sofort als einen von Chay erkannte.

»Hi. Was machst du denn noch so spät hier?« Er gähnte.

»Ich wollte mit dir reden, Tom. Allein. Es gibt etwas, das du wissen musst … vor morgen.«

Neugierig sah er ihr zu, wie sie einen Stuhl zu ihm ans Fenster zog und Platz nahm. »Tom?«

Er sah kurz hinaus in die dunkle Nacht und dann zurück zu ihr. »Du nennst mich jetzt auch nicht mehr Tommaso?«

Sie erwiderte ernst seinen Blick. »Chay und Sue nennen dich ständig so, ich hab mich daran gewöhnt. Und ich hoffe sehr, dass du ab morgen sowieso nur mehr Tom sein wirst, also Thomas.«

Sein linker Mundwinkel zog sich nach oben. »Thomas Miller. Klingt gut, oder?«

Sie lächelte nervös. »Ja.«

Langsam lehnte er sich wieder bequem zurück. »Okay! Ich höre.«

Sie atmete tief ein und nahm seine Hände in ihre. »Mir ist aufgefallen, dass du dich sehr gut mit Sue verstehst.«

Er musterte sie, gespannt, worauf sie hinaus wollte. »Klar, sie ist ein tolles Mädchen.«

»Ja, das ist sie.« Ihr Gesicht blühte bei ihren Worten auf und ein strahlendes Lächeln erschien. »Ist dir aufgefallen, wem sie ähnelt?«

»Ja, sicher. Sie sieht aus wie Chay. Bis auf die Augen. Grün? Darüber habe ich schon nachgedacht. Amayeta hatte doch braune Augen, soweit ich mich erinnere!«

Claires Lächeln verzog sich zu einer Grimasse. »Du hast ein gutes Gedächtnis. Aber Amayeta ist auch nicht die Mutter von Sue.«

Das überraschte ihn, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er Chay gar nicht danach gefragt hatte.

Claire musterte ihn aufmerksam. »Tom. Amayeta starb an dem Abend, als du zu Salvatore gebracht wurdest.«

Was? Er starrte sie entsetzt an. Warum hat mir das niemand erzählt? Wieso hast du nie gefragt?, hörte er das Echo in seinem Kopf. Die Scham lähmte seine Stimmbänder. Chay war sein bester Freund, praktisch sein Bruder, und ihm war nie eingefallen, sich nach seinem Liebesleben zu erkundigen. Nicht mal nach Amayeta hatte er gefragt, obwohl er sie ja gekannt hatte. Er und Chay hatten sich mehrmals pro Jahr getroffen, doch bei keiner dieser Begegnungen war es ihm in den Sinn gekommen, auch nur einmal sein Leben – seine Geschichte – zu hinterfragen. Chay hingegen war immer an allem interessiert gewesen, was Tom betraf. Außer Details seine Arbeit betreffend hatte er ihm alles erzählt, trotz der seltenen Treffen wusste er sogar über die meisten seiner Freundinnen Bescheid. Natürlich hatte er stets verhalten auf seinen Verschleiß an Frauen reagiert, trotzdem hatte er nie aufgehört zu fragen. Das wurde Tommaso erst jetzt bewusst, und er kam sich plötzlich vor wie ein Schwein.

Claires fragender Blick lag immer noch auf ihm, anscheinend wartete sie auf eine angemessene Reaktion. Er schluckte angestrengt, ehe er sich leise räusperte und dann endlich fragte, was er schon vor Jahren hätte fragen sollen. »Wie ist sie gestorben?«

Sie atmete tief ein, und noch bevor sie antwortete, musste er plötzlich an seine eigene Vermutung denken – damals, als Chay mit Amayeta seine Party frühzeitig verlassen hatte. Ein kalter Schauer kroch über seinen Rücken.

»Wir konnten es nie beweisen, aber es scheint, dass sie vergiftet wurde. Das Einzige, das sie an diesem Abend zu sich genommen hat, war ein Glas Portwein. Einer der Leute deines Vaters hat diesen Wein abgegeben, aber nur Amayeta hat ihn getrunken.«

Ungläubig weiteten sich Tommasos Augen. Sofort vergaß er seinen eigenen Verdacht und alles in ihm schaltete auf Verteidigung. Zuerst Chay – jetzt sie! Warum konnten sie nicht damit aufhören, ständig sein bisheriges Leben und vor allem seinen Vater zu verurteilen. Natürlich wusste er, dass Salvatore kein Unschuldslamm war, doch das Bild, das sie von ihm zeichneten, entsprach nicht jenem, das er von ihm sah. Sein Dad war kein Ungeheuer – nicht wirklich! Im Geschäft musste er seine Interessen brutal durchsetzen – das hatte Tommaso ebenfalls getan. Aber nicht bei seiner Familie, und selbst wenn seine Mum und er nicht zusammengelebt hatten, sie war seine Familie!

Er schüttelte den Kopf, er wollte es einfach nicht hören. »Du willst mir also sagen, er hat geplant, euch alle zu ermorden, nur um mich zu bekommen? Er hat mich doch auch so geholt. Wozu diese Umstände?«

»Ich habe gar nichts gesagt, ich erzähle dir nur die Fakten. Und es ist auch nicht das Thema, das ich heute besprechen wollte«, murmelte sie leise, mit trauriger Stimme. Ihr Blick war gesenkt, ihre Hände zitterten.

»Gut«, knurrte er, seine Verbindung zu Salvatore war noch nicht gekappt. Es tat weh, all diese Anschuldigungen zu hören. Auch in seinen Gesprächen mit Detective Spinelli hatte ihm die Auflistung der Aktivitäten seines Vaters und seiner Jungs schwer zu schaffen gemacht. Natürlich wusste er bereits fast alles – bei den meisten Unternehmungen war er dabei gewesen oder hatte zumindest die Planung geführt. Aber aus Spinellis Perspektive gesehen, erschien seine Vergangenheit plötzlich in einem gänzlich anderen Licht. Und das gefiel ihm überhaupt nicht. »Dann fang mit dem richtigen Thema an.« Seine Verärgerung war ihm nun deutlich anzuhören.

Claire zögerte, schien abzuschätzen, ob der Zeitpunkt für dieses Gespräch tatsächlich passte. Endlich atmete tief sie ein und aus, bevor sie mit leiser Stimme zu sprechen begann. »Okay. Hör mir jetzt gut zu.« Sie wartete, bis er seinen Blick auf sie richtete. »Du hast vorher Sues Augen erwähnt, erinnern sie dich nicht an jemanden?«

Verständnislos zuckte er mit den Schultern. Doch das war zu vorschnell, denn plötzlich bemerkte er, dass er gerade die gleichen Augen sah. Claires Augen – seine Augen! Abrupt entzog er seiner Mum die Hände. »Ich verstehe nicht. Was willst du mir sagen? Ist sie … dein Kind?«

Ein erneuter tiefer Atemzug folgte, erst dann erklang ihre leise, aber deutliche Stimme. »Ja. Sue ist deine Schwester.«

Jetzt war er baff. Und doch – das erklärte einiges. Die innige Verbundenheit, die er fast von der ersten Sekunde an gespürt hatte, wurde ihm plötzlich klar. Er runzelte die Stirn. »Aber warum hat Chay dann behauptet, ihr Vater zu sein?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. Natürlich – sie hatte sie vor seinem Dad versteckt.

»Okay. Ich verstehe. Auch wenn er dich verlassen hat, warst du noch Dads Frau, deshalb musstest du sie geheim halten. Guter Plan. Vor allem, weil sie Chay auch so ähnlich sieht … sehr sogar.« Das letzte Puzzlestück passte sich in das Bild ein, und er verzog ungläubig das Gesicht. »Du hast mit Chay geschlafen und seine Tochter geboren?« Seine Stimme war nur ein Flüstern.

»Tom, bitte, lass mich das erklären.«

»Ich bin gespannt«, zischte er ihr höhnisch zu. Seine Miene war nun ernst – hart –, und Claire bekam Angst. Trotzdem sprach sie weiter. Erst hektisch, dann immer entschlossener.

»Chay benahm sich, seit ich denken kann, älter, als er war. Er war stets für mich da, in all den Jahren. Genauso wie ich für ihn, nachdem das mit Amayeta geschehen war. So ist es passiert. Ich weiß, dass er viel jünger ist als ich, aber ich liebe ihn und er liebt mich. Sue weiß noch nicht, dass ich ihre Mutter bin. Chay und ich haben sie zwar praktisch zusammen großgezogen, aber sie denkt, dass ich nur die Schwester ihrer Grandma bin. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue, mein kleines Mädchen endlich wirklich als Tochter in die Arme zu schließen. Ich möchte endlich gemeinsam mit Chay als Eltern für sie da sein.«

Tommaso starrte sie an. Sie weinte jetzt, und in seinem Kopf herrschte Chaos. Er hätte viel Geld bezahlt, wenn ihm jemand zugeflüstert hätte, was er erwidern sollte. »Und was wollt ihr von mir? Meinen Segen? Mum, ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Im Moment fühlt es sich wie Inzest an, du weißt, dass er für mich wie ein Bruder ist!« Er lächelte unecht in dem Versuch, seine Aussage abzuschwächen.

Claire seufzte leise. »Und du weißt, dass wir nicht blutsverwandt sind – genausowenig, wie Sybill und ich. Egal – ich wollte nur, dass du es weißt. Ich brauche deine Erlaubnis nicht. Chay und ich werden uns in London nicht mehr verstecken müssen. Wir werden heiraten und Sue gemeinsam großziehen.«

Jetzt musste er schmunzeln, denn ihr Gesicht strafte ihre Aussage, seine Meinung wäre ihr nicht wichtig, Lügen. Sie sah furchtbar schuldig aus. »Na dann. Ist ja alles geregelt«, murmelte er und sah erneut aus dem Fenster. Trotzdem spürte er ihren Blick auf sich und schnaubte kurz. Seine Stirn legte sich in Falten, glättete sich aber sofort wieder, und er verzog seinen Mund zu einem erst verwunderten, schließlich jedoch glücklichen Lächeln, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. Sue war seine Schwester, die Prinzessin war seine Familie. Warm breitete sich die Freude in ihm aus – zeigte ihm Bilder einer strahlenden Zukunft, mit seiner kleinen Schwester an seiner Seite. Alles andere schien unwichtig, neben dem Aspekt, dass er mit ihr zusammen sein würde.

Er suchte Claires Blick, griff nach ihren Händen und hielt sie fest. »Mum, es ist okay. Ich werde mich dran gewöhnen. Und das Ganze hat auch etwas Gutes, und das ist Sue. Sie ist wundervoll, und ich habe vor, ein perfekter großer Bruder zu werden«, sagte er mit seltsam belegter Stimme, sein Herzschlag pochte in harten und trotzdem angenehmen Schlägen.

Claires Augen strahlten glücklich, und in diesem Moment erkannte Tom, dass er bereits wieder mehr ihr Sohn als sein Figo war. Er war erfüllt von der absoluten Gewissheit – er war sich sicher! Er wollte diese zweite Chance mit ihr und seiner neuen/alten Familie.

»Heißt das, du kommst tatsächlich mit?«, fragte sie leise, und er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie auf die Stirn.

»Nichts kann mich jetzt noch davon abhalten.«

Sie legte ihre Hand an seine. »Danke, Tommaso«, wisperte sie ergriffen, er drehte seine Handfläche nach außen und verschränkte seine Finger mit ihren. »Tom«, verbesserte er sie grinsend, worauf beide leise lachten.

Danach saßen sie Hand in Hand, schweigend, da, jeder in seine eigenen Zukunftsträume versunken. Mutter und Sohn wiedervereint.

Einige Zeit später löste sich Claire vorsichtig von ihm. Erst sah sie auf die Uhr, danach mit einem sanften Lächeln in sein Gesicht. »Es ist Mitternacht, Tom. Alles Gute zum Geburtstag!«

Erstaunt blickte er sie an. Richtig, heute war der 4.2. – sein zweiundzwanzigster Geburtstag. Das hatte er vollkommen vergessen. Es schien die perfekte Ironie zu sein, dass er zehn Jahre nach dem Ehrentag, an dem sie ihn verloren hatte, nun endlich zu ihr zurückgekommen war.

Sie umarmten einander, und er schmiegte sich an sie. Für einen Moment wieder der zwölfjährige Junge, der er einst gewesen war. Unschuldig und glücklich. Die Zeit dazwischen war ausgelöscht – Tommaso Salvatore Cosolino war tot und als Thomas Miller wiedergeboren.

 

Sie schliefen in dieser Nacht beide nicht. Claire wurde nicht müde, ihm von Sues vergangen Jahren zu erzählen, und Tom konnte nicht genug davon hören. Über sein bisheriges Leben, fern von ihr, sprach er nicht, und sie wollte ihn auch nicht bedrängen. Egal – sie würden in der Zukunft jede Menge Zeit dafür haben.

Als die Sonne langsam ins Zimmer kroch, stand Claire auf und begann seine restlichen Sachen in eine Tasche zu packen. Er ging ebenfalls zu seinem Bett, griff in den Nachttisch und holte den Umschlag für Spinelli heraus. Sein Geständnis; fein säuberlich getippt auf fünf Seiten Krankenhausbriefpapier. Er hatte das Schreiben im Laufe der Woche vorbereitet, noch im Unklaren darüber, ob er es wirklich abgeben wollte. Nun war es fix. Nichts sollte ihn an sein altes Leben binden, und obwohl ihm klar war, dass es für seine Sünden keine Absolution gab, tat es ihm zumindest im Moment gut. Die Buße würde später kommen, da war er sich sicher.

 

 

Kapitel 6

 

 

 

 

 

Chay kam mit Sue gegen acht Uhr. Die Kleine sah in ihrem grauen Reisekostüm hinreißend aus, die Haare zu zwei Zöpfen gebunden, zusammengehalten von roten Seidenbändern, und die Wangen waren fast genauso rot, vor Aufregung und Vorfreude. »Jetzt geht’s los, Tom!«, jubelte sie und er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass er sie festhielt, fühlte es sich nun anders an. Intensiver! Die Liebe zu ihr war so echt, so rein und so wirklich, dass alles daneben verblasste.

Chay lächelte ihn schüchtern von der Tür aus an. Er wirkte so nervös, dass Tom beschloss, ihn zu erlösen. Also zwinkerte er ihm zu, was seinen Cousin augenblicklich entspannte. »Kann’s losgehen?«, fragte er.

Tom beobachtete, wie Chay seine Hand mit der von Claire verflocht, und sah lieber Sue an. »Klar, ich warte nur auf den Doc mit meinen Entlassungspapieren.«

Wie auf Befehl öffnete sich die Tür und Tom löste sich von Sue. Der Anblick des jungen Doktors konnte ihn nun nicht mehr verärgern oder Neid in ihm wecken. Er hatte seine Familie gefunden. Mit einem schüchternen Lächeln auf den Gesichtern tauschten er und Dr. Burton die Kuverts aus, die sie in den Händen hielten. Der Botendienst an Spinelli war bereits gestern zwischen ihnen abgesprochen worden. Er dankte dem jungen Arzt noch einmal, der danach ebenso schnell verschwand, wie er gekommen war.

»Hat Spinelli dir nicht Geleitschutz versprochen?«, fragte Claire etwas angespannt, kaum, dass sie wieder allein waren.

Tom zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht arbeiten sie verdeckt. Ist auch egal. Wir müssten sie ohnehin abschütteln. Ich habe nicht die Absicht, Spinelli wirklich eine Spur zu hinterlassen, wo ich bin. Du hast ihm doch nichts von unseren Plänen erzählt, oder?« Er blickte mit ernster Miene hinüber zu Chay, der jedoch sofort verneinte.

»Natürlich nicht. Deine Wünsche waren ja klar.« Der Unterton in seiner Stimme zeigte deutlich, dass er Toms Meinung nicht teilte, aber um des Friedens willen nahezu zu allem bereit war.

»Okay!« Tom fuhr sich ein bisschen nervös durch die Haare, bevor er seiner Mutter ein Lächeln sandte. Sie sah unglaublich jung aus, wie sie da neben seinem besten Freund stand. Die beiden als Liebespaar wahrzunehmen, fiel ihm wahnsinnig schwer, und ihm war auch nicht klar, wie er sich daran gewöhnen sollte. Daher schickte er lieber einen letzten Blick durchs Zimmer, nahm seine Tasche und Sues Hand, und sie machten sich auf den Weg. Hinaus aus dem Krankenzimmer, seiner alten Welt, und seine Mutter und Chay folgten ihnen lächelnd.

Auf dem Weg durch die Flure des Krankenhauses, während Tom auf Sues wippende Zöpfe hinuntersah, fühlte er sich eigenartig frei, beinahe fröhlich. Eine Empfindung, die er eigentlich nicht kannte. Die vagen Erinnerungen aus seiner frühen Kindheit waren zu schwach, um sie zu fassen. Ein seltsames Gefühl stieg in seiner Kehle auf. Erst langsam identifizierte er es als ein Lachen, und es kam so unbewusst und plötzlich, dass es ihn fast erschreckte. Dieser Ton war ihm nicht vertraut. Es war eigentlich unmöglich, dass er aus seinem Mund kam, aber es war so. Er bemerkte, wie ihm die Tränen kamen, während er weiter lachte, unfähig damit aufzuhören. Sue wandte überrascht den Kopf, sie kicherte ebenfalls. Glücklich strahlten ihre Augen zu ihm auf, und er beugte sich schnell zu ihr hinunter und hob sie auf seine Arme. Sich an ihn schmiegend verschränkte sie ihre Hände hinter seinem Nacken. Für einen Moment überwältigt schloss er die Lider, ohne mit dem Lachen aufzuhören. All das fühlte sich so vertraut und bekannt an, als wäre sie schon immer ein Teil seines Lebens gewesen.

Beim Ausgang angekommen sah Tom aus den Augenwinkeln, wie Chay seiner Mutter einen Arm um die Schulter legte und ihr einen sanften Kuss gab, bevor er sie losließ und einen Schritt von ihr wegtrat. Zuerst war Tom verwundert, dann fiel ihm ein, dass sie es wohl gewohnt waren, ihre Liebe in der Öffentlichkeit zu verstecken. Er seufzte tief und hörte auf zu lachen, während Chay sich an ihnen vorbei schob und sich vor ihm aufbaute.

»Bleib du mit der Kleinen hier. Es ist sicherer, wenn ich mit dem Wagen vorfahre und ihr steigt direkt hier ein. Ich möchte nicht riskieren, dass dich jemand sieht«, sagte er.

Claire trat ebenfalls neben sie und berührte fast andächtig erst Sues Gesicht, danach das seine. »Chay hat recht. Wir sollten äußerst vorsichtig sein. Ich würde es nicht ertragen, wenn euch etwas passiert.«

Die Schwingtür zur Straße war bereits in Griffweite. Tom nickte mit ernster Miene, spürte ihre Angst die seine werden. Verunsichert runzelte er die Stirn. Die Tragweite des Risikos, dem sie alle ausgesetzt waren, erschien ihm mit einem Mal übermächtig, was ihn automatisch einen weiteren Schritt zurücktreten ließ. Sie hatten darüber gesprochen, letzte Nacht. Versucht, gemeinsam Salvatores Reaktion auf seinen vermeintlichen Tod abzuschätzen. Vorsichtige Nachforschungen Chays hatten ergeben, dass der Capo im Moment ziemlich damit beschäftigt war, den Bandenkrieg in den Griff zu bekommen, den der Schusswechsel, in dem Tommaso angeschossen worden war, ausgelöst hatte. Das konnte ein Vorteil sein, dennoch blieb das Restrisiko, dass er Claire beobachten ließ. Den Cops, ob sie nun hier waren, um ihn zu beschützen, oder nicht, traute Tom ohnehin nicht mal annähernd.

»Pass auf die Fenster des Hauses gegenüber auf. Dort würde ich mich verstecken«, raunte er Chay zu und sah, wie seine Mutter zusammenzuckte und ihn bestürzt musterte. »Sei vorsichtig, Mum«, sagte er leise.

Sue drehte sich in seinen Armen um. »Ich habe Durst«, stellte sie fest und ihr bestimmender Ton verscheuchte die plötzlich aufgezogene Spannung.

»Keine Panik, Prinzessin. Unser Chauffeur wird für Champagner sorgen, hab ich nicht recht?«, bemerkte Tom schmunzelnd mit einem spitzbübischen Seitenblick auf Chay.

»Na, da haben sich ja die richten Zwei gefunden«, meckerte er und hielt Claire, die bereits an der Schwingtür stand, mit einem breiten Lächeln die Tür auf. »Wir besorgen bei dem Hot Dog Wagen noch etwas zu trinken, und fahren dann die Limousine vor, Eure Hoheiten«, näselte er.

Tom nickte gnädig, während Sue sich kichernd wieder an seinen Hals klammerte.

Claires Lachen war kurz zu hören, bevor sie, Chay folgend, das Gebäude verließ.

»Tom, sitzt du auch bei mir hinten?«, bettelte Sue, sich an seine Schulter schmiegend.

»Klar, wo sonst, Prinzessin«, lachte er, er konnte ihr sowieso keinen Wunsch abschlagen.

»Dad sagt, du hast mich lieb. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt, meine Süße.« Er musste sie anstrahlen, weil sein Herz bei seinen eigenen Worten aufging. Es war beinahe lächerlich, dennoch fühlte er sich erneut von diesem unbändigen Wissen überschwemmt, wie richtig seine Entscheidung zu all dem hier war.

Die Kleine reckte ihre Lippen zu ihm empor, die er einfing, um einen Kuss darauf zu drücken, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter aufschreckte.

»Chay! Pass auf!«

Obwohl der Ruf durch die Scheibe der Eingangstür gedämpft wurde, konnte er die Angst darin deutlich erkennen. Hektisch zusammenzuckend packte Tom Sues Hinterkopf, um sie instinktiv an seine Brust zu drücken. Er starrte panisch nach draußen, doch es dauerte einige Augenblicke, bis er sich an das grelle Licht gewöhnt hatte und er klar sehen konnte.

Claire befand sich mitten auf der Fahrbahn, hatte die rechte Handkante an ihre Stirn gelehnt, um ihre Augen abzuschirmen. Ihr Blick war wachsam auf irgendetwas auf der anderen Straßenseite gerichtet. Chay stand einige Meter von ihr entfernt, den Kopf in die gleiche Richtung gedreht; doch die Sonne blendete ihn, genauso wie sie, und raubte ihm die Sicht.

Tom wusste, was nun kam, und dass es zu spät war, um etwas zu unternehmen. Während er einen Schritt vorwärtsmachte, durchschnitt ein lautes Zischen die Luft. Seine Mutter duckte sich reflexartig davor weg, ging nach unten in Deckung. Auch er wich wieder zurück – eine Reaktion, die so unvermeidlich war, wie zu atmen –, und knallte hart mit dem Rücken gegen einen jungen Pfleger, der hinter ihn getreten war, um zu sehen, was los war. Tom fixierte erst ihn, danach erneut die Straße.

Claire stand nun unnatürlich aufrecht, drehte sich langsam um. Ihre Lippen bewegten sich, und obwohl Tom des Lippenlesens nicht mächtig war, wusste er, dass es Chays Name war, den sie tonlos ausstieß.

Sue immer noch an sich pressend, blickte Tom ebenfalls hinüber, und dann sah er ihn. Chay lag niedergestreckt auf dem rötlich schimmernden Asphalt, sein Körper war seltsam verdreht und regungslos. Wie in Zeitlupe bewegte sich Toms Hand auf die Tür zu, um sie aufzustoßen. Sue wimmerte ängstlich an seiner Brust, während sie versuchte, ihren Kopf zu befreien. Toms Blick verflocht sich mit dem seiner Mutter. Das Entsetzen in ihrer Miene und der Ausdruck in ihren Augen schrien ihm zu, stehen zu bleiben, und er gehorchte automatisch, trat sogar wieder einen Schritt zurück.

Den Bruchteil einer Sekunde später hörte er zwei Schüsse kurz hintereinander, zeitgleich zuckte Claire zusammen. Ihr Blick suchte und fand sie – ihren Sohn und ihre Tochter –, bevor sich ihre Lider im Schmerz schlossen. Quälend langsam sank sie erst auf die Knie, ehe sie kopfüber zu Boden stürzte. Ein Zucken ging durch ihren Körper, dann lag sie still.

Tosendes Rauschen füllte Toms Ohren, der Puls jagte das Blut durch seine Adern und trieb sein Herz zur Höchstleistung an. Kalter Schweiß drang durch die Poren seiner Haut und er spürte, dass er kurz davor war, durchzudrehen. Das Atmen fiel schwer, genauso das Denken – und vor allem konnte er sich nicht bewegen. Stocksteif stand er da und starrte fassungslos auf ihre Leichen. Der Pfleger hinter ihm drehte sich hektisch um und flüchtete, während die ersten Passanten begannen, sich um die leblosen Körper seiner Mutter und Chay zu sammeln.

»Tom. Ich bekomme keine Luft«, stöhnte Sue leise, und endlich erinnerte sich seine Lunge wieder an ihre Aufgabe. Keuchend atmete er ein und lockerte den Griff um Sues Kopf. »Es ist alles in Ordnung, Prinzessin. Bleib ruhig«, stieß er hervor, was sie tatsächlich ein wenig entspannte.

Die Tür des Hauses gegenüber öffnete sich und zwei Männer eilten heraus. Sie trugen Waffen, und Tom drückte sich gegen die Wand, als er sie erkannte. Es waren Joe und Brian – beides Mitarbeiter seines Vaters. Der Schock nahm ihm erneut den Atem und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Unbezähmbarer Hass stieg in ihm auf, und er setzte bereits an, nach draußen zu stürzen, als er sich plötzlich wieder an seine kleine Schwester erinnerte, die immer noch fest an seinen Körper gepresst war. Hastig gab er ihr mehr Freiraum und blickte in ihr ängstliches Gesichtchen.

»Tom?«, weinte sie, und er strich ihr über den Kopf.

»Bitte sei jetzt ganz still und vertrau mir. Egal was passiert, halte dich fest, und wenn mir etwas passiert, dann lauf einfach weg, bis du einen Polizisten findest. Er soll dich zu Grandma bringen, okay?«

Sie nickte ernsthaft und er versuchte, sie mit einem unechten Lächeln weiter zu beruhigen. »Sieh dich nicht um, Prinzessin, lehn dich einfach an mich.« Sofort folgte sie seinen Anweisungen, und er meinte, ihren pochenden Herzschlag gegen seine Brust hämmern zu spüren.

Draußen standen die beiden Männer neben den toten Körpern und blickten sich suchend um. Einige Gaffer starrten neugierig zu ihnen hinüber, doch sobald sie ihren Augen begegneten, eilten sie weiter. Joe fluchte vor sich hin, und seine Wut richtete sich eindeutig gegen Brian.

Tom wurde klar, dass sie in wenigen Sekunden hier reinkommen würden. Wahrscheinlich wussten sie ohnehin bereits, dass er hier war. Mit vorsichtigen, aber schnellen Schritten schlich er zuerst an der Wand entlang rückwärts, und als er sich sicher war, von draußen nicht mehr gesehen werden zu können, drehte er sich um und rannte los. Während er durch die größtenteils leeren Flure des Krankenhauses raste, bemühte er sich verzweifelt, sein Gehirn wieder in Gang zu bringen, um einen Plan zu finden. Endlich tat sich ihm eine Lösung in Gestalt einer verlassenen Ambulanz auf. Mit offener Wagentür stand sie am Ende eines kurzen dunklen Korridors, am Eingang zur Notfallambulanz. Er lief auf die Glastür zu und kontrollierte noch einmal die Umgebung, doch es war niemand in der Nähe.

Keuchend rannte er die letzten Meter bis zu dem Wagen und kletterte hinters Steuer. Er setzte Sue auf den Beifahrersitz, beruhigend auf sie einsprechend, damit sie ihren Klammergriff von ihm löste. Endlich gab sie nach und ihn frei, so konnte er hektisch unter das Lenkrad tasten. Seine Finger suchten zitternd die Schlüssel, und als sie auf kühles Metall trafen, stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Der Motor erwachte mit einem heulenden Geräusch, und gerade als er Vollgas gab, sah er zwei Rettungsfahrer aus dem Pausenraum kommen.

Zu spät, Jungs!, dachte er. Tut mir leid!

Er fuhr los, und seine Augen suchten die schmale Ausfahrt ab. Am Ende des Weges erkannte er die Straße, und ihm fiel plötzlich siedend heiß ein, wo sie herauskommen würden. Schnell griff er neben sich und zog die Kleine näher, um ihren Kopf auf seinen Oberschenkel zu drücken. Sie gehorchte wieder, ohne nachzufragen, obwohl sie inzwischen leise zu weinen begonnen hatte. Während er die Ambulanz durch die schmale Gasse nach draußen lenkte, suchten seine zitternden Finger den Schalter und stellten das Martinshorn an. An der Straße angelangt bog er Richtung Norden ab. Jahrelange Übung hatte ihn gelehrt, was Aufmerksamkeit auf sich zog und was nicht. Joe und Brian blickten nicht einmal hin, als sie mit heulender Sirene an ihnen vorbeikamen. Tom hingegen gelang es trotz des Versuchs, den Kopf stur geradeaus zu halten, nicht, wegzusehen. Er wagte einen kurzen Blick – sie lagen unverändert im Schmutz der Straße. Seine Mutter und sein bester Freund, Sues Eltern! Nun waren sie nur noch zwei tote Körper, und er konnte nichts mehr dagegen tun. Er spürte die Vibration von Sues Schluchzen an seinem Bein, fühlte die Nässe ihrer Tränen durch den Stoff seiner Hose und besann sich darauf, was jetzt wichtig war. Er musste sie in Sicherheit bringen!

Also fuhr er zügig die Straßen entlang, und als sie weit genug vom Krankenhaus entfernt waren, schaltete er die Sirene ab und deutete Sue an, sich wieder aufzusetzen. Mit verweinten Augen sah sie zu ihm hinüber. »Tom, kommen Dad und Claire nicht mit?«

Sein Magen zog sich zusammen, und er quälte sich zu einem halbherzigen Lächeln. »Später, Prinzessin. Jetzt fahren wir mal zu deiner Grandma, okay?« Bemüht um einen lockeren Ton schaute er sie an.

»Wann kommt Dad nach?«

Er schluckte seine Angst hinunter. »Später. Wir fahren vor.«

Chay, sag mir, wie ich ihr das erklären soll!, dachte er verzweifelt.

Sein Herz verkrampfte, doch er verdrängte den Gedanken an ihn. Jetzt konnte er sich nicht damit beschäftigen. Auch das hatte ihn sein Job gelehrt. Nur wenn er nicht darüber nachdachte, war es ihm möglich, damit zu leben.

Also stellte er das Denken ein, während er durch die Straßen Chicagos fuhr; seine Schwester neben sich – auf der Flucht in ein neues Leben.

 

 

Kapitel 7

 

 

 

 

 

Salvatore Abraham Cosolino, Februar 1999, Chicago

 

Der Mann vor mir versucht seine Angst zu verbergen, aber ich spüre sie. Ihr Geruch dringt gemeinsam mit dem Schweiß aus jeder seiner Poren, und ich verziehe angeekelt das Gesicht.

Er starrt auf den Cognacschwenker in meiner erhobenen Hand, der Inhalt des Glases schimmert rotgold.

Ich nehme einen langen Schluck und blicke dann auf. Meine Lippen teilen sich mit einem leisen Schmatz. »Und du bist dir sicher, dass er nicht dort war?«, frage ich gelassen.

Der Mann spielt mit der Krempe des Hutes in seinen Händen, dreht ihn nervös vor seinem Bauch hin und her. Sein Adamsapfel hüpft rauf und runter, bevor er mit zitternder Stimme zu sprechen beginnt. »Joe sagt auch, dass er ihn nicht gesehen hat. Wir haben das Krankenhaus durchsucht, sobald sich die Bullen verzogen hatten, aber er war bereits verschwunden.«

Meine Wut nimmt zu, es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben. »Joe hat mir mitgeteilt, dass du es warst, der zu schießen begonnen hat. Stimmt das?«

Wieder wandert der Kehlkopf auf und ab, diesmal begleitet von lauten Schluckgeräuschen. Seine Augen zucken, als er sich bemüht, meinem Blick standzuhalten. »Es tut mir leid, Capo«, sagt er mit fester Stimme. Er weiß, ich mag es nicht, wenn man zaudert.

Ich spüre, wie meine Wut dabei ist, zu gewinnen, und es schließlich auch tut. Meine Kehle schmerzt, als ich brülle: »Dir ist klar, dass es dein Fehler war, der ihm die Flucht ermöglichte, oder?«

Seine Panik beschleunigt seinen Atem, während ich versteckt unter dem Tisch meine Waffe entsichere. »Es tut mir so leid, Capo«, wiederholt er.

»Das glaube ich dir sogar«, sage ich, hebe meine Hand nach oben, ziele, und drücke ab.

Er fällt sofort um, wie ein Sack Mehl. Sein Blut versaut meinen Teppich, und ich bin enttäuscht. Sein Tod hilft mir nicht, ich bin immer noch wütend. Unbefriedigt lege ich die Pistole zurück an ihren Platz.

Ich fühle mich hintergangen. Versuche, damit zurechtzukommen, dass der einzige Mensch, dem ich zweifelsfrei vertraut habe, mich verraten und verlassen hat. Es tut weh!

»Hat der Indianer wenigstens gelitten?«, erkundige ich mich kalt.

Joe tritt aus dem Schatten, sein Gesicht ist voller Bedauern. »Ich fürchte, nein. Er war sofort tot.«

»Und sie?« Diese Frage fällt mir schwerer – ich erinnere mich daran, sie geliebt zu haben. Irgendwann.

»Nein«, sagt er nur sanft, was mich seufzen lässt.

»Schafft mir ihre Leiche her. Ich werde sie in der Familiengruft beisetzen. Es darf keinen Zweifel an unserer Geschichte geben, wenn wir ihn finden und er zurückkommt. Es muss alles bereit sein.«

»Wie du willst«, sagt Joe.

Ich trinke mein Glas leer. »Schaff mir meinen Jungen wieder nach Hause«, wispere ich dann leise. Vor ihm kann ich meine Gefühle herauslassen, er kennt mich.

Er stellt sich neben mich und legt eine Hand auf meine Schulter. »Keine Sorge, Salvatore. Ich hab schon ein paar Ideen. Wir werden bald wissen, wo er ist«, verspricht er mir und ich lächle beinahe, als ich seine überzeugte Miene sehe. Ich glaube ihm.

 

 

Kapitel 8

 

 

 

 

 

Eine etwas umständliche und abenteuerliche Flucht führte Tom, Sybil und Sue mit dem Auto Richtung Kanada, von dort per Flugzeug nach Island und dann weiter mit einem kleinen gecharterten Schiff über Irland nach England. Die Reise war von Chay bis ins Detail geplant worden. Er hatte, wie immer, alle Optionen einkalkuliert und am Vorabend der Abfahrt die Anleitung inklusive zweier grausam zärtlicher Abschiedsbriefe von ihm und Claire für sie alle drei hinterlegt. In Holyhead angekommen, erwarben sie für einen unglaublich hohen Wucherpreis einen heruntergekommenen Geländewagen. Es dauerte etwa zehn Meilen und zwei Beinahe-Unfälle, bis Tom sich an den Linksverkehr gewöhnt hatte und weitere drei Stunden Fahrt, bis sich alle einig waren, dass dieses Auto ein Folterinstrument war. Die abgesessene Polsterung und die nicht, oder nur spärlich vorhandenen Stoßdämpfer, bescherten ihnen bereits nach einem Viertel der Strecke Rückenschmerzen. Tom plagte zusätzlich die Müdigkeit. Leider weigerte sich Sybil nämlich, sich hier in England hinters Steuer zu setzen. Daher war er gezwungen, den gesamten Weg allein zurückzulegen, obwohl er, entgegen seinen Mitreisenden, die im Flugzeug und auf dem Schiff geruht hatten, seit Tagen nicht mehr ordentlich geschlafen hatte.

Am zehnten Februar kamen sie schließlich völlig erledigt in London an. Die ersten achtundvierzig Stunden verbrachten sie fast ausschließlich schlafend im Zimmer eines kleinen Bed & Breakfast. Außer während der Autofahrten, hatte Sue die gesamte Reise in Toms Armen zurückgelegt und auch im Hotelzimmer angekommen, weigerte sie sich, in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Stattdessen kroch sie zu ihm unter die Decke, und sie versuchten, zusammen den Schmerz über den Verlust ihrer Familie und Heimat zu verarbeiten. Das Entsetzen der vergangenen Tage und die Trauer um Claire und Chay schienen Sue und Tom noch enger zusammenzuschweißen. Er hatte der Kleinen, entgegen Sybils Einwand, erzählt, dass Claire ihre gemeinsame Mutter gewesen war, was sie ohne sonderliche Überraschung hingenommen hatte. Tom nahm an, dass sie es tief in sich gewusst haben musste.

Sybil bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sue war das Einzige, was ihr von ihrer Familie geblieben war, und sie sehnte sich verzweifelt danach, mit ihr gemeinsam um Chay und Claire zu trauern. Ihr Neffe war ihr fremd. Das, was sie von früher von ihm kannte, trug nicht dazu bei, ihr Misstrauen ihm gegenüber zu schwächen. Das wiederum hielt sie davon ab, bei ihm Trost zu suchen, und da Sue eigentlich ständig bei ihm war, blieb sie allein und litt darunter.

Tom bemerkte ihre Unsicherheit, wusste aber nicht damit umzugehen. Ihm war bewusst, dass auch sie ihren Sohn und ihre Schwester verloren hatte, doch obwohl er sich alle Mühe gab, ihr zu helfen, gelang es ihm kaum. Er kannte sie zu wenig und fand keinen Zugang zu ihr. Seine kleine Schwester dagegen ließ sich nur zu gerne von ihm trösten, und Sybil fühlte sich oft ausgeschlossen.

Anfangs war sie von dem Gedanken schockiert gewesen, sie und Sue würden nach Chays und Claires Tod allein mit Tommaso nach Europa gehen. Nur zum Schutz ihrer Enkelin hatte sie sich dazu durchringen können. Ihre Skepsis war aber bereits einige Tage danach ins Schwanken geraten. Das Bild, das sich während der Flucht und auch hier in London von ihrem Neffen zeichnete, passte so gar nicht zu ihren zwar wenigen, dafür umso unangenehmeren Erfahrungen, die sie mit ihm in Chicago gemacht hatte. Nun war es fast, als würde sie ihn neu kennenlernen. Er war immer höflich und aufmerksam, behandelte sie freundlich und zuvorkommend, und was am wichtigsten war – er trug Sue auf Händen. Er trank kaum Alkohol, was ihm anfangs schwer zusetzte, und woraus Sybil schloss, dass er in seinen jungen Jahren bereits ein Problem damit gehabt hatte. Außerdem hatte er, seit Sue sich über den Gestank beschwert hatte, sogar das Rauchen aufgegeben.

Tom selbst empfand sich immer noch als gespaltene Persönlichkeit. Zum einen gab es Thomas Miller, der mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester ein ruhiges, bescheidenes Leben führte. Er war nett, fürsorglich und schüchtern. Dies allerdings nicht aus Überzeugung, sondern weil ihn sein neues Leben so verunsicherte, dass er kaum wusste, wie ihm geschah. Zum anderen war da immer noch Tommaso Salvatore Cosolino tief in ihm vergraben. Ein dunkler Fleck auf seiner Seele, der ihm stets folgte, bereit hervorzutreten, sobald das Licht verschwand. Sein Licht war Sue – sie war seine Sonne. Sie leuchtete hell, drängte die Schatten seines alten Lebens in den hintersten Raum seiner Erinnerungen, wo sie schalldicht verschlossen lagen und keinen Schaden anrichten konnten. Und das war gut und wichtig, denn der Figo von Salvatore Cosolino hatte nicht viel Gutes in sich gehabt. Er war brutal, gemein, gerissen und egoistisch gewesen, ganz das Abbild seines Erzeugers.

Tale il figlio quale il padre – Wie der Vater so der Sohnwie oft hatte er das gehört. Figo hatten ihn die engsten Vertrauten seines Vaters genannt, eine Verunglimpfung des Wortes Figlio – Sohn –, so wie sie seinen Dad Capo genannt hatten – der Kopf oder der Boss – ihr Oberhaupt eben.

In jahrelanger, einem sorgfältigen Plan zugrundeliegender Erziehungsarbeit, hatte ihn Salvatore zu einem würdigen Nachfolger geformt. Ihn gelehrt, so zu denken und so zu agieren wie er. Und Tommaso war ein gelehriger Schüler gewesen. Seinem Vorbild folgend, hatte er die Leute in seinem Leben so gut oder schlecht behandelt, wie es ihm gerade gepasst hatte. Dabei hatten seine zahlreichen Frauenbekanntschaften keine Ausnahme gebildet. Er hatte sie benutzt, so lange es im Spaß machte, und sie weggeworfen, wenn sie ihn langweilten. Einzig bei seinen Jungs hatte er so etwas Ähnliches wie echte Gefühle zugelassen, wenngleich ihm natürlich jetzt klar war, dass es nur ein Abklatsch von wirklicher Zuneigung gewesen war.

Doch all das gehörte zu seinem früheren Leben – zu einem Leben, das er am liebsten vergessen wollte, dessen er sich nun schämte, das er mittlerweile hasste. Denn trotz aller Angst und Unsicherheit war er sich absolut sicher, dass der Neubeginn richtig war. Er wollte hier sein, bei Sue, mit ihr leben! Und je mehr Zeit verging, desto besser verstand er sich auch mit Sybil. Zuerst war nur Sue ihr Verbindungsglied gewesen, doch langsam aber stetig fanden beide einen Weg, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, und es entstand eine anfänglich vorsichtige Vertrautheit, die jedoch immer schneller in echte Zuneigung umschlug. Alles in allem kamen sie wirklich gut miteinander aus, und mit den Wochen, die ins Land gingen, wuchsen auch sie zu einer kleinen Familie zusammen.

 

Das Frühjahr verwandelte sich in den Sommer, und bevor sie sich versahen, war es irgendwie September geworden. Der erste Tag von Toms Semester startete entgegen der nebelig verregneten Vorstellung, die er von Großbritannien gehabt hatte, mit viel Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. Er würde auf eine kleine Uni gehen, im Norden der Stadt. Der Name klang nicht so gut wie Harvard oder Yale, aber schließlich waren sie nun Engländer. Chay hatte ganze Arbeit geleistet. Die Papiere, die er für sie alle anfertigen hatte lassen, hielten jeder Prüfung stand.

Sue war an ihrer Schule genauso eingeschrieben, wie er an der Uni. Stephanie, wie sich Sybil jetzt nannte, war laut den Unterlagen ihre Adoptiv-Mutter. Der Namenswechsel war ihre eigene Idee gewesen. Sie hatte Chay darum gebeten, und auch Tom trug wie Sue nun Chays Nachname. Chay hatte Toms Alter, wie immer weit vorausdenkend, mit neunzehn angegeben. So konnte er als Neuling an der Uni starten, denn seine Schulbildung war zwar dank Salvatores Privatlehrern erlesen gewesen, aber natürlich ziemlich einseitig – vollkommen auf die Bedürfnisse der Firma ausgerichtet. Es würde schwierig werden, in einigen Fächern mit den anderen mitzuhalten, doch Sybil/Stephanie wischte seine Bedenken beiseite. Durch ihre Ausbildung zur Lehrerin konnte sie ihm helfen.

Sie hatten ein kleines Haus im viktorianischen Stil im Norden von London gefunden, nahe der Uni und Sues Schule. Bei der Einrichtung ließ Tom Stephanie und vor allem Sue freie Hand. Bis auf sein Zimmer, doch selbst hier gab er schließlich der Vernunft nach und entschied sich für praktische und bequeme Möbel, anstatt der von ihm sonst bevorzugten Designerstücke. Überhaupt begannen sich sein Stil und sein Style zu verändern. Er entdeckte die Vorzüge von Jeans und Sweatern und bekam als Überraschungsgeschenk von Steph seinen ersten Jogginganzug in seinem Erwachsenenleben, der bald zu seinem Lieblingsstück wurde. Selbstverständlich bestand Sue ebenfalls auf neue Kleidung, und das Ergebnis eines langen Einkaufsbummels glich am Ende der Aussteuer einer Prinzessin. Auch der Umbau ihres Zimmers, das natürlich neben Toms lag, wurde von der Kleinen diktiert. Tom gab ihr in beinahe allen Forderungen nach. Seine Meinung war einfach, dass er einiges wieder gut zu machen hatte, und Geld war genug da.

Chay hatte bereits vor Monaten, gemeinsam mit Claire, ihr gesamtes Kapital nach London transferiert. Die Höhe des Vermögens überraschte Tom, obwohl sich ihm rasch erschloss, wie es zustande gekommen war. Claires Konten waren regelmäßig mit Cosolino-Blutgeld aufgefüllt worden. Irgendwie musste selbst der Capo ein Gewissen besessen haben, nur dass er nur diesen Weg gekannt hatte, ihr das zu zeigen. Chay hatte Tom während seines Aufenthaltes im Krankenhaus erzählt, dass ein guter Freund ihn und Claire mit wertvollen Aktientipps versorgt hatte. Diese Tipps hatten sich allesamt als Glücksgriff erwiesen. Noch mehr als die Broker-Qualitäten hatte Tom jedoch überrascht, dass Chay es wie auch immer geschafft hatte, Toms ebenfalls prall gefüllte Konten abzuräumen, bevor Salvatore seinen Riegel hatte vorschieben können. Und das Fazit von all dem war, sie konnten unbeschwert leben.

Trotzdem hatte sich Stephanie eine Arbeit als Privatlehrerin gesucht. Es gefiel ihr nicht, nur von seinem Geld abhängig zu sein. Womit natürlich Salvatore gemeint war! Tom hingegen war das egal – sein Vater schuldete ihm mehr als das. Und obwohl er versuchte, so sparsam wie möglich damit umzugehen – man wusste nie, was kommen würde –, hatte der Aktienberater seiner Mutter ganze Arbeit geleistet. Auch ohne Finanzstudium war ihm klar, Geld würde wohl nie zu ihren Problemen gehören.

 

Seine Schwester hingegen bereitete ihm im Moment sehr große Schwierigkeiten. Mit vor Zorn gerötetem Gesicht stand sie mitten in der Küche und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. »Ich will dieses Kleid nicht!«

Tom hob den Kopf von seiner Zeitung, seine Augen fixierten den verzweifelten Blick von Stephanie. Er seufzte leise, als Sues Schluchzen energisch seine Aufmerksamkeit verlangte. Große Tränen rannen ihr übers Gesicht und schon spürte er, wie er im Begriff war, weich zu werden. Er konnte sie einfach nicht weinen sehen.

»Tom?« In ihrer Miene spiegelte sich bereits eine Spur Triumph – sie hatte den Wechsel in seinem Gesichtsausdruck registriert. Verdammt!

»Tom, ich muss das doch nicht anziehen, oder? Du findest doch auch, dass mir das blaue Kleid besser steht!« Flehend blickten ihn ihre großen Augen an, und Stephanie stöhnte auf, als sie das Zucken um seine Mundwinkel entdeckte.

»Toll, so wird sie es nie lernen!«

Sues Blick bohrte sich in seinen, ihre Iriden glitzerten feucht. »Dad hätte es auch besser gefallen, er hat blau geliebt!«

Und damit hatte sie gewonnen. Stephanie zuckte resignierend mit den Achseln, und die Kleine machte am Absatz kehrt, um sich umzuziehen.

Wie gewöhnlich erntete Tom einen bösen Blick aus Richtung seiner Tante. »Du solltest sie wirklich nicht so verwöhnen. Du tust ihr damit nichts Gutes. Das weißt du selbst!«

Er setzte ein unschuldiges Lächeln auf und zuckte mit seinen Schultern. »Was soll ich machen? Es ist erst ein paar Monate her. Ein Wunder, dass es ihr schon wieder so gut geht. Ich will einfach nicht, dass sie traurig ist.«

»Und? Wie sehe ich aus?« Sue tänzelte zurück ins Zimmer, geradewegs in seine Arme, und schmiegte sich an ihn.

»Wunderschön, Prinzessin. Wie immer.« Tom küsste ihren Haaransatz und drückte sie kurz an sich. »Und jetzt noch deine Schuhe – wir müssen los.«

Kaum hatte er sie zu Boden gesetzt, lief sie los, während er mit von schlechtem Gewissen gezeichneter Miene zu Stephanie trat. Sein Arm legte sich um ihre Schultern. »Ich hol sie nach der Uni auch wieder ab. Wann wirst du zu Hause sein?«

Sie nahm seine Hand und strich mit den Fingerspitzen darüber »Gegen fünf. Ich werde uns was Leckeres kochen, okay?«

»Wie du willst. Wir können auch Essen gehen.«

»Nein, lieber zu Hause.« Ihr gewohnt trauriger Blick brachte ihn dazu, sie noch mal kurz zu drücken, bevor er sich umwandte und Sue folgte.

 

Das rote Schulgebäude wirkte modern, und die Zeichnungen an den Fenstern lockerten das Bild noch zusätzlich auf. Es war umgeben von einem kleinen, aber liebevoll begrünten Hof, in dem sich bereits mehrere Gruppen von älteren Schülern eingefunden hatten. Die Treppe zum Schultor war, anscheinend im Zuge eines Schulprojektes, bunt bemalt worden und war ebenfalls mit Kindern gesäumt.

Sue staunte immer noch über die Unterschiede zu Chicago, oder besser zu dem Teil von Chicago, in dem sie gelebt hatte. Graue Häuser und schmutzige Straßen gegen farbenfrohe Fassaden und jede Menge Parks. Tom kannte diese hässliche Seite seiner Geburtsstadt nur aus den vagen Erinnerungen an seine Kindheit und von den wenigen Besuchen bei seiner Mutter, während seine kleine Schwester ihr gesamtes bisheriges Leben darin verbracht hatte. Das in solchen Momenten aufkommende schlechte Gewissen festigte seine Überzeugung noch mehr, dass er sie von nun an dafür entschädigen musste.

Sue klammerte sich ängstlich an seine Hand, als sie die Stufen zum großen Tor hinaufstiegen und danach das Gebäude betraten. Die Gänge waren gefüllt mit Schülern, und die Kleine zuckte unter ihren sensationslüsternen Blicken zusammen, während sie sich schüchtern hinter Toms Rücken verkroch. Ihr ein beruhigendes Lächeln schenkend zog er sie weiter. Auf ihrem Weg durch die endlos scheinenden Flure spähten sie neugierig in einige Klassenzimmer. Alle waren hell und sauber und Tom war sehr zufrieden mit Stephanies Wahl der Schule.

Endlich kamen sie an der Direktion an. Nach einem kurzen Gespräch mit Mrs. Ronalds, der Direktorin, verlangte diese von Sue, sich von Tom zu verabschieden. Sue quittierte ihre Anweisung mit einem mittelschweren Heulkrampf, woraufhin sie Tom wieder in seine Arme zog. Sofort klammerte sie sich so fest an ihn, dass es ihm unmöglich war, sie abzusetzen. All das wurde von Mrs. Ronalds mit strengem Blick beobachtet.

»Sie hängt sehr an mir.« Verschmitzt lächelte Tom sie an, doch der Scherz traf wohl nicht den Humor der Schulleiterin, also legte er seine Lippen an Sues Ohr. »Prinzessin, du musst mich loslassen, sonst bekomme ich Probleme. Ich komm zu spät zur Uni«, wisperte er leise, und das schien zu helfen, denn Sue lockerte ihren Griff.

Das tränennasse Gesicht seiner Schwester vor Augen, startete Tom einen letzten Versuch, Mrs. Ich-bin-für-autoritäre-Erziehung davon zu überzeugen, sie wenigstens bis zur Klasse begleiten zu dürfen. Leider entsprach das eindeutig nicht den Verhaltensregeln englischer Grundschulen, wie Tom der strengen, verbissenen Miene von Mrs. Ronalds entnehmen konnte. Zum Glück stieß in diesem Moment Miss Klier, Sues neue Klassenlehrerin, zu ihrer kleinen Gruppe. Sie war eine hübsche, junge Brünette, und ihre Reaktion auf Sues Abschiedsschmerz fiel deutlich freundlicher aus, als die der griesgrämigen, grauhaarigen Direktorin. Das ließ Tom wieder hoffen, dass es seiner Schwester hier gut gehen würde.

»Wir müssen langsam zur Klasse gehen, Sue. Du möchtest doch nicht an deinem ersten Tag zu spät kommen, oder?« Die Lehrerin beugte sich schmunzelnd zu der Kleinen, die sich endlich ein wenig aufrichtete, was sowohl Miss Klier als auch Tom einen erleichterten Seufzer entlockte.

Sue ließ sich aus seinen Armen zu Boden gleiten, aber ihre Augen musterten ihn eindringlich. »Du bist doch da, wenn die Schule aus ist, oder?«

»Klar, Prinzessin!«

»Na dann!« Mrs. Ronalds wandte sich erleichtert von ihnen ab und ging zurück in ihr Büro, während Miss Klier lächelnd ihre Rechte in Sues Richtung streckte.

»Komm, Sue. Wir gehen zusammen, dann kann ich dir gleich die Waschräume und geheimen Ecken der Schule zeigen.«

Sue entspannte sich nun ganz und griff vertrauensselig nach ihrer Hand, auch wenn sie die von Tom trotzdem nicht losließ.

»Danke«, flüsterte Tom leise, als Miss Klier zu ihm hinübersah, während er langsam neben den beiden herging.

»Gern geschehen«, erwiderte sie, musterte ihn gleichzeitig neugierig. »Sie sind aber nicht ihr Vater, oder? Entschuldigen Sie meine Neugier, aber dafür scheinen Sie zu jung.« Eine zarte Röte schlich sich auf ihre Wangen, als sie seitlich zu ihm hochsah.

Sie erschien ihm ebenfalls sehr jung. Wahrscheinlich frisch von der Uni. Drei- oder vierundzwanzig, knapp in seinem Alter, also seinem wirklichen Alter.

»Tom ist mein großer Bruder«, erklärte Sue stolz.

Miss Klier lächelte deutlich erleichtert, was Tom sichtlich amüsierte. Er wusste, dass er grundsätzlich eine sehr gute Wirkung auf Frauen hatte und hier in England war es fast noch schlimmer als zu Hause. Die sanfte Tour wirkte anscheinend besser als die harte. Er erlaubte sich ein Lächeln, welches sie mit einem tiefen Atemzug zur Kenntnis nahm, während ihr Gesicht von einer zarten Röte überzogen wurde.

Als sie schließlich beim Schultor angelangt waren, beugte er sich ein letztes Mal zu Sue hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sein Blick blieb aber weiter auf die Lehrerin gerichtet, bis deren Wangen purpurrot glühten. Endlich bekam er Mitleid und wandte sich von ihr ab und der Kleinen zu. »Ich denke an dich, Prinzessin«, flüsterte er mit sehnsüchtiger Stimme, und Sue blickte mit traurigen Augen zu ihm hoch. »Bis du wieder bei mir bist.«

Sie tauschten ein letztes Lächeln, bevor Sue sich von Miss Klier mitziehen ließ. Es konnte Einbildung sein, aber Tom war sich fast sicher, dass der körperbetonte Gang kein typisches Merkmal für eine Lehrerin war. Schmunzelnd wandte er sich um und verließ das Gebäude mit beschwingtem Schritt.

 

Der Vormittag an der Uni war verwirrend und anstrengend. Zu viele neue Gesichter, Gebäude, Namen, und ein wahnsinnig umfangreicher Stundenplan. Toms Kopf brummte dumpf, als er mittags die Cafeteria des Uni-Geländes besuchte. Er wählte einen ruhigen, verwaisten Tisch im hinteren Teil des Raumes und ließ die vergangenen Stunden bei einem Milchkaffee und einem Stück Schokokuchen Revue passieren. Die Kurse versprachen, ganz interessant zu werden, die Professoren schienen annehmbar zu sein – ein wenig selbstverliebt vielleicht. Seine Mitstudenten waren ihm verhältnismäßig kühl begegnet, was ihn aber nicht störte. Er war ohnehin nicht auf der Suche nach Anschluss, was er wohl auch ausstrahlte. Wahrscheinlich reflektierten die anderen lediglich seine eigene reservierte Art.

Was ihn wirklich erstaunt hatte, war, wie gut er dem Unterricht folgen konnte. Es war etwas völlig anderes, hier in einem Hörsaal gemeinsam mit Dutzenden Studenten zu sitzen, als zu Hause alleine von einem Privatlehrer unterrichtet zu werden. Die Mitarbeit wurde hier großgeschrieben, und diese Art der Diskussion war ganz nach seinem Geschmack. Was ihm vor sechs Monaten unmöglich erschienen war, war nun offensichtlich – sein neues Leben begann, ihm langsam Spaß zu machen.

»Du bist in meinem Soziologiekurs, oder?«

Tom blickte auf und verfolgte erstaunt, wie sich ein junger Mann an seinem Tisch niederließ.

»Hab ich dich eingeladen, hier zu sitzen?« Er konnte den drohenden Unterton in seiner Stimme nicht verhindern.

Der Typ hob abwehrend seine Hände. »Hey, keine Panik, ich komme in Frieden.« Dabei schnitt er eine so erschrockene Miene, dass Tom kurz auflachte.

»Mein Name ist Alex Tanner«, fuhr sein Gegenüber mit freundlichem Ton fort, gleichzeitig streckte er ihm die rechte Hand entgegen.

Nach einem Moment des Zögerns ergriff Tom sie. »Thomas Miller.« Den anderen über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg musternd nahm Tom erst mal einen Schluck. Alex hatte rötliche Haare, eine beinahe unwirklich wirkende weiße Haut und ein sichtlich fröhliches Gemüt. Breit lächelnd machte er es sich auf dem Stuhl bequem. »Was hast du heute noch?«

»Englisch.«

»Du bist Amerikaner, oder?«

»Und du Hellseher?«

»Nein, Hellhörer. Dein Akzent.« Er grinste entschuldigend.

Toms ernste Miene begann zu bröckeln. Der Junge gefiel ihm. »Schuldig.«

»Bist du schon lange in England?«

»Seit einem halben Jahr.« Das beginnende Lächeln war wieder verschwunden.

Alex ließ sich jedoch nicht beirren. »Gab’s bestimmte Gründe für den Umzug?« Sein Gesichtsausdruck war freundlich, aber auch sehr neugierig, und Tom war misstrauisch, was sich sowohl in seiner Mimik, als auch im Klang seiner Antwort niederschlug: »Nein.«

»Du bist nicht sehr gesprächig, oder?«

»Bei Leuten, die ich nicht kenne, nicht«, stellte er trocken fest.

Alex lachte. »Okay, verstehe schon.«

Tom senkte den Blick in seine Kaffeetasse, doch sein Gegenüber war anscheinend nicht gewillt, ihn aus dieser Unterhaltung zu entlassen. »Was machst du abends immer so? Schon ein paar nette Pubs entdeckt?«

»Ich gehe eigentlich nicht aus.«

»Warum?!« Der Aufschrei von Alex war so überrascht und entsetzt, dass Tom beinahe lachen musste.

»Ist die Fragestunde bald zu Ende?«, maulte er trotz leichtem Amüsement mit gerunzelter Stirn.

Alex zuckte die Achseln. »Na, ich meine ja nur. Du siehst – und versteh das jetzt auf keinen Fall falsch – unglaublich gut aus. Hätte ich dein Aussehen, ich wäre jeden Tag unterwegs und würde die Frauen reihenweise abschleppen.«

Nun erschien wirklich ein breites Grinsen auf Toms Gesicht. »Wir setzen anscheinend verschiedene Prioritäten im Leben.«

»Was kann wichtiger sein, als Frauen und Spaß?« Alex’ Augen lagen mit ehrlichem Interesse auf ihm.

Überleben, dachte Tom und nahm einen großen Schluck Kaffee, um sich etwas Zeit zu verschaffen. Natürlich, normale Menschen in diesem Alter hatten die gleiche Einstellung wie dieser Typ hier. Sie lebten einfach in den Tag hinein, wollten Spaß und Abenteuer. Sie kannten das Gefühl nicht, hinter jedem Baum, in jedem Schatten Gefahr zu befürchten. Sie mussten nicht bei jeder Handlung überlegen, welche Auswirkungen sie auf ihr eigenes und auf das Leben ihrer Familie haben würde. Plötzlich beneidete er sie alle um diese Freiheit, und auch ein bisschen Alex. Tom räusperte sich zweimal, bevor er beschloss, zu antworten. »Meine Familie hat ein hartes Jahr hinter sich. Ich bleibe lieber zu Hause und kümmere mich um meine kleine Schwester und meine Mutter«, murmelte er schließlich.

Alex’ Grinsen verrutschte. »Sorry, Mann. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

Sie verfielen beide in Schweigen, was Tom sichtlich leichter fiel, als seinem Gegenüber. Der trommelte nämlich mit seinen Fingern auf den Tisch und blickte unruhig durch die Gegend. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, und Tom konnte nicht anders, als über seine Ungeduld zu schmunzeln. »Ich hab auch eine Schwester. Wir sind Zwillinge, zweieiig – sie ist nicht ganz so hübsch wie ich«, erzählte Alex grinsend, eine Grimasse schneidend.

Tom grinste zurück. »An Selbstvertrauen fehlt es dir aber nicht, oder?«

»Man tut, was man kann.« Alex schob eine Karte über den Tisch. »Wenn du doch mal Lust bekommst auszugehen, ein Freund meines Vaters hat ein Pub in der Nähe der Uni. Wir sind eine nette kleine Clique. Die anderen kommen erst nächste Woche wieder, sie haben ihren Urlaub verlängert. Du bist herzlich eingeladen, mal vorbei zu schauen. Ich bin eigentlich jeden Abend da, und die anderen am Wochenende.«

»Danke.« Tom nahm die Karte und steckte sie ein. »Ich bin zwar mehr der Einzelgänger, aber wer weiß?«

»Seitenhieb verstanden.« Alex stand auf. »Also dann, schönen Tag noch, Thomas.«

Tom hob grüßend die Hand. »Nenn mich Tom, bitte. Wir sehen uns ja sicher im Kurs wieder.«

Der junge Mann verließ den Tisch und die Cafeteria, und Tom tat es ihm einige Minuten danach gleich.

 

Sein letzter Kurs endete gegen vierzehn Uhr. Tom beeilte sich zur U-Bahn, um nur ja nicht zu spät zu Sues Schule zu kommen. Er wollte die Kleine auf keinen Fall enttäuschen, ganz abgesehen davon, dass er sich wahnsinnig darauf freute, sie wieder bei sich zu haben. Es war das erste Mal seit ihrer Flucht aus Chicago, dass sie länger als zwei Stunden getrennt waren, und er musste notgedrungen zugeben, dass er sich verloren fühlte, wenn sie nicht bei ihm war. Die U-Bahnverbindung von der Uni zu Sues Schule war mehr als ideal, und so traf er letztendlich viel zu früh vor dem Schulgebäude ein. Daher ließ er sich lässig auf der Schultreppe nieder und zog ein Buch aus seinem Rucksack.

Als plötzlich ein Schatten auf die Buchseite fiel, blickte er neugierig auf. Miss Klier stand vor ihm und lächelte auf ihn herab. »Hi!«, hauchte sie – ihre Finger spielten nervös mit dem Verschluss ihrer Handtasche.

»Hi!« Tom schirmte mit einer Hand seine Augen ab, um sich vor der Sonne zu schützen. »Wie war Sues erster Tag?«

Sie hörte auf, mit der Tasche zu spielen, dafür drehte sie nun eine ihrer Haarsträhnen auf ihren Zeigefinger. »Ich denke, es hat ihr ganz gut gefallen. Ich habe versucht, ihr so viel als möglich zu helfen.«

»Dankeschön. Das weiß ich zu schätzen.« Ein Schmunzeln stahl sich auf sein Gesicht – zu offensichtlich war ihr Interesse an ihm.

»Ich überlege, ob ich Ihnen vielleicht meine Nummer aufschreiben sollte. Gut möglich, dass Sie einmal Hilfe benötigen. Also, Sue meine ich …« Sie räusperte sich, danach röteten sich ihre Wangen. »… ich meine, wenn Sie vielleicht Fragen haben … ähm … oder besser Sue…« Sie brach mit einem entschuldigenden Lächeln ab.

Tom versuchte vergeblich, seine Heiterkeit zu verbergen. Sie klang eher wie ein schüchternes Schulmädchen als eine Lehrerin. Letztendlich gelang es ihm jedoch, das aufkommende Grinsen in ein Schmunzeln abzuschwächen, und nun glühten ihre Wangen regelrecht.

»Ich bin stets bemüht, einen sehr persönlichen Kontakt zu meinen Schülerinnen aufzubauen. Ich bin also gerne auch außerhalb der Schule für sie da«, fuhr sie fort, dabei breitete sich die Röte über ihren Hals hinweg bis auf ihre Ohren aus.

»Für Sue oder für mich?«, fragte er unschuldig, der Schalk funkelte in seinen Augen.

Für einen Moment war sie sprachlos, dann sprach sie stotternd weiter. »Ähm … ganz wie Sie möchten … also, ich meine …« Ihre Verlegenheit raubte ihr die Stimme.

Er schloss sein Buch, schob es in seinen Rucksack und stand auf. Innerlich schmunzelnd stellte er fest, dass sie mit leicht geöffnetem Mund jeder seiner Bewegungen folgte. Anschließend hielt er ihr mit einem freundlichen Lächeln die offene Hand hin, was ihr einen verwirrten Blick entlockte.

»Ich dachte, ich bekomme Ihre Telefonnummer?«, erklärte er mit leisem Lachen in der Stimme.

»Oh. Natürlich!« Sie kramte hektisch in ihrer Handtasche und reichte ihm schließlich eine hellgelbe Visitenkarte. »Hier sind die Nummer der Schule und meine Privatnummer drauf.« Sie blickte auf, direkt in seine Augen, und blinzelte. »… Mr. Miller.«

»Nennen Sie mich doch einfach Tom, Miss Klier.« Er achtete sorgsam darauf, dass er kurz ihre Hand mit seinen Fingern berührte, als er die Karte entgegennahm. Sie schien unter der leichten Berührung zu erschauern.

»Elisabeth, oder einfach Beth«, säuselte sie, schüchtern zu ihm auf lächelnd. Jetzt, da er stand, überragte er sie um ein gutes Stück.

Sein Blick glitt abschätzend über ihren Körper. Das Gesicht war ganz süß, Figur schlank, Hintern klein, aber rund. Okay – warum nicht?

Die junge Frau errötete wieder bis hinunter aufs Dekolleté. Ihr war seine eindringliche Musterung nicht entgangen, und ihre Schüchternheit wurde von einem Anflug von Koketterie zurückgedrängt. »Vielleicht möchtest du ja mal mit mir einen Tee trinken, oder so«, sagte sie.

»Lädst du mich zu einem Date ein?« Tom tat erstaunt, und sie presste erst die Lippen zusammen, bevor sie sie zu einem verlegenen Lächeln verzog. »Wir können ja mal sehen, was daraus wird, vielleicht …«, begann sie, wurde aber von einem gerufenen »Tom!« unterbrochen.

»Am besten, wir reden morgen weiter«, erklärte er schnell und wandte sich dann ab, als Sues Stimme immer lauter vom Ausgang der Schule herüberschallte. Er breitete seine Arme aus, die Kleine schoss wie ein Blitz hinein und drückte ihm lachend einen dicken Kuss auf. »Tom, du bist wieder da«, wisperte sie an seiner Wange.

»Natürlich, Prinzessin!« Er hob seine Hand, um ihr liebevoll über die Haare zu streichen. »Was hast du denn gedacht? Wie war dein Tag?«

»Es war toll, die Kinder sind fast alle nett, und ich weiß viel mehr als die anderen. Mrs. Moore hat gesagt, man merkt, dass ich zuvor eine sehr gute Schule besucht habe.«

Tom lachte und drückte sie kurz an sich, bevor er sie auf die nächsthöhere Stufe stellte. Aus dem Augenwinkel sah er den verträumten Blick von Beth.

»Los, lass uns nach Hause gehen. Ich hab Hunger.« Er griff Sues Hand und blickte über seine Schulter. »Schönen Tag noch, Elisabeth. Und vielen Dank noch einmal für die gute Betreuung meiner Schwester!«

»Gern geschehen. Schönen Abend, Sue! Wiedersehen, Tom!« Beths verklärtes Lächeln erheiterte Tom ungemein, also wandte er sich schnell ab und ging los.

»Wieso schaut die dich denn so komisch an?«, grummelte Sue, als sie ein Stück entfernt waren.

»Na ja, Prinzessin, sie dürfte Gefallen an mir gefunden haben.«

Sue lachte laut auf. »Aber Tom, sie ist eine alte Frau!«

Er schmunzelte. »Sie ist ungefähr in meinem Alter. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Du weißt, dass ich nicht wirklich neunzehn bin, Sue. In Wahrheit werde ich dreiundzwanzig.«

»Aber sie ist eine Lehrerin, Tom!« Sichtlich empört musterte sie ihren großen Bruder, während sie die Stufen zur U-Bahn hinuntereilten.

Der nahm die Irritation seiner Schwester etwas verunsichert wahr. Doch eigentlich war es nur zu natürlich, dass sie eifersüchtig war, wenn ihr jemand seine Aufmerksamkeit streitig machte. Schließlich hatte sie die letzten Monate praktisch uneingeschränkt ihr gehört. Er beeilte sich vom Thema abzulenken, indem er sie nach ihren Schulkameraden befragte, was zur Folge hatte, dass sie auf dem Heimweg ohne Unterlass plauderte und selbst als sie zu Hause angekommen waren, nicht aufhörte zu schnattern.

 

Stephanie kam Punkt fünf Uhr, so wie versprochen. Tom ließ sich mit Sue am Küchentisch nieder, um mit ihr zu zeichnen, während sie Steph beim Kochen Gesellschaft leisteten. Der erste Schultag hatte Sue genauso angestrengt wie ihn, und als sie nach dem Essen ins Wohnzimmer übersiedelten, um ihre Lieblingssendung anzusehen, war sie zwei Minuten später in seinen Armen eingeschlafen.

Also trug er sie in ihr Bett und deckte sie zu. Wie fast jeden Abend, legte er sich noch neben sie und betrachtete sie, während sie schlief. Er konnte sich einfach nicht sattsehen an ihr. Sie war eine perfekte Mischung aus seiner Mutter und Chay – und dennoch so anders. Einige Minuten später streichelte er ein letztes Mal zart über ihren Kopf und schlich danach nach draußen.

Er wünschte Stephanie eine gute Nacht und verschwand dann im Badezimmer. Die heiße Dusche brachte auch seine Müdigkeit wieder zum Vorschein, und er beeilte sich in sein Zimmer. Während er bei leiser Musik in seinem Bett lag und an die Decke starrte, kam er zu dem Entschluss, dass das mit Beth doch keine so gute Idee wäre. Sie war Sues Lehrerin und er offiziell gerade mal neunzehn. Die Devise war, kein Aufsehen zu erregen. Das würde jedoch passieren. Also beschloss er, ihr bei der nächsten Gelegenheit einfach sein angebliches Alter zu präsentieren. Soweit er wusste, hatten Frauen meist schon aus Prinzip ein Problem damit, sich mit jüngeren Männern einzulassen. Das würde die Sache ohne Peinlichkeiten beenden, noch bevor sie angefangen hatte – hoffte er zumindest.

Er schaltete die Musik ab, löschte das Licht und drehte sich zur Seite. Während er auf den Schlaf wartete, kam ihm der Gedanke, dass auch, wenn Beth als Opfer ausfiel, es trotzdem langsam Zeit wurde, irgendeine weibliche Lösung zu finden. Es war nun schon mehr als ein halbes Jahr her, dass er das letzte Mal Sex gehabt hatte und jetzt, da sich sein Leben wieder gefestigt hatte, erwachten seine Bedürfnisse mit großer Ungeduld. Er war es nicht gewohnt, enthaltsam zu leben.

Seine Gedanken drifteten zurück zu Beths Anblick im Sonnenlicht. Er erinnerte sich an die Schwünge ihrer Hüfte und die Andeutung ihrer Brüste unter der sittsam bis zum Hals geschlossenen Bluse.

Seufzend rollte er sich auf den Rücken und zog seine Hose nach unten. Sein Schwanz war erwacht, zumindest ein bisschen, doch die Erinnerung an die prüde Lehrerin reichte nicht. Er konzentrierte sich, dachte zurück an seine letzte Freundin, Colette, eine kleine Französin, rattenscharf und willig. Seine Augen gingen zu, die Vorstellung ihrer vollen Lippen um seinen Penis ließen diesen anschwellen. Er griff zur Seite, angelte die Gleitcreme aus dem Nachttisch und drückte eine Portion in seine Handfläche. Besser! Nun fühlte es sich zumindest ähnlich an. Er rieb schneller, bewegte seine Faust und verstärkte den Druck. Es dauerte lange, aber schließlich erreichte er seinen Höhepunkt und ergoss sich leise grunzend über seine eigene Hand.

Während er sich säuberte, fluchte er vor sich hin. Verdammt. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so oft einen runtergeholt zu haben, wie hier in London. Verhalten lachend schmiss er die Tücher zu Boden und rollte sich seitwärts. Früher war es nicht nötig gewesen, sich selbst zu befriedigen. Die Frauen waren praktisch Schlange gestanden, um ihm zu Willen zu sein. Augenrollend erkannte er die Ironie – er hatte doch tatsächlich endlich einen Vorteil seines bisherigen Lebens gefunden. Während er noch darüber grübelte, schlief er ein.

 

 

Kapitel 9

 

 

 

 

 

Der nächste Tag begann mit der unangenehmen Tatsache, dass er verschlafen hatte. Sue war entsprechend schlecht gelaunt, als er ihr mitteilte, dass er sie nicht zur Schule bringen konnte, um nicht selbst zu spät die Uni zu erreichen, sondern Steph dies übernehmen würde. Ihr Weinen und Jammern bedrückte ihn dermaßen, dass es ihm den ganzen Vormittag über nicht möglich war, sich zu konzentrieren.

Als er mittags aus dem Vorlesungssaal eilte, stand plötzlich Alex vor ihm, der Student, den er am Vortag kennengelernt hatte, und lud sich mehr oder weniger selbst dazu ein, ihn zum Essen zu begleiten. Da Tom irgendwie keine passende beziehungsweise höfliche Ausrede einfiel, um ihn abzuwimmeln, fügte er sich in sein Schicksal. Zu seiner Überraschung genoss er die Zeit mit ihm, vor allem, weil sich sein erster Eindruck, Alex würde jede Menge Humor besitzen, schnell bestätigte. Zu dem Chicken Tikka Masala präsentierte er ihm amüsante Anekdoten über ihre Mitschüler und als Zugabe sämtliche Eigenheiten der, wie Alex sie nannte, bumsbaren Hühner in ihrem Jahrgang. Auf dem Weg zurück zum Unterricht trafen sie gemeinsam eine kleine Vorauswahl der infrage kommenden Mädchen. Schlussendlich konnte Tom nur zugeben, dass er sich wirklich freute, diesen amüsanten Kerl kennengelernt zu haben.

Er ließ seine letzte Stunde ausfallen und eilte zu Sues Schule, um sie abzuholen. Nachdem er seine zum Glück wieder blendend gelaunte Schwester aufgelesen und, wie am Vorabend zurechtgelegt, Beths Hoffnungen auf eine Romanze mit ihm mittels Notlüge begraben hatte, machten sie sich mit einem Umweg über den Eissalon auf den Heimweg. Sein Fehlverhalten vom Morgen war noch nicht ganz abgegolten, also befasste er sich den restlichen Tag ausschließlich mit Sue, was diese natürlich in vollen Zügen genoss.

Als Tom abends, nachdem er ihr mehr als eine Stunde vorgelesen hatte, an der Küche vorbeikam, hörte er Steph darin hantieren. Kurzerhand zog er sich am Türrahmen zurück und steckte seinen Kopf durch die Tür – sie war dabei, das Geschirr zu spülen. »Brauchst du Hilfe?«

Erfreut grinste sie ihn an. »Nein, bin gleich fertig.«

»Okay, ich geh unter die Dusche. Was hältst du von einer Flasche Wein zum Fernsehen?«

»Gute Idee. Ich bereite alles vor.«

Er zwinkerte ihr zu und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.

Eine halbe Stunde später kam er in Jogginghose und T-Shirt ins Wohnzimmer. Steph lehnte bequem auf der Couch und lächelte ihm entgegen. Er lümmelte sich neben sie und griff sich das vorbereitete Glas Wein.

Nach einem melancholischen Blick aus dem Fenster prostete Stephanie ihm zu. »Auf unser neues Leben!«

»Wie kommst du denn jetzt gerade darauf?«, erkundigte er sich interessiert.

Grinsend einen großen Schluck nehmend lugte sie zu ihm auf, bevor sie mit der Neuigkeit herausrückte. »Ich habe heute ein Angebot einer Privatschule bekommen. Sie wollen mich halbtags anstellen.« Danach erwartete sie, an ihrer Unterlippe nagend, seine Reaktion – sie selbst schien auf jeden Fall vor Stolz fast zu platzen.

Tom stellte lächelnd sein Glas ab, bevor er sich zu ihr beugte. »Ich gratuliere. Du hast mir gar nicht erzählt, dass du noch mehr arbeiten möchtest.«

Augenblicklich gefror ihre fröhliche Miene. »Hast du etwas dagegen? Ich kann noch absagen.«

Tom schrak vor ihrer unterwürfigen Stimme zurück, nahm ihr das Weinglas ab und griff dann nach ihrer Hand. »Nein, natürlich nicht. Es ist dein Leben, du kannst machen, was du willst.«

»Kann ich das?« Ihr Lächeln kehrte in einer sehr zaghaften Version wieder. Als sie weitersprach, klang Demut in ihren Worten mit. »Danke!«

Tom entwich ein tiefer Seufzer. »Steph, du brauchst mir doch nicht zu danken«, flüsterte er niedergeschlagen, denn eben war eine Erinnerung vor ihm aufgeblitzt.

Er und Chay, betrunken auf der Couch seiner Mutter. Steph/Sybil, die mit seiner Whiskyflasche in der Hand und saurer Miene vor ihnen stand. Er selbst, im dunkelgrauen Armani-Anzug, mit arrogantem Gesichtsausdruck. Er hörte wieder seine eigene blasierte Stimme und sah, wie sie angewidert und doch ängstlich vor ihm zurückwich. Er vernahm seine eigene Drohung und ihre Antwort – der gleiche untertänige Tonfall, den sie gerade ebenfalls gehabt hatte, während sie ihm, Chay und sich selbst ein Glas eingoss und trank. Sie hatte ihm gehorcht, so wie alle anderen auch. Und er hatte die Macht über sie genossen.

Jetzt, in der Gegenwart, sah er den Schatten seiner eigenen Erinnerung in ihren Augen, und ein kalter Schauer überzog seine Arme mit Gänsehaut. Er sah sie unglücklich an. »Ich dachte, über das sind wir hinweg. Du weißt, dass ich nicht mehr so bin wie früher, oder?«

Nun stieß auch sie die Luft aus. »Es ist so schwer, die alten Gewohnheiten abzulegen, oder?«

»Wahnsinnig schwer«, stimmte er ihr nickend zu.

»Wie geht es dir? Ich meine, mit all den neuen Dingen in deinem Leben?«

Mit den Schultern zuckend zog er seine Nase kraus. »Es ist so anstrengend, normal zu leben.«

Trotz der Traurigkeit, die ihn sofort wieder erfüllte, gelang es ihm, ein kleines Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, als Stephanie ihre Hand an seine Wange legte.

»Du machst das großartig, Tom. Claire wäre furchtbar stolz auf dich. Und Chay auch.« Tränen traten in ihre Augen, was in Tom eine Welle des Schmerzes auslöste. Um sich abzulenken, nahm er schnell sein Glas und trank.

Offenbar gelang es ihm jedoch nicht, darüber hinwegzutäuschen, wie sehr er mit seinen Emotionen kämpfte, denn Stephs Finger strichen erneut über sein Gesicht. »Du kannst traurig sein. Wein doch, wenn dir danach ist.«

»Mir wurde schon im Kindesalter beigebracht, dass es besser ist, seine Gefühle nicht zu zeigen. Bis jetzt hab ich ganz gut damit gelebt«, murrte er fast unfreundlich.

»Ich würde nichts auf die Dinge geben, die dir dieses Scheusal beigebracht hat.« Steph verzog ihr Gesicht zu einer angeekelten Grimasse.

»Was soll es bringen, über sie zu weinen? Es bringt sie nicht zurück«, flüsterte er niedergeschlagen.

Sie seufzte. »Es hilft dir vielleicht, drüber hinwegzukommen.«

Ein zittriger Seufzer verließ seine Lippen. »Als ich damals von Mum getrennt wurde, hat sich praktisch innerhalb von Stunden mein gesamtes Leben verändert. Ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich anfangs enttäuscht und verzweifelt war, weil Mum nicht versuchte, mich zurückzuholen.« Seine Stimme war jetzt voller unterdrückter Wut.

Steph öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, doch er würgte sie mit einer barschen Handbewegung ab.

»Ich weiß, dass sie keine Chance hatte. Wir haben darüber gesprochen – in Chicago. Im Krankenhaus.« Sich durch die Haare fahrend sah er mit einem störrischen Gesichtsausdruck zu ihr hinüber. »Es war anfangs schwer mit meinem Vater, aber ich habe gelernt, damit zu leben. Mit ihm und seiner Art, die Sachen … zu regeln. Und dann hat Chay mich da rausgeholt, und ich hab mich mit dem Gedanken angefreundet, wieder aus diesem Leben auszusteigen. Ich habe meine Mutter neu kennengelernt, und ich habe eine Schwester bekommen.« Ein zärtliches Lächeln erhellte für einen Moment seine traurige Miene. »Sue ist das Beste, was mir bis jetzt im Leben passiert ist.« Er griff sich das Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck, bevor er fortfuhr. »Ich war plötzlich wieder glücklich. Ich hatte eine Familie. Mir ging es gut.« Seine Schultern sackten nach unten und er senkte den Kopf.

Stephanies Hand legte sich auf seine. »Tom …« Sie brach ab, als sie sah, dass er den Mund öffnete, um weiterzusprechen.

»Ich hab mich auf all das eingelassen, auf Mums Liebe, Chays Vertrauen in die Zukunft. Und jetzt? Sieh mich an. Ich habe Mum wieder verloren und Chay dazu, sitze in einem fremden Land und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Mein bisheriges Leben mag dir falsch erscheinen, aber es hatte zumindest eine Struktur. Ich wusste immer, was ich zu tun hatte. Jetzt ist alles anders. Ich habe plötzlich die Verantwortung für ein siebenjähriges Mädchen und keine Ahnung, ob es so, wie ich es mache, richtig ist. Ich weiß nicht, was Mum und Chay von mir erwartet haben.«

Stephanie suchte nach den passenden Worten, während sie beruhigend mit dem Daumen über seinen Handrücken rieb. Endlich räusperte sie sich und sagte: »Alles, was Claire und Chay gewollt haben, war, dass du wieder frei und glücklich bist.«

Er schnaubte laut. »Und das hat sie das Leben gekostet, Steph.« Er nahm ihre Hand, drückte sie kurz, bevor er sie losließ, um zum Fenster zu gehen und am Vorhang vorbei hinaus zu sehen. »Ich habe einen Studentenkollegen kennen gelernt. Er ist unglaublich. Sein größtes Problem ist, wie er den BH seiner nächsten Eroberung aufbekommt. Und weißt du was?« Er lachte leise. »Ich beneide ihn.«

Steph stand auf und ging zu ihm. »Triff dich mit ihm, Tom. Geht miteinander weg. Du hast es verdient, Spaß zu haben. Du hast viel nachzuholen.«

Er schüttelte den Kopf. »Spaß hatte ich genug im Leben«, stieß er mit harter Stimme hervor, sprach dann jedoch sanfter weiter. »Außerdem, ich kann abends nicht weggehen.«

»Warum nicht?«

»Sue kann nicht einschlafen, wenn ich nicht da bin, das weißt du.«

Steph schob ihren Arm in seinen und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Tom, ich bin auch noch da. Ich sag ja nicht, dass du jeden Tag losziehen musst, aber ab und zu wird die Kleine es überleben, wenn ich sie zu Bett bringe.«

»Ich weiß nicht«, murmelte er zweifelnd, und Stephanie grinste zu ihm hoch. »Du musst es ja nicht gleich entscheiden, lass es dir einfach durch den Kopf gehen.«

Tom seufzte resignierend und küsste sie aufs Haar. »Okay.«

 

In den nächsten beiden Wochen gelang es Tom, sich einerseits an der Uni einzuleben und andererseits so viele neue Erfahrungen zu sammeln, dass er sich fühlte, als wäre er wirklich erst neunzehn und gerade dabei, die Welt zu entdecken. Und wenn man es genau nahm, tat er das ja auch.

Er hatte zehn Jahre seines Lebens in einem Krimi verbracht, fern jeder Realität, wie der Rest der Menschheit sie kannte. Im Haus und im Geschäft seines Vaters dominierten die Macht und der Kampf, um diese zu erreichen, aufrecht zu erhalten und zu stärken. Dazu standen Betrug und Lügen an der Tagesordnung. Die meisten seiner Geschäftspartner waren korrupt, weder Gesetz noch ethische Regeln oder Menschenleben zählten. Das war seine Welt gewesen. Eine Welt, in der kein Platz für einen heranreifenden Teenager gewesen war. Kein Platz für Fehler und unbedachte Handlungen.

Erst heute wurde ihm bewusst, wie viel er versäumt hatte, was ihm alles vorenthalten worden war, dadurch, dass sein Vater ihm sein Leben vorgeschrieben hatte. Die normalen Empfindungen eines Jugendlichen, die Entdeckung des eigenen Ich, und die der ersten Liebe. Die Zurückweisung und der Kampf um Akzeptanz und Integrität, die Suche nach dem Platz in der Welt – all das gehörte zum Erwachsenwerden dazu – doch das war ihm nie vergönnt gewesen. Er war innerhalb von wenigen Monaten vom Kind zum Mann gepeitscht worden, hatte die ihm vorherbestimmte Stellung eingenommen, inklusive aller Rechte und Pflichten. Salvatore hatte ihm seinen Stempel aufgedrückt, aus ihm seine Marionette gemacht. Er war sein Sohn gewesen – sein Figo –, hatte funktioniert und reagiert, wie es von ihm erwartet wurde, ohne über die Gründe nachzudenken – ganz so, wie der Capo sich das immer gewünscht hatte.

Seit er diese Welt verlassen und durch die Flucht die Fäden zu seinem Vater gekappt hatte, war er frei. Aber es war noch schwerer als befürchtet, sich neu zu orientieren, auch nur zu versuchen, ein paar dieser Dinge auszugleichen. So sehr er sich bemühte, sich in einem normalen Alltag zurechtzufinden, sich in eine neue Zukunft führen zu lassen – manchmal schien es fast unmöglich. Und dennoch erkämpfte er sich mit jedem Tag ein Stück mehr Freiheit und Sicherheit.

Die Zeit mit Sue genoss er, so oft er konnte. Sie war zum Mittelpunkt seines Lebens geworden. Die Kleine füllte die Leere, die seine Mutter und Chay hinterlassen hatten und von der er doch davor nie gewusst hatte, dass sie da war. Nur verzögert wurde ihm klar, dass er für sie genau das Gleiche tat. Sie brachte ihm eine ehrliche und vorbehaltlose Liebe entgegen, die er vorher nicht gekannt hatte und die er in jeder Sekunde, die er mit ihr zusammen war, spürte und genoss.

Stephanie ging vollkommen in ihrem Lehr-Job auf. Täglich bereitete sie mit Feuereifer die Unterrichtsmaterialien für den nächsten Tag vor und verbrachte die Abende mit Vorliebe damit, Tom von ihren Schülern vorzuschwärmen. Auch das Verhältnis zwischen ihnen beiden war inniger geworden, als sie es sich jemals hätten vorstellen können. Tom genoss es, ihren Geschichten über seine Mum und Chay zu lauschen, oder ihren Erinnerungen an Sues erste Jahre. Im Gegenzug erzählte er ihr einiges aus seiner und Chays Vergangenheit. Dabei wählte er jedoch nur das, was tatsächlich für Mutter-Ohren bestimmt war.

Steph befragte ihn vorsichtig über seine Zeit bei seinem Vater, und er berichtete ihr so viel davon, wie ihm möglich war. Anfangs war er entschlossen, seine Beichte, wie schon einmal bei Chay, absolut wahrheitsgetreu abzulegen, aber ihre Reaktionen auf die brutalen Einzelheiten ließen ihn seine Meinung ändern. Ab diesem Zeitpunkt vermied er es, ihr die grausamen Details zu schildern. Natürlich erkannte Steph es an seiner wechselnden Stimmung, wenn er bei seinen Erzählungen etwas zu ihrem Besten ausließ. Doch seine Ehrlichkeit und sein Vertrauen ihr gegenüber lösten die letzten Blockaden zwischen ihnen auf. Und irgendwann fühlte es sich tatsächlich fast so an, als wäre sie seine Ersatzmutter und er ihr Sohn. Endlich verstand sie Claires und Chays tiefe Liebe zu ihm, als sie erkannte, was die beiden nie aufgehört hatten, zu glauben. Tommaso Salvatore Cosolino war eine Maske gewesen, die zu tragen notwendig gewesen war, um dieses Leben durchzustehen, aber Tom hatte sie schlussendlich abgelegt!

 

 

Kapitel 10

 

 

 

 

 

In der dritten Woche des Semesters ergab sich Tom Sues Drängen und schrieb sie in den Ballettkurs ein, den einige ihrer neuen Schulkameradinnen besuchten. Der Unterricht fand zwei Mal wöchentlich statt, weshalb er mit einem Mal viel zu viel Freizeit zur Verfügung hatte. Nach wie vor tat er sich schwer, die Zeiten ohne die Kleine zu genießen, also sprang er über seinen Schatten und verabredete sich mit Alex zu einem nachmittäglichen Besuch im Pub.

Alex hatte ihm erzählt, dass er und seine Schwester vor vier Jahren mit seinem Vater von Nordengland nach London gekommen waren. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und die Vergrößerung der Firma, in der Mr. Tanner seit zwanzig Jahren arbeitete, hatte ihn gezwungen, sich in der Hauptstadt anzusiedeln. Nur knapp zehn Monate später hatte ihn ein Herzinfarkt völlig überraschend aus dem Leben gerissen, und die Zwillinge waren mit fünfzehn Jahren plötzlich allein dagestanden. Ein Bekannter seines Vaters, Frank Mood, dem auch der Pub gehörte, wo sie sich treffen würden, hatte sich zu ihrem Vormund erklärt. Das galt allerdings nur für die Behörden. Er hatte ihnen ein Appartement vermittelt und ihnen in seinem Pub freie Verköstigung geboten. Mehr konnte er nicht bieten, aber das war immer noch besser gewesen, als zu ihrer einzigen Verwandten zu müssen – einer Tante zweiten Grades, die sie nicht kannten.

Alex und seine Schwester standen sich anscheinend sehr nahe, und gerade das hatte Tom dazu gebracht, ihm eine ehrliche Chance zu geben. Es gab doch einige Parallelen in ihrem Leben. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie eng ein Verlust jemanden zusammenbringen konnte. Und da auch Stephanie ihn weiter gedrängt hatte, sich mit Gleichaltrigen anzufreunden, hatte er sich nach langem Überlegen dazu bereit erklärt, es zumindest einmal auszuprobieren.

Also kämpfte er sich tapfer durch die Londoner Straßen, fand aber dank Alex’ äußerst präziser Wegbeschreibung schnell die genannte Adresse. Wie verabredet betrat er den Pub etwas nervös über den Seiteneingang und wurde dort freundlich von Mr. Mood begrüßt. Das Lokal war düster, auch deshalb, da nur einige Wandleuchten brannten. Tom nahm an, dass während der Öffnungszeiten zusätzliches Licht ein behaglicheres Flair entstehen lassen würde. Jetzt wirkten die dunklen Mahagoni Täfelungen an den Wänden und der abgenützte Holzboden in der gleichen Farbe etwas bedrohlich. Die Tische waren klein und rund, und die Sessel erweckten nicht den Eindruck von Gemütlichkeit. Die ausgeblichenen grünlichen Tischdecken und Stuhl-Hussen auf den niedrigen Lehnen der Barhocker bemühten sich, den Hauch von Extravaganz zu streuen, wirkten aber eher fehl am Platz. Dafür war die Bar, die sich über die gesamte Länge des ersten Raumes erstreckte, absolut perfekt. Der blank geputzte Tresen warf die Spiegelungen der unzähligen Flaschen zurück, die fein säuberlich in ihren Halterungen an der Wand hingen, und unter weißen Tüchern standen Gläser für den Abend bereit.

Mr. Mood entging nicht, dass er sich neugierig umsah, was wiederum Tom nicht verborgen blieb. Also fühlte er sich bemüßigt, ihm ein Kompliment für sein Lokal zu machen, worauf dieser ihn zufrieden lächelnd weiterbat.

Sie traten durch eine doppelte Flügeltür mit dunkelgrünen Scheiben in eine Art Hinterzimmer. Der Raum war klein und wesentlich gemütlicher als der vordere Teil des Pubs. Auch hier war die dunkle Holzverkleidung an der Wand zu finden, nur dass diese von flaschengrünen Glasscheiben unterbrochen waren, die von einer indirekten Beleuchtung erhellt wurden. In der Mitte stand ein runder Tisch mit bequem wirkenden gepolsterten Stühlen. An dem Tisch versammelt erblickte Tom eine kleine Gruppe von Leuten, deren Gespräche auf einen Schlag verstummten, als sie ihn entdeckt hatten. Alle sahen in seine Richtung.

»Alex, dein Gast.«, erklärte Mr. Mood. Damit schien er seine Aufgabe als Begrüßungskomitee für beendet zu betrachten und zog sich mit einem gemurmelten »Ich hol dann mal was zu trinken« zurück.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137026
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Mafia Romantikthriller Emotionen Spannung Liebe Mafiaromance Krimi Thriller Erotik Erotischer Liebesroman Liebesroman

Autor

  • Charlene Vienne (Autor:in)

Charlene Vienne wurde 1973 in Wien geboren, wo sie immer noch lebt. Sie ist Mutter zweier erwachsener Söhne. Ihre Liebe zum Lesen schenkte ihr in einer harten Zeit die Möglichkeit, dem Alltag für eine Weile zu entkommen. Doch recht schnell stellte sich heraus, dass es noch besser war, selbst aktiv zu werden. Also begann sie, einige Ideen niederzuschreiben und wagte schließlich sogar den Weg zur Veröffentlichung. Ihr Anliegen ist es ihren Lesern eine schöne Auszeit zu schenken.