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Time to come home

Mafia Romance

von Charlene Vienne (Autor:in)
380 Seiten
Reihe: Time to Reihe, Band 3

Zusammenfassung

Denises Entscheidung hat Tommaso jede Kraft geraubt, noch länger gegen sein grausames Schicksal anzukämpfen. In dem Glauben, die Frau, die er über alles liebt, hassen zu müssen, versucht er verzweifelt, seine frühere Stärke zurückzugewinnen. Denise kämpft ihrerseits um seine Liebe und ihr verloren gegangenes Glück! Nur Salvatore glaubt sich am Ziel, während seine Feinde im Hintergrund die Fäden für seine endgültige Vernichtung spinnen; und schon bald wird auch Tommaso vor die ultimative Wahl gestellt. Welche Opfer ist er bereit, zu bringen, um als Sieger aus dieser Schlacht hervorzugehen? Wer wird den Krieg gewinnen? Oder werden am Ende alle verlieren? Der finale Band der Time to-Trilogie

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Time to come home – Time to-Reihe Band 3

© 2020/ Charlene Vienne

www.facebook.com/Charlene.Vienne.Autorin/

Alle Rechte vorbehalten!

 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

 

Umschlaggestaltung

Charlene Vienne; Bilder: pixabay

 

Bildmaterial Buchlayout

pixabay

 

Lektorat/ Korrektorat

Elke Preininger

 

Erschienen im Selbstverlag:

Karin Pils

Lichtensterngasse 3-21/5/9

1120 Wien

 

 

Dieser Roman wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, lektoriert und korrigiert. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer. Das Buch enthält explizit beschriebene Sexszenen und ist daher für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.

Kurzbeschreibung

 

Denises Entscheidung hat Tommaso jede Kraft geraubt, noch länger gegen sein grausames Schicksal anzukämpfen. In dem Glauben, die Frau, die er über alles liebt, hassen zu müssen, versucht er verzweifelt, seine frühere Stärke zurückzugewinnen. Denise kämpft ihrerseits um seine Liebe und ihr verloren gegangenes Glück! Nur Salvatore glaubt sich am Ziel, während seine Feinde im Hintergrund die Fäden für seine endgültige Vernichtung spinnen; und schon bald wird auch Tommaso vor die ultimative Wahl gestellt. Welche Opfer ist er bereit, zu bringen, um als Sieger aus dieser Schlacht hervorzugehen? Wer wird den Krieg gewinnen?

Oder werden am Ende alle verlieren?

 

Der finale Band der Time to-Trilogie

 

 

Kapitel 1

 

 

 

 

 

 

Monique Harley, 1. Juli 2000, Acapulco

 

Die kleinen Arme, die sich um meinen Hals winden, bringen mir endlich Ruhe. Mein Herzschlag normalisiert sich, auch wenn es ein wenig dauert, weil die Freude, meine Jungs wiederzuhaben, einfach zu groß ist.

Ich sehe den Mann, den ich liebe, und die Frau, die uns zu all dem gezwungen hat, ein Stück weiter entfernt stehen. Sie sprechen miteinander. Er ist aufgeregt, ich erkenne es an seinen Gesten.

Ein wenig später kommt er zu mir. Ich lasse meine Söhne dennoch nicht los, zumindest ihre kleinen Hände bleiben in den meinen. »Können wir gehen?«, frage ich, obwohl ich nur zu gut weiß, dass es keinen Platz gibt, an dem wir sicher sein werden.

»Sie bietet uns Schutz, wenn ich ab sofort für sie arbeite.«

Seine Erklärung lässt mich schnauben. »Schutz«, murmle ich, sehe demonstrativ auf unsere Kinder, die hier als Geiseln festgehalten worden sind, um uns zu erpressen … – hier cutte ich meine Gedanken, möchte nicht daran denken, dass mein Geliebter und Vertrauter jemanden getötet hat, der mir so viel wert war. Bis – ja –, bis er die nächsten Worte ausspricht.

»Er lebt!«

Die Erleichterung, dich mich daraufhin erfüllt, spiegelt sich in seinen Augen wider. In diesem Moment bin ich fast froh, dass es Tommaso getroffen hat, und nicht Denise. Somit sind alle am Leben! Wäre der Plan unserer neuen Gönnerin aufgegangen, hätten zumindest die Babys mit Sicherheit nicht überlebt.

»Salvatore hat ihn gerettet, was bedeutet, dass er jetzt bei ihm ist. Und sie werden sich rächen wollen.«

»Aber wir haben es nur getan …«, beginne ich eifrig, als stünde ich tatsächlich vor Gericht, als mich eine Stimme aufschreckt.

»Jungs, warum geht ihr nicht eine Runde schwimmen?« Sie ist nähergetreten, und zu meinem Entsetzen reagieren meine Söhne sofort auf ihre Frage, lassen mich los und laufen in Richtung hinterer Garten. Meine verwaisten Hände fühlen sich an, als wären sie aus Eis.

»Ihr seid diejenigen, deren Gesichter, deren Namen er kennt.« Sie nimmt auf einem der Stühle Platz, ihre Beine sind übereinandergeschlagen. Das linke, das oben liegt, wippt. »Ihr habt keine Beweise, dass ich irgendetwas damit zu tun habe. Also wäre es taktisch unklug, den sicheren Schoß meiner Familie zu verlassen.«

Buzz setzt sich ebenfalls. »Und was verlangst du? Sollen wir einen neuen Anschlag auf sie planen?«

»Nein. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, war es ganz gut, wie es gekommen ist. Es ist besser, zu warten, bis die Kinder auf der Welt sind.«

»NEIN!«, schreie ich unbeherrscht auf.

Ihre Augen ziehen sich zusammen. »Keine Angst, meine Liebe. Ich werde ihnen nichts tun. Ich dachte eher, wir können uns ihrer annehmen. Es wird sie umbringen, nicht zu wissen, wo sie sind. Oder ob sie überhaupt noch leben.«

Ich starre sie an, bin völlig überfordert und perplex über die Härte, mit der sie spricht. Jede ihrer Gesten, jedes Wort aus ihrem Mund, jeder Blick spiegeln den Hass wider, der sie beherrscht.

»Tommaso Salvatore Cosolino und die Schlampe, die er geheiratet hat, haben meinen Sohn getötet – dafür nehme ich ihnen jetzt, was sie am meisten lieben!«

 

 

Kapitel 2

 

 

 

 

 

 

 

 

Kaltes Schweigen war besser als die Hitze der Wut, oder die beißende Schärfe der Trauer, ganz abgesehen von der vernichtenden Leere seines Verlustes. Zuhause – normalerweise ein Wort, das Behaglichkeit, Zufriedenheit und Liebe symbolisiert. Für ihn hingegen bedeutete es die ultimative Niederlage. Zumindest was sein neues, schwer erkämpftes und doch schlussendlich zum Scheitern verurteiltes Leben betraf. Er war geflohen, hatte gelebt, geliebt, und jetzt war es vorbei. Das Schicksal hatte ihn eingesogen und die Überreste des Mannes ausgespuckt, der er hätte sein wollen, der er tief in seinem Herzen war, dem die Vorsehung aber einfach keine Chance gab.

Tommaso Salvatore Cosolino lag, gefangen in der Bewegungslosigkeit seines völlig erschöpften Körpers, in einem steril sauberen Bett. In einem Zimmer, dessen Anblick für ihn so gewöhnlich war, dass das Entsetzen darüber, wieder hier zu sein, selbst seinen Gedanken die Kraft raubten, zu bestehen. Seine Augen bewegten sich träge hin und her. Kein Irrtum möglich. Das war eines der privaten Krankenzimmer seines Vaters. Er erkannte es an den extravaganten Bildern an der Wand, so deplatziert, wie ein Zimmerschmuck nur sein konnte. Stylische, silbern schimmernde Jalousien an den Fenstern statt farbenfroher Vorhänge. Aber das untrüglichste Zeichen war wohl das kleine, surrende Auge in der rechten Ecke der Zimmerdecke. Es summte leise – wahrscheinlich zoomte die Kamera näher, weil sie bemerkt hatten, dass er wach war.

Er hörte Schritte vor der Tür. Zögernde Schritte. Das Nachhallen des Trittgeräusches zeugte davon, dass es sich um Frauenschuhe handelte, die gerade vor seinem Zimmer angehalten hatten. Sein erledigtes Hirn brauchte ein paar Sekunden, um die Geräusche dem zuzuordnen, was er eigentlich schon wusste. Genauso lange, wie die Person vor der Tür benötigte, um den Mut zu finden, die Klinke nach unten zu drücken.

Ein Schopf rotbrauner Locken erschien in der sich öffnenden Tür, dann das Gesicht einer Frau – seiner Frau. Eine eigentümliche Wehmut erfasste ihn, die aber immer noch besser war als die unbändige Wut, die er bis jetzt bei jedem Gedanken an sie verspürt hatte.

»Du bist wach«, sagte Denise mit einem zärtlichen Lächeln. Es war ihr anzusehen, wie müde und erschöpft sie war. Die letzten Wochen waren sicher nicht leicht für sie gewesen. Die Angst um ihn, die Trauer um … Er kappte seine Überlegungen. Doch da war kein Mitleid in ihm, das er ihr hätte schenken können. Er war leer. Er war tot.

Stattdessen starrte er sie an, außerstande, einen klaren Gedanken fassen zu können. Für einen Moment wünschte er sich das gnadenvolle Vakuum einer Amnesie herbei. Was wäre es für ein trostvoller Segen, nicht zu wissen, dass sie ihn verraten hatte. Wenn er sie immer noch lieben könnte. Wenn er nicht die verdammte Lektion hätte lernen müssen, die sein Vater so oft versucht hatte, ihn zu lehren. Nämlich, dass Liebe in ihrem Business nichts zu suchen hatte, weil eine rationale Entscheidung eben nicht möglich war, sobald das Herz mitspielte.

Denise straffte sich, darum bemüht, ihre Unsicherheit zu verbergen, während sie langsam eintrat, die Tür hinter sich schloss und schließlich auf ihn zukam. »Wie fühlst du dich?«, flüsterte sie mit einer so eingeschüchterten Stimme, dass sich sein Magen zusammenzog.

Deshalb, und auch, weil es ihm gleichzeitig die Kehle zuschnürte, antwortete er nicht, saugte jedoch ihren Anblick in sich auf. Trotz allem sah sie wunderschön aus in ihrem weitgeschnittenen Kleid aus hellgelbem Stoff. Um den Hals trug sie eine weiße, grobgliedrige Kette, und an ihren Füßen saßen passende, bis über die Knöchel geschnürte Sandalen. Ihr Gesicht war kaum geschminkt, aber dennoch rosig und strahlend, wie es eben schwangeren Frauen zu eigen war.

»Tom?« Sie nahm auf dem Stuhl neben seinem Bett Platz. Ihre Hand zuckte auf ihn zu und zog sich wieder zurück. Schließlich wagte sie es aber doch und griff nach der seinen. »Sag doch bitte etwas.«

Angestrengt schluckte er, bevor er über seine Lippen leckte. »Wo ist Sue?«, stellte er die einzige Frage, die ihn interessierte, und somit jene Frage, die Denise am meisten fürchtete. Das Rosa ihrer Wangen wich, und ihre Wimpern sanken nach unten.

Erst wartete er reglos, dann entzog er ihr seine Hand, worauf sie ihm wieder in die Augen sah. »Tom«, begann sie, stoppte jedoch, als ein verächtliches Lächeln seine Lippen kräuselte.

»Sie ist tot!«

Nun unterbrach sie den Augenkontakt und schluchzte auf.

»Du musst nichts sagen. Mein Vater hat es bereits für dich getan«, berichtete er emotionslos, danach drehte er sich seitlich von ihr weg.

»Es tut mir so leid.« Er hörte und spürte ihre Trauer, aber im Chaos seiner Psyche war da keine Energie, um sie zu bedauern. Da war nur Hass, und weil er sie gleichzeitig immer noch liebte, fraß sich die Verzweiflung ein weiteres Stück tiefer in sein Herz. »Geh, bitte.« Seine Bitte war kraftlos und doch endgültig.

Ein schmerzhaftes Ziehen in Denises Brust ließ ihren Atem stocken. »Bitte, Tom. Du weißt, dass ich sie geliebt habe.«

»Tommaso«, korrigierte jemand hinter ihnen, und während Toms Gesichtszüge weiter starr blieben, entgleisten Denise die ihren. Fast widerstrebend sah sie über die Schulter zurück, wo Salvatore stand – aufrecht und mit versteinerter Miene. »Mein Sohn heißt Tommaso Salvatore Cosolino. Du hast ihn anders kennengelernt, trotzdem möchte ich, dass du ihn ab sofort nur mehr mit seinem richtigen Namen ansprichst.«

»Ciao, padre«, grüßte nun auch Tommaso. Gleichzeitig rollte er sich zurück auf den Rücken. Dass er dabei so gelassen und ruhig klang, ließ Denise herumfahren, um ihn ungläubig anzustarren.

Salvatore belächelte ihre Irritation milde. Danach schenkte er seinem Sohn ein halbherziges Lächeln. »Wie fühlst du dich, mio figlio?«

»Gut«, erwiderte Tommaso.

Salvatore kam näher, sein Blick streifte seine Schwiegertochter. »Denise, würdest du uns bitte allein lassen?«

Unglaube und Fassungslosigkeit spiegelten sich abwechselnd auf ihrem Gesicht. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und ab. »Ich möchte gerne mit Tom … mit Tommaso sprechen, bitte.« Ihre unterwürfigen, flehenden Augen schienen Salvatore zu gefallen. Zur Belohnung erntete sie ebenfalls ein kurzes Lächeln. Trotzdem lehnte er ihre Bitte ab. »Später, mia cara.«

»Tom … Tommaso, ich bitte dich.« Beschwörend fixierte sie nun wieder das blasse Gesicht ihres Mannes, doch der wandte sich nur gleichgültig ab. »Ich möchte meine Ruhe haben.« Er hörte ihr ersticktes Aufatmen und fügte ein »Bitte« hinzu.

»Wie du willst.« Mit einer Hand auf ihrem Bauch richtete sie sich auf – irgendwie war der Kontakt zu ihren ungeborenen Kindern das Einzige, das sie im Moment davon abhielt, den Verstand zu verlieren. »Ich warte einfach vor der Tür«, wisperte sie kraftlos.

»Musst du nicht.« Das bedeutete ihren endgültigen Rausschmiss, so viel war klar, und sie bemühte sich redlich, ihre Tränen zurückzuhalten. »Gut. Dann sehen wir uns einfach morgen.« Bevor er ihr auch das verbieten konnte, stürzte sie aus der Tür. Danach herrschte für ein paar Sekunden eisiges Schweigen.

Es war Salvatore, der schließlich das Wort erhob. »Du bist also sauer«, stellte er lässig fest.

Tommaso antwortete nicht, drückte nur seinen Kopf tiefer in das Kissen.

Ein paar leise Geräusche waren zu hören. Das Rascheln von Stoff, dann ein zartes Knarren – Tommaso nahm an, dass sein Vater es sich auf dem Stuhl vor seinem Bett bequem gemacht hatte.

»Also, mein Sohn. Du bist wieder zuhause. Und endlich, nach Wochen des Bangens, steht fest, dass du leben wirst.«

Erneut war ein eisiges Schweigen die einzige Antwort.

»Denise hat getan, was sie tun musste, um dein Leben zu retten. Sie liebt dich über alles. Das wirst du ihr doch nicht zum Vorwurf machen, oder?« Salvatore klang geschäftsmäßig und glatt. Nicht so, als würde er gerade die Tatsache besprechen, ein Leben ausgelöscht zu haben. Ein Leben, das Tom wertvoller gewesen war als sein eigenes.

Als sein Sohn weiter schwieg, stieß Salvatore ein Seufzen aus. »Es ist nicht sehr männlich, wie ein kleines Mädchen zu schmollen, mein Junge. Du bist ein Cosolino, also benimm dich auch so.«

Tommaso befeuchtete seine staubtrockenen Lippen, dann sprach er, allerdings so leise, dass sein Vater sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Wird mein Arm wieder, oder bleibt er taub?«

»Der Doc sagt, du wirst dich vollständig erholen, auch wenn deine linke Hand nie wieder perfekt funktionieren wird. Die Feinmotorik wird eingeschränkt sein, aber zum Glück bist du ja Rechtshänder.«

Mit einem resignierten Seufzer rollte sich Tommaso auf den Rücken, obgleich er es nicht schaffte, seinem Vater ins Gesicht zu sehen.

Ein kleines Lächeln hob Salvatores Lippen. »Du hättest mich früher eingreifen lassen sollen.«

»Ich habe dich gar nicht um Hilfe gebeten«, stellte Tommaso säuerlich klar.

»Nein. Zum Glück war deine Frau klug genug, es zu tun.« Ein selbstgerechtes Grinsen löste das sanfte Lächeln ab, und Toms Miene erstarrte zu Stein. »Das werde ich ihr nie verzeihen«, sprach er nüchtern aus.

Salvatore lachte trocken. »Mach dich nicht lächerlich. Ich konnte dir sogar verzeihen, dass du meinen Tod wolltest.«

Nun legte sich ein dunkler Schleier über Tommasos Miene. »Hast du das?«

»Natürlich. Sonst hätte ich wohl kaum dein Leben gerettet.« Erneut knarrte der Stuhl, als Salvatore sein Gewicht verlagerte.

»Ich dachte, vielleicht hast du es getan, um deine Rache voll auskosten zu können. Mich fern von dir sterben zu lassen, und das nicht einmal durch deine – wenn auch indirekte – Hand, ist wohl kaum der Stil des Capo, oder?« Trotz des Inhalts der Worte klang Tom nicht im Entferntesten zynisch oder ärgerlich. Es war mehr eine nüchterne Feststellung.

»Ich hatte meine Rache. Du weißt, dass es oft sinnvoller ist, jemanden mit dem Verlust eines wichtigen Menschen zu treffen, als mit dem Tod selbst.«

»Also genügt es dir, dass du Sue getötet hast? Das Wissen, dass du damit mein Leben zerstört hast, das ist genug?« Nun musterte Tommaso seinen Vater doch intensiv – die Antwort auf diese Frage schien elementarer als alles andere, zumindest für diesen Moment.

»Ja.« Mehr als dieses emotionslos ausgesprochene Wort war nicht notwendig, und Tommaso nickte verstehend. Salvatore hatte seinen Sohn wieder, und er war, wie er ihn haben wollte. Leer und doch voller Zorn – genauso, wie er schon einmal von ihm aufgebaut worden war, damals, als er seine Familie das erste Mal verloren hatte, auch wenn der Verlust nicht annähernd so vernichtend wie dieses Mal gewesen war.

»Und du hast dafür gesorgt, dass der Mensch, der mir am nächsten stand, dir dabei geholfen hat«, vervollständigte Tom das Unfassbare, und sein Vater nickte erneut, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht.

»Und genau deshalb kann ich euch beiden nicht verzeihen«, brachte Tom heiser hervor.

»Okay. Kein Problem. Mit mir musst du leider leben, ob es dir gefällt, oder nicht. Aber das andere.« Salvatore zuckte mit den Achseln. »Wir warten einfach, bis die Kinder auf der Welt sind, dann ist Denise weg.«

Tommasos Genick knackte, als er nun ruckartig den Kopf drehte, um die Augen seines Vaters zu taxieren. »Das würdest du nicht tun«, flüsterte er eindringlich, doch Salvatores kühle Miene eröffnete ihm, dass er zu so ziemlich allem bereit war.

»Ach. Würde ich nicht?«, gab er eiskalt zurück, und in diesem Moment erkannte Tommaso, was Denise blühen würde, wenn er es nicht schaffte, die Liebe zu ihr über den Hass siegen zu lassen – sie würde sterben und damit ein weiteres Mal er.

Für eine Sekunde war er versucht, Salvatore mitzuteilen, dass er bereits tot war, wenngleich sein Körper noch hier lag. Dass er nur vorgab, das Leben anzunehmen, das dieser verhasste Mann ihm geschenkt hatte, für den kleinen Preis – seine Schwester. Doch dann wurde ihm klar, was es heißen würde, Denise zu verlieren, und er konnte nur hilflos den Kopf schütteln.

Salvatore nickte, so als wüsste er genau, welche Gedanken seinen Sohn gerade quälten. »Hör mir jetzt gut zu, Tommaso.« Er lehnte sich mit den Unterarmen auf seine Oberschenkel und drückte die gespreizten Finger seiner rechten Hand gegen seine Lippen. »Ich hatte eigentlich vor, jeden – wirklich jeden, der an meiner Niederlage beteiligt war, zu töten.« Er machte eine eindrucksvolle Pause, dann sprach er betont deutlich weiter: »Auch dich.« Wieder kehrte Schweigen ein. Offensichtlich wartete er eine etwaige Reaktion von Tommaso ab. Als diese jedoch nicht erfolgte, nicht einmal in Form eines kurzen Zuckens in seinem Gesicht, räusperte er sich und fuhr fort. »Aber ich konnte es nicht, ob du es mir nun glaubst, oder nicht. Du bist alles, was mir an Familie geblieben ist, und ich liebe dich. Daher wirst du leben, und Denise auch, wenn du es willst. Was dich betrifft – du wirst alles tun, damit du gesund wirst. Und dann wirst du in dein altes Leben zurückkehren. Du wirst deine Aufgaben in der Firma wieder übernehmen. Und du wirst mein Sohn sein, und zwar nicht nur zum Schein.« Das letzte Wort hatte er betont.

Tommasos Kopf ging hin und her. Aber nur einmal, danach hielt er inne, und Salvatore lächelte zufrieden. »Du wirst dich entscheiden, und zwar in den nächsten Stunden, ob du dein restliches Leben mit Denise verbringen willst, oder nicht. Und diese Entscheidung wird endgültig sein, egal wie sie ausfällt. Du kennst meine Meinung dazu. Wenn man sich bindet, dann für immer. Aber, wie auch immer du dich entscheidest – die Kinder bleiben auf jeden Fall hier, im Notfall eben bei mir.«

Tommaso setzte an, zu antworten, doch die erhobene Hand seines Vaters stoppte ihn, noch bevor ein Ton über seine Lippen gekommen war. »Sag jetzt nichts. Überleg es dir gut.« Salvatore nickte energisch, so als hätte er ihm zugestimmt, und stand gleich darauf auf. »Ich werde morgen Mittag wiederkommen. Da kannst du mir deine Entscheidung mitteilen.« Kaum ausgesprochen, verließ er, ohne eine Erwiderung abzuwarten, das Zimmer.

 

Die nächsten Stunden verbrachte Tommaso damit, abzuwiegen, was ihn härter treffen würde. Der endgültige Verlust seiner Liebe, die als Einigkeit seiner Zuneigung, erst zu Sue, dann zu Denise, das Licht seines Daseins gewesen war. Oder die Tatsache, dass der Mensch, dem er am meisten vertraut hatte, ihn hintergangen und dadurch einen Teil dieser Liebe zerstört hatte, weiter in seinem Leben sein würde. Ihn täglich daran erinnern würde, was er verloren hatte. Denn Denise anzusehen war, wie einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, in dem er klar sehen konnte, wer die wirkliche Schuld an Sues Tod trug. Er selbst war es. Ohne ihn wäre die Kleine noch am Leben. Wenn sie nicht das Pech gehabt hätte, ihn als Bruder zu haben, hätte sie noch Vater und Mutter und würde irgendwo ein ruhiges, friedliches Dasein führen.

Schon einmal hatte er Nächte voller Entscheidungsqualen in einem Krankenhaus verbracht, und damals hatte er sich falsch entschieden, das war ihm heute klar. Er hatte egoistisch gewählt. Vorgegeben, jemand zu sein, der er nicht war. Ein Leben imitiert, das niemals für ihn bestimmt gewesen war. Und er war gescheitert. Mit den Folgen, dass sein waghalsiger Versuch allen Menschen, die ihm jemals etwas bedeutet hatten, das Leben gekostet hatte.

Nur Denise war noch da, doch sie weiterhin zu lieben, würde den größten Verrat an seinem Herzen bedeuten. Also musste er sie hassen, auch wenn jede Faser seines Körpers nach ihr verlangte. Es war klar, dass es Salvatore nicht darum ging, ob Denise hier oder woanders leben würde. Die Frage lautete, ob sie überhaupt leben würde. Die Kinder, die sie in sich trug, schützten sie, aber nur jetzt. Danach war sie auf Tommasos Schutz angewiesen, und im Grunde war ihm bewusst, dass er nichts anderes tun konnte, als ihn ihr zu gewähren. Denn auch wenn er im Moment das Gefühl hatte, sie nicht mehr lieben zu können – sie war sein. Für immer.

›Du bist die Liebe meines Lebens, Tom. Mein Herz wird immer dir gehören, egal was passiert‹, hörte er noch einmal ihren Schwur. Es war lange her, und doch – so wie er ihr damals geglaubt hatte, tat er es auch heute. Und da wurde es ihm klar. Denise war seine Frau, die Liebe seines Lebens. Gleichzeitig bedeutete sie aber seine Buße für all die Sünden, die er begangen, vielleicht bereut, doch niemals dafür gebüßt hatte. Plötzlich erfüllte ihn beinahe so etwas wie Erleichterung und Ruhe. Sein Tod hätte ihn befreit, Denise und Sue jedoch ein Leben ohne ihn, ähnlich dem, das jetzt vor ihm lag, aufgezwungen.

Leider verflog die seltsame Leichtigkeit, die ihn zusammen mit diesem Gedankengang erfüllt hatte, genauso schnell, wie sie gekommen war. Stattdessen manifestierte sich ein Bild vor seinem inneren Auge. Ein Abbild des grauenhaftesten Moments. Sue, leblos und schlaff in Davids Armen. Der Mann, der ihm mehr Vater gewesen war, als Salvatore es je werden würde. Auch er hatte ihn verraten. Er hatte Salvatore angerufen! Gegen seinen Willen!

Ein zartes Klopfen rief sein Denken zurück ins Hier und Jetzt, doch es dauerte fast eine Minute, bis er die Kraft fand, ein leises »Herein« herauszubringen.

Die Tür glitt auf und Denise lugte ins Zimmer, ihr Blick so ängstlich und verunsichert, dass er es einfach nicht übers Herz brachte, sie sofort wieder hinauszuwerfen.

»Kann ich bitte reinkommen?« Sie klang unterwürfig, und das Zittern ihrer Stimme setzte sich in Tommasos Händen fort. Nur ein winziges Nicken schaffte er, doch Denise nahm es erleichtert zur Kenntnis und trat näher, bevor er es sich vielleicht noch anders überlegte.

»Geht es dir besser?«, wisperte sie, während ihr Blick zwischen dem Stuhl neben seinem Bett und ihm hin und her huschte.

»Wir sollten reden«, sagte Tommaso leise, doch sie erschrak, als hätte er sie angebrüllt.

»Ja. Natürlich.« Wieder fixierte sie erst den Stuhl, dann das schmale Stückchen Platz, das am Rand seiner Matratze frei war.

»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte er und nickte gleichzeitig in Richtung Stuhl, was ihr eindeutig zeigte, wo er sie haben wollte.

Seufzend ließ sie sich nieder. »Vierundzwanzig Tage. Die erste Woche warst du ohne Bewusstsein. Die Ärzte mussten dich in ein künstliches Koma versetzen, damit dein Körper in Ruhe gegen das Gift kämpfen konnte.«

»Ich dachte, sie hätten ein Gegengift gehabt.«

Ihr Kopf ging rauf und runter. »Hatten sie auch. Aber irgendwie hat es anfangs nicht so gewirkt, wie gedacht.«

Er konnte sie nicht ansehen, zumindest nicht direkt. Trotzdem musste er hinüberblinzeln, um ihre Silhouette einzufangen. »Ist dir nicht einmal die Idee gekommen, dass ich es nicht verdient habe, weiterzuleben? Dass es mir vorherbestimmt war, zu sterben?« In jedem Wort war zu hören, wie sehr er selbst von diesem Gedanken besessen war.

Denise seufzte erneut. »Natürlich sollst du leben. Zweifle nicht daran.«

Ein heiseres Lachen kroch in seiner Brust nach oben. »Und Sue? Sie sollte nicht leben?«

Schluckgeräusche erklangen, als sie versuchte, die aufkommende Panik hinunterzuschlucken. »Natürlich hat sie es verdient zu leben. Ich wusste doch nicht …«

»Hör auf!« Nun brüllte er wirklich, auch wenn die Kraft seiner Stimme zu wünschen übrig ließ – seine Stimmbänder waren von den letzten stummen Wochen einfach zu erschöpft. Danach brannte sein Hals, also hob er seine rechte Hand und umschloss ihn damit.

Denises Augen waren angstvoll geweitet und musterten ihn so verzweifelt, dass sein Herz sich schmerzvoll zusammenzog.

»Er …« Tommaso brach sofort wieder ab. Seine Hand rieb seine Kehle auf und ab, dann streckte er die Linke zur Seite, um nach dem Glas Wasser zu greifen, das auf dem Nachttisch stand. Gleich darauf war ein klirrendes Bersten zu hören, als es auf dem Fliesenboden zerschellte.

Beide erstarrten, doch während Denise ein bisschen verlegen den Blick senkte, fixierte er nur ungläubig seine linke Hand. Er hatte das Glas nicht gespürt, als er es berührt hatte.

Die nächste Frage stellte er vollkommen ruhig. »Hast du mit den Ärzten gesprochen?«

Die Überraschung über seine Worte war ihr anzusehen. »Ja. Natürlich.«

Seine rechte Hand legte sich auf die linke und rieb sie gedankenverloren. »Warum spüre ich nichts?« Er hielt die Hand hoch und wackelte mit seinen Fingern. Die Bewegungen waren etwas ungelenk, aber deutlich sichtbar.

»Der Doc sagt, dass die Funktion der Hand wieder vollständig hergestellt ist, die Nerven aber teilweise tot sind«, erklärte Denise fast schon schüchtern.

»Toll«, stellte er nur ironisch fest.

»Spürst du denn gar nichts?« Sie beugte sich interessiert vor.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, während er immer noch seine vor und zurück schwankenden Finger beobachtete. »Schon, aber die Berührung spüre ich nicht. Fast so, als könnte das Gefühl nicht von außen nach innen dringen.«

Denise musterte ihn unglücklich. »Soll ich eine Schwester holen?«

Mit einem Mal verschloss sich sein Gesicht wieder gänzlich und er ließ sogar seine Hand Hand sein. »Nein.«

»Aber …«, begann sie, doch sein vernichtender Blick zwang sie sofort, erneut zu verstummen. »Wusstest du schon vorher, dass David ihn angerufen hat?«

»Nein«, hauchte sie unglücklich. »Aber du darfst ihm deswegen nicht böse sein. Er liebt dich, er wollte dich nur …«

»Warum zur Hölle habt ihr meine Entscheidung nicht akzeptiert, wenn ihr mich doch so liebt?«

Sie sah ihn nicht an – konnte es nicht.

Er seufzte. »Ist doch auch egal jetzt«, fuhr er fort. »Mein Vater hat von mir eine Entscheidung verlangt.«

Nun ruckte ihr Kopf nach oben. »Welche Entscheidung?«

Ein ungläubiges Lachen kam über seine Lippen. »Welche Entscheidung? Ist das dein Ernst?«

Denise sog hilflos Luft in ihre Lungen. Irgendwie fühlte es sich an, als müsste sie ersticken. »Sag es mir doch einfach«, bat sie verzweifelt. Trotz unendlicher Vertrautheit war ihr der Mann im Bett so fremd, wie jemand einem nur sein kann. Die Angst vor dieser Situation beherrschte sie seit dem Moment, als sie Salvatore ihre Unterstützung zugesagt hatte. Als sie die endgültige Trennung von Tom und Sue akzeptiert hatte, nur damit sie ihn und somit ihr Leben nicht verlor.

»Er verlangt seinen Preis, was sonst?«, presste er angestrengt hervor.

Das ›Aber den hat er doch schon bekommen‹ verbiss sie sich vorsichtshalber – es war wohl kaum nötig, ihn an den katastrophalen Deal zu erinnern.

Anscheinend erwartete Tommaso auch keine Antwort, denn er sprach fast unverzüglich weiter. »Ich muss als sein Sohn zurückkehren. In sein Haus und in die Firma – die Familie –, und ich muss es überzeugend tun.«

»Denkst du, dass du das kannst?«

Ihre sachlich ausgesprochene Frage überraschte ihn. »Ich werde es können müssen, Denise. Da du uns hierher zurückgebracht hast, bleibt mir keine andere Wahl.«

Ihre Wimpern sanken nach unten. »Wenn du wieder gesund bist, …« Ihr Blick hob sich und huschte in die rechte obere Ecke, wo ein kleines summendes Auge ihrer Unterhaltung folgte. Dann sah sie ihn wieder an und fuhr fort: »… hast du jede Möglichkeit …«

»Habe ich nicht«, unterbrach er sie barsch. »Das weißt du. Und sicher ahnst du auch, dass eine weitere Entscheidung auf dem Programm steht. Und diese betrifft dich.«

Ihr Mund klaffte auf. Ihr Blick versuchte, sich mit dem seinen zu verhaken, doch er sah sofort von ihr weg. Seine offensichtliche Ablehnung drückte ihre Kehle zusammen. Eiskalt war ihr plötzlich geworden, und sie fröstelte, während sie sich an das Gespräch mit Alex erinnerte. Ihre eigene schlimmste Angst, in seine Worte gefasst: ›Das wird er dir nie verzeihen!‹

»Ich weiß, dass du es nur getan hast, weil du mich nicht verlieren wolltest, und ich versuche wirklich, dir zu glauben, dass du nicht wusstest, dass Sue dadurch ihr Leben verlieren wird.« Sie nahm den Unterschied der beiden Aussagen überdeutlich wahr. Seine Zweifel aber nun laut zu hören, jagte ihr einen weiteren eiskalten Schauer über den Rücken.

Ihre Angst vor der Antwort ignorierend, stellte Denise schließlich jene Frage, die unnachgiebig aus ihrem Herzen drängte. »Was hat er dir erzählt?«

Tommasos Kopf ruckte hoch, und sie erkannte, dass das strahlende Grün seiner Augen verschwunden war. Geblieben war ein schlammiges Oliv, gleich einer vom Regen überschwemmten Wiese.

»Ich meine, was hat er dir erzählt, wie sie …« Sie konnte es nicht aussprechen und flehte stumm um seine Gnade, es auch nicht tun zu müssen.

Ein paar Atemzüge lang gewährte er ihr seinen Blickkontakt, dann unterbrach er ihn mit einem vagen Ächzen. »Er sagte, dass jeder Zaubertrick irgendwann endet. Und dass ein Leben das andere aufwiegt. In dem Moment, als ich sein Leben opfern wollte, um Sue zu schützen, hätte ich ihr endgültiges Todesurteil unterschrieben. Und dass es das Gleiche gewesen wäre, wenn ich Sue damals bei der Zaubershow hätte sterben lassen.«

Ihre Lippen bildeten einen dünnen Strich, der Schmerz in seiner Stimme war übermächtig.

»Er hat mir versichert, dass sie nicht leiden musste …« Seine Augen flogen auf der Suche nach Bestätigung zu ihr, und als sie rasch ihren Blick niederschlug, entkam ihm ein Keuchen. »Denise«, hauchte er, aber nun war sie es, die ihn nicht ansehen konnte. »Hat er gelogen?«

Das Einzige, was sie ihm geben konnte, war ein deutliches Kopfschütteln, doch das genügte zumindest so weit, als dass es ihm ein bisschen Entspannung zurückgab. Sie hingegen fühlte stechende Übelkeit in sich aufsteigen. Ihn anzulügen war fast schwerer als die eigentliche Tat selbst.

»Wie konntest du das zulassen?«, fragte er kraftlos.

»Ich wollte nicht, dass wir Sue verlieren, aber ich konnte dich doch nicht einfach sterben lassen.« Ihre gehauchte Erklärung verscheuchte das letzte bisschen Wärme aus seiner Mimik.

»Ich wäre lieber gestorben, als hierher zurückzukehren.« Seine Stimme war kalt, gefühllos und gleichzeitig gebrochen.

Denise wich zurück, Tränen brannten wie Salzsäure in ihren vor Unglauben geweiteten Augen. »Du wärst lieber gestorben, als bei mir zu sein? Bei mir und deinen Kindern?«

Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Wir wären frei gewesen. Alle.«

»Du wärst tot gewesen«, hauchte sie kraftlos.

»Besser als das.«

Ihre Lider sanken nach unten. »Das meinst du nicht so.«

Sein Blick war ohne Leben, während er mit der rechten Hand durch seine Haare strich. »Ich wäre lieber gestorben, als zu ertragen, dass meine Kinder hier aufwachsen. Als zu sehen, wie mein Vater gewinnt. Als wieder seinem Willen unterworfen zu sein.«

»Ich hätte nicht ohne dich weiterleben können.« Denises Stimme brach. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu weinen.

»Warum nicht?«, hörte sie ihn fragen. Er klang emotionslos, einfach nur ein bisschen neugierig.

Ungläubig sah sie auf, fixierte seine gebrochene Miene. Vor Erstaunen waren sogar ihre Tränen wieder versiegt. Da war keine Wärme in seinem Blick. Das wunderschöne Grün seiner Augen hatte jeden Glanz verloren und einem stechenden gewittrigen Dunkel Platz gemacht. Die Lippen schmal, die Haltung seines Kopfes unwirklich starr, so als müsste er alle Kraft aufwenden, um ihn oben zu halten. In ihm schienen keine Gefühle mehr für sie zu existieren, keine Anzeichen, dass irgendwo in ihm noch ihr Tom steckte. »Weil ich dich liebe«, wisperte sie.

Und da lachte er. Böse, laut, und gleichzeitig so voller Schmerz, dass ihr Innerstes in einer eiskalten Flamme verbrannte. »Wenn du mich lieben würdest, hättest du gewusst, dass ich diese Entscheidung niemals getroffen hätte.« Er bedachte sie mit einem letzten vernichtenden Blick, bevor er sich wegdrehte.

Die Stille danach dröhnte wie eine brüllende Explosion. Denise hielt sich selbst krampfhaft ruhig, wenn auch mit deutlich wahrnehmbarer Mühe. Ein paar Schluckversuche waren nötig, dann gelang es ihr, die Frage zu formulieren, die sie sich immer wieder stellte, seit dieser Albtraum begonnen hatte: »Nicht einmal für mich? Hättest du mich sterben lassen?«

Sofort sah er sie wieder an, entsetzt und ein bisschen unentschlossen. Den Hauch Unsicherheit nutzte sie aus – sie musste es einfach tun. »Für deine Kinder?«, setzte sie also nach.

»Das ist nicht fair«, flüsterte er.

»Nein!« Energisch wanderte ihr Kopf hin und her. »Das sind solche Fragen nie.«

Er wischte mit einer Hand über sein Gesicht. »Es warst aber nicht du, die im Sterben lag.« Seine Worte schafften es nur gedämpft hinter seiner Handfläche hervor, die er nun auf seinen Mund presste.

»Nein. Aber ich hätte es sein sollen. Der Anschlag hat mir gegolten, nicht dir.«

»Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan, indem das Schicksal einfach die Weichen gestellt hat«, deklarierte er so übertrieben, dass Denise für eine Sekunde sogar grinsen musste. Als Reaktion darauf wanderte seine rechte Augenbraue nach oben. »Findest du das witzig?«

»Nein.« Nun war zu hören, dass sie wirklich alles andere als amüsiert war. Sie klang schon beinahe wütend. »Ich finde gar nichts witzig, Tom.«

»Tommaso«, verbesserte er sie automatisch, erschrak aber, als sie ein giftiges »Nein!« zurückzischte.

»Was?«

»Nein. Mir ist egal, wie dein Name war, bevor wir uns getroffen haben. Ich habe dich als Tom kennen und lieben gelernt. Und ich habe dich geheiratet. Dich, Tom Miller, und nicht Tommaso Salvatore Cosolino. Ihn kenne ich nicht und ganz ehrlich – wenn er dem Mann, der mich gerade ansieht, als wäre ich verrückt, auch nur im Entferntesten ähnelt, dann will ich ihn auch nicht kennenlernen.« Sie hatte sich in Rage geredet, ihre Wangen leuchteten rot und ihre Augen funkelten wie sprühende Sterne.

Für einen winzigen Augenblick waren sie wieder Tom und Denise. Zwei junge, furchtbar verliebte Teenager, die einander mehr liebten und brauchten, als es Worte jemals hätten ausdrücken können. Doch auch jetzt war es eine klitzekleine Erinnerung, die das Bild in tausend Scherben zerbersten ließ. Zwei leuchtend grüne Augen, riesig, in einem zartgebräunten Kindergesicht, die nach einem weißen Lichtblitz zu stumpfen, schwarzen Knöpfen in einem bleichen, toten Antlitz wurden.

Mehr bedurfte es nicht, um das bisschen Wärme wieder aus Tommasos Herzen zu vertreiben. »Wenn du ihn nicht kennenlernen willst, wirst du gehen müssen. Denn hier, in Chicago, im Haus meines Vaters, werde ich genau der sein.« Es war sein Ernst, was er da gesagt hatte, das war ihr augenblicklich klar, und das ließ sie gequält aufstöhnen.

Er nickte, so als hätte sie etwas gesagt. »Also müssen wir uns eigentlich nur eine Frage stellen.« Sein Lächeln wirkte aufgesetzt und gezwungen. »Wollen wir noch miteinander leben?«

Aufgeschreckt sah sie ihm nun direkt in die Augen. »Natürlich will ich mit dir leben. Warum sonst hätte ich das alles gemacht?«

»Und will, oder besser – kann ich noch mit dir leben?«

Er wusste nicht, woraus sie diese Kraft schöpfte, aber sie war da und zauberte eine Selbstsicherheit in ihre Haltung, die er insgeheim einfach bewundern musste.

Mit gespreizten Fingern legte sie beide Hände auf ihren prallen Bauch. »Ich bin deine Frau und die Mutter deiner Kinder, also wirst du wohl einen Weg finden müssen, um mit mir zu leben.«

Sie stand auf, ohne seine Antwort abzuwarten, und eilte zur Tür. Mit der Hand an der Klinke hielt sie noch einmal inne und flüsterte: »Gute Nacht. Bis morgen.« Dann war sie verschwunden.

 

Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sank Denise gegen die Wand, glitt mit dem Rücken daran hinunter und floss zu Boden wie ein spannungsloses Stück Stoff. Obwohl bereits Tränen über ihre Wangen strömten, hatte sie keine Kraft, um richtig zu weinen. Ihr Herz schien zu implodieren, so stark pochte es, so sehr schmerzte es unter dem Druck, mit dem ihre Angst sie niederstreckte.

»Gib ihm Zeit, mia cara.« Salvatores Stimme voller zärtlichem Mitgefühl umschmeichelte ihren von der Trauer geschüttelten Körper.

Obwohl sie seine Nähe kaum ertragen konnte, beruhigte es sie gleichzeitig irgendwie, dass er hier auf sie gewartet hatte. Sie lugte erschöpft zu ihm hoch. »Er hasst mich.«

Salvatores Lächeln gewann an Tiefe. »Nein. Er liebt dich. Aber er verliert eben nicht gern. Er ist ein Cosolino.«

»Er ist davon überzeugt, dass ich Sue geopfert habe«, presste sie verzweifelt hervor.

»Er wird drüber hinwegkommen.«

»Warum kann ich ihm nicht sagen, dass sie lebt?«

Sein Lächeln verschwand, während er neben ihr in die Hocke ging und seine Handfläche auf ihre tränennasse Wange legte. »Du kennst den Deal. Ich habe meinen Teil gehalten. Nun bist du dran.«

 

 

Kapitel 3

 

 

 

 

 

 

 

 

Zehn Tage nachdem er aufgewacht war, kam der Tag von Tommasos Entlassung. Er fiel auf einen Dienstag, der ein helles, freundliches Licht auf den Herbst warf. Doch auch das konnte nicht das Entsetzen in Toms Innerem schmälern, welches ihn bei dem Gedanken erfasste, heute endgültig wieder in sein altes Leben zurückkehren zu müssen.

Sein Vater erschien gegen elf Uhr vormittags in seinem Zimmer, stattlich in Anzug und Mantel gehüllt, beides in Dunkelgrau. Nur einen Moment später trat auch Denise ein. Ihr weitschwingendes, winterweißes Cape wirkte elegant, obwohl dessen Farbe ihre Blässe sogar noch unterstrich. Das marineblaue, weitgeschnittene Chiffonkleid darunter bestand aus zwei Lagen. Die zweite davon war transparent und ließ das Muster des darunterliegenden Stoffes zart durchscheinen. Ihre Haare waren zu einem lockeren Dutt hochgewunden und unter einem kleinen, blauen Hütchen versteckt, das an einer Seite ein Stück in ihr Gesicht ragte. Ihr Make-up war stärker als früher, trotzdem konnte es kaum ihre Augenringe und die eingefallenen Wangen kaschieren. Genauso wenig, wie ihr aufgesetztes Lächeln darüber hinwegtäuschen konnte, wie verloren und verzweifelt sie sich fühlte.

»Bereit für deine Heimkehr?« Salvatores Grinsen war triumphierend und gleichzeitig arrogant, und Tommaso wurde von einer Welle des Hasses erfasst, der ihm beinahe die Luft nahm.

»Natürlich«, antwortete er nur schwach, trat den beiden entgegen und nickte seinem Vater zu. Danach wandte er sich an Denise, konzentrierte seine gesamte Kraft darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie groß sein Zorn auf sie noch war, und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Ihr folgender tiefer Atemzug war nur für ihn zu hören, und weil er ihr gleichzeitig die Hand an den rechten Oberarm gelegt hatte, spürte er zusätzlich, wie sie erschauerte und ansetzte, ihn zu umarmen. »Nicht«, bat er leise, und ihre Arme, die sich eben gehoben hatten, um ihn zu umschlingen, fielen wieder hinab. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, und es war Denise, die als Erste wegsah – einfach, weil da so viel Kälte in seinem Blick war.

Das blieb von Salvatore natürlich nicht unbemerkt, weshalb er seinen Sohn strafend musterte. Also beschwor Tommaso ein falsches Lächeln herauf und nahm seine Tasche, die gepackt neben dem Bett stand.

»Nicht doch!«, wies ihn sein Vater zurecht und rief, wenn auch verhältnismäßig leise, über seine Schulter: »Marco!«

Augenblicklich öffnete sich die Tür und ein etwa zwanzigjähriger junger Mann trat ein. »Yep, Boss?«

Salvatore verdrehte genervt die Augen. »Tasche«, knurrte er danach.

»Wow, Dad!«, merkte Tom zynisch an. »Die neuen Leute präsentieren sich sehr interessant.« Wenn er daran dachte, wie die alte Riege praktisch vor dem Capo strammgestanden hatte, entkam ihm tatsächlich fast ein Lachen.

»Es ist dein Verdienst, dass der Großteil unserer Jungs weg ist, mio figlio«, wandte Salvatore grimmig dreinblickend ein, worauf Denises Blick sofort zu ihrem Mann huschte.

Der sah mittlerweile jedoch betont gelangweilt zu Boden, seine rechte Schulter zuckte. »Viele sind doch zurückgekommen, du hättest sie ja leben lassen können.«

»Habe ich auch, aber eben nur die, deren Reue echt war.«

Tommasos rechte Augenbraue wanderte hoch. »Waren wohl nicht viele. Die letzten Tage habe ich jede Menge neue Gesichter gesehen.«

Salvatores Miene verschloss sich blitzartig, dann funkelte pure Wut in seinen Augen. »Ich habe den falschen Männern vertraut – so wie du auch!«, sagte er, und obwohl er nicht gebrüllt, ja nicht einmal laut gesprochen hatte, war es, als würde der Raum unter seiner Stimme vibrieren.

Marco, der mittlerweile abmarschbereit mit der Reisetasche an der Tür stand, senkte den Blick, Denise hielt ängstlich die Luft an. Tommaso aber blieb vollkommen ruhig, starrte seinem Vater nur ungerührt ins Gesicht. »Dann ist es ja gut, dass ich wieder hier bin, wo jeder nur mein Bestes will.« Seine sarkastische Bemerkung schien Auswirkungen auf die Atmosphäre des Raums zu haben. So wie die Höhe eines Berges die Atemluft dünner machte.

Panisch blickte Denise zwischen ihm und ihrem Schwiegervater hin und her und fixierte schließlich den Älteren. Dessen Miene war ähnlich ausdruckslos wie die seines Sohnes. Nur der verräterisch hektische Atem verriet das Offensichtliche – nämlich sein Ringen damit, die Beherrschung nicht zu verlieren. Es war nicht schwer zu erraten, in wessen Richtung sich sein Groll bei einem etwaigen Misserfolg dieses Vorhabens entladen würde, denn seine Augen ruhten ausschließlich auf Tommaso. Denises Magen zog sich zusammen, gleichzeitig legte sie die rechte Hand haltsuchend auf ihren prallen Bauch. Sie verfluchte sich selbst dafür, mitgekommen zu sein. Am Morgen war ihr kurz der Gedanke gekommen, Schwangerschaftsbeschwerden vorzutäuschen, um dem hier zu entgehen, doch die Sehnsucht nach Tom war größer gewesen als die Angst vor ihm.

»Ich hol schon mal den Wagen.« Der junge Typ schlüpfte aus dem Raum, bevor noch irgendjemand etwas dagegen sagen konnte.

Sobald die Tür hinter ihm zugegangen war, straffte sich Salvatore, nach wie vor das Gesicht seines Sohnes fixierend. »Zweifelst du daran? Dass ich dein Bestes will?« Die Entschlossenheit in Tommasos Augen rang ihm Stolz ab, genauso wie die ruhige Kraft, mit der er antwortete.

»Du wirst verstehen, dass deine Vorgehensweisen oft schwer zu verdauen sind. Gib mir Zeit, damit ich wieder meinen Platz in diesem Leben finden kann.«

»Natürlich.« Salvatores Erwiderung war an Großzügigkeit kaum zu übertreffen. »Aber vielleicht ist für deine Heimkehr mehr notwendig als nur meine Geduld. Ich meine …« Ein bitteres Lachen folgte. »… vielleicht sollte man die Dinge von dir fernhalten, die dich an deine alten, falschen Entscheidungen erinnern könnten.«

Tommasos Schock über diese Äußerung war ihm deutlich anzusehen. Ruckartig bewegte er sich auf Denise zu, packte fast grob ihre Hand. Salvatore lachte böse. »Nicht doch, mio figlio.«

Denise kämpfte mit unterschiedlichen Empfindungen, die Toms Berührung in ihr ausgelöst hatte. Sehnsucht und gleichzeitig Panik, denn ihr war klar, dass das gerade nur ein Reflex gewesen war, um ihr Leben zu schützen.

»Bleib ruhig.« Salvatore lächelte falsch. »Fürs Erste fahren wir nach Hause. Alle zusammen.«

»Und dann?« Tommaso klang unendlich müde.

»Dann sehen wir weiter«, lautete die betont gleichgültige Erklärung, die einen so eisigen Unterton hatte, dass Denise alle Kraft aufwenden musste, um nicht in Tränen auszubrechen.

 

Eine halbe Stunde später trafen sie bei der Villa ein. Trotz strömenden Regens stand das Personal Spalier. Einige Gesichter kamen Tommaso bekannt vor, nur das wichtigste fehlte, wie er wehmütig, aber ohne es sich anmerken zu lassen, feststellte. David war verschwunden, gemeinsam mit Alex und Melina. Spurlos – zumindest soweit es ihn betraf. Natürlich weigerte sich sein Vater, ihm zu sagen, was aus ihnen geworden war. Und irgendwie hatte Tommaso keine Kraft, über die Optionen nachzudenken.

Als sie ausstiegen, nahm Tommaso erneut Denises Hand. Um sie nicht merken zu lassen, wie sehr ihm diese Berührung widerstrebte, setzte er sein bestes Pokerface auf. Trotzdem unterließ er es, das Ergebnis seiner Täuschung zu prüfen – so gefühllos, dass es ihn kalt gelassen hätte, ihre Enttäuschung zu sehen, war er dann auch wieder nicht.

In der Vorhalle hielt er kurz inne, sein Blick flog die Treppe hinauf. Dort oben hätte sich sein Schicksal entscheiden sollen. Damals, an diesem schicksalsträchtigen Abend. Leider war ihm seine eigene Entscheidungsschwäche in die Quere gekommen.

›Wenn du willst, dass es gut erledigt wird, dann mach es selbst und unverzüglich‹. Das war einer von Anthonys Leitsprüchen gewesen. Jetzt zu bereuen, sich nicht daran gehalten zu haben, war gleichbedeutend mit der Dummheit, die ihn hatte glauben lassen, dass er es jemals schaffen würde, aus seinem eigenen Leben auszusteigen.

»Lunch wird um zwei Uhr serviert. Wenn ihr euch vorher zurückziehen möchtet, ist das okay für mich.« Sein Vater nickte großzügig in Richtung Säulengang, durch den es zum Trakt ging, in dem ihre Wohnung lag.

»Gut. Also, bis später.« Bevor Denise ebenfalls etwas dazu sagen konnte, hatte Tommaso sich in Bewegung gesetzt. Marco, der junge Typ aus dem Krankenhaus, folgte ihnen, die Reisetasche wieder in seiner Hand.

Ihre Absätze trommelten ein bizarres Konzert, während sie schweigend durch den Gang und endlich die Treppe nach oben eilten. An der Wohnungstür angekommen, ließ Tommaso Denise los, schnappte sich die Tasche mit seiner Rechten und entließ Marco mit einem knappen »Danke«.

»Jederzeit!« Das breite Lächeln schien wie festgewachsen auf dem jugendlichen Gesicht. Bevor Tommaso sich jedoch darüber ärgern konnte, drehte der junge Mann ab und verschwand über die Treppe.

Er selbst legte seine linke Hand an den Türknauf, doch das Zugreifen wollte nicht so recht klappen. Mit einem resignierten Schnaufen ließ er wieder los. »Könntest du?« Als Reaktion auf seine, von einem Nicken Richtung Tür begleitete Frage zog Denise verwirrt die Brauen hoch.

Ihr Unverständnis reizte seine ohnehin stets präsente Wut. Gleichzeitig wusste er natürlich, wie unfair das war, hatte er sie doch absichtlich die letzten Tage seine nicht vorhandenen Fortschritte betreffend im Dunkeln gelassen. »Der Doc testet ein neues Mittel, daher habe ich zurzeit nur eine funktionierende Hand«, erklärte er eher unwillig. »Eine Nebenwirkung. Die Taubheit ist erst einmal schlimmer geworden.« Seine immer noch gehandicapte Linke demonstrativ spannungslos hin und her schwingend, zuckte er mit den Schultern, worauf sie ein kurzes Seufzen ausstieß.

»Das tut mir sehr leid«, hauchte sie, wobei es klang, als fehle ihr der Atem für eine lautere Antwort.

»Die Tür, Denise«, forderte er nur ungeduldig, und kaum hatte sie diese geöffnet, schob er sich an ihr vorbei. Die Tasche fiel im Vorzimmer zu Boden, während er weiter zum Wohnraum eilte, ohne darauf zu achten, ob sie ihm nachkam oder nicht.

Denise seufzte erneut und schloss die Tür. Ihre ohnehin verschwindend kleine Hoffnung, Tom würde sich hier, außerhalb von Salvatores Einfluss, zumindest zu einem winzigen Teil als der Alte entpuppen, schwand erschreckend schnell dahin. Ihre Schuhe abstreifend sah sie mit müdem, etwas unschlüssigem Blick hinter Tommaso her. Seine Schritte waren bereits verklungen, also musste er gleich bis ins Schlafzimmer gegangen sein. Ein tiefer Atemzug hob und senkte ihre Brust, dann legte sie ihr Cape ab, hängte es an einen der freien Haken, zog die Haarnadel, die ihren Hut festhielt, heraus und platzierte beides auf der Kommode. Noch einmal lauschte sie in den Wohnraum, und wieder war nichts zu hören. Nach einem weiteren kräftigen Einatmen setzte sie sich in Bewegung und betrat nur wenig später das Schlafzimmer.

Doch Tom war nicht hier. Während sie mit einer Hand ihre Augen bedeckte und darüber rieb, ging ein wellenförmiger Druck durch ihren Bauch. Einer der Zwillinge war wach. Versonnen strich sie über die Stelle, und für einen Moment erschien ein zärtliches Lächeln auf ihrem Gesicht. »Daddy ist hier«, wisperte sie leise. Ihre Handfläche streichelte sanft auf und ab, und erneut pochte von drinnen eine kleine Faust dagegen. »Das wird schon. Ich verspreche es euch. Irgendwie bekomme ich das wieder hin.« Ehe sie es sich versah, liefen Tränen über ihre Wangen, wischten ihr Lächeln weg. Diese verräterischen Dinger. Wie schnell sie hervorkamen in den letzten Tagen. Ganz so, als würden die Babys ihre Verzweiflung fühlen, spürte sie ein weiteres Mal eine deutliche Bewegung. Ihr Blick fiel auf das breite Bett. Noch nie hatten Tom und sie hier zusammen geschlafen, und irgendwie befürchtete sie gerade, dass das auch jetzt nicht passieren würden.

Sie horchte auf Geräusche, irgendeinen Anhaltspunkt, in welchen der Räume Tom verschwunden war, doch es herrschte nur vollkommene Stille, bis auf ihr Herz, das, zumindest für sie, lautstark pochte. Trotzdem wusste sie, wo er war, stieß hart den Atem aus, ging los und steuerte zielsicher Sues Zimmer an. Schon während sie die Türklinke nach unten drückte, war ihr klar, dass er sie jetzt nicht bei sich haben wollte. Also hielt sie mitten in der Bewegung inne, entschloss sich aber schließlich, gegen ihr Wissen zu handeln und öffnete lautlos die Tür.

Er lag auf dem rosa Himmelbett, den Blick zum Fenster gerichtet. »Verschwinde«, murmelte er nur, aber obwohl sie zusammenzuckte, trat sie langsam näher.

»Warum können wir nicht gemeinsam trauern? Wir haben sie doch beide verloren.« Die Tränen waren wieder da und deutlich zu hören.

»Denise. Bitte geh. Ich kann jetzt nicht in deiner Nähe sein.« Seine Worte, so ruhig sie auch gesprochen waren, hatten dennoch die Wucht von Speerspitzen, die ihren Brustkorb durchbohrten.

»Es tut mir so leid, Tom«, schluchzte sie.

Mit einem verzweifelten Stöhnen vergrub er sein Gesicht in der weichen, flauschigen Tagesdecke, die über das Bett gespannt war. »Versteh doch! Ich ertrag dich jetzt nicht. Bitte geh!« Es glich fast einem Flehen, war mit so viel Schmerz behaftet, dass Denise nichts anderes mehr blieb, als entsetzt zu fliehen.

Wie benommen stürzte sie zurück ins Schlafzimmer, warf sich auf das Bett und rollte sich, soweit mit ihrem ausladenden Bauch möglich, zu einer Kugel zusammen. Minutenlang wurde ihr Körper von stoßartigen Schluchzern erschüttert, während ihre Tränen den Kissenbezug durchnässten. Immer mehr krümmte sie sich zusammen, versuchte, durch den Druck ihrer um sich selbst geschlungenen Arme Halt zu finden, der sie davor bewahren sollte, in den Abgrund zu stürzen. Toms Trauer, seine Verzweiflung, die mit nur einem, oder besser zwei Worten weggewischt werden könnte, zwang ihre, in den letzten Tagen mühsam aufrecht erhaltene Fassung gnadenlos in die Knie. Niemals würde sie das hier durchstehen – ohne ihn. Also lag sie da, ergab sich ihrem eigenen Schmerz, hervorgerufen durch die Endgültigkeit der Tragweite einer Entscheidung, die sie aus Liebe getroffen hatte, und die ihr nun die Liebe nahm.

Irgendwann wurde ihr Weinen schwächer, leiser, und die eintretende Stille brachte auch innere Ruhe mit. Ein Blick auf ihre zarte goldene Uhr – ein Geschenk von Salvatore – ließ sie seufzen. Es blieben ihnen nur noch Minuten, bis sie nach unten mussten, um mit dem Mann zu essen, der sein persönliches Vergnügen darin sah, ihr Leben und ihre Liebe zu zerstören.

»Er erwartet sicher, dass wir uns zum Lunch umziehen.« Sie schrak auf, als Tommasos emotionslose Stimme erklang und fuhr herum. Er stand in der Zimmertür, den Blick zu Boden gesenkt, die Schultern spannungslos.

»Okay«, erwiderte sie nur, rappelte sich etwas ungelenk auf und kletterte aus dem Bett.

»Ich …« Er unterbrach sich selbst, indem er kurz die Lippen aufeinanderpresste. Denise meinte, er würde nach Worten ringen, bis ihr klar wurde, dass dies sein persönlicher Kampf um einen freundlichen Umgang mit ihr war. Innerlich vor Kälte erzitternd wartete sie, bis er endlich leise weitersprach. »Kann ich zuerst?«

Ratlosigkeit legte sich auf ihre Züge, gleich darauf wurde sein ausdrucksloser Blick von einem Augenrollen abgelöst. Sichtlich genervt nickte er in Richtung Ankleideraum. »Ich nehme an, meine Kleidung ist auch da drin. Kann ich mich also zuerst umziehen?«

Nun verstand sie – und zwar nur zu gut. Er wollte nicht länger als unbedingt nötig im selben Raum sein wie sie. Diese neuerliche Zurückweisung brannte wie heiße Glut in ihr, daher bejahte sie nur mit einem stummen Nicken.

»Ich mach auch schnell«, murmelte er, während er eilig an ihr vorbeischlüpfte, um im angrenzenden Zimmer zu verschwinden.

Denise drückte ihre Augen zu, beschwor weitere Tränen, drinnen zu bleiben. Sie konnte jetzt wirklich keinen neuerlichen Weinanfall gebrauchen. Mit pochendem Herzen saß sie da, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass, wenn sie nicht um diese Ehe kämpfte, es niemand tun würde. Also straffte sie sich, nahm einen tiefen Atemzug und trat ebenfalls in den anschließenden Raum.

Tommaso, lediglich in engen schwarzen Boxershorts und offenem Hemd, drehte sich sofort zu ihr um. Seine Augenbrauen zuckten nach oben, doch sie hielt seinem abweisenden Blick tapfer stand. »Ich denke, die Zeit ist zu knapp, um auf getrenntes Ankleiden zu bestehen«, merkte sie nur leise an und wandte sich dem Schrank mit ihren Abendkleidern zu.

Während sie im Augenwinkel einfing, wie ihr Mann sich kopfschüttelnd abwandte, um nach seiner Hose zu greifen, strich sie über die erlesenen Stoffe ihrer neuen Garderobe. Ein Stück schöner als das andere reihte sich hier aneinander. Natürlich konnte sie den Großteil davon im Moment nicht tragen, da ihre Schwangerschaft bereits zu weit fortgeschritten war.

Ihre Hand stoppte an einem im Stil einer römischen Toga geschnittenen Kleid. Es war weiß, mit golden abgesteppten Applikationen – eine zarte, sich um einen filigranen Ast windende Blumenranke.

Sie zog es heraus, legte es auf einen Hocker und begann sich auszuziehen. Wieder erhaschte sie die kurze, aber deutlich wahrnehmbare Drehung von Tommasos Kopf in ihre Richtung. Nun trug sie lediglich ihre Unterwäsche, die genauso blau war wie das Kleid vom Vormittag und somit unter dem weißen Stoff ihrer Abendgarderobe zu sehen wäre. Vorsichtig lugte sie zur Seite, während sie ein hautfarbenes Set aus dem Wäscheschrank nahm. Und wirklich war nicht nur sein Blick auf sie gerichtet – nein, auch sein Kehlkopf hüpfte auf und ab, als er heftig schluckte. Ihr Lächeln kam von selbst, hervorgelockt von der Freude darüber, dass er sie zumindest immer noch begehrte. Doch wie so oft in diesen Tagen wandelte sich ihr Hochgefühl recht rasch in eine rasante Talfahrt, denn er schnappte sich kurzentschlossen seine restlichen Klamotten und eilte hinaus.

Ein Seufzen ausstoßend sackte sie zusammen, spürte, wie sie erneut von Kälte erfüllt wurde. Mechanisch schlüpfte sie erst in die Unterwäsche, dann in das Kleid und schließlich in zwei hochhackige goldene Sandalen. Danach ging sie hinüber zu ihrem, von Salvatore großzügig aufgefülltem Schmuckschränkchen, legte ein goldenes Collier mit weißem Stein und passende Ohrring an und betrat schlussendlich das Schlafzimmer.

»Bist du fertig?«, wurde sie augenblicklich von Tommaso begrüßt. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit hellgrauem, allerdings noch aufgeknöpftem Hemd und eine schwarze Krawatte. Düster, dachte sie, als sie ihn ansah. Und das galt vor allem für seinen Gesichtsausdruck.

Sie zwang ihren Blick wieder nach unten, um dem seinen nicht zu begegnen. Das Eis in seiner Stimme war erschreckend genug. »Gleich. Ich muss mir noch die Haare machen«, murmelte sie nur, und noch ehe sein verärgertes Schnauben verklungen war, hatte sich die Badezimmertür hinter ihr geschlossen.

Drinnen trat sie vor den breiten Spiegel, unter dem die zwei nebeneinanderliegenden Waschbecken montiert waren. Marmor. Was sonst? Geschickt löste sie einen Teil ihres Haarknotens und flocht die Strähnen zu einem dicken Zopf, den sie über ihre Schulter nach unten hängen ließ. Dann steckte sie den Rest wieder fest, tupfte sich etwas Farbe auf die blasse Haut und betonte ihre Wimpern mit Mascara. Ein Seufzer folgte dem obligatorischen Abschlussblick auf ihr Spiegelbild.

Ein trauriges, ein bisschen zu mageres Gesicht sah ihr entgegen. Die Augen riesengroß und mit einem geheimnisvollen Schimmer versehen, der Aufregung und Zufriedenheit suggerierte, aber in Wirklichkeit den ungeweinten Tränen ihrer unendlichen Verzweiflung geschuldet war. Wie so oft holte sie sich Kraft, indem sie mit beiden Händen über ihren prallen Bauch strich. Ihre Kinder – Toms Kinder. Sie schliefen im Moment oder verhielten sich einfach ruhig.

»Denise. Wir müssen los!«, drängte Toms Stimme vom Nebenzimmer aus. Nein, das stimmte nicht. Toms Stimme war warm gewesen, von der Liebe zu ihr erfüllt. Der Mann, der jetzt im Raum nebenan stand, liebte sie nicht. Vielleicht mochte er sie nicht einmal mehr. Ein Schluchzen krallte sich in ihrer Kehle fest, drängte mit aller Kraft nach draußen, doch sie kämpfte und gewann. »Ich bin fertig«, rief sie also, legte Lippenstift auf, eilte hinaus und hielt überrascht inne.

Er hatte sich noch einmal umgezogen, trug nun statt dem dunkelgrauen Anzug, den er ursprünglich gewählt hatte, eine beige Hose und ein gleichfarbiges Sakko mit goldenem Einstecktuch. Das weiße Hemd, das er darunter anhatte, war wieder offen.

Erstaunt sah sie ihm nun doch ins Gesicht, wo ein klitzekleines, fast verlegenes Grinsen in seinem Mundwinkel hing. »Passt besser«, bemerkte er nur knapp, worauf sie nickte und ebenfalls ein zartes Lächeln zustande brachte.

»Könntest du mir beim Zuknöpfen des Hemdes helfen? Das schaffe ich leider einhändig nicht.« Wie zum Beweis wackelte er mit seiner gehandicapten Hand.

»Natürlich.« Jeder Zentimeter, den sie ihm näherkam, ließ ihr Herz schneller schlagen. »Fast wie früher in London«, hauchte sie unsicher, während sie die ersten beiden Knöpfe schloss. »Da haben wir auch immer zusammenpassende Kleidung getragen.« Ihre Finger zitterten, was sich noch verstärkte, als sie beim Schließen des letzten Hemdknopfes mit den Fingerspitzen die Haut seiner Brust berührte.

»Es ist wichtig, dass die da unten uns abnehmen, dass alles in Ordnung ist.« Seine nüchterne Feststellung holte sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

»Alles nur Show«, stellte sie ironisch fest. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass ihre Enttäuschung über diese Tatsache nur allzu deutlich zu hören war.

Tommasos Stirn zog sich in Falten. »Ja. Es muss ungefähr so ablaufen wie in London. Ich werde dich ein bisschen links liegen lassen, das gehört quasi zu der Rolle, in die mich Salvatore wieder pressen möchte. Aber ein paar Blicke oder hin und wieder eine kurze Berührung sollten wir wohl austauschen. Das haben wir schließlich damals auch gemacht.«

Denise versuchte verzweifelt, nicht die Contenance zu verlieren. Sein Vorschlag klang, als würde er Unmögliches erbitten. Nicht einmal ein tiefer Atemzug schaffte es, ihren aufkommenden Ärger zu verscheuchen. Dementsprechend bissig waren ihre folgenden Worte gefärbt: »Na, dann hoffe ich mal, dass es für dich nicht zu schwer wird, mich anzusehen oder zu berühren.«

Sofort verschwand selbst das angedeutete Lächeln von seiner Miene. »Ist das wirklich so schwer nachvollziehbar?«, fragte er kaum hörbar. »Ich meine, was hast du denn erwartet? Dass ich einfach weitermache, als wäre nichts geschehen? Dass ich mir denke: ›Schwamm drüber‹, und mit dir und ihm auf heile Familie mache?«

Seine Fassungslosigkeit schockierte sie und endete als fester Knoten in ihrem Magen. Wie auf Befehl schlug einer der Zwillinge aus, fast so, als wollte er ebenfalls seinen Unglauben zum Ausdruck bringen. »Nein. Natürlich nicht. Aber ich wünschte mir …« Sie brach ab und presste fest die Lippen zusammen, um nur ja kein verbotenes Wort auszusprechen.

»Was?«, seufzte er. »Was wünschst du dir?« Er musterte sie mäßig interessiert.

In der Hoffnung, weder von Kameras beobachtet noch von versteckten Mikrofonen belauscht zu werden, wagte sie einen winzigen Vorstoß: »Ich wünschte mir, du würdest mich besser kennen.«

Unendliche Traurigkeit dominierte mit einem Mal seine Züge. »Ich habe gedacht, dass ich dich kenne«, wisperte er, drehte ab und ging los.

Alles in ihr schrie danach, ihm die Wahrheit hinterherzubrüllen. Ihn zu befreien, und damit auch sich selbst, ihnen beiden den Frieden zurückzugeben. Doch diese Wahrheit hatte eben zwei Seiten, und die Rückseite dieser Medaille barg die allgegenwärtige Gefahr, die Sue drohte, falls Salvatore herausbekommen sollte, dass Denise ihren Schwur gebrochen hatte. Das wusste sie. Also schwieg sie weiter. Und Tom hasste sie weiter. Tiefe Atemzüge bewegten ihre Brust, bis sie irgendwie die Kraft fand, ihre Tränen zurückzudrängen. Dennoch – als sie Tommaso schließlich folgte, glitzerten ihre Augen, als würden romantische Glücksgefühle darin tanzen. Dabei explodierte ihr Herz gerade in einem Inferno der Hoffnungslosigkeit.

 

 

Kapitel 4

 

 

 

 

 

 

 

 

Entgegen Tommasos Annahme, dieser Lunch würde in einem pompösen Willkommensfest enden, war der Tisch zwar festlich, aber lediglich für drei Personen gedeckt. An einer Seite des Raumes befand sich ein Stehtisch, darauf eine Flasche Champagner, ein Krug Orangensaft und Gläser. »Ich nehme an, wir sollen hier warten«, murmelte Tom. Er hielt Denises Hand und zog sie mit sich. Sie sprachen nicht, warteten nur, bis Salvatore ein paar Minuten später zu ihnen stieß. Sein schwarzer Anzug passte wie angegossen und er wirkte erholt, als läge ihre Ankunft nicht eineinhalb Stunden, sondern eine ganze erholsame Nacht zurück.

»Denise. Du siehst wunderschön aus«, begrüßte er seine Schwiegertochter, ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu und umarmte sie. »Tommaso«, hieß er danach, begleitet von einem Nicken, seinen Sohn willkommen, der den Gruß mit einem kurzen »Hi« erwiderte.

»Lasst uns anstoßen.« Salvatore griff sich ein Glas Champagner und eines mit Orangensaft, die ein herbeigeeilter junger Mann inzwischen eingeschenkt hatte, und hielt sie Tommaso hin.

Der nahm folgsam beide entgegen und reichte den alkoholfreien Drink galant an seine Frau weiter. Diese strenge Hierarchie, selbst beim Verteilen von Aperitifs, kotzte ihn an, was ihm aber keineswegs anzusehen war.

Denise bedankte sich lächelnd, während Salvatore sein eigenes Glas schnappte. »Beviamo alla famiglia. Spero che, …«, begann er beschwingt, wurde jedoch von einem lauten »Salute« unterbrochen.

Sein tadelnder Blick traf Tommaso, der aber lediglich ein ironisches Lächeln aufsetzte. »Oder, der Muttersprache der Mehrheit hier geschuldet: Cheers!« Er hob seinen Champagner, prostete den beiden zu und trank anschließend, ohne eine Erwiderung ihrerseits abzuwarten.

»Es wäre höflich gewesen, mich aussprechen zu lassen«, beschwerte sich Salvatore streng.

Tommaso setzte sein Getränk ab. »Genauso höflich, wie in einer Sprache zu sprechen, die alle hier verstehen«, stellte er leichthin fest.

Denise lugte ängstlich zu Salvatore. Seine Stirn legte sich in Falten, doch gleich darauf begann er zu ihrem Erstaunen zu schmunzeln. »Du hast natürlich recht. Entschuldige, Denise.« Er mimte eine Verbeugung und hob dann erneut sein Glas. »Also. Auf die Familie. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir heute in einem Jahr hier stehen. Eure Kinder – meine Enkelkinder – toben rund um uns herum, und alle Fehler sind vergeben und vergessen.«

Seiner kleinen Ansprache folgte ein Moment eisigen Schweigens. Denise trank einen langen Schluck. In ihr war nicht der Hauch einer Idee, was sie auf diese Worte erwidern könnte. Tommaso sah diesbezüglich anscheinend klarer. Er lachte kurz, schüttelte den Kopf und sah seinem Vater in die Augen. »Das sind fromme Wünsche, Dad. Aber in einem Punkt liegst du ziemlich verkehrt.«

Sofort schlich sich Argwohn in Salvatores Gesicht. »Was meinst du?«

»Naja. Wenn es keine Wunderkinder sind, werden sie kaum schon laufen können, nächstes Jahr, um diese Zeit.«

Wieder war es kurz ruhig, dann brach Salvatore in tiefes, dröhnendes Gelächter aus, und Tommaso stimmte mit ein. Denise lachte nicht mit, konzentrierte sich lieber darauf, die Stille in sich fortzusetzen. Ein stummes Vakuum, das sie davor schützte, ihre wahren Gefühle zu zeigen. Nämlich unsagbare Angst.

»Ich habe Hunger, was ist mit euch?« Sanft legte Salvatore eine Hand an Denises Rücken, und sie schaffte es, wenn auch mit Mühe, nicht vor ihm zurückzuweichen.

»Dann lass uns essen.« Tommaso schien ihr Unbehagen zu erahnen und zog sie einfach mit sich zum Tisch. Dort angekommen setzte er an, Denises Stuhl galant zurückzuziehen, wofür er erneut einen visuellen Rüffel seines Vaters kassierte. »Oh. Klar.« Ein trockenes, kaum hörbares Lachen erklang. »Denise. Die Rangordnung unserer Familie sieht vor, dass mein Vater, als Familienoberhaupt, zuerst seinen Platz einnimmt. Erst danach sind wir dran.«

»Warum musst du immer die Traditionen ins Lächerliche ziehen?«, beschwerte sich Salvatore sofort.

»Mach ich nicht. Ich versuche nur, meine Frau dabei zu unterstützen, sich in unseren Kreisen zurechtzufinden.« Sein ironischer Tonfall strafte seine Worte natürlich Lügen.

Mit einem gewissen Maß an Unbehagen blickte Denise zwischen den beiden hin und her. Warum musste Tom ihn immer wieder reizen? Verstand er denn nicht, wie wichtig Salvatores Wohlwollen für sie war? Nur wenn er ihnen voll und ganz vertraute, bestünde die Möglichkeit, einen Weg hier raus zu finden.

»Wie auch immer.« Salvatores Planung für heute schien keinen Streit zu beinhalten, dennoch klangen seine folgenden Worte wie ein Befehl: »Setzen wir uns!«

Sie nahmen Platz, selbstverständlich in der zuvor von Tommaso erklärten Reihenfolge. Sofort danach eilten drei Dienstmädchen herbei, als hätten sie nur vor der Tür auf ihr Go gewartet, um den ersten Gang, eine geeiste Gurkensuppe, zu servieren. Anschließend folgte ein köstlicher Rinderbraten mit karamellisierten Karotten und Kartoffelkroketten, und als Dessert wurde ein kleines Schokotörtchen mit Vanilleeis auf Erdbeerspiegel serviert.

Salvatore speiste mit großem Appetit, Denise musste die Vorspeise jedoch auslassen, da der Geruch den Babys nicht zusagte. Tommaso aß, begründet durch die anhaltende Taubheit in seiner linken Hand, einhändig und ohne wirkliche Begeisterung. Somit blieb jeweils mehr als die Hälfte seiner Portionen auf dem Teller zurück. Während des Essens wurde kaum Konversation gepflegt. Erst als der Tisch abgeräumt war, schien Salvatore dies ändern zu wollen. »Hat es dir nicht geschmeckt?«, erkundigte sich bei seinem Sohn. Zwischen seinen Fingern klemmte eine Havanna – er war bei der obligatorischen Verdauungszigarre angekommen.

Zu Denises Missfallen hatte sich Tommaso diesem Ritual angeschlossen. Bevor er antwortete, zog er noch einmal daran. »Ich war nicht besonders hungrig«, lautete danach die knappe Erwiderung.

Denise setzte der beißende Rauch zu. Außerdem hatte sie das Gefühl, die Kälte ihres Ehemannes keine Sekunde länger ertragen zu können, also beschloss sie, die nun folgende Pause zu nutzen, um ihren Rückzug anzukündigen. Sie entschuldigte sich unter dem Vorwand einer plötzlich einsetzenden Müdigkeit und verließ die Männer, bevor der Hausherr noch etwas dagegen einwenden konnte.

Der aromatische Rauch der Havannas zog durch den Salon, als ihnen zwei Whiskeys serviert wurden. Für ein paar Minuten hingen Vater und Sohn ihren eigenen Gedanken nach. Dann nahm Salvatore sein Glas, stieß gegen Tommasos und läutete so den ersten Schluck ein, den beide mit einem leisen, genussvollen Seufzen quittierten.

An seiner Zigarre ziehend fixierte Salvatore Tommaso, während er langsam den Rauch entweichen ließ. »Wann wirst du wieder arbeiten können?« Tommaso zog überrascht seine Brauen zusammen. »Du wirst doch nicht herumsitzen wollen, oder? Schließlich weißt du aus der Vergangenheit sehr gut, dass Arbeit die beste Ablenkung ist.«

»Was denkst du denn, wovon ich mich ablenken muss?«

Nun verdunkelte sich die Miene des Älteren. »Verkauf mich nicht für dumm.«

Darauf erwiderte Tommaso nichts. Entschlossen begegnete er dem Blick seines Vaters, allerdings nur, bis dieser weitersprach, denn was er nun sagte, katapultierte ihn geradewegs in die Hölle. »Ich fasse es einfach nicht, dass du diese kleine Rothaut als deine Schwester annehmen konntest, Tommaso. Sei doch froh, dass ich das für dich geregelt habe. Mal ehrlich, spätestens wenn du deine eigenen Kinder in den Armen gehalten hättest, wäre dir klar geworden, dass sie nichts als ein verfluchter Bastard ist.« Die Kälte dieser Aussage wurde nur von ihrer Bedeutung übertroffen.

Tommaso fehlten nicht nur die Worte, sondern auch die Luft für eine Antwort. Er schluckte hart, hob den Schwenker an und leerte ihn mit einem Zug.

Sein Vater schien jedoch entschlossen, sein Programm durchzuziehen, selbst in Anbetracht dessen, dass Tommasos Schock mehr als offensichtlich war. »Denk doch einmal rational über die Sache nach«, fuhr er lässig fort. »Von dem Zeitpunkt an, als dieses kleine Gör in dein Leben getreten ist, ist alles aus dem Ruder gelaufen. Du hast deine Mutter verloren, musstest Hals über Kopf deine Heimat verlassen. Ein paar meiner besten Männer sind auf der Suche nach dir gestorben und letzten Endes warst du bereit, deinen eigenen Vater zu töten. Denk darüber nach, und dann sag mir, ob sie das wert war.«

Unbändiger Hass brannte sich wie Lava durch Tommasos Inneres, gleichzeitig füllte sich sein Kopf mit dumpfem Dröhnen. Er wusste, er sollte etwas sagen, brachte aber nicht einen Ton über die Lippen.

»Ich sehe schon, du bist noch nicht so weit«, spottete sein Vater mit amüsierter Stimme, was die Abscheu, die er für ihn empfand, neuerlich auf eine höhere Stufe trieb. »Wie auch immer«, fuhr Salvatore fort, was deutlich zeigte, dass er ohnehin nicht wirklich eine Antwort erwartet hatte. »Die Einsicht braucht vielleicht noch ein wenig Zeit, aber ich möchte dich nächste Woche in deine neuen Aufgaben einführen.«

Um sich Zeit zu verschaffen, winkte Tommaso nach dem Jungen, der ihnen vorhin den Drink gebracht hatte, und hielt ihm sein leeres Glas entgegen, das natürlich prompt gefüllt wurde. Anschließend gönnte er sich einen langen Schluck, erst danach widmete er sich wieder seinem Vater. »Darf ich wissen, welche Aufgaben das sein werden?«

Salvatores rechte Braue zuckte hoch, dann stieß er ein heiseres Lachen aus. »Na, was schon? Es gibt nur einen wichtigen Posten zu besetzen, oder?«

Tommaso stockte. Nur langsam wurde ihm bewusst, was sein Vater meinte, aber noch ehe er es aussprechen konnte, übernahm Salvatore das für ihn: »Du hast meinen besten Mann getötet oder töten lassen. Wie auch immer, Joes Tod hat ein klaffendes Loch in die Maschinerie meines Unternehmens gerissen, die Familie geschwächt. Und da du praktisch die Waffe geführt hast, ist es wohl an dir, diese Lücke zu füllen.«

Wie ein Film des Grauens blitzten Bilder vor Tommasos innerem Auge auf. Mikes Entmannung auf der Yacht; Sybils von Prügeln gezeichneter Körper, damals, in der Küche ihres Hauses in London; das Loch in der Stirn dieses Jungen, an seinem zwölften Geburtstag – der erste Tote, den er jemals gesehen hatte. »Das kannst du nicht ernst meinen«, brachte er mühsam beherrscht hervor.

»Ich sage nie etwas, das ich nicht ernst meine. Das solltest du wissen.« Salvatore leerte nun ebenfalls seinen Whiskey, dann stemmte er die Hände auf seine Oberschenkel und sich selber hoch. »Du hast vier Tage Zeit, um dich daran zu gewöhnen. Der Schießstand ist immer noch dort, wo er früher war. Fühl dich frei, ein bisschen zu trainieren. Wir wollen ja schließlich nicht, dass du dich ungeübt ins Geschäft wirfst.«

»Bitte, Dad. Das kann ich nicht!« Auch Tommaso hatte sich erhoben. Seine Maske war gefallen. Alles, was blieb, war eine gequälte Miene, die nicht länger verbergen konnte, wie fertig er in Wirklichkeit war.

Salvatore betrachtete ihn für einen Moment unbeeindruckt, senkte jedoch schließlich den Blick und seufzte. »Wir schaffen das zusammen, mio figlio.«

»Wie?« Die deutliche Verunsicherung seines Sohnes presste für eine Sekunde die Luft aus Salvatores Lungen, dann machte er einen Schritt auf ihn zu, um ihm eine Hand auf die Schulter zu legen.

»Ich bin nicht mehr der Mann, der ich einmal war. Ich kann dieses Leben nicht mehr führen.« Schwach, aber voller Überzeugung sprach Tommaso aus, was auch in Salvatore langsam Gestalt annahm.

Seine Finger an der Schulter drückten zu. »Ich habe dich einmal zu meinem Sohn gemacht, und das werde ich wieder schaffen. Du weißt, was du dafür tun musst.« Tommaso hob seinen Blick, der sofort von dem seines Vaters eingefangen wurde. »Lass los, mio amato ragazzo! Ich fang dich auf. So wie damals.« Er beugte sich vor und küsste Tommasos Stirn. »Nimm dir die restliche Woche Zeit, um über alles nachzudenken. Wenn du mich brauchst, bin ich da.« Niemand, der das gehört hatte, würde denken, Salvatore wäre kein liebevoller Vater, doch in Tommaso pochte die Gewissheit, welcher Mann ihm wirklich gegenüberstand.

»Ti amo«, flüsterte Salvatore noch, lächelte ein letztes Mal und verließ den Raum.

Tom blieb zurück, seine Beine waren zu kraftlos, um ihn nach oben in seine Wohnung zu tragen. Oder war es sein Wille, der Schwäche zeigte? Schließlich wartete da jene Frau, die er liebte, aber nur mehr hassen konnte. Weil er durch ihre falsche Entscheidung wieder genau dort stand, wo er an seinem zwölften Geburtstag gestanden hatte. Verdammt dazu, ein Leben zu führen, das ihn schlussendlich vernichten würde. Das schon einmal in einer Katastrophe geendet hatte, die ihm nach und nach fast alle Menschen genommen hatte, die ihm wichtig gewesen waren. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen, versuchte in dem Licht, das die Sonne durch die riesigen Fenster hereinschickte, Trost zu finden. Vor ein paar Tagen, im Krankenhaus, hatte er die Stille und Leere noch gehasst. Jetzt sehnte er sich fast danach. Nichts hören und fühlen zu müssen, wäre im Moment eine Wohltat. Er seufzte lautlos.

Gedämpfte Hintergrundgeräusche drangen an sein Ohr. Sie störten nicht. Das Klappern von Tellern, leise Schritte. Erst lauschte er nur dem Gewusel in seinem Rücken, als einige Küchenmädchen und Diener mit Schüsseln und Platten in den Saal eilten. Zeitgleich strömten ein paar von Salvatores Männern zur Vordertür herein.

Nun drehte sich Tommaso zumindest halb in deren Richtung. Er erkannte viele von ihnen. Reumütig zurückgekehrte, oder wahrscheinlich niemals weggewesene Mitglieder des Clans. Doch es waren auch etliche neue Gesichter dabei. Junge, willige Typen, die die Toten ersetzen sollten und die, wie er annahm, nicht einmal den Hauch einer Ahnung in sich trugen, worauf sie sich da eingelassen hatten.

»Alles okay, Figo?« Marco, der Typ von heute Morgen, stand plötzlich neben ihm.

»Ich kann mich nicht erinnern, dir erlaubt zu haben, mich so zu nennen!«, parierte Tommaso streng.

»Oh. Sorry, Mann. Tut mir leid. Ist alles noch sehr neu für mich.«

»Schon gut.«

»Aber …«, Marco senkte ein wenig die Stimme, »… ich habe viel von dir gehört und würde gern … ich weiß nicht, vielleicht kann ich dir ja helfen … du weißt schon.«

»Wobei?« Tommaso ließ seinen Blick unauffällig schweifen, hatte jedoch nicht den Eindruck, als würden sich die im Raum Anwesenden für irgendetwas anderes als das nun fast fertig aufgebaute Buffet interessieren.

»Wobei auch immer du willst. Ich wäre gern in deiner Gruppe. Also, wenn das so heißt.«

Wo hat er denn den her, fragte sich Tom amüsiert. Dennoch, so unbedarft dieser junge Mann auch wirkte – es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er von seinem Vater auf ihn angesetzt worden war. »Als absolut loyales Mitglied der Cosolino-Familie wirst du dort sein, wo dich der Capo haben will«, erklärte er also.

»Oh!« Marco erblasste ein wenig. »Klar. Entschuldige.« Eine Verbeugung andeutend wich er zurück und trollte sich zu den anderen.

Tommaso sah ihm hinterher. Sein Körper schrie nach Ruhe, also mobilisierte er seine spärlichen Kraftreserven und machte sich auf den Weg hinüber zum Süd-Trakt. Immer wieder hörte er das Surren der Kameras, deren Anzahl rapide zugenommen hatte. Zumindest war das sein Gefühl. Seine Augen scannten unaufhörlich die Umgebung, versuchten, die Eindrücke hier so zu empfinden, wie er es früher getan hatte – als sein Zuhause. Leider gelang ihm das nicht, und so war er erleichtert, als er endlich die Räume betrat, die wenigstens zu einem Teil dem entsprachen, was er sich von einem Rückzugsort versprach.

Erst setzte er an, sofort wieder in Sues Zimmer zu verschwinden, doch dann wurde ihm bewusst, dass in seiner Wohnung ebenfalls Kameras versteckt waren. Und es gehörte zu seiner Verantwortung, auch das Leben der Mutter seiner Kinder an diesem Ort zu festigen. Also betrat er das Wohnzimmer, wo Denise in eine Decke gehüllt auf der Couch lag und in einem Buch las. Als sie seine Schritte hörte, sah sie augenblicklich auf und wagte ein zaghaftes Lächeln.

»Ich dachte, du schläfst«, meinte er mäßig interessiert.

»Ich wollte mich nur ausruhen, und das kann ich, wie du möglicherweise noch weißt, am besten beim Lesen.« Oder noch besser in deinen Armen, dachte sie sehnsüchtig, doch das durfte sie natürlich nicht aussprechen.

Seine Stirn legte sich in Falten, sie sah, wie er mit sich selbst rang. Der Wunsch, vor ihr zu flüchten, stand so deutlich in seinen Augen geschrieben, dass es sie fröstelte. »Möchtest du dich etwas zurückziehen? Der Arzt meinte, du benötigst jede Menge Ruhe«, bot sie ihm eine Ausflucht. Sie wusste, hier im Wohnzimmer waren nicht nur die Kameras aktiviert, sondern auch die Mikrofone.

Er blinzelte, dann huschte seine Zunge über seine Lippen. »Wir könnten einen Spaziergang machen. Es ist noch warm draußen.«

Überrascht legte sie das Buch beiseite und richtete sich etwas auf. »Gerne. Wenn du das möchtest?«

Sein Nicken war zögerlich und dennoch begleitet von einem lauten und deutlichen »Ja«.

»Okay.« Sie erhob sich und Tommaso sah, dass sie nun ein einfaches Long Shirt und darunter Leggins trug. Er beäugte seine eigene Kleidung und setzte ein fast echt wirkendes Grinsen auf. »Ich sollte mich vielleicht auch umziehen.« Dann drehte er ab, und Denise begab sich in den Vorraum, wo sie in bequeme Turnschuhe schlüpfte und auf ihn wartete.

 

 

Kapitel 5

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwei Minuten später war er wieder da – in Jeans und einem weitgeschnittenen weißen Baumwollhemd. Wieder half sie ihm dabei, die Knöpfe zu schließen, dann wählte er braune Lederschuhe und sie traten aus der Wohnung. Sie verließen das Haus durch die Tür am hinteren Teil des mittleren Gebäudekomplexes. Vor nicht allzu langer Zeit hatte hier Melinas Schein-Hinrichtung stattgefunden. Tommaso spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als ihm das einfiel. Wo sie jetzt wohl war? Sie, Alex und … David. Er verbat sich selbst, an sie zu denken, denn das würde bedeuten, dass sich auch seine kleine Schwester in seine Gedanken stahl.

Um sich abzulenken, sah er sich um. Die Wiese war saftig grün, doch die Bäume, die die gesamte Fläche säumten, trugen bereits erste Spuren des nahenden Herbstes.

Sie hatten sich schon etwas vom Haus entfernt, als er plötzlich nach Denises Hand griff, was diese fast erschrocken zu ihm aufsehen ließ. »Er steht am Fenster seines Arbeitszimmers und beobachtet uns«, zischte Tommaso ihr zu.

Sie zwang sich, nicht den Blick von ihm abzuwenden und sagte stattdessen: »Warum ist es so wichtig, dass er denkt, dass du mir verziehen hast?«

»Weil es uns beide schützt. Deshalb«, erwiderte er knapp. Seine Hand hielt die ihre so spannungslos, dass sie darauf achten musste, nicht aus seinem Griff zu gleiten.

»Und was soll das werden? Du schlüpfst wieder in die Rolle von Tommaso, denn der darf keine Gefühle zeigen, nicht einmal seiner Frau gegenüber? Was dir jetzt sehr gelegen kommt, nicht wahr? Es ist die perfekte Ausrede, wenn du mich behandelst wie früher eine deiner Huren. So merkt niemand, dass du in Wirklichkeit am liebsten vor mir davonlaufen würdest. Das ist der Plan, oder irre ich mich?« Hoch und zittrig brachte sie ihre Befürchtung vor.

Er bedauerte es zwar, konnte ihr aber nicht widersprechen. Also seufzte er lediglich ein: »In etwa, ja.«

»Wirst du mir jemals verzeihen?«, hauchte sie niedergeschlagen.

Er musterte ihr trauriges Gesicht, spürte, wie sein Herz mit den beiden Wahrheiten kämpfte, die sich in ihm gefestigt hatten. Seine ewige Liebe zu ihr gegen das Entsetzen ihres Verrats. Er schöpfte Kraft aus einem tiefen Atemzug, dann löste er sich von ihr und legte seine Hand stattdessen an ihre Wange. »Ich versuche es. Wirklich. Aber ich möchte dich nicht anlügen. Es fällt mir wahnsinnig schwer.«

Trotz des niederschmetternden Inhalts seiner Erklärung – die Zärtlichkeit in seiner Stimme hallte in Denise wider und wärmte sie. Zumindest für einen Moment. Ihr Blick bohrte sich in seinen, versuchte, ihm ihr Geheimnis zu vermitteln. Ohne Worte. Weil sie diese nicht aussprechen durfte. Doch seine Augen waren bereits wieder von einer unendlichen Traurigkeit erfüllt. Schaudernd erkannte sie, dass es keinen von ihnen befreien würde, wenn sie ihm jetzt von Sues Überleben erzählte, sondern sie wahrscheinlich noch mehr in Gefahr gerieten. Also schlug sie die Wimpern nieder, angelte stattdessen erneut nach seiner Hand, und sie gingen weiter.

Am Himmel zogen Wolken auf, so dicht, dass die düstere Stimmung der Abenddämmerung gleichkam. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde, so viel hatte Denise inzwischen gelernt. Egal zu welcher Uhrzeit, egal welche Witterung – nichts blieb hier wirklich unbeobachtet. Manchmal – nein, ehrlicherweise meistens – fühlte sie sich wie eine Maus in einem Käfig. Waren sie das für Salvatore? Ein Experiment, mit dem er sich die Zeit vertrieb?

Tommaso empfand die Berührung ihrer Hände wie eine leichte Verbrennung. Es tat fast weh, dass ihre Finger ineinander verschlungen waren. Umso mehr, weil Denise sich nun wirklich festklammerte. Er verstand ihre Beweggründe. Sie hatte ihn aus Liebe vor dem Tod bewahrt. Das bezweifelte er nicht. Wenigstens darin war er sich sicher. Trotzdem blieb das Opfer, das sie allein zu verantworten hatte. Sue. Die einzige Unschuldige unter ihnen allen.

Tränen wollten ihn zwingen, seinen Schmerz vor Denise offen zu legen. Aber er gewann diesen unfairen Kampf. Es war fast als würde ihm die Nähe zu seinem alten Leben die Kräfte von einst zurückgeben. Das waren Tommasos Stärken gewesen. Gefühle verstecken. Eine Maske tragen. Niemanden dahinter sehen lassen.

»Dr. Abraham hat mich heute untersucht«, unterbrach Denise unvermittelt seine Gedankengänge mit deutlich verunsicherter Stimme.

Zögerlich sah er zur Seite und sie an. Ihre Wimpern waren gesenkt, ihr Kopf ebenso, und ihre Schultern. Sie wirkte zerbrechlich und schwach, und dadurch regte sich sein Beschützerinstinkt, der nicht einmal von ihrem schwerwiegenden Vergehen zerstört worden war. Er löste seine Hand aus ihrer und legte stattdessen den Arm um ihre Mitte, auch wenn er es unterließ, sie zu nah an sich zu ziehen.

Sofort lugte sie zu ihm hoch, doch er hatte sich bereits wieder abgewandt. »Und wie geht es den Babys?«, fragte er leise.

»Gut. Sie wachsen und gedeihen perfekt.«

Er spürte ihren Blick, verbot sich aber, ihn zu erwidern.

»Möchtest du mal fühlen? Sie sind gerade sehr aktiv.« Ihre fast unterwürfig gestellte Frage verursachte ein kleines Erdbeben in seinem Magen. Nun musste er sie doch ansehen. »Ich weiß nicht.«

»Warum nicht?«, fragte sie ehrlich interessiert.

Er schwieg.

Ihre Augen zogen sich zusammen. Sie hielt an, löste sich von ihm, schnappte seine rechte Hand und legte sie energisch auf ihren prallen Bauch. Kurz wollte er zurückzucken, doch ihr Griff war fest. Zuerst passierte nichts, dann spürte er plötzlich einen sanften Druck unter seiner Handfläche. Danach einen regelrechten Tritt. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht, das Denise ebenso unbewusst erwiderte. Ihre Hand streichelte sachte die seine. »Das sind deine Kinder, Tom. Unsere Kinder. Sie zu lieben schmälert nicht die Liebe, die du für Sue empfindest.«

Was ihn trösten sollte, verscheuchte jedoch jede Sanftheit aus seiner Mimik. »Ich verbiete dir, über Sue zu sprechen«, presste er verärgert hervor und versuchte erneut, sich aus ihrem Griff zu befreien.

Doch wieder hielt sie ihn fest. Mit großen Augen musterte sie ihn, seinen harten Blick, und sprach dann aus, was sie einfach nicht zurückhalten konnte: »Das lasse ich mir nicht verbieten!«

Mit einem Ruck war er frei und trat zusätzlich einen Schritt von ihr weg. »Warum tust du das?«

»Was tu ich denn?« Sie umschlang ihren eigenen Oberkörper, da seine gequälten Worte sie frösteln ließen.

Seine Arme verkrampft an seinen Körper pressend, starrte er sie an. »Wie soll ich dir vergeben, wenn du mich nicht vergessen lässt?«

Ihre Züge wurden von einer schier unendlichen Traurigkeit überschattet. »Es tut mir so leid, dass du Sue verloren hast, aber ich werde niemals zulassen, dass du sie vergisst.«

Sein Kopf ging ungläubig hin und her. »Aber das muss ich, sonst kann ich dir nicht verzeihen.«

Auch sie schüttelte den Kopf. »Den Preis muss ich wohl zahlen. Du weißt genau, egal wo sie jetzt ist, sie verlässt sich darauf, dass du an sie denkst.« Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, während er sie verständnislos musterte. »Bis du wieder bei ihr bist.«

»Was?«, hauchte er nur, aber noch ehe sie etwas sagen konnte, tauchte ein bulliger Kerl neben ihnen auf. »Der Boss möchte, dass du bei der heutigen Besprechung anwesend bist«, sagte er zu Tommaso.

»Ich komme gleich«, versuchte er, ihn abzuwimmeln, doch der griesgrämig dreinblickende Mann blieb stur. »Die anderen warten bereits!«

Kurz flammte Wut in ihm auf, wurde aber rasch von der Gewissheit verdrängt, dass er wieder in seiner alten Welt gefangen war und somit keine Wahl hatte. Den Wünschen des Bosses war zu folgen! Also wandte er sich mit verschlossener Miene an Denise. »Wir sehen uns später in der Wohnung.«

Sie nickte, auch in ihrem Gesicht war die Ernüchterung zu lesen. So würde es von jetzt an immer sein – sie waren auf ewig den Launen des Capo ausgeliefert.

Tommaso setzte an, sich abzuwenden, drehte sich allerdings noch einmal um und drückte einen Kuss auf ihre Stirn.

Der Punkt, wo seine Lippen sie berührt hatten, erwärmte sich, während sie ihm hinterher sah. Die entspannte Leichtigkeit in seinem Gang, die in den Monaten auf der Insel einfach zu ihm gehört hatte, schien spurlos verschwunden. Er war geschlagen! Und das durch ihre Hand, geführt von der Macht seines Vaters, der zu entkommen sie nicht in der Lage waren.

Nur langsam wurde ihr bewusst, dass Salvatores Handlanger noch immer neben ihr stand. Sie sah zu ihm auf.

»Salvatore will dich sehen.«

»Warum?«, hakte sie misstrauisch nach.

»Jetzt!«, blaffte er nur, wandte sich um und ging.

Ein tiefer Seufzer hob und senkte ihre Brust, gleichzeitig begann sie geistesabwesend über ihren Bauch zu streicheln. In Gedanken kehrte sie auf ihre Insel zurück. Zum Abschied von Sue – kurz und dennoch so emotionsgeladen, dass es für die Ewigkeit reichen musste. Das hatte sie Tom genommen. Die Möglichkeit, seine Schwester gehen zu lassen, damit Sues Leben und auch das ihre weitergehen konnte.

Langsam setzte sie sich in Bewegung. Jeder Schritt in Richtung Haus legte ein weiteres Gewicht auf ihre Brust. Wenn sie ihm doch wenigstens sagen könnte, dass Sue lebte. Dass es ihr gutging – was im eigentlichen Sinne natürlich nicht stimmte. Wie gut konnte es ihr schon gehen, ohne Tom?

Zwei Männer wichen vom Eingang zurück, als sie sich näherte. Sie passierte die beiden, ohne ihnen einen Blick zu gönnen. Stattdessen sah sie zum Springbrunnen in der großen Eingangshalle. Wie sehr hatte Sue sein Farbenspiel geliebt. Denises Sicht verschwamm, die nie gänzlich versiegten Tränen brannten in ihren müden Augen. Sues helles Lachen hallte gespenstisch in ihrer Erinnerung wider. Sie erinnerte sich an diese trostlose Zeit, in der sie nichts anderes zu tun gehabt hatte, als auf Tom zu warten. Und wie Sue sie erträglich gemacht hatte, mit ihrem schier unerschöpflichen Glauben daran, dass alles gut werden würde. Woher hatte sie diese Kraft genommen? Woher das Vertrauen?

»Mrs. Cosolino.« Ein Hausmädchen kam ihr entgegen, Denise sah verwundert auf. Es war ihr noch immer nicht gelungen, sich mit diesem Namen zu identifizieren. »Ja?«

»Er erwartet Sie in seinem Büro.«

Denise nickte, versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, doch das Mitleid, das sich auf die Züge des Mädchens legte, zeugte von einem eindeutigen Misserfolg. Daher senkte sie den Blick und setzte ihren Weg fort, der sie, trotz der vor Abscheu schweren Schritte, rasch über die Treppe nach oben in Salvatores Büro führte. Die Tür war nur angelehnt, also sparte sie sich ein Anklopfen und trat direkt ein.

Er stand am Fenster, ein Glas in der Hand.

»Salvatore.« Sie bewegte sich auf ihn zu, stoppte jedoch auf halber Strecke, als sein knappes »Setz dich« erklang. Folgsam nahm sie auf jener Couch Platz, auf der sie damals zu sich gekommen war, nachdem sie der Schock, aufgeflogen zu sein, in eine Ohnmacht geschleudert hatte.

»Denise.« Schon die Begrüßung hatte gezeigt, dass das hier kein angenehmes Gespräch werden würde, doch ihr Name, so ungewöhnlich beherrscht ausgesprochen, unterstrich diese Annahme noch mehr.

Sie suchte Kraft in der Berührung ihres Bauches, und ganz so, als würden sie es spüren, pochte einer der Zwillinge nach draußen.

»Es scheint mir, als wäre der Druck unseres Geheimnisses zu viel für dich, jetzt, da Tommaso wieder hier ist.« Da war sie schon, die gefürchtete Gewissheit, dass ihm ihr Kampf nicht entgangen war.

Der Wunsch, ihn anzulügen, verlor gegen das Wissen, dass er es durchschauen würde. Sie seufzte und sah ihn an. »Er leidet so sehr, Salvatore. Warum können wir es ihm nicht leichter machen?«

»Glaubst du mir, dass ich meinen Sohn liebe?« Er trank einen Schluck, ließ sie dabei nicht aus den Augen.

»Natürlich«, sagte sie, und irgendwie wusste sie, dass er diese verzerrte Zuneigung wirklich für Liebe hielt.

»Er ist mein Fleisch und Blut, aber er hätte mich getötet, nur um dieses Gör zu retten.«

Diese Aussage ließ die Farbe aus ihren Wangen weichen – sagen konnte sie nichts.

»Du hast ihn nicht gekannt. Früher. Deshalb werde ich dir erzählen, wie er war. Er war stark, wahnsinnig erfolgreich, in allem, was er tat. Ein Cosolino durch und durch.«

Ein Schauder kroch über Denises Haut, als Toms Stimme aus der Vergangenheit in ihrer Erinnerung erklang: ›Tommaso war kein netter Kerl‹.

»Sie haben ihn mir entrissen. Meinen Sohn. Meinen Erben. Den einzigen Menschen, dem ich jemals zweifelsfrei vertraut habe. Sie haben ihn zu einer Marionette gemacht. Zu einem lächerlichen Abklatsch des Mannes, der er unter meinen Händen geworden ist.«

Denise zuckte zusammen, als Salvatore sein Glas gegen die Wand hinter ihr schleuderte. Sofort begann ihr Herz zu rasen.

»Tommaso ist mein Fleisch und Blut, Denise! Und jetzt hasst er mich! Dazu haben sie ihn getrieben.« Seine Stimme brach, und Denise kämpfte mit sich, um seinen Blick weiter zu erwidern.

»Ich habe auch seine Mutter geliebt. Und Sybil. Sie war meine erste Liebe, vielleicht die einzige in meinem Leben, die rein war und echt – bis Tommaso auf die Welt kam.« Seine Worte waren weich gesprochen, doch das genügte nicht, um Denise zu beruhigen. Sie hatte Angst, wahnsinnige Angst vor diesem Mann!

»Erst wusste ich nicht mit ihm umzugehen. Mit ihm als Kind, meine ich. Also blieb er bei Claire. Aber ich besuchte ihn, regelmäßig. Als er fast zwölf war, kam mir das Gerücht zu Ohren, dass Claire vorhatte, ihn außer Landes zu schaffen. Sie wollte ihn entführen, ihn mir endgültig entreißen. Deshalb ließ ich ihn zu mir holen.«

»Du wolltest Claire schon damals töten. Mit Gift.« Denise wusste nicht, woher sie den Mut genommen hatte, das auszusprechen, aber irgendwie war es unmöglich gewesen, es nicht zu tun.

Zu ihrer Überraschung wirkte Salvatore nicht verärgert. Nein, er schmunzelte sogar, als schwelgte er gerade in einer zärtlichen Erinnerung. »Das Witzige daran ist, dass ich an diesem Tag, der der Anfang meines Lebens mit meinem Sohn sein sollte, gleichzeitig das Ende eingeläutet habe.«

Denise runzelte die Stirn, er lächelte. »Claire hat den Wein nicht getrunken, genauso wenig wie Sybil oder dieser verfickte Indianer, für den er eigentlich, wenn ich ehrlich bin, gedacht war. Nein, dessen Freundin ist gestorben. Deren Tod, so nebensächlich er mir damals auch vorgekommen ist, hat mir Chays Hass gesichert und schließlich zur Entzweiung zwischen Tommaso und mir geführt.«

Mit aller Kraft hielt sie ihr Lachen zurück – es war einfach grotesk, wie er die Situation darstellte. Glaubte er wirklich, dass er hier das Opfer war, dem ein rachsüchtiger Mann seinen Sohn entfremdet hat?

»Aber am schlimmsten war dieses Kind. Ein Bastard, geboren aus der Auflehnung einer emotional gestörten Frau. Ein Auswurf unreinen Blutes.« Angewidert verzog er das Gesicht. »Auch hier trifft mich eine Mitschuld. Du siehst, ich habe mir mehr als nur einmal Gedanken darüber gemacht.« Einen tiefen Seufzer ausstoßend musterte er sie nun mit traurigen Augen. »Ich wollte nicht, dass Claire stirbt. Der Mann, der sie erschossen hat – ich habe ihn getötet. Ich war bestürzt über ihren Tod. Das musst du mir einfach glauben.«

Denise versuchte, nicht zu blinzeln, ihm nicht zu verraten, wie wenig sie seinen Worten traute.

»Dadurch habe ich Tommaso wirklich verloren. Das war mir bewusst, und auch, dass er dieses Halbblut nie so ins Herz geschlossen hätte, wenn ihm nicht seine Mutter genommen worden wäre.« Er stieß erneut den Atem aus, rieb mit zwei Fingern seine rechte Braue und zuckte schließlich mit den Schultern. »Es ist also auch ein bisschen meine Schuld, dass Tommaso diesen Weg gegangen ist, bis er keinen anderen Ausweg mehr sah, als mich zu töten.«

Wieder sagte sie nichts dazu, was er auch nicht erwartete. In Gedanken versunken schwiegen beide für einen langen Moment. Draußen waren Schritte zu hören, die sich jedoch wieder entfernten.

So als hätte dieses Geräusch Salvatore aufgeschreckt, ging er hinüber zu Bar, um sein Glas erneut zu füllen. »Wie auch immer. Ich liebe Tommaso, und ich wünsche mir, dass er wieder mein Sohn wird. Ohne Zweifel, ohne Misstrauen und ohne Hass.« Er drehte sich um und fixierte Denises Blick. »Und hier kommst du ins Spiel. Wir hatten einen Deal, mia cara, und ich warne dich hiermit ein letztes Mal: In dem Moment, wo du ihm sagst, dass Sue lebt, wird sie sterben. Und du wirst deine Kinder verlieren.«

»Du würdest ihnen nichts tun«, hauchte sie kraftlos.

»Natürlich nicht. Sie sind mein Fleisch und Blut, und du gehörst ebenfalls zu meiner Familie. Aber wenn du mich verrätst, wenn du dich von mir abwendest, werde ich sie dir wegnehmen und du wirst sterben.«

 

* * *

 

In dieser Nacht schlief Tommaso in Sues Zimmer, während sich Denise im Schlafzimmer in den Schlaf weinte.

 

 

Kapitel 6

 

 

 

 

 

 

David Lenard, 03. August 2000, Palea Kameni

 

Es ist warm, aber es ist eine angenehme, von einer kühlen Brise abgeschwächte Hitze. Anders als die tropische Schwüle unserer Insel. Trotzdem fehlt sie mir – immer noch.

Ich lasse meinen Blick über die blauen Dächer der Häuser gleiten, die trotz ihrer wunderschönen Vielfalt im Meer der Gleichheit verschwinden. Ein Mann mit lächerlich großem Schnurrbart hebt grüßend seine Hand und ich erwidere automatisch seine Geste. Man hat uns akzeptiert und wir versuchen uns anzupassen, um die Anonymität zu wahren.

Entlang der niedrigen Mauer, die unser Grundstück von dem der Nachbarn trennt, wandere ich langsam über den mit weißen Steinen gepflasterten Weg. Bald erreiche ich die Stufen, die sich in Serpentinen durch den Olivenhain zum Strand hinunter winden. Der Kies knirscht unter meinen Schuhen, während ich nach und nach tiefer steige. Schon nach wenigen Metern kann ich ihren kleinen, viel zu dünn gewordenen Körper erkennen, der sich dunkel von der rosa-orange gefärbten Kulisse des Sonnenaufganges abhebt. Zusammengekauert sitzt sie da, vor und zurück wiegend, und mir wird ganz schwer ums Herz. Meine Füße treffen auf weichen Sand, der, noch kühl von der Nacht, meine Zehen umschmeichelt, als er in meine Sandalen quillt. »Frühstück ist gleich fertig, Kleines«, rufe ich, um meine Ankunft anzukündigen.

Sie dreht ihren Kopf, schenkt mir ein leeres Lächeln, das als Parodie ihres echten Lächelns leider inzwischen zur Normalität geworden ist.

»Na? Beobachtest du die Sonne beim Aufgehen?« Als ich bei ihr angekommen bin, sinke ich neben ihr auf die Knie.

»Ja. Gleich wird sie wieder hinter den Wolken verschwinden.«

Ich blicke nach oben. Eine Formation aus weißen, duftigen Gebilden beherrscht den Himmel. Trennt den von der glühenden Sonne flimmernden Horizont von der Dunkelheit der weichenden Nacht.

»Denkst du, es wird regnen?«, frage ich. Ihr trauriger Blick geht mir durch und durch. Ich muss einfach die Hand ausstrecken und über ihren Kopf streichen.

»Nein. Das würde Nikolaos in seinen alten Knochen spüren. Sagt er zumindest«, erklärt sie mir leise.

Ich muss schmunzeln. Nikolaos ist unser siebzigjähriger Nachbar, den sie bereits in ihr Herz geschlossen hat. Genauso wie sie das seine erobert hat, trotz der immer beachtlichen Sprachbarriere. Wir sprechen kein Griechisch – außer Melina natürlich, die sich noch an ein paar Wörter aus ihrer Kindheit erinnert –, und die Dorfbewohner kaum Englisch.

»Hast du keinen Hunger?« Ich stupse sie liebevoll in die Seite und stelle erschrocken fest, dass mein Finger direkt auf ihre Rippen getroffen ist. »Du solltest mehr essen, Kleines.«

»Okay«, sagt sie leichthin, doch ich weiß, dass es nicht so einfach ist, wie es klingt.

Ihr Leben wurde ein weiteres Mal aus den Angeln gehoben. Wieder hat sie verloren, was ihr Vertrauen und Liebe gewesen ist. Sie wendet ihren Blick in meine Richtung und lässt für einen Moment zu, dass ihre Verzweiflung sichtbar wird.

»Glaubst du, er denkt an mich?«, fragt sie leise, und nur mit Mühe kann ich die Tränen zurückhalten. Denn ich weiß, dass er nichts anderes tut.

 

 

Kapitel 7

 

 

 

 

 

 

 

 

Melina stand am Fenster des kleinen weißen Bungalows und blickte verloren über die Häuserdächer hinweg hinaus aufs Meer. Das Schiff war gerade dabei, am Steg anzulegen. Schwarze Haare wehten im Wind, die beiden älteren Männer hantierten geschäftig mit den Tauen herum.

Zwei Arme legten sich von hinten um sie und zogen sie gegen eine schutzspendende Männerbrust. »Ob es heute wieder Fisch zu Mittag gibt?« Alex’ warme Stimme war zärtlich und voller Liebe.

»Das wird ihr bleiben, oder? Diese Liebe zum Meer und zu Booten.« Melina lehnte sich gegen ihn und bot ihm ihren Hals an. Sofort nahm er das Angebot an und hauchte einen Kuss auf ihre Haut. »Ich habe solche Angst, dass sie nie wieder so wird, wie sie einmal war.« Alex schmiegte seine Wange an Melinas nackte Schulter. »Und Tom – oh Gott, es geht ihm sicher beschissen. Wie könnte es auch anders sein? Wir wissen, wie sehr er sie liebt. Ich will es mir gar nicht vorstellen, wie verzweifelt er ist.« Linas Körper erbebte unter einem tiefen Seufzen und sackte wieder zusammen. »Und Denise! Wie muss das für sie sein? Sein Leid zu sehen und dennoch nichts dagegen tun zu können.«

Alex schnaubte verächtlich. Immer noch konnte er nicht begreifen, was seine Schwester getan hatte. »Das ist ihre Strafe.«

»Alex.« Melina drehte sich in seinen Armen um und sah ihn unglücklich an. »Warum bist du auf sie so wütend, aber auf David nicht? Er war es, der Salvatore angerufen hat.«

»Und sie hat uns alle geopfert, um Tom zu retten«, murmelte er, wobei der Vorwurf, den seine Worte eigentlich hätten darstellen sollen, kaum wahrnehmbar war.

Seufzend nahm Lina seinen Einwand zur Kenntnis. »Sie hat ihren Mann gerettet und gleichzeitig Sues Leben. Und auch die unseren. Wir wissen, dass Salvatore wahrscheinlich vorhatte, uns alle zu töten.«

»Weiß ich doch«, gab er kleinlaut zu, küsste sie noch einmal und sah dann erneut zum Fenster hinaus. »Komm, wir gehen hinunter und begrüßen sie.«

 

Unten am Steg kletterte Sue gerade mit Nicolaos’ Hilfe vom Schiff und wartete, bis David ebenfalls von Bord gegangen war. Er nahm sie an der Hand, dann gingen die drei langsam die schmale Gasse hinauf in Richtung ihres Hauses. Sowohl David als auch ihr alter Nachbar trugen einen Köcher mit Fischen. Etwa auf der Hälfte der Strecke verabschiedete sich Nicolaos, indem er David zunickte und Sue mit seiner freien Hand liebevoll übers Haar strich. Sue sah ihm hinterher, danach zu David hoch. Ihr zarter Körper wurde von einem tiefen Seufzer erschüttert, dann setzten sie ihren Weg fort.

»Na? Wie ich sehe, gibt es heute Fisch.« Alex’ Ruf begrüßte die beiden, sobald sie das Grundstück betreten hatten. Sofort ließ Sue David los und lief an Alex und Lina vorbei ins Haus. Der ältere Mann blickte ihr traurig nach, anschließend widmete er seine gesamte Aufmerksamkeit dem jungen Paar.

Linas Miene war schmerzlich verzogen. David nickte nur einmal als stumme Bestätigung für die Befürchtung, die in ihrer aller Augen stand: ›Ja, heute ist wieder ein schlimmer Tag.‹

Er ging hinein, direkt auf die Geräusche zu, die aus der Küche kamen. Hinter ihm erklangen die Schritte der anderen. Mit einem schwermütigen Ächzen warf er noch einen kurzen Blick auf das Foto – eines von vielen, die auf der von Sue gestalteten Erinnerungen-Wand Platz gefunden hatten. Es war eine Aufnahme von einem ihrer vielen Abende am Strand. Serane, das Hausmädchen, hatte ihnen Gesellschaft geleistet. Sie saß ein kleines Stück hinter Sue, doch beide blickten nicht in die Kamera, sondern einander an. Sie hatten gesungen, daran erinnerte sich David noch genau. Für einen Moment hörte er das ferne Echo der fremden Wörter, getragen von ihren zarten Stimmen, und spürte die Harmonie und Zufriedenheit, die sie alle in dieser Nacht erfüllt hatte – ein paar Tage, bevor das Schicksal ihr Leben und Glück erneut zerschlagen hatte.

»Ich kann das Lied noch.« Sues schwaches Stimmchen erklang – eine schlechte Kopie ihrer einst so lebensfrohen Ausdrucksweise. »Wenn du willst, sing ich es dir irgendwann mal vor.«

David lugte zu ihr hinunter. Voller Sehnsucht waren ihre grünen Augen auf das Bild neben dem, das er eben angesehen hatte, gerichtet. Es zeigte Tom und Denise am Meer, eng umschlungen an einem Lagerfeuer sitzend. Denise beobachtete Sue, die fröhlich lachend über die seichten Wellen am Strand hüpfte, Toms Gesicht war der Kamera zugewandt, also deutlich zu sehen. Seine Augen strahlten vor Glück, während er Denise mit schräg gelegtem Kopf betrachtete. Seine rechte Hand lag auf Denises Babybauch, sie hatte seine Linke angehoben und an ihre Lippen gedrückt, darunter blitzte ihr zufriedenes Lächeln hervor.

»Wie lange dauert es noch, bis die Babys zur Welt kommen?« Sues geflüsterte Frage presste Davids Herz zusammen.

»Etwa zwei Monate«, antwortete er ebenso leise.

»Glaubst du, sie erinnern sich an mich? Ich habe mit ihnen gesprochen, immer wieder, und Denise hat gesagt, wenn sie dann da sind, werden sie sofort an meiner Stimme erkennen, dass ich ein ganz wichtiger Mensch in ihrem Leben bin.« Sue musterte ihn erwartungsvoll, aber da war keine Antwort in ihm. Zumindest keine, die er ihr geben wollte.

Das schien auch die Kleine zu bemerken, denn sie lächelte nur wissend und nickte, so als hätte er doch etwas gesagt. »Vielleicht, wenn ich sie später irgendwann sehen darf. Dann erzähle ich ihnen einfach davon.«

»Ja. Das ist wahrscheinlich am besten.« Seine Stimme war brüchig, trotzdem gelang es Sue, ihr Lächeln zu halten.

»Ich geh wieder in die Küche. Der Fisch muss gewaschen werden und in den Kühlschrank.« Sie klang zu erwachsen, zu geschäftig.

Davids Magen zog sich zusammen. Was würde er dafür geben, ihr ihre unbeschwerte Kindheit zurückzugeben. Doch leider fehlte ihm jede Idee, wie er ihr dabei helfen könnte. Keiner von ihnen hatte einen Plan. Sie überlebten. Aber sie lebten nicht wirklich.

»Wie geht es Sue?« Alex’ Stimme schreckte ihn auf. Er kam eben mit Melina an der Hand die Treppe herunter.

»Wir sollten heute irgendetwas mit ihr unternehmen«, flüsterte David, danach seufzte er tief.

»So schlimm?«, fragte Lina besorgt.

David nickte. »Sie hat geweint.« Diese drei Worte genügten. Schließlich wussten auch die beiden anderen, wie sparsam die Kleine sonst mit Gefühlsausbrüchen umging.

»Was hat es ausgelöst?«, erkundigte sich Melina gedämpft.

»Wer weiß das schon?« Erneut seufzte David tief. »Eben noch ist sie interessiert Nikolaos’ Ausführungen über die verschiedenen Fischarten gefolgt, dann hat sie aufs Meer hinausgeschaut und angefangen zu weinen. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber … naja, ihr wisst ja, wie sie darauf reagiert.« Ein weiterer frustrierter Atemzug folgte, danach rieb er sich mit der rechten Hand übers Gesicht.

»Ob sie sich jemals wieder richtig anfassen lassen wird? Ich meine, sie ist ein Kind. Sie braucht doch jede Liebe, die sie bekommen kann.« Linas Miene war von Traurigkeit überschattet.

»Wir wissen alle, wessen Liebe sie braucht und will«, knurrte Alex verärgert.

»Ja, das wissen wir. Aber leider ist er nicht hier, also müssen wir für sie da sein, in welcher Form auch immer sie das zulassen möchte.« In Davids Stimme schwangen seine eigene Verzweiflung, sein schlechtes Gewissen, nur allzu deutlich mit.

»Ich werde Denise einfach sagen, wie mies es ihr geht. Schließlich hat Salvatore versprochen, dass sie uns anrufen kann. Irgendwann.« Alex strich fahrig durch seine Haare und sah um Zustimmung heischend von David zu Lina.

»Er hat schon so einiges versprochen, das er nicht gehalten hat.« Linas leise vorgebrachter Einwand entlockte Alex ein Ächzen.

»Wenn sie Tom nur die Wahrheit sagen würde, dann …«

»Alex …«, stoppte ihn Melina sofort, doch ein prüfender Blick verriet ihr, dass David ganz und gar Alex’ Meinung teilte. Also musste sie ihnen wohl wieder in Erinnerung rufen, was auf dem Spiel stand. »Was würde es nützen? Wenn Tom erfährt, dass Sue lebt, wird er zu ihr wollen. Aber nicht können. Und wenn Salvatore mitbekommt, dass Denise ihr Versprechen gebrochen hat, wird ein paar Stunden später jemand hier auftauchen, und wir sind alle tot.«

»Uns bleibt immer noch Anthony, oder? Er arbeitet doch an einem Plan, uns hier rauszuholen. Und wenn wir in Sicherheit sind, …«, begann Alex, wurde jedoch abermals genervt von Melina unterbrochen. »… kann Tom die Wahrheit erfahren. Aber nicht früher!« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Solange wir nicht wissen, wer zu Salvatores Spitzeln gehört, können wir nur stillhalten. Jeder hier könnte es sein – sogar Nicolaos. Irgendwie doch seltsam, dass ein alter, fast zahnloser Grieche Englisch spricht, oder?«, brachte es David auf den Punkt.

»Niemals! Nicolaos würde nie etwas tun, was Sue schaden könnte«, widersprach Melina energisch und leider ein wenig zu laut, was Sue herbeilockte.

»Warum streitet ihr?« Mit ineinander gekrallten Händen stand sie in der Tür zum Esszimmer und musterte sie irritiert.

»Wir streiten nicht, Kleines. Wir haben nur kurz diskutiert«, versuchte sich Alex an einer Ausflucht, doch Sues streng gekräuseltes Näschen zeugte von seinem Misserfolg.

»Lüg mich nicht an, Alex. Ich bin kein Baby mehr.«

David entkam ein gequältes Stöhnen. Sie hatte nur allzu recht mit dem, was sie sagte. Sie war kein Baby mehr, beinahe nicht einmal mehr ein Kind. Das Schicksal hatte ihr in ihren jungen Jahren ein Leben aufgebürdet, an dem selbst Erwachsene früher oder später zerbrechen würden.

»Wir sind traurig, dass wir Denise und Tom nicht mehr sehen dürfen. Genauso wie du«, gab er daher unumwunden zu.

Davids und Linas scharfes Einatmen war deutlich zu hören, dafür erschien auf Sues Gesicht ein Lächeln. Wenn auch ein sehr schwaches, dem eine Traurigkeit anhaftete, die für die anderen beinahe körperlich spürbar war. »Es ist fast nicht zum Aushalten, nicht?«, hauchte sie.

»Ja«, stimmte Lina ihr leise zu.

»Wahnsinnig schwer«, gestand auch Alex, David schloss sogar für ein paar Sekunden die Augen.

»Wisst ihr was?« Die Kleine kam langsam näher. »Tom hat immer gesagt, wenn ich mich alleine fühle, dann soll ich nur ganz fest an ihn denken. Das wird er spüren und mir einen tröstenden Gedanken schicken.« Keiner der anderen brachte einen Ton heraus, Sues grüne Augen funkelten vor Tränen. »Aber es funktioniert nicht mehr. Ich denke an ihn, aber er denkt nicht mehr an mich.«

»Das ist nicht wahr«, sagte David sofort, doch sie schluchzte nur einmal laut auf.

»Ich spüre es. Es ist, weil Salvatore ihn mitgenommen hat, oder? Er ist jetzt wieder bei ihm und darf nicht zeigen, dass er mich liebhat.«

Alex schluckte hart. »Sue. Kleines ...«

»Ich weiß, dass es stimmt«, sprach sie entschlossen, wenn auch mit schwacher Stimme, weiter. »Ich habe Denise und Salvatore miteinander reden hören. Sie hat ihm versprochen, wenn er Tom gesund macht, dann werden sie und Tom mit ihm mitgehen und mich nie wiedersehen.«

Linas Gesicht erbleichte. Sie spürte das Zittern kommen, ihre Kehle wurde eng.

»Warum hast du uns nicht erzählt, dass du das gehört hast?«, fragte David.

»Weil ich versuche, nicht daran zu denken«, erklärte sie in beängstigend ruhigem, sachlichem Ton und klang dabei ein weiteres Mal so viel älter, als sie es eigentlich war.

»Aber vielleicht tut es dir gut, ab und zu darüber zu sprechen, was dich traurig macht«, warf Lina ein.

Sues Schultern zuckten hoch und runter, dann wurde ihre Miene erst finsterer, dann wieder gelöster, so als hätte sie eine schwere Last zur Seite geschoben. »Wir sollten uns um den Fisch kümmern«, sagte sie schließlich, drehte sich um und verschwand.

Danach herrschte für einen Moment bedrückende Stille. Nur langsam setzte sich David in Bewegung, um ihr zu folgen, und nach einer weiteren Minute des Schweigens folgten auch Lina und Alex.

 

 

Kapitel 8

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Wochenende verlief ruhig und relativ entspannt. Tommaso bemühte sich, so viel Zeit wie möglich mit seinem Vater zu verbringen. Was sich als äußerst anstrengend erwies, da nach wie vor jede Minute in der Nähe dieses Mannes den Hass in ihm zum Kochen brachte. Beinahe noch schwieriger war jedoch der Umgang mit Denise.

In seiner Gegenwart bewegte sie sich so vorsichtig und demütig, dass er es kaum ertragen konnte. Er wollte ihre Reue nicht sehen, ihre Schuldgefühle nicht spüren. Er wollte ihr zürnen, sie dafür verdammen, was sie getan hatte. Trotzdem berührte es ihn, wenn sie ihm sehnsüchtige, liebevolle Blicke zuwarf, was ihm erschreckend klar vor Augen führte, dass es sich eben nur so anfühlte, als wäre sein Herz zu Stein erstarrt.

Mittlerweile war es ihm gelungen, die Überwachung seiner Wohnung zu entschlüsseln. In jedem Wohnraum gab es eine Kamera, in Sues ehemaligem Zimmer, auf den Gängen, im Billardzimmer und im Wohnzimmer außerdem Mikrofone. Lediglich ihr Schlafzimmer und die Badezimmer waren clean. Obgleich sein Vater somit wusste, dass er nicht bei Denise schlief, konnte er sich nicht überwinden, in ihr Bett zurückzukehren, da er der Anziehung ihres Körpers augenblicklich unterliegen würde, was einem Verrat an Sue gleichkäme.

Zur Vorsicht galt es jedoch, diesen Umstand auszumerzen. Also versuchte er, zumindest außerhalb dieses Raumes nett zu ihr zu sein – vor allem, wenn sein Vater oder einer seiner Leute in der Nähe war.

So verging das Wochenende und damit seine letzte Schonfrist. Salvatore hatte unmissverständlich klar gemacht, dass er nicht nur seinen Platz hier im Haus wieder einzunehmen hatte. Auch sein Platz in der Familie verlangte nach ihm, und obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte, fügte er sich. Natürlich!

 

* * *

 

Der Montagmorgen kam, und mit ihm der endgültige Neustart seines alten Lebens. Tommaso wurde von einem übereifrigen jungen Mädchen geweckt. Wie sich herausstellte, war sie wohl eigens für ihn und Denise angestellt worden. Sie war außergewöhnlich gutaussehend und sexy. Kurz fragte er sich, ob das eine weitere Spitze seines Vaters bedeutete – die personifizierte Versuchung, immer direkt vor seiner Nase.

Widerwillig erhob er sich, stellte dankbar fest, dass sie ihm eine Tasse mit heißem, starkem Kaffee mitgebracht hatte und begab sich damit leise in das neben dem Schlafzimmer liegende Ankleidezimmer. Sein erster Auftrag an sie war, alle seine Hemden bis auf die obersten Knöpfe zuzuknöpfen – so ersparte er es sich, Denise um Hilfe zu bitten.

Während sie sich an die Arbeit machte, wählte er mit gelangweiltem Blick seine Garderobe aus. Wenig überraschend bestand sie aus dem obligatorischen dunkelgrauen Anzug, einem schwarzen Hemd und Lederschuhen. Mit einem bitteren Lächeln packte er eine der sorgfältig in Schubladen sortierten Sonnenbrillen dazu. Er wusste genau, wo jedes einzelne Ding hier drinnen lag. Sein Zuhause. Seine Sachen. Kalte Angst kroch in ihm hoch. Wie schnell würde er wieder in seine alte Rolle schlüpfen? Würde er sich erneut selbst verlieren?

Davor hatte er die größte Panik. Abermals Tommaso zu werden und irgendwann nicht mehr zu wissen, dass es auch einmal Tom gegeben hatte.

Nackt ging er weiter ins Badezimmer und direkt unter die Dusche. Danach erledigte er seine Morgentoilette, beschloss jedoch, in einem Anfall von Revolution auf das Rasieren zu verzichten. Wenigstens dieses kleine Statement wollte er setzen. Ein ›Ich bin noch hier‹. Leise zwar, aber er selbst würde es hören.

Als er zurück in den Schlafraum kam, saß Denise in einen cremefarbenen Seidenmantel gehüllt auf der kleinen Bank vor dem Fenster. Er hielt an und blickte zu ihr hinüber. »Ich bin heute mit meinem Vater unterwegs«, erklärte er zurückhaltend.

Sie blickte über ihre Schulter und seufzte. »Wann wirst du wieder hier sein?«

»Spät. Wir haben abends einen Termin, etwas außerhalb.«

»Würdest du …« Nun drehte sie sich vollends in seine Richtung. »… kannst du mich anrufen? Zwischendurch?«

»Wozu?«, fragte er misstrauisch.

Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe, dann machte sie erneut einen tiefen Atemzug. »Damit ich weiß, ob ich mit dem Abendessen auf dich warten soll.«

»Du musst nicht warten.« Er zog sein Sakko zurecht und setzte an, den Raum zu verlassen.

»Können wir nicht wenigstens zusammen frühstücken?«, stieß sie resigniert hervor, doch er hielt nicht einmal inne, warf ihr im Hinausgehen nur ein knappes »Keine Zeit mehr« hin und eilte aus der Wohnung.

Unten wartete bereits die Limousine und in ihr sein Vater mit dem Handy am Ohr. Lediglich ein ungeduldiges Brummen hatte er für seinen Sohn übrig, als der in den Wagen stieg.

Tommaso fixierte ihn, sobald er auf den ledernen Sitz gesunken war. Intensiv. So lange, bis sein Vater das Telefon zur Seite hielt. »Was?«, raunte er ihm zu.

»Was ist das für ein Termin heute?« Tommasos Augen zogen sich zusammen. Er wollte nicht zeigen, wie sehr ihn all das verunsicherte, doch genauso wenig hatte er Lust, ins offene Messer zu laufen.

Die Limousine fuhr los und Salvatore schmiss ihm mit einer lockeren Handbewegung ein mehrseitiges Dokument in den Schoß. »Lies das«, befahl er nur kurz und widmete sich wieder seinem Telefonat.

»Eine Besichtigung?«, hakte Tommaso nach, worauf sein Vater erneut brummte.

Erleichterung machte sich in ihm breit, auch wenn er versuchte, es vor Salvatore zu verbergen. Sollte er wirklich ein Einsehen haben und ihm einen sanften Einstieg gönnen?

»Dann soll er ihm ein letztes Mal klar machen, was es heißt, sich mit mir anzulegen«, hörte er seinen Vater gereizt sagen. Die üblichen Drohungen, bei denen es selten blieb.

Tommaso wandte den Blick ab, um dem Schrecken zu entkommen, der ihn sofort umfing. Es war, als wäre er soeben von einer Zeitspirale erfasst worden, die ihn in Lichtgeschwindigkeit zurück zum Anfang schleuderte.

Die Mappe in seinem Schoß war eine gute Gelegenheit, sich abzulenken. Darin befand sich der Grundrissplan eines Grundstückes im südöstlichen Teil der Stadt. Außerdem ein kurzes Dossier über die bisherige Geschichte der Firma. Die riesige Fabrikhalle war im frühen 18. Jahrhundert als Gerberei und Pelz-Fabrik errichtet, später aber zu einer Spedition umgebaut worden. Die Anlage besaß eine eigene Anlegestelle am See sowie weitläufige Lagerhallen und Ladestationen und befand sich seit dreißig Jahren im Besitz einer alteingesessenen Handelsfirma, deren einziger Fehler darin bestand, sich auf einen Deal mit Cosolino Inc. einzulassen.

»Davidson überschreibt mir heute noch seine Anteile, dann gehört dieses Schmuckstück uns.« Salvatore hatte sein Telefonat beendet und lächelte seinen Sohn nun höchstzufrieden an.

»Und wer zur Hölle ist Davidson?« Tommasos Nachfrage klang gleichzeitig pampig und desinteressiert.

Salvatore präsentierte ein kleines Lächeln, das allerdings wirkte, als würde er es nur schwer halten können. »Der ehemalige Besitzer der Liegenschaft, deren Unterlagen du dir gerade angesehen hast.«

»Zieht er sich freiwillig aus dem Geschäft zurück?«, erkundigte sich Tommaso süffisant.

Salvatores leichtes Schmunzeln verblasste. »Er hat schlecht investiert und musste überhastet verkaufen.«

»Alles beim Alten also?« Tommaso legte die Mappe beiseite und blickte seufzend aus dem Fenster.

»Ich musste ihn nicht umbringen, also doch ein Fortschritt«, spottete sein Vater und griff zur kleinen, integrierten Bar. »Für dich auch einen Drink?«

»Klar. Ist doch schon zehn.«

»Diesen Sarkasmus kannst du dir gern für deine Frau aufheben. Ich dulde solche Respektlosigkeiten nicht.« Salvatores Sinn für Humor schien erschöpft, somit nahm Tommaso sein Glas lieber schweigend entgegen. Sie stießen an, tranken beide einen großen Schluck, und der Alkohol brannte sich wie Feuer durch Tommasos Kehle.

»Wie geht es deiner Hand?«, fragte sein Vater.

»Mal gut, mal schlecht.«

Salvatore runzelte die Stirn. »Was heißt das? Dr. Fuller sagte, dank des neuen Medikaments ist die Lähmung nun vollständig verschwunden.«

»Ist sie auch«, gab Tommaso zurück. »Aber es kommt immer noch vor, dass ich das Gefühl verliere.«

Die Falten auf Salvatores Stirn wurden tiefer. »Ich werde mich nach einem anderen Arzt umsehen.«

»Das ist nicht notwendig«, widersprach er schnell.

»Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.«

Schweigend blickte Tommaso wieder aus dem Fenster.

»Wie läuft es mit Denise?«

»Gut.«

»Warum schläfst du dann nicht mit ihr?« Salvatore wusste Bescheid, das war ihm schon länger klar. Trotzdem hatte ihn diese Frage tief getroffen.

»Denise hatte leichte Wehen. Der Arzt empfahl uns daher, auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Weil mir das aber schwerfällt, bleibe ich ihr nachts lieber gänzlich fern.« Er hoffte inständig, sein Vater würde keinen Frauenarzt kontaktieren, um diesbezüglich nachzufragen.

Salvatore musterte ihn lauernd, verzichtete jedoch großmütig auf einen Einwand. »Es ist unumgänglich, seine Frau im Griff zu haben, und um das zu erreichen, musst du ihr das Gefühl geben, dass sie dir wichtig ist.«

»Denise weiß, was ich für sie empfinde.«

»Sie weiß vor allem, dass du immer noch schmollst wie ein Mädchen. Wieso kannst du nicht verstehen, dass sie nur aus Liebe zu dir so gehandelt hat?« Salvatores Ungeduld äußerte sich in einem besonders scharfen Ton.

Widerstrebend wandte sich Tommaso ihm zu, sagte aber nichts.

»Was hättest du gemacht? Hättest du Denise geopfert – für dieses Halbblut?« Die Frage ähnelte der, die Denise ihm gestellt hatte, und weil er im Grunde immer noch keine Antwort darauf hatte, schwieg er lieber weiter.

»Hättest du nicht, und das weißt du. Sie zu retten, deine Kinder zu retten, wäre wichtiger gewesen als alles andere. Warum also hörst du nicht auf, jemandem nachzutrauern, der es nie wert gewesen ist, deine Liebe überhaupt zu verdienen?«

Tommasos Kehlkopf hüpfte rauf und runter. »Was willst du hiermit erreichen, Dad? Glaubst du wirklich, damit bringst du mich zurück auf Schiene?«

»Ich möchte dir klarmachen, wo du hingehörst und was von dir erwartet wird.« Die Autorität in Salvatores Stimme war übermächtig und erzielte dieselbe Wirkung, wie sie es schon früher getan hatte. Sie vereinnahmte ihn und würgte jeden Gedanken ab, der nicht dieselbe Richtung anstrebte wie die seines Vaters. Tommaso fröstelte, auch das war wie einst. Gefühllosigkeit erzeugt Kälte.

»Du bist mein Sohn, und nur, um das noch einmal klarzustellen – hierzu gibt es keine Alternative. Du lebst entweder hier bei mir oder gar nicht.«

»Dann bring mich um. Jetzt.« Tommaso straffte sich und blickte ihm direkt in die Augen. »Nimm deine verdammte Waffe und schieß mir hier und jetzt ins Herz – du hast es ohnehin bereits zerstört.«

Der Wagen hielt, die vordere Tür ging auf. Salvatores Blick wich nicht einen Millimeter, nur sein leicht zuckendes rechtes Lid zeugte davon, dass er die Worte seines Sohnes vernommen hatte.

»Ob du es verstehen willst oder nicht, Dad. Ich habe Sue geliebt. Sie war meine Schwester.«

Es pochte zart an der Scheibe. Gleich darauf öffnete sich die Tür, doch Salvatore packte schnell den Griff und hielt sie fest. »Wir kommen in ein paar Minuten«, knurrte er nach draußen, dann zog er sie wieder zu. Die ganze Zeit hatte er Tommaso nicht aus den Augen gelassen. »Sprich weiter«, forderte er schließlich.

»Ich möchte nicht reden. Ich will, dass wir es zu Ende bringen.« Entschlossen und ohne Zweifel hatte Tommaso die beiden Sätze ausgesprochen, was Salvatore nun wirklich verunsicherte.

»Du möchtest lieber sterben, als weiter mein Sohn zu sein?«

»Ich will frei sein.«

»Und Denise? Und deine Kinder?«

»Sie sollen auch frei sein.«

»Und das könnt ihr nicht, hier bei mir?«

»Nein.«

»Also soll ich euch gehen lassen? Einfach so?« Salvatore musterte ihn jetzt höchst interessiert.

Zu seiner Verwunderung schüttelte Tommaso allerdings den Kopf. »Lass sie gehen und töte mich.«

»Warum sollte ich das tun?«

Tommaso entkam ein ungeduldiges Schnauben. »Wozu sprechen wir überhaupt darüber? Du machst doch ohnehin nur das, was du willst.«

»Ich will meinen Erben, egal wie.« Dieser Feststellung folgte ein Schwindel, der Tommaso kurzfristig den Atem nahm. Allerdings wäre er ohnedies nicht zu Wort gekommen, da Salvatore umgehend weitersprach, die Stimme erfüllt von Euphorie. »Du oder dein Sohn. Einer von euch muss bei mir bleiben, und wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht sogar die bessere Option, eine unverdorbene Seele dafür auszuwählen. Hier also der Deal: Ist eines der Kinder ein Junge, könnt ihr gehen. Du, Denise und das andere Kind.«

Wieder einmal fiel die Maske, die Tommaso über so viele Jahre als Schutz gedient hatte, seit seiner missglückten Flucht aber nur noch ein hauchdünnes, durchsichtiges Blättchen war. »Das kann unmöglich dein Ernst sein.«

»Warum? Das ist es doch, was du willst. Frei sein – von mir.«

»Aber doch nicht auf Kosten meines Kindes«, hauchte Tommaso fassungslos.

»Tztztz«, machte Salvatore, nun deutlich amüsiert. »Du bist wirklich schwer zufriedenzustellen. Aber das ist kein Problem. Wir haben ohnehin noch ein paar Wochen Zeit bis zur Geburt.« Für ihn war das Gespräch damit beendet, während Tommaso nun vollends verwirrt war.

»Da du ziemlich aufgewühlt scheinst, ist es wohl besser, wenn du im Auto wartest. Ich regle das Geschäftliche allein.«

Das Knallen der Autotür folgte und Tommaso blieb zurück – wieder einmal geschlagen.

 

 

Kapitel 9

 

 

 

 

 

 

 

 

Tommaso beobachtete durch die Scheiben des Wagens, wie sein Vater mit gewohnt elegantem Schritt das Gebäude betrat. Damals, in dieser fernen Zeit, als er tatsächlich Salvatores Sohn gewesen war, hatte er ihn dafür bewundert, wie gelassen und beherrscht er all diese Dinge tat, die zu ihrem Geschäft gehörten. Ein bisschen fühlte er heute noch so, jedoch gewürzt mit der gewissen Prise Ablehnung, wie es jeder normale Mensch empfinden würde. Interessanterweise wurde ihm erst jetzt bewusst, wie falsch die Bezeichnung Firma in Zusammenhang mit Cosolino Inc. war. Ein Name, auf Papier gedruckt, für den Anschein von Normalität. Das Firmengebäude im Herzen der Stadt hatte Tommaso so gut wie nie betreten. Wozu auch? Dieses diente ebenfalls nur zur Blendung für Außenstehende, die ihr ohnehin nicht erlagen, sie aber trotzdem verlangten.

Die Tür fiel hinter Salvatore ins Schloss und Tommaso war allein – bis auf den Aufpasser, der draußen am Auto lehnte. Er versuchte durch das große Fenster nahe dem Eingang, irgendetwas zu erkennen, doch außer einem Schatten, der vieles bedeuten konnte, war da nichts. Ein tiefer Seufzer entkam ihm, während er sich müde die Augen rieb. Wie zur Hölle hatte alles so schiefgehen können?

Mit geschlossenen Lidern floh er ein paar Wochen zurück auf ihre Insel, spürte fast die Hitze der Sonne und vor allem die Wärme der Liebe, die ihn umgab. Sue, seine kleine Sue, die endlich fröhlich ihre Kindheit genoss. Tränen stiegen in ihm auf, doch er drängte sie zurück, auch wenn er nicht verhindern konnte, dass seine Gedanken weiter ratterten.

David. Alex. Melina. Ob Denise wusste, wo sie alle abgeblieben waren? Waren sie wirklich in Sicherheit, oder ebenfalls tot? Dumpfe Angst stieg in ihm hoch. Warum hätte Salvatore die drei leben lassen sollen, nachdem er Sue getötet hatte? Für seinen Vater, so viel war sicher, bedeuteten diese Menschen nichts. Lediglich ein paar Kollateralschäden.

Seltsamerweise fühlte es sich nicht so an, als wären sie tot, wenngleich er sich auf dieses Gefühl nicht verlassen wollte. Auch Sues Tod war bis jetzt nur in seinem Gehirn angekommen – sein Herz hatte ihn noch immer nicht erfasst.

Sobald er nur einen kleinen Gedanken an sie zuließ, brannte die Sehnsucht heiß in ihm. Deswegen galt es, derartige Gedanken zu vermeiden. Er hatte nicht die Kraft, sie zu vermissen oder gar zu betrauern, also begann er stattdessen, darüber nachzudenken, was wohl mit Anthony geschehen war. Er oder zumindest ein paar seiner Leute waren auf ihre Insel unterwegs gewesen, um Denise und die anderen in Sicherheit zu bringen. Waren sie auf Salvatore getroffen?

Eine Bewegung außerhalb des Wagens weckte Tommasos Aufmerksamkeit. Es war die Tür des Gebäudes, die sich gerade öffnete. Sein Vater trat heraus, blickte in den Himmel, so als befände er sich auf einem Morgenspaziergang, und wandte sich dann an den Typen neben ihm. Sie sprachen kurz, anschließend lachten sie und schlenderten plaudernd auf die Limousine zu. Nun erschien ein weiterer Mann in der Tür. Gegen die Sonne blinzelnd sah er Salvatore nach und wirkte dabei unendlich erschöpft. Tommaso gelang es ohne Mühe, ihn als Davidson zu identifizieren, den nunmehr ehemaligen Besitzer der Liegenschaft.

Wie muss er sich gerade fühlen, überlegte Tommaso. Vor kurzem noch Mitglied im Businessclub, hatte er heute mit seiner von Angst genährten Unterschrift sein Leben verkauft? Und das hatte er. Zu gut kannte er seinen Vater. Wer einmal Geschäfte mit Cosolino Inc. machte, war mit Leib und Seele der Familie verschrieben.

Das Licht im Wageninneren ging kurz an, als die Tür geöffnet wurde und Salvatore einstieg. Er trug ein äußerst zufriedenes Grinsen im Gesicht. »Alles erledigt«, bestätigte er Tommasos Vermutung, der dazu lediglich nickte.

Nachdem auch sein Begleiter im vorderen Teil eingestiegen war, setzte sich die Limousine in Bewegung. »Haben wir noch andere Termine?«, erkundigte sich Tommaso.

»Ich dachte, wir besuchen ein paar alte Freunde«, antwortete Salvatore, während er sich an der integrierten Bar bediente. Dieses Mal unterließ er es jedoch, seinem Sohn ebenfalls etwas anzubieten.

»Und welche?« Tommaso klang nicht wirklich so, als würde ihn das groß interessieren, was seinem Vater auch nicht entging. Dessen zufriedene Miene wich einer ernüchterten.

Zu Tommasos Erstaunen blieb jedoch die Genugtuung aus, Salvatore ein weiteres Mal seine Ablehnung verdeutlicht zu haben. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, damit aufzuhören. Das Scheitern zu akzeptieren und die ewige Komödie seines Lebens weiterzuspielen. Er spähte hinüber zu Salvatore, der erst seufzte, bevor er zu sprechen begann.

»Hast du dich nie gefragt, was ich gemacht habe? In all den Monaten?«

Tommasos Miene blieb in ihrer neutralen Version eingefroren, obwohl sein Herzschlag ein wenig an Tempo zulegte. Natürlich hatte er sich diese Frage gestellt, immer wieder. Er hatte auch versucht, etwas über die Jungs herauszubekommen, doch dieses Thema war anscheinend tabu. »Du hast die alten Kontakte aktiviert«, gab er die einzige Information preis, die bis zu ihm durchgedrungen war.

»Ja. Joe war mein Ass. Als er weg war, galt es, Alternativen zu finden.«

»Um mich zu finden?«

»Ja. Denn dein, oder soll ich besser sagen Anthonys Plan war wirklich gut. Ich hatte keine Spur von deinem Aufenthaltsort, bis David mich angerufen hat.«

»Und das Gegengift? Das hattest du hier so herumliegen?« Das war etwas, worüber sich Tommaso ebenfalls schon lange den Kopf zerbrach. Wie hatte sein Vater so schnell herausfinden können, welches Gegenmittel anzuwenden war?

»David hat uns die Ergebnisse des ansässigen Arztes geschickt, also verdankst du auch ihm dein Leben.«

»Er hat dich gegen meinen Willen angerufen.«

»Ja. Um dein Leben zu retten. Nur deshalb lebt er noch. Das kannst du mir glauben.«

»Ist der tatsächlich am Leben?« Tommaso beugte sich vor, taxierte die Miene seines Vaters.

Der blieb vollkommen entspannt. »Ja. Er lebt, und dein Schwager und seine griechische Freundin ebenfalls.«

»Und du wirst mir nicht verraten, wo sie sind, nehme ich an.«

»Nein. Natürlich nicht. Sie gehören nicht mehr zu deinem Leben.«

»Weil du der Einzige bist, der bestimmt, was zu geschehen hat. Ist es nicht so?«, stellte Tommaso fest – müde und ziemlich desinteressiert, doch die Reaktion seines Vaters machte ihn schlagartig wach. Nicht, dass er geschrien hätte – nein, er seufzte tief und lang, bevor er einen seiner typischen Monologe startete. Einen jener Sorte, die am Ende nichts Gutes bedeuteten.

»Du weißt, dass die Jungs mich Capo nennen, obwohl ich weit über dem eigentlichen Rang eines Capo stehe.«

»Ach, die berühmte Rangordnung.«

»Ja«, schnaubte Salvatore. »Ich weiß, dass du es immer als unwichtig abgetan hast. Aber es gibt eben eine Hierarchie, und somit habe auch ich jemanden, dem ich Rechenschaft schulde, wenn in meiner Familie etwas schiefläuft.«

»Dem Kartell? Nein! Das herrscht ja in Mexico. Bei uns ist es … ah, ich weiß – die Kommission?« Tommaso wirkte höchst amüsiert, was ihm jedoch verging, als die Miene seines Vaters vereiste. Oder war es die Niedergeschlagenheit in dessen Stimme, als er weitersprach:

»Mach dich ruhig darüber lustig, wenn du willst. Aber dass ich der Boss bin, und nicht bloß ein Capo im eigentlichen Sinn, hat dein verdammtes Leben gerettet!«

»Wie meinst du das?«, hakte Tommaso automatisch nach. Ihm war klar, dass sein Vater nicht seine eigenen Rachepläne meinte, sondern etwas anderes. Selbstverständlich kannte er die Hierarchie! Oft genug waren ihm die Regeln der Cosa Nostra vorgebetet worden. Ihm selbst war das immer fremd erschienen. Exotisch. Wie etwas, das ihn nicht direkt betraf, was im weitesten Sinne ja auch stimmte. Zumindest noch. »Warum nennen dich die Jungs eigentlich Capo?«, fragte er nach. Es interessierte ihn wirklich, obwohl er früher nie darüber nachgedacht hatte.

Salvatore seufzte. »Dein Großvater hat es sehr witzig gefunden, mich so zu nennen. Er meinte, ich tauge nicht zum Boss und werde ewig ein Capo bleiben. Sein Tod übertrug mir Verantwortung, trotzdem gab es einige andere Bosse, die das ähnlich gesehen haben. Also war es an mir, ihnen zu beweisen, dass ich es wert bin, unsere Familie anzuführen. Wie du weißt, ist Joe zu unserem Clan gestoßen, kaum, dass wir in Amerika Fuß gefasst hatten. Er war einer von den wenigen, die schon zu Beginn an mich geglaubt haben. Es war ein Späßchen zwischen uns, die anderen Jungs haben es irgendwann übernommen, und der Rest ist Geschichte. Und es gefällt mir. Ich bin eben nicht ein Capo – sondern der Capo!«

»So wie sie mich Figo nennen.«

»Genau.«

»Anthony wollte dich ablösen. Der neue … Capo … werden.«

Salvatore lachte. »Er sollte es besser wissen. Nur, weil man es will, wird man nicht gleich der Boss.« Tommaso runzelte die Stirn. Über das tatsächliche Wie und Wann hatten sie ja nie gesprochen. Er hatte weggewollt und war einfach froh gewesen, dass Anthony ihm alles abgenommen hatte. »Obwohl er sich sicher gute Chancen ausgerechnet hat. Nach deiner idiotischen Aktion war es alles andere als leicht, meine Stellung wieder zu festigen. Dank Anthony wusste jeder, dass es mein eigener Sohn war, der meinen Tod wollte. Was er aber vergessen oder einfach ignoriert hat, war, dass ich mit einigen der anderen Bosse mittlerweile sehr eng verbunden bin. Sie werden immer hinter mir stehen, egal was mein rebellischer Sohn auch anstellt.« Er schüttelte den Kopf, was wohl verdeutlichen sollte, wie dämlich Tommaso gewesen war.

»Was er ebenfalls unterschätzt hat, war die Loyalität meiner Männer. Ihr habt nicht einmal einen Bruchteil getötet oder zum Seitenwechsel gebracht. Ich verstehe nicht, wie du oder Anthony das annehmen konntet. Ihr kennt mich und die Familie, wart ein Teil davon. Diejenigen, die wirklich die Seite wechseln wollten, habe ich gefunden und getötet.«

»Und Anthony, hast du ihn auch getötet?«

»Noch nicht. Für ihn habe ich andere Pläne«, erwiderte Salvatore und trank wieder von seinem Glas, ohne Tommaso aus den Augen zu lassen. Danach seufzte er erneut, bevor er fortfuhr. Dieses Mal schwang eine gehörige Portion Wut in seinem Tonfall mit: »Was mich am meisten erschüttert hat, war, wie gut er das alles geplant hat. Die Cosolino-Familie hat vor allem deshalb so lange überlebt und ihren Erfolg sichern können, weil wir immer lückenlos hintereinandergestanden haben. Weil niemand es je geschafft hat, sich durch Tricks einzuschleichen. Doch nun war es passiert. Nicht nur einer, sondern mehrere meiner Jungs haben mich hintergangen, und einer davon warst du. Und alle wussten es. Es sah so aus, als hätte ich meine Familie nicht mehr unter Kontrolle.«

Tommaso setzte an, etwas zu sagen, aber sein Vater unterbrach ihn mit einer wirschen Handbewegung und fuhr mit seiner Rede fort: »Trotzdem beschloss ich, meinem ersten Impuls nicht zu folgen. Nämlich, dich zu töten.«

»Weil du allen zeigen wolltest, dass du alles wieder in den Griff bekommen kannst. Auch mich?«, riet Tommaso müde.

»Du kleiner Idiot!«, zischte Salvatore und wandte kurz den Blick ab, nur um ihn gleich wieder mit feurigen Augen zu fixieren. »Du hasst mich, weigerst dich aber zu akzeptieren, dass ich alles nur getan habe, um dich sicher an meiner Seite zu haben. Stattdessen vertraust du ihm! Weigerst dich zu sehen, dass Anthony dich nur benutzt hat. Er wollte der Boss werden, egal wie! Das ist es, was hinter seinen Ambitionen steckt, dir zu helfen. Erst die Flucht nach London, dann der Plan, mich bei der Party zu beseitigen.«

»Wieso hätte er mich gebraucht? Er hätte dich doch auch selbst umlegen lassen können. Immerhin hat er Buzz ins Haus geschleust.«

»Nur mit deiner Hilfe – deiner und Davids.«

Tommaso zuckte müde die Achseln. »Also hat er mich benutzt, um ins Haus zu kommen?«

»Nicht nur. Du willst es nicht verstehen, oder?« Mittlerweile war seine Stimme so hart, dass Tommasos Magen zu schrumpfen schien. Die Autorität, die sein Vater im Moment ausstrahlte, war unbeschreiblich intensiv. Das war schon immer so gewesen! Angst und Bewunderung – eine explosive Mischung! »Anthony hat die anderen Bosse gebeten, mich beseitigen zu dürfen. Weil ich schwach wäre – weil mein Sohn sich gegen mich gestellt hat. Doch sie haben ihm die Erlaubnis verwehrt, also hätte er auf diese Art niemals meinen Platz einnehmen können. Nicht, wenn er mich getötet hätte.«

Tommaso musterte seinen Vater nun interessiert. Ob er wollte oder nicht, das, was Salvatore da sagte, passte gut zusammen.

»Dass ich hierher zurückgekommen bin, ohne dich, kam ihm daher sehr gelegen. Er musste nur dafür sorgen, dass du in sein Spiel mit einsteigst.«

Tommaso verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass der Plan mit der Zirkusshow aus seiner Feder stammte. Aber er erinnerte sich zu genau an Anthonys Freude, als er ihn um Hilfe gebeten und wie bereitwillig er ihm seine Leute zur Verfügung gestellt hatte. Alle. Nur er selbst hatte nicht in Erscheinung treten wollen. In seinem Magen breitete sich Übelkeit aus.

»Im Grunde musste er zwei Hürden nehmen: Mich ausschalten und dich aus dem Rennen um meine Nachfolge befördern.« Salvatore machte eine bedeutsame Pause, bevor er weitersprach. »Denn natürlich wäre es dein Todesurteil gewesen, wenn du mich in dieser Nacht tatsächlich erschossen hättest.«

»Also hat er mich überredet, es zu tun, damit ich ihm den Weg freiräume. Das meinst du doch, oder? Ich hätte dich getötet, und die Kommission dann mich.«

»Ich sag doch, du könntest der Größte werden!« Salvatore lehnte sich zufrieden schmunzelnd zurück.

»Also hast du mir praktisch das Leben gerettet, indem du verschwunden bist?«, schlussfolgerte Tommaso pragmatisch.

»Na ja. Das war nicht mein Verdienst, denn ich war ja nicht fähig, mich wegzubewegen. Es war Alessandro. Joe hat ihn vor seinem Tod entsprechend instruiert. Er war immer schon mit Voraussicht gesegnet gewesen.«

Tommaso stieß ein heiseres Lachen aus, erwiderte jedoch nichts.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137040
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Mafia Romantikthriller Romantik Spannung Liebe Mafiaromance Krimi Thriller

Autor

  • Charlene Vienne (Autor:in)

Charlene Vienne wurde 1973 in Wien geboren, wo sie immer noch lebt. Sie ist Mutter zweier erwachsener Söhne. Ihre Liebe zum Lesen schenkte ihr in einer harten Zeit die Möglichkeit, dem Alltag für eine Weile zu entkommen. Doch recht schnell stellte sich heraus, dass es noch besser war, selbst aktiv zu werden. Also begann sie, einige Ideen niederzuschreiben und wagte schließlich sogar den Weg zur Veröffentlichung. Ihr Anliegen ist es ihren Lesern eine schöne Auszeit zu schenken.