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BERÜHRUNG

von Alexander Chrispens (Autor:in)
307 Seiten

Zusammenfassung

Der Roman „BERÜHRUNG“ ist ein sehr persönliches, mit großer Aufrichtigkeit und erkennbarem schriftstellerischem Talent verfasstes Werk. Der Roman beruht auf realen Begebenheiten aus dem Leben des Autors und liest sich äußerst kurzweilig. Ein Mensch, der dem Glauben gegenüber völlig gleichgültig ist, wird eines Tages von Gott besucht, welcher ihm ein Geheimnis offenbart...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Teil I. Chronik eines gewöhnlichen Lebens

Was führt den Menschen zum Glauben? Tragische Fehler, Leiden, kurze Glücksmomente oder vielleicht eine lange Kette von Übereinstimmungen, die wir Zufälle nennen?

Bei der Auseinandersetzung mit dem Leben der Hauptfigur des Romans „BERÜHRUNG“ hätte sich möglicherweise auch Sigmund Freud, einer der Begründer der Psychoanalyse, genau diese Frage gestellt, doch ihm war dies leider nicht GEGEBEN …

Es kann am Rande des Abgrunds geschehen oder auch dann, wenn man sich wie gerädert von der Alltagsroutine vor Müdigkeit aufs Bett wirft und die Augen schließt … In wenigen kurzen Momenten läuft dein ganzes Leben vor dir ab, dessen hellste und sonderbarste Ereignisse vom Bewusstsein nach oben gespült werden: die Bekanntschaft mit einer geheimnisvollen, gleichsam aus dem Nichts hervorgetretenen inneren Stimme, die dir unvermutet deinen tatsächlichen Geburtstag offenbart … Es ist unplausibel und schwierig, all dem, was hier vor sich geht, Glauben zu schenken, und doch ist dies nicht das Ende, sondern erst der Anfang des dornenreichen Pfades der Erkenntnis.

Dem einen oder anderen mögen die Ereignisse, die der Roman beschreibt, unbedeutend vorkommen, uninteressant im Vergleich mit dem eigenen Leben; doch gerade sie, diese unfassbaren Ereignisse, die sich mit mir zugetragen haben, haben meine Vorstellungen über das Leben und über menschliche Beziehungen vollständig auf den Kopf gestellt …

Mir wurde klar, dass zwischenmenschliche Beziehungen ohne geistige Selbstbildung niemals die wahre Größe erlangen können, zu welcher die Erkenntnis den Menschen führt. Doch zur Erkenntnis gelangt man nur über Leid und Entdeckung, Aufstieg und Fall, über Einsamkeit und geistige Qual. Ja, der Geist, der lebendige, jedoch blind im menschlichen Körper – einem vollkommenen, wenngleich vergänglichen Körper – lebende Geist, der mit den Augen des Verstandes sieht – eines allmächtigen, wenngleich beschränkten Verstandes …

Kapitel 1. Der Mensch wurde geboren

Wir beginnen in Zentralasien, im südöstlichen Kasachstan, an den Südhängen des Tarbagataj-Gebirges, in der Ortschaft Urdzhar – einer Kleinstadt mit ungefähr 20.000 Einwohnern. Es ist Freitag, der 21. Dezember 1973, sieben Uhr morgens. Einer jungen Frau, die vor Schmerzen im Bauch aufgewacht ist, wird klar, dass die Stunde der Geburt ihres Kindes gekommen ist …

Ihr jüngerer Bruder, der zu dieser Zeit zu Gast bei seiner Schwester war, rennt auf der Suche nach Hilfe zu den Nachbarn. Wohin er rennen muss, weiß er: In der Nachbarschaft wohnt die Krankenschwester Maljuscha (Amalia), ein überaus gutmütiger und stets hilfsbereiter Mensch.

Maljuscha:

– Vanja1! Ich bin doch bloß Krankenschwester, ich habe noch nie entbunden und habe Angst davor. Komm, ich renne zu deiner Schwester Ella und du zu Emma Kondratjevna2, sie ist Gynäkologin und muss zuhause sein, wenn sie keine Nachtschicht hat.

In diesem Moment hält ein vorbeifahrendes Auto an. Die Männer, die darin sitzen, sehen die beunruhigten Leute auf dem Hof und fragen:

– Was ist denn bei euch los?

Vanja:

– Meine Schwester hat ihre Wehen, wir brauchen schnellstens einen Arzt!

Die Männer fragen:

– Und wo ist Romka3?

– Auf Dienstreise …

– Wir bringen sofort Emma Kondratjevna her!

Glücklicherweise kam Emma Kondratjevna gerade aus dem Krankenhaus nach Hause, sie hatte Nachtdienst gehabt. Fünf Minuten später betrat die Ärztin das Haus.

Das Kind wird schnell geboren. Um sieben Uhr dreißig morgens erblickte ein Junge das Licht der Welt. Dieser Junge war ich: der erste Sohn seiner Eltern, das zweite Kind in der Familie, das erste war meine ältere Schwester Elvira, ein Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen, die bei hellem Sonnenlicht mit einem interessanten Grünstich funkelten …

Meine Mutter ist eine bemerkenswerte Frau, sehr hübsch, mit dichten schwarzen, sich kräuselnden Haaren und braunen Augen – sie würde ihr Leben für ihre Kinder opfern!

Mein Vater ist ein sanfter und offener Mensch, ein Mann von kleiner Statur mit sonnenfarbenen Haaren und blauen Augen. Zu Hause trifft man ihn in der Regel nur selten an: Er war Versorgungsleiter einer Kolonne von ungefähr 400 LKWs und häufig auf Dienstreisen …

Die Wurzeln unserer Familie und unseres Nachnamens lagen in Deutschland, denn alle meine Vorfahren waren deutsche Aussiedler. Die kurze Geschichte ihrer Übersiedlung nach Russland hatte ich mit großem Interesse studiert: „Im 18. Jahrhundert begann auf Einladung (Manifest vom 4. (15.) Dezember 1762) der russischen Zarin Katharina II. (der Großen) die Übersiedlung deutscher Bauern, der sogenannten Kolonisten, auf freie Ländereien im Wolgagebiet und später im nördlichen Schwarzmeergebiet; viele dieser Bauernfamilien blieben über eineinhalb Jahrhunderte lang an ihren kompakt angelegten ersten Wohnorten und bewahrten die deutsche Sprache (natürlich in einer konservierten Form im Vergleich zu dem Deutsch, das in Deutschland gesprochen wurde), den Glauben und Elemente ihrer nationalen Mentalität. In der Regel waren sie Angehörige der katholischen oder der evangelisch-lutherischen Kirche“ („Wir sind Kinder des Planeten Erde“, Mariam Ibragimova).

Die Eltern meines Vaters hatte ich niemals zu Gesicht bekommen, denn sie waren lange vor meiner Geburt gestorben. Sein Vater Alexander Fedorovitsch4 Chrispens war ein kräftiger und nachgiebiger Mann von kleiner Statur, er hatte dunkelblondes Haar und einen ausgeprägten Sinn für Humor. Auch er war ein deutscher Übersiedler und stammte aus einer wohlhabenden Familie aus dem Wolgagebiet. Im Alter von 13 Jahren teilte er seinem Vater (Johann Friedrich Chrispens, geb. 1860) mit, dass er sich fortbilden möchte, und bat ihn um seinen Erbteil, woraufhin er der Erzählung meines Vaters zufolge folgende kategorische Antwort seines Vaters erhielt: „Nein, du bleibst hier.“

Als Antwort darauf verliebte sich mein Großvater in meine Großmutter, Amalia Reinholdovna Metzler, sie wurde 1903 geboren und war zwei Jahre älter als mein Großvater. Das dunkelhaarige hübsche Mädchen stammte aus ärmlichen Verhältnissen und arbeitete als Dienstmädchen bei meinem Urgroßvater. Als ihm die Gerüchte über ihre Liebesbeziehung zu Ohren kamen, jagte er meinen Großvater aus dem Haus.

1917 brach der Bürgerkrieg aus. An die Macht kamen die Bolschewiken, die alle mehr oder weniger wohlhabenden Menschen „entkulakisierten5“, d. h. sie nahmen ihnen alles weg und zerstörten die durch Arbeitseinsatz erwirtschafteten Besitztümer. „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“, lautete ihre Losung.

Eine neue Zeit mit neuen – kommunistischen – Ansichten brach an, und diejenigen, die ihren bisherigen Überzeugungen, insbesondere ihrem Glauben, nicht entsagten, wurden erschossen oder ins Arbeitslager verbannt. So verschwand auch mein Urgroßvater, und niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Zu jener Zeit verließen viele vor Entsetzen fluchtartig das Land und ließen dabei alles stehen und liegen, ohne darüber nachdenken zu können – Angst bemächtigte sich der Menschen …

Als mein Großvater erfuhr, dass seine Familie Russland den Rücken kehrte, eilte er ihnen nach, doch als er in der Schlange vor dem Dampfschiff Richtung Amerika stand, vernahm er plötzlich einen drohenden Befehl: „Die Grenze wird geschlossen. Alle, die sie noch nicht passiert haben, gehen zurück!“ So blieb mein Großvater in Russland, und er und meine Großmutter heirateten.

Doch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden sie 1941 als Angehörige der deutschen Nation auf Befehl Stalins nach Kasachstan verbannt, wo sie sich im Ort Alekseevka im Urdzharsker Bezirk der Region Semipalatinsk niederließen. Dieser war sieben Kilometer vom schönen Tarbagataj-Gebirge entfernt.

Doch das Leben meines Großvaters kam nicht zur Ruhe. Er wurde ins Arbeitslager geschickt, in die russische Stadt Tscheljabinsk, aus der er 1942 davonlief. Nachdem er 2000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatte, fand der Großvater seine Familie, doch er versteckte sich lange Jahre im Tarbagataj-Gebirge.

An jene Zeit erinnerte er sich ungern, er erzählte niemandem, was er durchleben musste, und machte ständig ein Geheimnis daraus, aus welcher Familie er stammte und welche weiteren unerfreulichen Einzelheiten das Leben für ihn bereitgehalten hatte. Ihm war schwer ums Herz, aufgrund von Hunger und Kälte hatten sie vier Kinder verloren, und die Großmutter meinte häufig: „Wäre euer Vater nicht zurückgekommen … wie viele wären wohl am Leben geblieben?“

Meine Großeltern waren sehr gläubige Menschen, sonntags versammelten sie sich heimlich in den Häusern zuverlässiger Freunde und feierten Gottesdienst: Sie sangen Psalmen und beteten zu Gott.

Nach dem Krieg wurde 1949 ihr elftes Kind geboren: ihr Sohn Reinhold, der im Alltag wegen der schwierigen Aussprache seines Namens mit dem russischen Namen „Roman“ angesprochen wurde. Das war mein Vater, der niemandem ähnelte und ein Junge mit sonnenrotem Haar war. Reinhold konnte vor der Schulzeit kein einziges Wort Russisch, in die erste Klasse begleitete ihn seine ältere Schwester Erna, die alles für ihn übersetzte. Die anderen Kinder in der Schule lachten meinen Vater aus und nannten ihn häufig „Faschist“.

In der neunten Klasse verliert mein Vater seine Mutter; nach einer längeren Krankheit scheidet meine Großmutter aus dem Leben. Jener Tag blieb meinem Vater für immer in Erinnerung. Er wohnte zu dieser Zeit in einem Nachbardorf und schloss die neunte Klasse der dortigen Mittelschule ab, da es in ihrer Siedlung nur eine unvollständige Mittelschule gab. Mein Vater lebte in einer Wohnung und hörte eines Tages plötzlich im Traum, wie jemand ihn beim Namen rief: „Reinhold! Reinhold!“ Dazu klopfte es ans Fenster. Er rannte auf die Straße hinaus, dort jedoch war niemand …

Am folgenden Tag kam der Schuldirektor ins Klassenzimmer und bat meinen Vater, mit ihm nach draußen zu gehen. Sie standen einander gegenüber. Der Direktor stieß einen tiefen Seufzer aus und meinte mitfühlend: „Reinhold! Seien Sie stark, heute Nacht ist Ihre Mama gestorben …“

Nach Beendigung der Schule schreibt mein Vater sich am Fahrzeugmechaniker-Technikum ein, beendet es erfolgreich und erhält ein Diplom. Im Alter von 20 Jahren, als er seinen Wehrdienst in der Sowjetischen Armee leistet, wird er in einem Telegramm über den Tod seines Vaters Alexander Fedorovitsch unterrichtet.

Meine Großeltern mütterlicherseits, die bis 1941 in der Ukraine im Donbass gelebt hatten, waren ebenfalls Nachfahren deutscher Aussiedler.

Der Vater meiner Mutter hieß Ivan Ivanovitsch Gewner (geb. 1912). Mein Großvater erweckte den Eindruck eines strengen und anspruchsvollen Menschen. Er war ein großer Mann, der Ordnung in allen Dingen schätzte. Häufig war er bei uns zu Gast, denn wir lebten im Bezirkszentrum, wo sich das Krankenhaus befand, in dem er behandelt wurde. Mein Großvater litt unter Schmerzen in den Beinen und hatte ernsthafte Probleme mit dem Magen; diese Krankheiten hatte er sich während des Krieges zwischen der UdSSR und Deutschland zugezogen.

Wie alle Deutschen, die zu jener Zeit in der Sowjetunion lebten, wurde auch er ins Arbeitslager geschickt, wo diese armen, völlig unschuldigen Menschen vom Morgen bis zum späten Abend wie Gefangene arbeiteten, vor Müdigkeit und Krankheit sämtliche Kräfte einbüßten und dabei nicht genug zu essen bekamen. Viele von ihnen hielten das nicht aus und kamen ums Leben. Mein Großvater hatte 1944 ein tödliches Stadium erreicht: Er konnte sich nicht mehr fortbewegen. Da warfen ihn die Soldaten mit den folgenden Worten aus dem Lager: „Stirb doch, wo du willst!“; er jedoch überlebte, indem er auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Müllhalden streifte, ohne zu begreifen und entsetzt darüber, wie man all das essen konnte. Doch er aß es …

Die Mutter meiner Mutter, meine Oma Maria Fedorovna Klein (geb. 1915), war eine kleine, dürre und überaus nett anzusehende Frau mit prächtigen langen weißen Haaren, die zu einem Zopf geflochten waren. Die Erinnerung an sie ist von steter Wärme umgeben: von ihrem Blick und der Berührung ihrer Hände. In meiner Großmutter vereinigten sich alle Qualitäten einer wunderbaren Frau, die kein leichtes Leben gehabt hatte. Mit 20 Jahren verlor sie ihren Mann, der im Don ertrank, als er beim Baden der Pferde in einen Strudel geriet. 1941, als der Krieg ausbrach, wurde die Großmutter mit der kleinen Tochter im Arm und den Kindern der Schwester nach Kasachstan verbannt, wo Hunger und Kälte auf sie warteten.

Doch die ansässigen Bewohner waren gutmütig zu den deutschen Übersiedlern und gaben ihnen wenigstens etwas Brot, damit sie den Winter überstehen konnten …

Nach dem Krieg war mein Großvater lange Zeit auf der Suche nach seiner Familie aus erster Ehe: nach seiner Frau Erna und seiner Tochter Gerda, doch überall bekam er dieselbe Antwort: „Ihre Familie ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.“ Er war am Boden zerstört.

Doch 1948 traf mein Großvater zum Glück meine künftige Großmutter, sie kamen zusammen und bekamen eine Tochter, die sie Ella nannten: ein Mädchen mit lockigen schwarzen Haaren, das einer Zigeunerin ähnlich sah. Das war meine Mutter.

Die makabre Suche nach seiner ersten Familie endete für meinen Großvater 1951, als er eine Nachricht darüber erhielt, dass ein Fehler unterlaufen war und dass seine Familie am Leben war.

Mein Großvater konnte sich ein Leben ohne unsere Großmutter allerdings nicht mehr vorstellen und es gab keine Möglichkeit, irgendetwas zu ändern.

Und dann kam ich – mit meinen dunkelblauen Augen blicke ich in andere Augen und lerne die Welt um mich herum immer besser kennen. Sie war wunderbar, diese Welt: hell und klar, alle waren mit etwas beschäftigt, die einen waren in Eile, die anderen ließen sich Zeit.

Ich spiele mit Kindern, die genauso sind wie ich: unbesorgt, glücklich, unbändig, sie lachen, weinen und vergessen dann doch wieder, leben weiter, indem sie das sie Umgebende aufsaugen wie ein Schwamm, das Gute wie das Schlechte …

Schon stehe ich sicher auf beiden Beinen, laufe durch den Hof, ergreife den Kater, trage ihn, möchte etwas sagen, kann aber nicht, lasse den Kater fallen, laufe zum Hund namens Morjak, streichle ihn: Die Hände gleiten über das kurze weiße Fell, er freut sich über alles, schleckt als Antwort mein Gesicht ab, als würde er es waschen, schmiegt sich an mich, wieder möchte ich etwas sagen, versuche es, doch es geht nicht …

Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln beobachtet mein Großvater das sich ihm bietende Bild …

– Elja6! Was denkst du? Warum spricht Sascha7 kein einziges Wort? Das ist doch nicht normal, der Junge ist schon drei Jahre alt und hat noch kein Wort herausgebracht, er wird doch nicht taubstumm sein?

Mama:

– Wie können Sie nur, Papa? Er ist doch noch klein! Sie wissen doch, dass bei ihm alles anders ist: Er hat sich geweigert, in den Kindergarten zu gehen, hat tagelang geweint und keinen Bissen gegessen. Ich dachte zuerst, er würde sich daran gewöhnen, aber nach zwei Wochen Quälerei hat mein Herz es nicht mehr ausgehalten, es hat aufgegeben und ich habe meine Arbeit gekündigt.

Großvater:

– Ich mache mir Sorgen, geh mit ihm zum Arzt …

Der Arzt meint:

– Ich habe mir Ihren Kleinen angesehen, mit ihm ist alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen, so etwas kommt vor, er wird schon noch sprechen.

Der Kleine rennt mit dem Ball in der Hand in die Sommerküche, wo die Frau das Mittagessen zubereitet.

Er ruft:

– Mama! Ball!

Da ruft auch die Mutter verblüfft vor Verwunderung und Freude:

– Sascha! Was hast du gesagt? Du hast gesprochen! Deine ersten Worte und auch noch auf Deutsch! Hat Oma Lida dir das beigebracht? (Oma Lida ist die Stiefmutter meines Vaters, die vor dem Tod meines Großvaters diesem versprochen hatte, sich um seinen jüngsten Sohn Reinhold zu kümmern und die ihr Versprechen gehalten hatte.) Na endlich hast du angefangen zu sprechen, mein Söhnchen …!


  1. Koseform für Ivan (dt. Johann(es)).

  2. In Russland ist es seit langem gängig, Erwachsenen bei der Anrede Achtung entgegenzubringen, indem dem Vornamen der Vatersname hinzugefügt wird, der (wie auch der Vorname) je nach Kasus und Genus dekliniert wird.

  3. Koseform für Roman.

  4. In der russischen Namensgebung wurden fremdländische Namen häufig durch die russischen Versionen ersetzt, z. B.: Friedrich durch Fedor, Johann durch Ivan usw.

  5. Unter „Entkulakisierung“ versteht man die gewaltsame Enteignung wohlhabender Bauern (der sog. „Kulaken“) durch den Staat.

  6. Koseform für Ella.

  7. Sascha, Saschenka, Saschka, Saschok, Sanja, Sanek, San, Sanka, Sander, Schurik, Schurka, Alex …: Umgangssprachliche, teils zärtlich-verniedlichende Koseformen für Alexander.

Kаpitel 2. Erste Entdeckungen

Ich und meine ältere Schwester Elvira waren häufig bei unseren Großeltern zu Gast, die 40 Kilometer von uns entfernt im Ort Blagodatnoe wohnten, der fünf Kilometer vom malerischen Tarbagataj-Gebirge entfernt lag.

Immer wenn ich aus ihrem Haus trat, blickte ich in die Berge. Mächtig waren sie, ihr Relief bizarr, und sie hinterließen bei mir einen unvergesslichen Eindruck. Es schien, als könne man nach Erreichen der Bergspitze die Wolken erklimmen, so als würden die Wolken dort beginnen … Dort, wo das Unbekannte war, wohin es einen einfach unaufhaltsam zog. Diese Welt und alles, was sie ausmachte, zog mich in ihren Bann. Ich hatte viele Fragen an meine weisen und gutmütigen Alten, und ich hörte oft als Antwort: „Saschenka, du stellst viele Fragen, auf die nicht einmal wir, deine Großeltern, antworten können. Warte ein wenig, bis du etwas größer bist, dann erfährst und begreifst du alles selbst.“

Wenn ich meine Großeltern betrachtete, sah ich stets ihre vollkommene Ruhe, und nicht nur einmal überkam mich folgender Gedanke: Warum sind alte Menschen so ruhig?

Eines Tages, als ich dem Großvater beim Kaninchenfüttern zusah, meinte ich verträumt zu ihm:

– Opa! Ich möchte auch, dass wir zu Hause Kaninchen haben …

– Nun ja, ich kann dir welche schenken, – meinte mein Großvater lächelnd.

– Wirklich?

– Natürlich, wenn du damit zurechtkommst. Wir, die Menschen, sind nämlich verantwortlich für die, die wir zähmen, das ist schwierig, Enkelchen, aber wenn du darauf bestehst, wenn du von dir überzeugt bist, dann von mir aus gerne!

– Ich bin schon groß, Opa! Und zu Hause füttere ich unseren Morjak schon ganz alleine!

Da beugte sich mein Großvater zu mir und meinte:

– Dann soll es so sein, ich vertraue dir, doch du solltest wissen, dass das ein lebendiges Wesen ist, das fühlen und verstehen, aber nicht sprechen kann. Deswegen musst du behutsam mit ihm umgehen und es rechtzeitig füttern, die Tiere leiden nämlich wie wir unter Hunger, verstehst du, mein Junge?

Ich blickte das mir nur allzu gut bekannte Gesicht mit dem grauen Schnurrbart eindringlich an und meinte:

– Na gut, Opa, ich verspreche es.

– Und noch etwas, Sascha. Du musst sein wie ein Erwachsener, weil dein Vater ständig unterwegs ist, musst du selbst mit Hand anlegen und deiner Mutter auf dem Hof helfen. Ab und zu willst du vielleicht mit deinen Freunden spielen, musst dich aber gerade um jemanden kümmern …

Ich erwiderte:

– Opa, aber ich will mich doch um jemanden kümmern!

So kam ich zu meinem ersten Haushalt, über den ich mich unendlich freute.

Zu jener Zeit hatten meine Eltern schon vier Kinder: Nach mir wurde 1977 meine dunkelhaarige braunäugige Schwester Marina geboren, und danach, ein Jahr später, mein blondes Brüderchen Andrej, auch er mit braunen Augen. Im Alter von sechs Jahren, als ich hier und da schon etwas begreifen konnte, sah ich, dass mein Vater zu trinken anfing und oft länger auf der Arbeit blieb.

Meine Mutter versuchte mit aller Kraft, sich zurückzuhalten, geriet jedoch immer häufiger außer sich, und ich hörte dabei zu …

Mama:

– Habt ihr schon wieder gefeiert? Du hast vier Kinder und gehst saufen, und wer soll sie erziehen?! – sie beginnt zu weinen.

Mein Vater lässt sich zu uns auf den Boden fallen, als sei nichts gewesen, er spielt mit uns und lässt uns wie ein Pferdchen auf seinem Rücken reiten, während er auf allen Vieren durchs Zimmer kriecht …

Mama:

– Sieh nur: Der Hof verfällt, die Tiere sind nicht gefüttert; ich hätte niemals gedacht, dass ein Mensch, dass ein Mann so tief fallen kann! Wenn du schon nicht an dich denkst, dann denk wenigstens an die Kinder: Sie müssen doch weiterleben! Mein Vater hätte so etwas niemals getan!

Vater antwortet:

– Alle sagen zu mir, dass du mich herumkommandierst, aber ich bin ein Mann! Kann ich es mir etwa nicht erlauben, mit Freunden zusammenzusitzen!? Du lässt das hier ja nicht zu, also bin ich bei ihnen, bei Albert im Übrigen …

Meine Mutter hört ihm zu, schweigt und antwortet dann:

– Das hätte gerade noch gefehlt, dass du deine Alkis hierher bringst!

– Was ist das für ein Haus!? In dem man weder rauchen, trinken, noch sich mit Freunden unterhalten darf!

– Wenn du ein solches Haus wolltest, hättest du nie heiraten und eine Familie gründen dürfen!

– Dich hätte ich wahrscheinlich nicht heiraten dürfen! Das sind doch alles nur zeitlich bedingte Irrtümer: heiraten, eine Familie gründen, Kinder bekommen, über menschliche Gefühle verliert man hingegen kein Wort …

– Niemals hätte ich gedacht, dass du so weit gehst, wenn dein Vater gehört hätte, was du redest und wie du aussiehst, du riechst wie ein Fass Wein, denk an deine Worte: „Ich trinke nur Rotwein und höre nach der Hochzeit mit dem Rauchen auf!“

– Und wer ist daran schuld? Das ganze Leben lang nichts als Stress. Du verstehst rein gar nichts! Du schwebst irgendwo in den Wolken, komm runter auf die Erde und schau, wie die anderen leben, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist: Alle Geschäfte enden am Tisch, und wer nicht mitmacht, bekommt die Ersatzteile nicht rechtzeitig, das heißt, dass die Fahrzeuge länger in der Werkstatt stehen, das wiederum führt zum Nichterfüllen des Plans unserer Firma und letzten Endes zur Streichung der Provisionen, des 13. Gehalts usw … Darin besteht doch die staatliche Politik!

– Ich schwebe nirgendwo herum, aber ich sehe, dass du dich um den Verstand säufst …

Die Kinder spielen auf der Straße. Unter ihnen ist ein Junge, um ihn herum sind lauter Mädchen, die alle Freundinnen meiner Schwester Elvira sind. Sie spielen mit Puppen, ich mit Spielautos, wir rennen, lärmen und unterhalten uns. Ich bemerke den Unterschied zwischen uns, unsere unterschiedlichen Interessen.

Aufmerksam schaue ich mir Katja1 an … Katja ist ein Jahr jünger als ich, ein fröhliches Mädchen mit hellen Haaren, die zu einem Zopf geflochten sind, und großen blauen Augen …

Unsere Blicke treffen sich und wandern schamvoll sofort wieder zu den Spielzeugen. Nach einiger Zeit bleibt mein Blick wieder an Katja haften und ich sehe sie mir aufmerksam an: Sie ist anders, sie bezaubert mich, mein Interesse ist geweckt … Wir spielen Fangen; ich versuche mit aller Kraft, Katja zu fangen, um sie zu berühren.

Katja:

– Sascha! Du versuchst die ganze Zeit, nur mich zu fangen, das ist ungerecht!

– Ich kriege immer dich, weil du nicht so schnell rennst wie die anderen – ich kann sie nicht fangen, sie rennen zu schnell …

– Du bist doch ein Junge, Jungs sind stärker und schneller als Mädchen, sagt meine Mama …

Ich fange an zu nuscheln, will mich rechtfertigen:

– Aber sie sind älter als ich …

Ich konnte nicht zugeben, dass die Hauptursache darin lag, dass ich neben Katja sein wollte. Es war, als ob sie es fühlen konnte, sie musste mich nicht einmal ansehen und blickte zur Seite, wenn unsere Augen aufeinandertrafen.

Unsere Familien waren miteinander befreundet, und bei einer Unterhaltung unserer Mütter hörte ich, wie Tante Ljuba zu meiner Mutter sagte:

– Elja! Wie hältst du diesen Kindergarten nur aus? Wenn sie sich bei uns zu Hause treffen, dreht sich mir der Kopf … Meine Mutter antwortete:

– Ich weiß nicht, bei mir kommt so etwas nicht vor. Ich habe sie einfach alle unheimlich gern, sie sind alle so verschieden, ihre Welt interessiert mich, sie fasziniert mich!

Eines Tages, als wir Verstecken spielten, versteckte ich mich mit Katja bei uns auf dem Heuboden. Während wir in der Ecke saßen und uns eng aneinanderschmiegten, trafen sich unsere Blicke, ich wandte meine Augen nicht von ihr ab und Katja dieses Mal auch nicht. Dann kam sie noch näher an mich heran und küsste mich, ich blickte sie fragend an …

Katja meinte belehrend:

– Das ist ein Kuss; so küssen sich die Erwachsenen, die Mamas und die Papas. Ich habe meine Eltern beobachtet, sie haben sich so geküsst und miteinander geflüstert, wir können es auch ausprobieren und „Mama und Papa“ spielen … Hast du Lust?

– Und wie geht das?

– Ich bin die Mama und du der Papa, du gehst zur Arbeit, und ich werde auf dich warten, Sascha: das Essen kochen, die Küche und das Schlafzimmer richten …

Plötzlich konnte man Schritte vernehmen, die immer näherkamen, und dann die gerufenen Worte:

– Hier seid ihr also!

Es waren unsere älteren Schwestern, meine Schwester Elvira und Maria, die ältere Schwester Katjas. Die beiden waren im selben Alter. Maria war ein sehr hübsches Mädchen, das dunkelblonde Haare und dieselben großen blauen Augen wie seine jüngere Schwester hatte.

Maria:

– Wir suchen euch überall und ihr habt euch hier versteckt!

Katja:

– Und wir wollen nicht mit euch spielen, wir spielen ein anderes Spiel …

Elvira:

– Was für eins?

Katja:

– Mama und Papa!

Maria:

– Was für ein Spiel ist denn das?

Katja:

– Ich bin die Mama und Sascha der Papa! Ich koche ihm zu essen, und er geht zur Arbeit und verdient Geld für uns, wir kümmern uns zusammen um unsere Familie …

Elvira:

– Oh! Und wo sind eure Kinder?

Katja überlegte kurz und schlug dann vor:

– Ihr könnt unsere Kinder sein!

Maria lachte verwundert:

– Kinder, die älter sind als ihre Eltern? Wo gibt es denn so was?

Katja legte die Stirn in Falten:

– Bei uns gibt es das! Ich und Sascha, wir lieben einander, wir haben uns schon geküsst!

Maria:

– Was? Katka! Wenn das die Mama erfährt, dann kriegst du eins von ihr …

Katja:

– Sie erfährt es aber nicht, wenn du es ihr nicht erzählst! Also, spielt ihr jetzt mit uns oder nicht?

Neugierig schaute ich mir die gesamte Szene an, und sie war überaus interessant für mich: Ich sah, wie unsere älteren Schwestern schrecklich erstaunt waren und uns beim Näherkommen wie ein Wunder betrachteten, während sie schweigend Blicke untereinander austauschten, schallend lachten und uns dann einstimmig hänselten:

– Bräutigam-Braut, das Haus halb gebaut, doch dann stürzt es ein und die Braut fällt rein!

Katja sprang aus der Hocke auf und meinte beleidigt:

– Sascha, komm, wir spielen ohne sie!

Maria:

– Na gut! Ich sage Mama nichts, kommt wir spielen!

Auf dem Heuboden bauten wir uns ein Haus aus dem Material, das wir finden konnten, und teilten die Zimmer ein. Wir waren so in unser Spiel vertieft, dass wir nicht merkten, wie eifrig wir in unsere Rollen hineinwuchsen, in denen jeder seine Pflichten erfüllte: die Eltern genau wie die Kinder, ab und zu beobachteten die Kinder die Eltern und die Eltern regten sich auf …

Katja ging in ihrer Rolle förmlich auf:

– Ja schämt ihr euch denn nicht?! Ihr seid unsere Kinder, ihr dürft uns nicht verfolgen und beobachten, was wir machen …

Die Schwestern lachten und nannten uns erneut „Bräutigam und Braut“ … Ich und Katja regten uns auf und rannten vor ihnen davon, wir versteckten uns im Vorgarten, im Gemüsegarten und in den Obstgärten; unsere Schwestern suchten uns, doch manchmal hatten sie genug davon und beschäftigten sich mit etwas anderem: Sie gingen fort, um mit ihren Puppen zu spielen und vergaßen uns …

Einmal versteckte ich mich mit Katja bei uns im Obstgarten; dort, wo die eineinhalb Meter hohen Kirschbäume in zwei Reihen wuchsen, und in der Ecke schwarze Johannisbeersträucher, die von hohem Gras überwuchert waren. Dort saßen wir und lachten über unsere Schwestern: wie sie sich umsonst bemühten, uns zu finden, und dann verschwanden, ohne uns entdeckt zu haben …!

Ich und Katja schauen uns an, danach küssen wir uns. Es war ein Kuss zwischen Kindern, und doch zog mich irgendeine erregende Unkenntnis an wie ein Magnet, und zusammen mit einer unverständlichen Hitze im Bauchbereich stellte sich mir die Frage: Wodurch fühlen sich erwachsene Männlein und Weiblein zueinander hingezogen?

Plötzlich sagte Katja:

– Sascha, komm wir probieren es aus wie in echt! – und sie begann sich auszuziehen.

Ich erstarrte bei ihrem Anblick. Zwar war mir bereits früher der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen bewusst geworden, niemals jedoch in einer solchen Nähe. In mir kam etwas zum Bersten, übergoss mich mit Hitze, wir fielen umschlungen aufs Gras und zwischen uns geschah das, was zwischen erwachsenen Männlein und Weiblein geschieht …

Natürlich war alles kindlich, unbeholfen und schlecht, und wir hätten uns am liebsten in Luft aufgelöst, und doch traf ich mich mit Katja immer wieder, ohne dass die anderen es wussten, wir lagen stundenlang umschlungen herum und unterhielten uns über alles Mögliche; für mich war es sehr einfach, weil Katja für ihr Alter ein sehr entwickeltes Mädchen war, sie konnte schon viele Wörter lesen und kannte das Alphabet, kurzum: Für mich war es unglaublich interessant mit ihr …

Eines Tages, an einem heißen Tag im Juli, kam Katjas Mutter Tante Ljuba ins Haus. Sie sah mich irgendwie seltsam an, sagte jedoch kein Wort und schlüpfte an mir vorbei in die Sommerküche. Ihr Besuch machte mich sehr neugierig, doch ich hörte nur, wie Tante Ljuba und meine Mutter über etwas tuschelten, danach klirrten die Teller, und Tante Ljuba ging mit dem selben Gesichtsausdruck, mit dem sie gekommen war, aus dem Haus. Während meine Mutter sie begleitete, hatte sie ihren Blick fest auf mich gerichtet …

Danach kam sie auf mich zu:

– Mein Söhnchen, ich muss mit dir reden … Wir haben von deiner Beziehung zu Katja erfahren, sie ist jetzt krank, sie hat Bauchweh, und ihre Schwester Maria hat erzählt, warum sie eventuell Bauchweh hat … Also, Sascha, du bist schon ein großer Junge und musst verstehen, dass solche Beziehungen in eurem Alter nicht normal sind, davon werden Kinder geboren.

Doch die Natur hat vorgesorgt und ihr könnt noch keine Kinder bekommen, doch die Zeit wird kommen, in der das geschehen kann, und ihr, wo ihr doch selbst noch Kinder seid, bekommt Kinder. Du verstehst doch, was dann los ist … Saschenka, mein Söhnchen, richte dich und Katja nicht zugrunde! Ihr müsst euer Leben als Kinder leben, und in ihm darf es keine solchen Beziehungen geben, verstehst du? Euer Leben muss rein sein, mit reinen Gedanken und reinen Taten …

Und wenn ihr erwachsen werdet, dann könnt ihr Bräutigam und Braut sein, ihr heiratet und erst dann habt ihr solche Beziehungen und bekommt Kinder – so wie du und Katja. Sascha! Ich will dich nicht bestrafen. Ich fühle, dass du alles verstanden hast, ich glaube an dich und vertraue dir, du hast mich bis heute noch nie betrogen und tust es hoffentlich auch nie. Versprich mir, dass du Katja nie wieder anrührst und all meine Wünsche erfüllst. Versprichst du es, mein Sohn?

Während ihres Monologs war es, als würden in meinem Kopf die Glocken läuten. Die Worte meiner Mutter berührten mich tief in meiner Seele und ich flüsterte schluchzend und vor Tränen um Atem ringend:

– Ich verspreche es, Mama …

Mit Katja waren wir weiterhin befreundet, wir trafen uns, unterhielten uns, und nur in seltenen Fällen verrieten unsere Blicke, dass irgendeine seltsame Sehnsucht unsere Seelen ergriffen hatte … Doch niemals kamen wir einander wieder näher.

Die Zeit verflog, der Sommer ging schon dem Ende zu, und es war schade um ihn: Die Schulzeit rückte unaufhaltsam näher. Ich beobachte meinen Vater, wie er vor dem Tor auf einen Dienstwagen wartet und dabei eine Zigarette raucht. Endlich hält ein Auto neben ihm, und mein Vater lässt die Zigarette fallen, ohne sie auszutreten …

Er sagt zum Fahrer:

– Kolja2, was ist passiert? Wo warst du? Die Mittagspause ist doch schon lange zu Ende!

Die Tür wird zugeschlagen, das Auto fährt los und ich blicke wie gebannt auf die nicht ausgetretene Zigarette, deren Rauch wie ein dünner Faden nach oben steigt und sich in Nichts auflöst … Plötzlich überkommt mich das unzähmbare Verlangen, das Rauchen auszuprobieren; ich hebe die Zigarette von der Erde auf und betrachte sie, sie glimmt, qualmt, verströmt einen bestimmten Geruch – einen ungewohnten, süßlich-betörenden Geruch, er lockt mich und ich ziehe an der Zigarette, huste, spucke auf den Boden …

– Pfui, wie widerlich!

Mein erster Wunsch besteht darin, sie wegzuwerfen, doch die Hände halten die Zigarette fest und werfen sie nicht weg; ich huste mich aus und ziehe noch einmal daran: Der Husten ist schon nicht mehr so stark und es ist weniger widerlich, ich schaue sie an und rauche weiter. Von nun an beobachte ich Vater immer häufiger und warte darauf, dass er die Zigarette wegwirft, ich rauche erneut und fühle, wie etwas in mir vorgeht. Irgendwo tief drinnen fühle ich mich unruhig, mir ist klar, dass es schlecht ist, und was, wenn die Eltern es sehen? Wie soll ich ihnen dann in die Augen sehen?

Ich beginne mich zu schämen, lasse die Zigarette fallen … Allerdings beschäftigte mich die Frage: „Warum rauchen die Erwachsenen so viel?“ noch sehr lange.

Vor der Schule fahre ich mit meinem Vater in den Hauptort unserer Region, in die Stadt Semipalatinsk: mein Vater geschäftlich und ich für eine Woche zu Rafael, dem Onkel meiner Mutter.

Semipalatinsk liegt 500 Kilometer von uns entfernt, die Fahrt dauert lange und ich sehe mir den Weg an – hier ist alles neu für mich! Mir fällt auf, wie die Landschaft sich schrittweise ändert und in uferlose Steppe übergeht. Mein Vater unterhält sich mit Onkel Kolja, dem Fahrer. Hier und da lausche ich ihrer Unterhaltung, doch dann lasse ich meinen Blick doch wieder in die Ferne schweifen.

Die Sonnenstrahlen brennen im Gesicht, blenden die Augen und zwingen dazu, die Stirn in Falten zu legen: Die Sonne geht auf und erfüllt die Erde mit Wärme. Der Anblick dieses Bildes stellt etwas in meinem Inneren auf den Kopf: Eine unbewusste Freude überkommt mich, ein vollkommen unbegreifliches Gefühl … Was genau, weshalb und vor allem – was ist sonst noch dazu in der Lage, ein solches Gefühl der Freude beim Menschen hervorzurufen? Die Bekanntschaft mit etwas Neuem? Wünsche, die in Erfüllung gehen?

Als ich mich mit diesen ernsten Problemen beschäftigte, vernahm ich ein leises Schnarchen. Na klar – mein Vater hatte genug geredet und war eingenickt.

Onkel Kolja blickte in den Spiegel und meinte zu mir:

– Na, Sascha, interessant?

– Ja, sehr!

– Beim ersten Mal ist alles interessant, doch dann wird es zum Alltag, weißt du … für uns Erwachsene zumindest. Schau dir deinen Vater an – er kennt schon alles und hat alles gesehen, er schläft während der Fahrt immer ein, und sein Schlaf ist tief.

Einmal wurden wir mit ihm auf diesem Weg hier in einen Unfall verwickelt, alles ging so schnell, wir hatten nicht einmal Zeit zum Nachdenken! Wir haben uns überschlagen, lagen kopfüber da, und erst da ist dein Vater aufgewacht …

Ich fand das lustig:

– Wie konnte das sein?

Onkel Kolja lächelte ebenfalls und wandte den Blick gen Himmel:

– So etwas gibt es in dieser Welt, Sascha, in einem einzigen Moment kann sich alles ändern …

Gegen Abend kamen wir zu einem großen Einzelhaus, und mein Vater sagte:

– So, Saschok, wir sind da, das ist das Haus von Onkel Rafael!

Beim Aussteigen aus dem Auto nahm er unsere Sachen und die Gastgeschenke mit. Eine etwa 60-jährige Frau kommt uns entgegen und umarmt meinen Vater lächelnd:

– Grüß dich, Reinhold! Ist das Sascha?

– Und ob er das ist!

Tante Katja umarmt mich:

– Grüß dich, Sascha! Wie groß du schon bist!

Verlegen lächelnd antwortete ich:

– Ich grüße Sie …

Tante Katja:

– Kommt mit … Geht durch ins Gästezimmer und setzt euch. Rafael kommt gleich von der Arbeit, ruht euch aus, ich gehe solang in die Sommerküche und bereite das Essen vor!

Ich sehe mich um und gehe durchs Haus: Es besteht aus sechs Zimmern, ich schaue mir die Bilder und Fotografien an, berühre die Möbel, bemerke, dass sie materiell besser gestellt sind als wir, überall herrscht Reinlichkeit und Ruhe … letztere wird durch ein Gespräch im Hof unterbrochen:

– Grüß dich, Reinhold! Kannst du dich immer noch nicht von deiner Zigarette trennen …?

– Ich grüße Sie, Onkel Rafael! Ich kann einfach nicht damit aufhören …

– „Ich kann nicht“ gibt es nicht, sag lieber „Ich will nicht!“ Nun sag schon, wo er ist, dein Nachfolger!

– Im Haus. Sascha! Komm hierher, was sitzt du denn allein dort herum?

Ich trete heraus, schiebe den Vorhang in der Tür zur Seite, der als Mückenschutz dient, und mein Blick fällt auf einen Mann mittleren Alters mit wenigen dunklen Haaren auf dem Kopf, mit Geheimratsecken; ich entdecke eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Großvater …

Onkel Rafael meint:

– Na grüß dich, Alexander! – und streckt mir die Hand entgegen.

Schüchtern antworte ich:

– Ich grüße Sie, Onkel Rafael! – und strecke ebenfalls die Hand aus.

– Ah ja, ein ganz Schüchterner! Da sieht man sofort die Erziehung der Mutter, lass dich mal näher anschauen … Sascha, du bist deinen Eltern gar nicht ähnlich – was für helle Haare und was für Augen du hast!

– Er ähnelt meinem Vater, ab und zu sehe ich sogar ihren ähnlichen Charakter!

– Jetzt sag nur, dass er überhaupt nichts „von uns“ hat! Vergiss nicht, Reinhold, dass er von allen gleichviel abbekommen hat! Sascha, wessen Sohn bist du?

– Der von Papa! – antworte ich, ohne nachzudenken.

Mein Vater lächelt:

– So ist’s recht, mein Sohn!

Onkel Rafael:

– Das sagt er jetzt, weil Ella nicht bei uns ist, wie geht’s ihr denn?

Die Unterhaltung ging über zu Themen für Erwachsene, und ich setzte die Erkundung ihres Besitzes fort: Der Hof war klein, besser gesagt gab es überhaupt keinen Vorhof – die zementierten Wege waren etwa eineinhalb Meter breit und an der Seite wuchsen Blumen in einer Reihe, weiter gab es einen großen Gemüsegarten und einen Hinterhof, fast wie bei allen anderen; in ihm springen die Hühner herum und ein Hund dreht sich an seiner Kette und bellt mich an.

Vorsichtig, ja zaghaft gehe ich hinüber zur Scheune, wo ich die Kaninchenkäfige sehe. Dort kann ich mich nicht mehr zurückhalten: Ich beuge mich zu ihnen hinunter, spreche mit den Kaninchen und sehe sie mir genau an …

Die ganze Woche verbrachte ich mit Onkel Rafael und Tante Katja, in ihrem orangefarbenen Auto der Marke „Zhiguli-01“ fuhren sie mich von Geschäft zu Geschäft, wählten eine Schuluniform und einen Schulranzen für mich aus, gingen mit mir Karussell fahren, auf den Rummelplatz und waren mit mir im Krankenhaus, wo ihr Sohn Artur Arzt war. Ich gewann eine Menge neuer Eindrücke …


  1. Katja, Katka, Katenka, Katjuscha, Katjucha …: Umgangssprachliche, teils zärtlich-verniedlichende Koseformen für Katharina.

  2. Koseform für Nikolaj (dt. Nikolaus).

Kapitel 3. Erste „Geschichtsstunden“

Erster September 1980. Mama bringt mich zur Schule! In die nullte Klasse, die auch Vorbereitungsklasse genannt wurde; in diese gingen die Kinder, die nicht in den Kindergarten gegangen waren.

So viele Kinder sehe ich zum ersten Mal, verwundert blicke ich sie an und versuche sie zu zählen …

Irgendwo tief in mir fühle ich mich beängstigt – ich kann es nicht begreifen und versuche doch zu verstehen, woher dieses Gefühl kommt.

Der Unterricht hat begonnen, die Lehrerin geht durch die Reihen, schreibt die Nachnamen auf, muss bei meinem noch einmal nachfragen und fragt mich dann:

– Bist du Deutscher?

Ich blicke sie mit fragenden Augen an.

– …?

– Alles klar, wo wohnst du, in welcher Straße?

– In der Voronkovaja!

– Also Deutscher!

Die Lehrer beratschlagen sich, dann hört man Folgendes:

– Alle deutschen Kinder, einen Teil der russischen und einen Teil der kasachischen nehme ich zu mir, die übrigen übernimmst du.

Ich verstand nur wenig von diesen Problemen, in der Folge wurde mir jedoch aufgrund dieses einen und vieler weiterer Ereignisse klar, dass genau mit diesen Fragen meine „Geschichtsstunden“ begannen: die ausweglose und bedrückende Geschichte der Erwachsenen …

Der Unterricht beginnt, meine linke Hand möchte zum Füller greifen, Nina Fedorovna korrigiert mich:

– Sascha! Wir schreiben alle mit rechts und zeichnen alles fein säuberlich, so wie es an der Tafel steht …

Für mich ist es unbequem, zu Hause habe ich immer mit der linken Hand Bilder gezeichnet, ich probiere es mit rechts, dann denke ich nicht mehr daran und schreibe wieder mit links, die Lehrerin korrigiert mich …

In den Pausen spielen die Kinder miteinander und ich stehe abseits – ich traue mich nicht, als erster auf sie zuzugehen und jemanden kennenzulernen …

Nach Hause gehe ich alleine, als ich schon unsere Straße erreicht habe, höre ich eilige Schritte und drehe mich um – Es sind zwei Jungen aus unserer Klasse:

– Hey, du! Wer bist du denn? Du weißt schon, dass du auf unserer Straße läufst, oder …?

– Ich wohne in dieser Straße …

– Wir kennen dich nicht, du darfst hier nicht laufen, wenn wir dich nochmal hier treffen, kriegst du Haue von uns, ist das klar?

Schweigend setze ich meinen Weg fort.

– Kannst du nicht reden …?

Ich antworte nicht und laufe weiter, an der Kreuzung erscheint meine ältere Schwester Elvira, die schon in die zweite Klasse ging. Sie fragt:

– Sascha! Hast du auch vier Stunden gehabt?

– Ja.

– Und ich habe dich gesucht, wahrscheinlich sind wir aneinander vorbeigelaufen …

Die Jungen meinen:

– Oh! Bist du etwa auch noch mit Mädchen befreundet? – Gelächter machte sich breit.

Elvira:

– Hey ihr zwei, das ist mein jüngerer Bruder! Sascha! Lassen sie dich nicht in Ruhe?

– Hey Mädel, wir kennen auch dich nicht, das ist unsere Straße, wir verbieten dir, hier zu laufen!

– Wer seid ihr denn? Ihr Schmeißfliegen!

– Was hast du gesagt?

Man konnte hören, wie sie sich uns näherten, und meine Schwester drehte sich um:

– Was wollt ihr von uns?!

Sie warfen sich auf meine Schwester; in mir, irgendwo im Inneren, entfachte sich der Zorn, ich warf den Schulranzen weg und beteiligte mich am Kampf. Es war ein richtiger Kampf zwischen Kindern, nach welchem ein Junge in der Pfütze liegen blieb und der andere davonlief …

Meine Schwester rief ihnen siegesgewiss hinterher:

– Wenn ihr uns noch einmal etwas antun wollt, könnt ihr noch mehr haben!

Eine halbe Stunde später kam eine unbekannte Frau zu uns, zeigte die Jacke ihres Sohnes, sprach mit unserer Mutter, und wir konnten ihr Gespräch vernehmen:

– Schauen Sie nur, was Ihre Kinder meinem Sohn angetan haben!

– Ich entschuldige mich für meine Kinder; wenn sie eine Schuld trifft, bestrafe ich sie, und die Jacke können Sie hier lassen, ich wasche sie!

– Danke, nicht nötig, das mache ich selbst.

Das war der erste Kampf meines Lebens. Auch wenn es zwischen mir und meiner Schwester manchmal zu Konflikten kam, erreichten sie doch nie ein solches Ausmaß.

Normalerweise wachten ich und meine Schwester morgens um fünf Uhr dreißig auf. Wir hörten stets, wie im Nachbarzimmer Mutters Wecker klingelte: Sie stand auf, molk die Kuh und brachte sie hinaus zur Herde, während wir uns derweil wuschen, anzogen und im Wohnzimmer auf sie warteten.

Mama:

– Seid ihr schon wieder so früh aufgestanden, könnt ihr denn nicht schlafen? Ich an eurer Stelle würde gern noch weiterschlafen. Ihr kommt als erste zur Schule, dann wartet ihr noch eine halbe Stunde, bis man euch das Klassenzimmer aufmacht! Was ist so interessant daran, dort herumzustehen und zu warten, wo ihr noch in euren Betten liegen bleiben könntet?

Elvira:

– Wir können nicht schlafen, außerdem laufen wir zusammen mit Maria und Katja zur Schule. Ihre Schule ist weiter weg, bei unserer Schule gehen wir auseinander, und sie müssen noch einen Kilometer weit laufen … Sie, Mama, wollten uns ja nicht in die Gorkij-Schule gehen lassen und meinen, dass zwei Kilometer in eine Richtung zu weit ist, aber dafür ist das eine Mittelschule, während wir nur eine unvollständige Mittelschule haben, und dort ist der Unterricht besser.

Mama:

– Ihr habt mir leid getan, außerdem gehen alle gleichaltrigen Kinder aus unserem Gebiet in eure Schule. Ihr habt es schon geschafft, euch mit einigen anzulegen, wo ihr doch eigentlich untereinander befreundet sein müsstet …

Elvira, die der Mutter beim Frühstück machen half, meinte:

– Aber Mama! Sie wohnen weiter oben als wir, wir kennen sie nicht …

– Dann lernt ihr sie kennen. Der Mensch kann nicht das ganze Leben lang isoliert leben, es kommt die Zeit, in der er Teil der Gesellschaft wird, diese Zeit hat für euch begonnen. Ihr müsst lernen, mit anderen Kindern in Kontakt zu treten und euch nicht zu verschließen, sondern zu öffnen, ihr müsst lernen, Freundschaften zu schließen …

Wir hörten ihr aufmerksam zu, dann sagte Elvira, als sie das Geschirr ins Waschbecken räumte:

– Sascha! Gestern Abend habe ich das Geschirr gewaschen, jetzt bist du dran, und ich trockne ab …

– Natürlich, Elvira, ich erinnere mich.

Wir halfen unserer Mutter stets gerne, wir hatten den innigen Wunsch, ihr das Leben zu erleichtern.

Als wir wie immer eine halbe Stunde zu früh zur Schule kamen, standen wir im Flur und warteten darauf, dass das Klassenzimmer aufgeschlossen wurde, doch heute war für mich ein besonderer Tag – etwas in mir ließ mir keine Ruhe: Ich wartete auf die Jungen von gestern und dachte darüber nach, was kommen würde. Sie waren zu zweit und ich allein, einer war größer als ich, der andere etwa so groß wie ich. Ja … in der Ferne sehe ich eine Jungengruppe, sie kommen näher, ich erkenne unter ihnen auch unsere gestrigen Übeltäter.

– Das ist er …

Aus der Gruppe tritt ein Junge hervor, der, wie mir schien, ihr Anführer war:

– Bist du der, der gestern mit seiner Schwester Vovka1 etwas getan hat?

Sie stellten sich um mich herum auf. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte keine Angst vor ihnen:

– Ja, das bin ich!

Er streckt mir die Hand aus:

– Sergej!

Auch ich strecke die meine aus, und wir drücken einander die Hände:

– Sascha!

– Sanja! Also, wir tun dir nichts, weil du aus unserem „Berliner“ Gebiet kommst, wir müssen zueinander halten. Wollen wir Freunde sein?

Zu irgendeinem Zweck blickte ich nach beiden Seiten:

– Ja, gerne …

Wie Erwachsene schüttelten wir einander die Hände, jeder nannte seinen Namen und mein „männliches“ Leben nahm von da an seinen Lauf: Ich verbrachte schon mehr Zeit mit den Jungen, in den Pausen trafen wir uns in Gruppen, unterhielten uns, erzählten einander irgendwelchen Unsinn und spielten „Kosakenräuber“. Schritt für Schritt wurden wir zu echten Freunden, die ein unsichtbares Band zusammenhielt …

Schon auf dem Weg in die Schule hörte man das Pfeifen, wenn hinter uns meine Klassenkameraden liefen: „Sanek!“. Ich ließ meine Mädchen ziehen und wartete auf die Jungen, womit ich meiner Schwester die Möglichkeit gab, sich alleine mit ihren Freundinnen zu unterhalten.

Ich selbst vertiefte mich ins Gespräch mit meinen Freunden und es gab immer Themen, die es zu bereden galt. Nach Hause gingen wir gemeinsam und unbekümmert, und jeder sprach mit jedem; ständig bleibt einer irgendwo stehen, schaut sich etwas an und holt uns dann ein.

So sprang an einer Stelle ein kleiner schwarzer Welpe mit weißen Flecken aus dem Haus und lief mir direkt zwischen die Beine: Er schmiegt sich an mich, streckt sich, springt an mir hoch und fletscht die Zähne! Ich bückte mich, nahm ihn in die Arme und umarmte ihn.

Die Jungs waren verblüfft:

– Sanja! Das ist doch eine Hündin, lass sie los, wozu brauchst du sie?

– Sie gefällt mir!

Ein Mann tritt aus dem Haus:

– Ah, hier bist du also, „Kukla“2

Ich blicke den Mann mit meinen kindlichen Augen an und halte ihm den Hund hin. Er lächelt:

– Die Kleine gefällt dir, was? Hast du Platz für sie? Kannst sie zu dir nehmen!

Ich nicke dankbar und drücke den Welpen ganz fest an meine Brust … Die Jungs können es nicht fassen:

– Und wenn deine Eltern „nein“ sagen, was machst du dann mit ihr?

– Meine Eltern sind gutmütig, sie erlauben es mir …

Ich komme nach Hause und zeige den Welpen meiner Mutter:

– Mama, er heißt Kukla.

Mutter blickt mich fragend an:

– Sascha! Reicht dir Morjak denn nicht? Da, wo du den Hund herhast, da bring ihn auch wieder hin.

Ich drücke den Welpen an meine Brust, und irgendwo im Inneren eine tiefe Kränkung empfindend, brach ich in Tränen aus …

– Mama! Ich gebe ihn nicht her!

Meine Mutter seufzte, lächelte dann und sah mich mit ihren gutmütigen Augen an:

– Na gut! Aber sonst bringst du mir niemanden mehr ins Haus, abgemacht?

Freudig nickte ich und trocknete mir die Tränen ab:

– Danke, Mama!

Die Jahre vergehen, ich bin schon acht Jahre alt, komme eines Tages aus der Schule nach Hause und höre, wie meine Mutter weint:

– Mein Sohn, dein Großvater ist gestorben …

Bei der Beerdigung schluchze ich laut, ich sehe, wie meine Mutter nicht von meinem Großvater weicht, sie liegt auf seiner Brust, mein Vater tritt hinzu, hebt sie an, meine Mutter weint:

– Nein, nein …

Ich höre die Stimme meiner Großmutter:

– Elja! Nun nimm dich mal zusammen, alles hat seine Zeit, für deinen Vater war es Zeit zu gehen …

Meine Mutter, die vor lauter Tränen die Arme in die Höhe geworfen hatte, rief:

– Und wohin? Wohin?! Was redet ihr da?!

Großmutter schaut Mutter in die Augen und meint:

– Kind! Sei nicht blind, wir sind alle zu Gast hier, wir kommen alleine hierher und wir gehen alleine – dorthin, wo unser Schöpfer …

Mutter schüttelt zum Zeichen des Protests den Kopf:

– Wie lange wollt ihr euch noch etwas vormachen? Es gibt Ihn nicht auf der Welt, Er ist einfach nicht da.

Nach der Beerdigung höre ich, wie die Erwachsenen besprechen, wie man das Grab anlegen und welchen Grabstein man anbringen sollte.

Großmutter seufzt:

– Ein Grabstein ist nicht nötig, stellt uns ein einfaches Kreuz auf …

– Im Ernst, Mama? Ein Grabstein ist doch besser! – schlagen meine Onkel und meine Mutter einstimmig vor.

Etwas enttäuscht, doch unbeirrt antwortet Großmutter:

– Ich und der Vater, wir haben euch falsch erzogen: Wir haben geschwiegen, wir hatten Angst, den Mund aufzumachen, doch wenn man sieht, dass die eigenen Tage gezählt sind, dann verschwindet auch die Angst vor dieser Welt und wird durch eine andere Form der Angst ersetzt … also, meine Kinder, stellt uns ein einfaches Kreuz auf: „Im Namen unseres Herrn Jesus Christus sind wir gerettet!“ Dieses Zeichen möchten wir auf unseren Gräbern haben …

Es kam das neue Jahr 1983. Einmütig und heiter hießen wir es mit der ganzen Familie willkommen, und am Tag darauf, dem zweiten Januar, feierten wir meinen Geburtstag. Alle kamen zum Gratulieren: Albert, Vaters Freund aus Kindheitstagen, mit seiner Familie, Nachbarn und Freunde. Wir, die Kinder, blieben beim Spielen unter uns, doch ich wurde häufig von den Eltern gerufen, um mir Gratulationen und gute Wünsche anzuhören. An diesem Tag wurde ich neun Jahre alt, und natürlich hatten viele Wünsche mit der Schule zu tun. Ich bedankte mich artig, doch die Gedanken in meinem Kopf drehten sich um den Sommer …

Und da ist er auch schon – es ist wieder Sommer! Ich bemühe mich, überall hinzukommen, bei allen zu Gast zu sein und alles zu schaffen … Als wir einige Tage bei Onkel Samuel, dem Bruder meines Vaters, im Ort Aleekseevka zu Gast waren und uns mit unseren Cousins Alexander und Viktor und unserer Kusine Lida austauschten, spielten wir bis zur Erschöpfung Fangen und Krieg, wobei wir grüne Äpfel als Waffen benutzten. Diese Äpfel hingen im Übrigen überall, in jeder Ecke, und man gewann den Eindruck, es seien keine Gärten, die sich auf jedem Grundstück befinden, sondern das Dorf selbst liege in einem großen Apfelgarten.

Nachdem wir also bei unserer Verwandtschaft waren, setze ich mit Elvira meine Reise in die Ferien fort, unseren Weg, der uns nun ins Dorf Blagodatnoe zu Oma Maria führt. Der Weg führt durch eine gebirgige Gegend, ein Hügel nach dem anderen, immer näher an die Berge heran, aus dem Fenster erblickt man Sträucher, Weizen- und Sonnenblumenfelder, gemähtes Heu … eine unendliche Weite und Schönheit!

Großmutter kommt uns lächelnd entgegen:

– Meine lieben Enkelkinder! Seid ihr es wirklich? Ich lausche schon die ganze Zeit, ob der Bus nicht angehalten, ob meine Enkel nicht schon angekommen sind …

Ich und meine Schwester reden wild durcheinander drauflos, während wir Großmutter umarmen und küssen:

– Oma, unsere gute, liebe Oma (manchmal verspürten wir den innigen Wunsch, unsere Oma mit „Babulja“3 anzusprechen und sie zu duzen; diese Form der Anrede kam uns wärmer vor, doch unsere Erziehung gestattete es uns nicht, dies zu tun. So sprachen wir sie weiter so an, wie unsere Eltern es uns gelehrt hatten, die wiederum von ihren Eltern gelehrt worden waren; das hatte natürlich seine Vor- und Nachteile …), wir grüßen Sie! Wir können die Ferien immer kaum erwarten, um Sie zu besuchen, wir vermissen Sie, und wir lieben Sie!

– Dann erzählt mal! Wie geht es eurer Familie, wie geht es meinem Enkelkind Marina und was machen die Enkel Andrjuscha, Vanja und Kolja? Kommen eure Eltern gut miteinander aus? Streiten sie sich nicht?

Meine Schwester und ich waren irritiert, wir tauschten ein paar Blicke aus, und Elvira gab mir zu verstehen, dass sie das Wort ergreifen wollte:

– Oma, Sie möchten etwas über die Eltern wissen? Da gibt es nichts Gutes zu berichten: Papa trinkt häufig, Mama ist wütend auf ihn, mault, schimpft und droht mit der Scheidung, doch dann beruhigt sie sich, und nach einiger Zeit geht alles wieder von vorne los: Papa kommt wieder betrunken nach Hause, er hat wieder „Geschäftsreisen“ … Einmal habe ich ein Gespräch zwischen Tante Ljuba und unserer Mutter gehört: Soll ich davon erzählen?

Tante Ljuba meinte: „Elja! Unsere Männer waren gestern zusammen irgendwo saufen, und als sie auseinandergehen wollten, haben sie noch lange auf der Straße geflüstert, ich habe ihr Gespräch belauscht! Dein Roman hat etwas über eine Tamara aus der Stadt erzählt …“ Und dann haben sie noch lange miteinander gesprochen. Seit ihrem Treffen setzt Mama Papa erst richtig zu, sie mäkelt an allem herum und ist mit nichts zufrieden: „Er schnarcht, stinkt fürchterlich nach Tabak und Alkohol, sitzt und steht am falschen Ort …“ Selbst wenn er nüchtern nach Hause kommt, findet sie auf jeden Fall einen Grund zum Streiten!

– Meine lieben Enkel, hört gut zu, was eure Oma euch sagt: Ihr lebt in keiner guten Zeit. Die Welt hat sich geändert und mit ihr auch die Leute und ganze Generationen! Was früher nicht erlaubt und peinlich war, wird jetzt von manchen Leuten zur „Verhaltensnorm“ erhoben; ihr seid schon groß, ihr müsst daraus eure Lehren ziehen und dürft die Fehler eurer Eltern auf keinen Fall wiederholen! Mischt euch nicht ein in ihre Streitigkeiten, lebt euer eigenes Leben und nehmt das Schlechte nicht in eure zukünftigen Familien mit.

Wenn die Zeit kommt, dann wählt eure Partner nicht nur nach dem Äußeren; sie müssen alle freudvollen und schwierigen Momente und alle Lebensvorsätze mit euch teilen, sie müssen dieselben Ziele im Leben haben wie ihr. Gerne würde ich euch auch etwas über das geistige Leben erzählen, aber ich kann nicht – die Zeiten haben sich geändert, ich sage nur Folgendes: Seid anständig, meine Kinder …

Unsere Großmutter war eine weise Frau.

In jenem Alter hatten sich meine Lebensansichten bereits herausgebildet. Es gab Freunde, dann beste Freunde und schließlich einfach nur Bekannte. Zu einem meiner besten Freunde wurde Sascha (Alexander), ein Junge mit gekräuselten schwarzen Haaren, der wie ich von kleiner Statur war. Unsere Freundschaft war intensiver als die zu den anderen Jungs und wir wurden beste Freunde. Zeitweise war es jedoch nicht einfach für uns, unsere Freundschaft aufrechtzuerhalten: Nachdem wir uns wieder einmal gestritten hatten, hatten wir lange Zeit keinen Kontakt, und als wir uns schließlich versöhnt hatten, schworen wir einander: „Wir schwören, künftige Streitereien nicht mehr als solche wahrzunehmen, die Freundschaft wieder aufzunehmen und den, der dem anderen in Zukunft als erster die Hand gibt, nicht als Verlierer zu betrachten.“

Alexander wohnte unweit von uns auf dem „Feld“ – so wurde das riesige Brachland genannt, auf dessen gegenüberliegender Seite sich unsere Wohnsiedlung erstreckte. Dort lebten überwiegend Kasachen und dieses Gebiet wurde in der Umgangssprache als „Karabulak“4 bezeichnet.

Dieses Feld stellte einen neutralen Streifen dar, auf dem wir uns mit anderen Jungs unterschiedlichen Alters von unserer Straße versammelten und Fußball und Volleyball spielten. In den Pausen diskutierten wir die Strategie unserer „Brüderschaft“: mit welchem Gebiet wir uns bekämpften, mit welchem wir Bündnisse eingingen und alle möglichen weiteren Themen …

Wenn wir uns auf unserer Straße versammelten, stellten wir den Jungs aus dem „Karabulak“, die in die kasachische Schule gingen, einen Hinterhalt. Ihr Weg führte durch unser Gebiet „Berlin“, das wegen seiner vorwiegend deutschen Bewohner so genannt wurde, woraufhin alle kasachischen Jungs einen Umweg machen mussten; nur die kasachischen Mädchen konnten unbehelligt auf unserer Straße laufen, und in mir wuchs ein zunehmender Nationalismus heran …

Für unsere deutsche Herkunft waren wir bereit, bis zum Äußersten zu gehen, und wenn uns in der Schule jemand „Faschisten!“ hinterherrief, dann riefen wir als Antwort: „Kalbity5, Tshurki6!“, und es kam zu einem ernsthaften Kampf, nach dem man unsere Eltern zur Schule rief. Ich lud dazu immer Mutter ein, vor meinem Vater hatte ich Angst, außerdem war er fast immer unterwegs.

So musste ich zu Hause häufig die Rolle des Hausherren übernehmen und für die Haustiere sorgen: für die Kuh, die Hammel, die Schweine, die Hühner, und ich kümmerte mich um meine geliebten Kaninchen; manchmal arbeitete ich bis zum späten Abend und vergaß dabei alles Übrige.

Nach den Schulgesprächen kam Mutter häufig mit Tränen in den Augen nach draußen:

– Sascha! So bist du doch gar nicht, innerlich bist du ganz anders, ich bin deine Mutter, und ich kenne dich, warum prügelst du dich also? Warum tanzt du nach der Pfeife von anderen? Du nennst deine Mitschüler „Tshurki“ und willst damit sagen, dass sie Dummköpfe sind und die Unterrichtsthemen nicht immer begreifen. Das ist dumm, Sascha. Du vergisst, dass sie auf ihrem ursprünglichen Land leben und dass Russisch nicht ihre Muttersprache ist; sie denken in ihrer Muttersprache, auf Kasachisch, also müssen sie den gesamten Lehrstoff innerlich ins Kasachische übersetzen! Es tut mir leid um dich, mein Sohn, dein Herz versteinert …

Ich empfand Mitleid mit meiner Mutter – tief im Inneren weinte ich mit ihr, was ich ihr jedoch nicht zeigte …

Mit den anderen Jungs wähnten wir uns damals im Recht, wir glaubten, dass alles so seine Richtigkeit hatte und machten weiter mit unseren hemmungslosen und grausamen Scharmützeln. In unserer Straße befand sich eine kleine christliche Kirche, in die ziemlich viele Menschen mit Kindern verschiedenen Alters gingen; ich und die anderen Jungs lachten über sie und beschimpften sie untereinander als „Baptisten“, und wenn die Kinder ohne Eltern in die Kirche gingen, kränkten wir sie, indem wir sie laut „Gottesanbeter“ riefen …

Herbst 1984. Ich gehe in die vierte Klasse und es gibt nichts, worauf ich stolz sein könnte: Mein Lernerfolg ging zurück: Von einem der besten Schüler war ich zu einem Dreierkandidaten geworden und mein Verhalten war klar mangelhaft. Die Lehrer beschweren sich häufig über mich: Wir sind unartig, kämpfen und raufen in den Pausen, was teilweise auch in die Klassen übergeht. Die Unterrichtsstunden sitze ich irgendwie bis zum Ende aus, vor einigen Lehrern habe ich Respekt, wie etwa vor meiner Geschichtslehrerin Tatjana Petrovna, und obwohl ich tatsächlich alle Anstrengungen unternehme, um mich in Geschichte besser auszukennen, kommt es auch hier zu Unannehmlichkeiten …

Das Thema der Unterrichtsstunde lautet Religion, und schon bei der Erwähnung des Namens „Jesus Christus“ machte sich in der Klasse Gelächter breit, aus allen Ecken konnte man ein an mich gerichtetes „Christus!“ vernehmen; ich schaute nach allen Seiten, alle wendeten sich ab, lachten jedoch weiter, wobei sie sich in ihre Bücher vertieften oder einander ansahen.

Tatjana Petrovna, die mit einem verwunderten Gesichtsausdruck erstarrt war, fragte streng:

– Was ist los? Ja, Jesus Christus ist das Thema! Was ist daran so lustig? Ruhe! Nach dem Lehrplan müssen wir religiöse Fanatiker durchnehmen, von denen Jesus Christus einer ist. Mit seiner Geburt ist der Beginn der „neuen Zeitrechnung“ verknüpft, die wir jetzt verwenden. Draußen ist das Jahr 1984, das bedeutet, dass Jesus Christus vor 1984 Jahren geboren wurde. Er vollbrachte viele Wunder und nannte sich Menschensohn und Sohn Gottes – des Gottes, der angeblich im Himmel lebt. Wir jedoch wissen jetzt, dass der Himmel eine Schicht der Atmosphäre ist, und mit dem Flug des weltweit ersten sowjetischen Astronauten Jurij Gagarin, nach dem unsere Schule benannt ist, konnten wir uns vergewissern, dass es in der gesamten Galaxis außer uns keinen weiteren Verstand und kein Leben auf anderen Planeten gibt.

Wenn wir jetzt zum Thema unserer Unterrichtsstunde zurückkehren, können wir trotz alldem sagen, dass Jesus Christus viele Menschen einnehmen konnte; so entstand und wuchs auch das Christentum Schritt für Schritt und breitete sich auf unserem gesamten Planeten aus, indem es seine eigenen Strukturen schuf: Kirchen, die eng mit der herrschenden Klasse der Bourgeoisie verknüpft waren, zu Opium für das Volk wurden und zur Verdummung und Versklavung der Arbeiterklasse führten. Infolgedessen kam es bei uns zur sozialistischen Revolution unter der Leitung unseres großen Führers Vladimir Iljitsch Lenin, der dem Kampf gegen die Religion seinerzeit viel Energie opferte, uns von der kapitalistischen Knechtschaft befreite und uns die Möglichkeit gab, in einer sozialistischen Gesellschaft zu leben, in der alle gleich sind, in der es kein Privateigentum gibt und alles dem Staat gehört, das heißt uns allen …

Und in diesem Sinne ging es mit Zitaten aus dem Lehrbuch weiter … Allein das Verstehen dieser komplizierten Ansammlung schrecklich intelligenter und unverständlicher Ausdrücke war schon schwierig, vom Lernen ganz zu schweigen.

Abends, nachdem wir mit der Arbeit auf dem Hof fertig waren, saßen ich und mein Vater beim Abendessen und sprachen über das Leben.

– Papa! Heute hatten wir in der Geschichtsstunde das Thema „Jesus Christus“, und die ganze Klasse hat mich ausgelacht; natürlich nicht direkt, aber mir war klar, dass sie wohl über unseren Nachnamen gelacht haben. Der ist nämlich ähnlich. Und die aus den oberen Klassen nennen mich ab und zu „Christus!“. Ich habe vor keinem von ihnen Angst, kann aber nicht gegen sie kämpfen, sie sind stärker als ich.

Papa, ich habe beschlossen, Mutters Nachnamen anzunehmen, wenn ich meinen Pass bekomme. Ich möchte nicht, dass mein Sohn dieselben Schwierigkeiten hat …

– Mein Sohn, ich kann dich verstehen: Auch ich hatte Probleme mit unserem Nachnamen, ich wollte ihn ebenfalls ändern, doch als ich meinen Pass bekam, da habe ich es mir anders überlegt, weil mir unser Nachname wunderschön vorkam; denn auch wenn da eine Ähnlichkeit besteht, bin ich doch sogar stolz darauf, denn Jesus Christus war kein schlechter Mensch.

Aber ich habe nichts dagegen, dass du Mamas Nachnamen annimmst … Und wenn du es dir doch noch anders überlegen solltest und unseren behältst, dann bin ich erst recht froh.


  1. Vovka, Vova(n), Volodja: Koseformen für Vladimir.

  2. Auf Deutsch: „Puppe“

  3. Verniedlichende Form für russ. Babuschka (Großmutter).

  4. Der Ursprung dieser Bezeichnung geht auf türkische Wortstämme zurück: „Kara“ (schwarz) und „Bulak“ (Quelle).

  5. Umgangssprachliche, in höchstem Maße abschätzige Bezeichnung für Mitglieder der ethnischen Völker Mittelasiens.

  6. Aus Dals Wörterbuch der russischen Sprache: „Tshurka“ – dummer, schwerfälliger Mensch.

Kapitel 4. Erlebnisse der Schulzeit

Herbst 1985 … Ich bin 11 Jahre alt. Die fünfte Klasse steht vor der Tür – ein neuer Planet in meiner Wissensgalaxis: Ein Planet der Stürme? Ein Planet der Entdeckungen? Doch damals riefen (wahrscheinlich bedauerlicherweise) völlig andere Entdeckungen mein äußerst lebhaftes Interesse hervor. Ich war angespannt und vor dem Beginn des Schuljahres betrübt – in meinen Erinnerungen wurden stets die dreimonatigen Sommerferien nach oben gespült …

Wie wunderbar sie doch waren, und wie hell die Sonnenstrahlen waren, die durch das blaue Himmelsgewebe drangen und das grüne Farbenkleid der Erde zärtlich berührten. Allerorten grünt es, die Natur lächelt uns an und schenkt uns ihre Wärme, man ist rundum glücklich und es scheint, als gäbe es nichts, was diesen Zustand überschatten könnte – alles ist wunderbar!

Doch jetzt, auf dem Weg in die Schule, bemerkt man traurig den Umstand, dass die glücklichen Tage zu Ende gegangen sind. Der Schulunterricht hat begonnen. Nun hängt nichts mehr von deinem eigenen Willen ab und alles geht seinen Lauf …

Da ist auch schon der Herbst, die Natur streift ihr weinrot-orangefarbenes zeitliches Farbenkleid über, als ob sie mit dir einverstanden sei und deine Laune verstehen könne, sie taucht alles in ein goldenes Licht, das wie Tränen von den Bäumen rinnt und sie entblößt; die Bäume neigen sich dir gleichsam zu, reichen dir ihre übrig gebliebenen, saftigen Früchte dar, du kostest ihren unvergleichlichen, süßen Geschmack, doch gleichzeitig verursacht die ganz dezent vorhandene Säure eine unvergessliche Empfindung.

Diese sehr lyrische Wahrnehmung der Umgebung begleitet mich an meinen Schultagen und selbst dann, wenn ich mich im Wirbelsturm der unbekümmerten Streiche meiner Freunde und Klassenkameraden mitdrehe. Mein Lernerfolg ist mittelmäßig und entspricht keinesfalls meinen Fähigkeiten: Kein einziges Fach nehme ich ernst, dafür schwänze ich mit meinen Freunden häufig den Unterricht.

So auch heute, nach der dritten Stunde bespreche ich mit meinem Klassenkameraden Vovka in der Pause ein elementares Problem: Welche Stunde sollen wir schwänzen? Vova wohnt in unserer Straße, und ich nannte ihn häufig „Puschkin“, da ich eine verblüffende äußerliche Ähnlichkeit meines Freundes mit dem Antlitz des großen Dichters feststellen konnte.

– Sanja! Lass uns jetzt sofort gehen …

– Nein, jetzt ist Mathe, lass uns das aussitzen, und was kommt dann … Sport und Biologie, das ist nicht so wichtig, da hauen wir ab!

– Na gut! Und damit wir nicht auffallen: Lass du deine Tasche neben dem Werkraum, so als würden wir uns auf den Sport vorbereiten, und warte hinter der Schule auf mich, ich bringe meine und deine her …

– Ok, Vovan, abgemacht! Ich warte auf dich …

Zwanzig Minuten saß ich wartend hinter der Schule, der Unterricht hatte schon lange begonnen, doch Vova war nicht da und ich entschied, dass wir aneinander vorbeigelaufen sein mussten. Mit einem unguten Vorgefühl trottete ich nach Hause.

In einer der Gassen saß ein älterer Herr auf einer Bank, es schien, als wärme er sich in der Sonne, und seine weißen Haare wehten im Wind. Zu seinen Füßen lag ein Hund, er hob den Kopf und blickte mich an. Ich blieb vor Angst stehen, und der Alte sprach:

– Hab keine Angst, mein Junge, er beißt nicht mehr.

Ich blickte den Hund noch einmal mit nun größerer Aufmerksamkeit an: ein riesiger Hund mit langem dunklem Fell und schwarzen Augen, aus denen Tränen rannen.

– Opa! Ihrem Hund laufen Tränen aus den Augen!

Der Alte sah mich aufmerksam an:

– Er trauert, Hunde fühlen nämlich den eigenen Tod und weinen vor dem Tod …

– Kann das wirklich sein?

– Aber natürlich, mein Junge. Seine Seele kann nämlich auch fühlen …

– Gibt es etwa eine Seele? Und dazu noch bei einem Hund?

– Nun, wenn Tränen laufen, dann muss es auch eine Seele geben, er empfindet den Schmerz genauso wie ein Mensch, und es laufen dieselben Tränen mit demselben bitteren Geschmack wie bei einem Menschen …

– Aber alle sagen: „Die Seele existiert nicht“, man kann sie nicht berühren, und was man nicht berühren kann, das gibt es auch nicht.

– Nun gut, in der Schule bringen sie euch zwar richtig bei, dass man die Seele nicht berühren kann, doch man kann sie fühlen, sie wohnt in jedem von uns, wir haben sie im Blut. Vielleicht hast du folgenden Ausdruck gehört: „Vor Angst entschwand die Seele in die Fersen“1?

– Ja, das sagt man über einen feigen Menschen …

– Und warum bist du dann stehengeblieben, als mein Bars dich angesehen hat? Bist du auch ein Feigling?

– Nein, ich bin kein Feigling, das war mein Selbsterhaltungstrieb …

Der alte Mann lachte und sagte, wobei er sich die Augen mit einem Tuch trocknete:

– Willst du dich nicht setzen und dich ein wenig mit einem Alten unterhalten? Hab keine Angst vor Bars, er hat gerade anderes im Sinn …

Ich schaute den Hund noch einmal an: Unbeweglich lag er da, den Kopf auf die Pfoten gelegt, und ich wollte nicht fortgehen, mein Großvater fehlte mir so sehr, also setzte ich mich dazu …

– Wie heißt du und wie alt bist du?

– Sascha. Ich bin elf und gehe in die fünfte Klasse.

– Und ich heiße Petr Ivanovitsch! Ich sehe, dass du ein gescheiter Junge bist, aber deinem Anblick nach zu urteilen – allein und ohne Schulranzen – gehst du nicht besonders gern in die Schule, nicht wahr?

Der alte Mann blickte mich an und seine Falten waren wie Felsspalten … Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, schweigend saß ich da, betrachtete meine Stiefel und wippte mit den Beinen …

– Ich weiß nicht, aber irgendwie will ich nicht zur Schule gehen …

– Aha, willst du so schnell wie möglich erwachsen werden?

– Ja.

– Hab keine Eile, Sascha, alles zu seiner Zeit, – meinte der Alte nachdenklich.

– Das sagt meine Oma auch immer: „Alles zu seiner Zeit.“

– Und weißt du, woher diese Worte stammen?

– Nein, weiß ich nicht.

– Nun, wenn deine Oma das sagt, dann hat sie dir wahrscheinlich erzählt, dass wir, die Menschen, eine „Heilige Schrift“ haben, sie heißt Bibel – hast du von einem solchen Buch gehört?

– Nein, habe ich nicht, meine Oma hat nichts erzählt …

– Und über Gott, Sascha, hast du über Ihn etwas gehört?

– Ja, in unserer Straße gibt es eine Baptistenkirche, dorthin gehen die Baptisten und beten zu ihrem Gott!

– Und antwortet Er ihnen?

– Wer – Gott?

– Ja …

– Ihn gibt es ja nicht, wie soll Er ihnen antworten?

– Wer hat dir gesagt, dass es Ihn nicht gibt?

– Alle sagen es …

– Und über die Seele: Sagen da auch alle, dass es sie nicht gibt?

– Über die „Seele“ habe ich nichts gehört …

– Glaube niemandem. Die Seele gibt es, denn der Mensch fühlt, und wenn es eine Seele gibt, dann gibt es auch einen Schöpfer. Ja, Sascha, du bist kein dummer Junge und kennst dich schon in vielen Dingen aus … Ich habe in meinem Leben vieles gesehen, also hör auf einen alten Mann: Schwänze nicht die Schule – mit ihr fängt alles an!

Als ich zu Hause ankam, betrat ich das Haus nicht – ich wollte Mutter nicht ohne Schulranzen unter die Augen treten. Ich entschied mich, im Vorgarten auf „Puschkin“ zu warten. Nach einiger Zeit tauchte Lenka auf, meine Nachbarin und Klassenkameradin.

– Lenka! Ist der Unterricht schon zu Ende?

– Chrispens! Was ist los, wartest du auf deinen Ranzen? Auf deinen Puschkin kannst du lange warten: Ihn und Zhenka hat die Schulleiterin erwischt und zu Marzhan Zheembaevna gebracht …

Marzhan Zheembaevna war die Physik- und Mathelehrerin, nach Beendigung des pädagogischen Instituts wurde sie unserer Schule zugewiesen und man gab ihr als junger Fachkraft unsere Klasse, die eine der schwierigsten in der Schule war. Nicht nur einmal brachten wir sie zum Weinen, und manchmal legte sie im Zorn Hand an uns …

– … Marzhan Zheembaevna hat sie lange geschimpft, und nachdem sie aus dem Zimmer des Schulleiters getreten waren, hat sie zu weinen begonnen, Puschkin eine Ohrfeige gegeben und gesagt: „Wo ist Chrispens? Er soll mir ja nicht ohne Eltern unter die Augen treten, sein Schulranzen bleibt bei mir!“

– Lena! Und wo ist sie jetzt?

– Bei uns ist heute Klassenreinigung, die zweite Gruppe ist an der Reihe: Sie räumen auf und „Me-Zhe“ korrigiert unsere Klassenarbeiten in Mathe …

Ich dachte nach: „So eine blöde Geschichte … da bin ich wohl auf den Leim gegangen. Wenn ich jetzt alles Mama erzähle, dann ist sie wieder enttäuscht, was soll ich also tun? Ich muss sofort in die Schule gehen und mich bei Marzhan Zheembaevna entschuldigen. Es gibt keinen anderen Ausweg.“

Die Tür ins Klassenzimmer war leicht geöffnet, Mädchenstimmen drangen nach draußen, ich überwand meine innere Angst und ging hinein – die ganze Klasse verstummte, alle sahen mich an, am Tisch saß Marzhan Zheembaevna, sie unterbrach ihre Tätigkeit und blickte mich ebenfalls an …

– Sascha? Du bist gekommen? Damit habe ich nicht gerechnet.

– Marzhan Zheembaevna! Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, bitte verzeihen Sie mir …

Marzhan Zheembaevna sah mich mit warmem Blick an, sie bekam traurige feuchte Augen und es schien, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, doch sie behielt die Kontrolle:

– Sascha! Es ist gut, dass du gekommen bist und keine Furcht hast. Ich hatte immer eine gute Meinung von dir. Als ich mit deiner Mutter gesprochen habe, hat sie dich mir aus anderer Perspektive dargestellt; sie hat erzählt, wie du in Wirklichkeit bist, und nun bin ich tatsächlich überzeugt davon. Ich möchte sehr, dass du mir jetzt genau zuhörst und dass meine Worte bis tief in deine Seele dringen.

Sascha! Das Leben ist eine ernste Sache, an die man nicht spielerisch herangehen darf, auch nicht in so jungen Jahren, ja-ja! Versprich mir bitte, dass du den Unterricht nicht mehr schwänzen wirst. Außerdem möchte ich von dir hören, dass du alles in deiner Macht Stehende tun wirst, um ein guter Schüler zu sein!

Marzhan Zheembaevna wandte ihre braunen Augen nicht von mir ab, und auch ich blickte sie aufmerksam an, innerlich war ich jedoch hin- und hergerissen: Ich wollte keine ernste Haltung zu allen Dingen haben. Ich wollte alles erfahren, vor allem das, was „man nicht durfte“, und wenn nicht alles, dann doch vieles, und zwar sofort; den Ausspruch „alles zu seiner Zeit“ akzeptierte ich nicht, ich drängte die Zeit zur Eile! Und konnte man dabei etwa „ernst an alles herangehen“?

Mir ging Folgendes durch den Kopf: „Wenn ich ein Versprechen abgebe, dann muss ich es auch halten, und das ist eine ernste Angelegenheit …“

– Ich verspreche es Ihnen, Marzhan Zheembaevna!

Ihre Hand griff unter den Tisch, und einen Augenblick später reichte sie mir meinen Schulranzen, wobei ihre Augen lächelten, als könne sie fühlen, dass sie mich „erreicht“ hatte …

– Hier hast du deinen Ranzen, Sascha!

– Danke, Marzhan Zheembaevna!

Als ich aus dem Klassenzimmer ging, sah ich meine Klassenkameradinnen an, ihre ganz unterschiedlichen Blicke begleiteten mich und brachten Verwunderung, leichten Spott und Begeisterung zum Ausdruck …

Morgens auf dem Weg zur Schule traf ich auf meine Freunde aus meiner Klasse:

– Sanek! Wie kommt es, dass du deinen Schulranzen hast? Wir hatten gehofft, heute den zweiten Teil zu sehen: wie Marzhanicha dich verklopft!

Ich antwortete nicht, ich wollte nicht über dieses Thema sprechen und ging schweigend meines Weges; das Gespräch ging ohne Probleme in ein anderes Thema über, alle lachten und waren fröhlich, doch mir war nicht zum Lachen zumute, irgendwo im Inneren war die Erinnerung an das gestrige Gespräch mit Marzhan Zheembaevna noch nicht erloschen: an ihren Blick und mein Versprechen …

– Schaut mal, dort neben der Schule: Puschkin mit seinen Eltern! Hat er also sein Versprechen gehalten: Der Lehrer hat kein Recht, die Hand gegen die Schüler zu erheben! Schade, Sanja, dass du ohne Eltern gekommen bist, Marzhanicha hat wahrscheinlich alles erfahren und dir deinen Schulranzen gegeben, nicht wahr?

– Nein, ich bin selbst zu ihr gegangen, und meine Eltern werde ich nicht rufen, sie ist eine gute Lehrerin …

– Was du nicht sagst! Gestern hast du noch ganz anders geklungen.

– Ich habe meine Meinung geändert. Ich habe ihr versprochen, den Unterricht nicht mehr zu schwänzen und so gut wie möglich zu lernen.

– Dann hat sie dir offensichtlich stark zugesetzt?

– Nein. Sie hat einfach … meine Seele erreicht.

– Deine Seele? Sanek! Was redest du da, welche „Seele“?

– Genau die Seele, die in uns steckt …

Wir blickten uns alle gegenseitig an und tauchten ein in die allgemeine Strömung unserer Schule …

Die fünfte Klasse schloss ich erfolgreich ohne einen einzigen Dreier ab, und in der letzten Schulversammlung verkündete man uns:

– Bei uns ist es zu Änderungen gekommen. Marzhan Zheembaevna wechselt von unserer Schule in die Krupskaja-Schule.

Geraschel und Geflüster machten sich breit:

– Endlich haben unsere Beschwerden auf sie gewirkt …

Ich war enttäuscht und blickte konzentriert auf die vorderen Reihen der vor mir stehenden Jungs; besonders in der rechten Ecke, in der Marzhan Zheembaevna stand, wurde getuschelt …

Sie war unbeirrt, wandte sich nicht ab und blickte nicht zur Seite, während ich in jenen Minuten vor allem ihren Blick erhaschen und in diesem eine Zustimmung wahrnehmen wollte. Sie war die beste Lehrerin meines Lebens!

Ich erinnerte mich daran, wie wir unter ihrer Leitung an eine Grenzstation an der Grenze zu China fuhren, in ein Waisenhaus, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben die Atmosphäre der Einsamkeit und den Entzug der elterlichen Wärme empfindlich spürte …

Wie viel Neues eröffnete uns diese kluge und starke junge Frau, sowohl in Wissensdingen als auch im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen! Und nun verlässt sie uns also …

Nach Beendigung der letzten Versammlung fingen alle an zu lärmen, alle wollten schnell irgendwo hin, doch die meisten Schüler unserer Klasse standen um Marzhan Zheembaevna herum: Alle sprachen durcheinander, bei einigen waren Tränen in die Augen getreten; ich stand abseits und war traurig, was – ich jedoch niemandem zeigen wollte. Sie verabschiedete sich von jedem einzeln und wünschte alles Gute, – und nun war ich an der Reihe. Ich konnte meine Trauer nicht verbergen.

– Na, Sascha, was ist los? Ich dachte, du freust dich …

Ich hob den Kopf nicht an, blickte auf den Boden und konnte mich nicht dazu durchringen, ihrem Blick zu begegnen, da ich Angst hatte, loszuweinen …

– Sascha! Na komm, schau mich an und lächle doch mit deinem Lächeln, das ich so unnachahmbar finde …

Ich hob den Kopf leicht an und blickte ihr in die Augen: Sie schimmerten, waren wunderschön und sagten mir etwas, das ich nicht verstand …

– Siehst du, du hast es doch geschafft, von den Dreierkandidaten wegzukommen! Ich freue mich für dich, und ich freue mich auch, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe!

Ich war nicht dazu in der Lage, die richtigen Worte für eine Antwort zu finden: Was hätte ich sagen sollen? Ich war allein von einem Gefühl der Dankbarkeit ergriffen:

– Danke, Marzhan Zheembaevna!

Sommer 1986, es sind Ferien! Wir befinden uns in einem Zustand ungezügelter Freude: Freiheit! Licht und Wärme! Wir lassen es uns gut gehen!

Ich bin mit meinem Freund Sanja bei ihm zu Hause. Wir gehen hinaus auf die Straße. Sein älterer Bruder Lescha2 kommt uns mit einem Freund entgegen, und wir werfen uns ein paar Sätze zu:

– Hey, wo treibt ihr euch herum?

– Na, ihr Grünschnäbel! Wir treiben uns nicht herum, wir gehen spazieren …

– Ja klar, ihr seid wohl eher auf Müßiggang zu den leichten Mädchen …

– Was?

Ich und mein Freund rennen zur Seite und lachen. Die anderen bleiben stehen:

– Ihr Grünschnäbel! Was wisst ihr schon vom Leben?

– Auf jeden Fall mehr als ihr, und mit den Mädchen, die mit „N“ beginnen, freunden wir uns nicht an!

– Das werden wir ja sehen! Zieht es euch jetzt zu den Mädels?

– Ja, aber wir rennen nicht Hals über Kopf zu ihnen …

– Natürlich! Das liegt darin, dass eure Libido noch nicht so stark ist … wartet nur, bis ihr siebzehn seid, dann werden wir ja sehen, wohin ihr rennt! Die Libido ist dann siebenmal größer als jetzt!

Wir brachten als Antwort nur ein Lachen hervor und meinten beim Weglaufen:

– Egal, aber zu solchen rennen wir nicht!

Im Sommer weißelt und streicht Mutter wie immer das Haus, und ich und meine Schwester helfen dabei, Sachen aus den Schränken nach draußen zu tragen; die Nachbarsmädchen sind gekommen, wir spielen alle auf dem Hof und passen derweil auf unsere jüngeren Brüder auf.

Zu jener Zeit hatten unsere Eltern bereits sechs Kinder: 1981 wurde Vanja (Johann) geboren, ein dunkelhaariger Junge mit kastanienbraunen Augen, und 1983 kam das sechste Kind hinzu: Kolenka3, der blond war und blaue Augen hatte.

Wir alle spielen etwas, jeder seinem Alter entsprechend in seinem Freundeskreis; mich interessierte, was meine ältere Schwester gefunden hatte und mit ihren Freundinnen anschaute:

– Schaut mal, Mädchen, was für ein interessanter Kalender, er zeigt sogar die Wochentage an, man kann zum Beispiel erfahren, an welchem Wochentag man geboren ist.

– Maria, schau doch mal, welcher es bei mir ist!

– Elvira, bei dir ist es Sonntag, und dem Sternzeichen nach bist du Löwe.

– Und welche Tage und Zeichen gibt es noch, Mädels, und was ist das überhaupt?

– Sascha, schau her! Es gibt insgesamt zwölf Zeichen wie auch Monate im Jahr, das sind die Sternbilder am Himmel, zum Beispiel ist vom 23. Juli bis zum 23. August das Sternbild des Löwen, das heißt zu dieser Zeit befindet sich die Sonne im Sternbild des Löwen, daher ist ein Mensch, der in dieser Zeit geboren wurde, dem Sternzeichen nach Löwe, na und so weiter, hast du verstanden? Hey Mädchen! Aus diesem Material könnte man ein ordentliches Kleid für meine Puppe herstellen …

Die Mädchen legten den Kalender beiseite und stürzten sich auf das Stück Stoff, während ich den Kalender, den ich zum ersten Mal sah, in die Hand nahm und mit großem Interesse betrachtete: Woher hatten die Eltern ihn? Interessant, welcher Wochentag ist es bei mir?

Ich drehte den Kreis in der Mitte und stellte meinen Geburtstag ein: 02.01.1974. Der Kalender zeigte Mittwoch an, und just in diesem Moment ereignete sich zum ersten Mal in meinem Leben etwas: Ich vernahm eine Stimme, die mit meiner inneren Stimme zu mir sprach:

– Das ist nicht dein Tag, du konntest nicht an diesem Tag geboren worden sein!

„Na so etwas, das habe ich wohl selbst gesagt …“, dachte ich. Doch da es sehr überzeugt gesagt worden war, rannte ich sofort ins Haus zu meiner Mutter.

Mama war im hinteren Schlafzimmer, weißelte die Decke, und der Putz fiel auf sie herab – sie hatte zu tun, und dennoch wandte ich mich an sie:

– Mama, an welchem Tag bin ich geboren?

– Mein Sohn, du bist schon so groß und weißt nicht, wann du Geburtstag hast? Am zweiten Januar!

– Mama, ich weiß, wann ich Geburtstag habe, mich interessiert, welcher Wochentag das war?

– Ein Freitag!

Meine Seele jauchzte vor Freude:

– Mama, wie kann das sein? Ihr habt wahrscheinlich irgendetwas verwechselt? Der Kalender zeigt nämlich, dass es ein Mittwoch war!

– Mein Sohn, ich habe sechs Kinder und weiß alles über jeden von euch: wann, wo und um wie viel Uhr ihr geboren seid, ich weiß sogar die genauen Minuten und Stunden!

Du bist unser ältester Sohn und bist als einziger von allen zu Hause geboren, in diesem Schlafzimmer, morgens um 7.30 Uhr, und es war ein Freitag. Es war so, dass ich am Donnerstag im Krankenhaus war, dort haben mich die Ärzte untersucht und gesagt: „Junge Frau, bei Ihnen dauert es noch etwa zwei Wochen!“ Ich habe ihnen geantwortet: „Zu Ihnen komme ich nicht mehr!“ Ich weiß nicht einmal, warum ich das so gesagt habe …

– Mama! Aber der Kalender zeigt Mittwoch an!

Meine Mutter war zunächst sauer:

– Was denn, glaubst du, ich erinnere mich nicht? Es war ein Freitag, der 21. Dezember 1973 … – und presste sich sofort die Hand auf den Mund. Denn nun hatte sie sich verplappert! – Ich und Emma Kondratjevna, die Gynäkologin, – sie hat damals entbunden – haben entschieden, dass es für dich besser ist, wenn wir dich nach dem Jahreswechsel 1974 eintragen lassen, also zwölf Tage später, dann kommst du auch später in die Armee, mit der Frühjahrseinberufung für die Jungs, die 1974 geboren sind, und nicht mit der Herbsteinberufung der 73er, du wärst sehr jung für sie gewesen …

– Mama! Wie konntet ihr nur! Das heißt, wir haben zwölf Jahre lang nicht meinen Geburtstag gefeiert?

– Was macht das denn für einen Unterschied?

– Für mich macht das einen Unterschied, das ist mein Tag, er wurde mir GEGEBEN

– Sascha, was für einen Blödsinn redest du da? Niemand konnte ihn dir geben, da gibt es niemanden auf der weiten Welt außer mir und Papa …

– Mama! Daran zweifle ich, denn meine Seele hat sich über diesen Tag gefreut …

– Welche „Seele“ denn nun?

– Mama! Ich bin schon groß! Ich verstehe alles – wir haben eine Seele, ich kann sie fühlen!

– Das ist alles Blödsinn, mein Sohn!

– Mama! Das ist kein Blödsinn, und ich möchte nicht länger daran glauben! Die Seele ist unsterblich, und wir gehören Jemandem

– Was? Jetzt sag bloß, dass es Gott auf Erden gibt …

– Warum auch nicht?

– Also, mein Sohn, ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas von dir höre! Wo hast du dieses „Wissen“ nur her? Von unseren Baptisten?

– Ich bin nicht mit ihnen befreundet. Wenn sie an unseren Häusern vorbeigehen und in ihre Kirche laufen, nennen ich und meine Jungs sie „Gottesanbeter“.

– Und wozu? Sie sind unserer kommunistischen Gesellschaft einfach hinterher, der Idee unserer Partei, in der ich Mitglied bin …

– Mama! Und was, wenn Gott tatsächlich existiert?

– Schon wieder fängst du damit an. Streich dir das aus dem Kopf!

– Mama! Ab diesem Jahr feiere ich meinen Geburtstag am 21. Dezember!

– Na das hat gerade noch gefehlt! Du feierst ihn, wie er bei dir in der Geburtsurkunde steht – am zweiten Januar!

– Nein, Mama. Mein Geburtstag ist am 21. Dezember, und ich werde ihn nur an diesem Tag feiern.

– Das wird nicht gehen, Sascha, weil ich dir dein Festessen am zweiten Januar zubereite.

– Und ich werde nichts davon essen! Das ist nicht mein Tag …

– Ich habe dazu alles gesagt.

Damals war ich sehr sauer auf meine Mutter.

Die „Stimme“ hingegen vergaß ich und bildete mir ein, ich hätte zu mir selbst gesprochen …

Alles ist wie immer, die Ferien waren im Flug vergangen und die Schule beginnt wieder, neue Lehrer, ein neuer Klassenlehrer und ich spüre, wie wir alle älter geworden sind: Wir sind nicht mehr die sorglosen Kinder, die sich in den Pausen ganz dem Spiel hingaben, die Welt um sich herum vergaßen und keinerlei fremde Blicke einfingen; die Zeiten hatten sich geändert, und mit ihnen änderten auch wir uns: die Mädchen versammeln sich in den Pausen gemeinsam und sprechen über uns Jungen, wir dagegen sprechen über sie, machen Späße und versuchen, mit ihnen anzubändeln; die Mädchen sind allerdings lockerer als wir und nehmen leicht mit uns Kontakt auf …

Pause. Wir stoßen uns gegenseitig vom Schwebebalken – einem viereckigen Balken, der auf Pfählen von einem Meter Höhe liegt; zwei Teilnehmer, die auf ihm balancieren, versuchen, einander mit den Händen herunterzustoßen, und derjenige, der auf dem Balken stehen bleibt, hat gewonnen.

Ich stoße meinen Klassenkameraden Andrej hinunter und warte auf den nächsten „Sparringspartner“. Als dieser stellte sich mein Freund „Puschkin“ heraus. Er ist im Vorteil: Er hat einen kräftigeren Körperbau und ist fast einen Kopf größer als ich.

– Sanek! Du verlierst, spring besser gleich herunter, bevor ich dich hinunterwerfe …

– Vova! Mach dir nichts vor, die Größe ist doch nicht das Wichtigste. Geschicklichkeit, Einsatz der Hände, Standfestigkeit …

– Ja, im Kampf wäre ich dir allemal unterlegen! Auf dem Balken allerdings um nichts in der Welt, meine Hände sind länger!

Ich lächelte und bereitete mich auf das Duell vor.

Puschkin zögert, beißt sich auf die Lippen und will sich offensichtlich nur allzu gern revanchieren: Er streift mich an der Schulter, ich weiche aus, Puschkin schafft es nicht zurück in die Ausgangsposition, als meine Hand ihn erreicht und seine Brust trifft, er kann sich nicht auf dem Balken halten und fliegt herunter …

– Sanek! Komm noch einmal, ich bin ausgerutscht!

– Na gut, machen wir’s nochmal …

Zögerlich klettert Puschkin auf den Balken, sein Blick verrät eine gewisse Orientierungslosigkeit, doch auch den riesigen Wunsch, um jeden Preis zu gewinnen.

Nach dem Schlagwechsel fliegt Puschkin rücklings nach unten, greift mit den Händen in die Luft und erwischt dabei meine purpurfarbene Pionierkrawatte, die an meinem Hals baumelt, er ergreift sie automatisch und zieht mich mit hinab; – ich fliege mit dem Gesicht voraus nach unten, es geht alles so schnell, dass ich es nicht schaffe, auf den Händen aufzukommen, und mein Gesicht knallt auf den Erdboden, der hauptsächlich aus Kies besteht – eines der Steinchen gerät zwischen meine Zähne und schlägt einen der Vorderzähne entzwei.

– Geht’s noch, Puschkin?!!

– Entschuldigung, Sanja, das wollte ich nicht, war keine Absicht …

Ich streife mich ab, spüre den zunehmenden Schmerz, ich halte automatisch die Hand vor den Mund, renne zum Waschbecken und achte in der Eile nicht auf die Blicke der um mich herumstehenden Klassenkameraden, die zu unfreiwilligen Zeugen des Ereignisses geworden sind.

Eiligen Schrittes kommt mir die Schuldirektorin Ljudmila Filippovna entgegen:

– Chrispens! Komm bitte her zu mir! Ich habe alles beobachtet, zeig mir dein Gesicht …

Ich brauche kein Mitleid und wende den Blick ab, um nicht in Tränen auszubrechen, doch die Kränkung ergreift von meiner Seele Besitz, noch ein Funken und die Emotionen brechen aus …

Zärtlich berührte Ljudmila Filippovna mit der Hand mein Kinn:

– Sascha, nun komm, zeig mir dein Gesicht!

Unsere Blicke treffen sich, gerne würde ich mich selbst sehen, doch der feuchte Schleier ermöglicht es mir nicht, mein Abbild in ihren Augen zu erblicken.

– Sascha, es ist alles ok! Es wird keine Narben geben, die Ärzte machen dir eine Krone über den Zahn, lass dich also nicht runterziehen …

Ich möchte nicht antworten, es scheint, als brauchte ich nur den Mund zu öffnen, und die Tränen würden aus mir strömen wie ein Fluss, also nicke ich nur einverstanden mit dem Kopf …

– Sascha, wo ist deine Tasche? Ich lasse dich nach Hause, erhol dich!

Im Krankenhaus, in das ich mit meiner Mutter gegangen war, stellte der Arzt nach kurzer Untersuchung fest:

– Die Zähne Ihres Sohnes haben sich noch nicht endgültig herausgebildet und befinden sich sozusagen noch im Wachstum, deswegen müssen wir mit dem Zahn warten, ansonsten beschädigen wir die anderen Zähne …

– Und wie soll er da in die Schule gehen und sich mit Gleichaltrigen unterhalten?

– Tut mir leid, aber da kann man nichts machen, man muss geduldig sein und sich damit anfreunden.

Mir war es natürlich peinlich und ich zog mich für lange Zeit in mich zurück, bemühte mich, mein Lächeln zu unterdrücken, um meine Zähne nicht zu zeigen … Ich mied den Besuch lärmender Veranstaltungen wie der Schuldiskotheken und wollte lieber abseits und unbemerkt bleiben.

Doch je mehr ich mich bemühte, nicht bemerkt zu werden, umso mehr Aufmerksamkeit zog ich an. So auch eines Tages, als ich beim Gespräch mit meinen Freunden abseits stand, den Jungen und Mädchen beim gemeinsamen Tanzen zusah und plötzlich jemandes neugierigen Blick auf mir fühlte; ich sah genauer hin: Es war meine Klassenkameradin Dascha4, ein großes schlankes Mädchen mit langem, dichtem, kastanienbraunem Zopf – der Farbe, die ich so sehr liebte; sie sprach mit ihren Freundinnen und hatte ihren Blick fest auf mich gerichtet, ich schaute sie noch einmal an und mir kam es vor, als würde ich in ihrem Blick versinken. Sie lächelte, während ich meine Augen irritiert abwandte – mir wurde klar, dass ich immer noch Gefühle für sie empfand: Bereits in der dritten Klasse war ich heimlich in sie verliebt; doch zu jener Zeit versuchte Inna, eine Schönheit mit hellblonden langen Haare, sich mit mir anzufreunden.

Damals unterrichtete uns Sophia Alexandrovna, und sie war schuld daran:

– Sascha! Ich habe entschieden, dich zu Inna umzusetzen, sie hat mir versprochen, einen guten Jungen aus dir zu machen.

– Nein, ich will nicht neben ihr sitzen!

– Sei kein Sturkopf, meine Entscheidung steht fest, und außerdem war es nicht meine Initiative …

Ich hatte nicht erwartet, dass es so interessant sein würde, sich mit Inna zu unterhalten – es gab kein Thema, über das wir nicht gesprochen hätten. Inna hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, und wir lachten häufig laut; die Lehrer waren etwa einen Monat lang nachsichtig mit uns, danach setzten sie uns auseinander. Wir jedoch tauschten uns noch lange Zeit danach aus, ich begleitete sie bis nach Hause, wobei wir, völlig ins Gespräch vertieft, die Zeit vergaßen. Inna hatte es „Puschkin“ sehr angetan, er versuchte, uns auseinanderzubringen, wann immer sich die Möglichkeit ergab, doch es war zwecklos: Ich empfand es als angenehm, Zeit mit ihr zu verbringen. Meine Gefühle waren allerdings vergeben, ich schwärmte für Dascha … Wie doch die Zeit verfliegt – drei Jahre waren seitdem vergangen! …

– Sascha!

Ich drehte mich um. Hinter mir stand lächelnd meine Klassenkameradin Aygül, ein cleveres Mädchen mit je einem Zopf an beiden Schultern; ihre Haarfarbe rief stets Verwunderung bei mir hervor: Normalerweise haben die Kasachen schwarze Haare, ihre jedoch waren braun und sie hatte breite Augen. Aygül, eine von Daschas Freundinnen …

– Ja!

– Warum tanzt du nicht?

– Ich weiß nicht, irgendwie will ich nicht …

– Na komm schon, vergiss dein „Ich will nicht“, du bist schüchtern!

Ich lachte laut auf:

– Wie kommst du denn darauf?

– Ich bin der Meinung, dass einer, dem ein Mädchen gefällt, sie nur wegen seiner Schüchternheit nicht um einen Tanz bittet …

– Aygül! Worauf spielst du genau an?

– Gefällt dir Dascha?

– In welchem Sinn?

– Sascha! Komm sei ehrlich – im direkten!

– Mir gefallen alle Mädchen in unserer Klasse!

– Jetzt weich nicht aus, ich habe dich etwas anderes gefragt …

Wir sahen einander in die Augen, und ich versuchte, ihre Gedanken zu lesen, zu verstehen, was sie mit all dem erreichen wollte, und wie ich erhobenen Kopfes aus dieser Frage herauskommen sollte.

Soll ich lügen? Nein, das kann ich nicht – ich werde rot vor Scham:

– Na gut. Ja, sie gefällt mir.

– Das habe ich mir gedacht, als ich euch beobachtet habe! Menschen können einander nicht ohne Gefühle so ansehen. Ich habe eine Bitte an dich, du darfst sie mir nur nicht ausschlagen, versprich mir, dass du sie erfüllst, denn wir sind doch Freunde, nicht wahr? Und dieses Gespräch bleibt unter uns.

– Ja natürlich, kein Problem, was für eine Bitte?

– Bitte Dascha um einen langsamen Tanz, sie wartet darauf …

– Oh nein, das kann ich nicht, Aygül! Ich sollte jetzt gleich gehen …

– Sascha! Du hast es versprochen! Komm, zeig mir zuliebe, dass du nicht schüchtern bist …

Man konnte die Aufrichtigkeit in ihren Augen lesen, und wir lächelten einander an.

– Na gut, Aygül. Sobald ein langsamer Tanz kommt, bitte ich Dascha um einen Tanz.

Ein breites Lächeln trat auf Aygüls Gesicht, sie zwinkerte mir zu, und ich erwiderte ihr Zwinkern.

Doch kaum war sie beiseitegetreten, als mich die Angst ergriff: Wie sollte ich auf Dascha zugehen? Was sollte ich sagen? Und wie würde das für die anderen aussehen?

Am liebsten wäre ich in der Erde versunken – sie war größer als ich, was sollten meine Freunde nur denken?!

Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass es mir peinlich war: für das, was ich hatte und wie ich aussah … Ein in zwei Hälften zerschlagener Zahn, außerdem stamme ich aus einer vielköpfigen Familie und meine Eltern leben nicht friedlich miteinander, ja, ich schäme mich für mein Äußeres … Kurzum: Es ist eine Schande und sonst nichts!

Man hörte den Beginn eines langsamen Tanzes, ich blickte Aygül an, die mit ihren Augen auf Dascha zeigte …

Wie vor einem Kampf holte ich tief Luft und lief auf Dascha zu, unsere Blicke trafen sich, sie sah mich lächelnd an, ich hingegen war schrecklich verlegen:

– Dascha! Darf ich dich um einen Tanz bitten?

– Ja.

Was war das nur? Das Gefühl ist unbeschreiblich: Man denkt an ein Mädchen, beobachtet es verstohlen, wenn es an die Tafel gerufen wird, man erforscht jeden ihrer Gesichtszüge, bemerkt ihre roten Wangen und das Lächeln, das über ihre Lippen fließt, spürt ihre Laune, ihre Wärme, und dann, wenn sie ganz nahe ist, berühren deine Hände ihre Taille und ihre Hände deine Schultern, die Augen halten ihrem Blick nicht stand und fixieren die Stelle, an der zwei zart geschwungene Hügel aus ihrer Brust hervortreten, und mühevoll begreift man, dass es unanständig aussieht, wenn man den Blick nicht abwendet, doch man fürchtet sich, ihrem Blick zu begegnen, setzt alle Kräfte in Bewegung, hält ihrem Blick stand und sieht in ihren Augen ihre ganze Schönheit, von ihrem still gehauchten „Ja“ angefangen.


  1. Wörtlich aus dem Russischen. Die entsprechende deutsche Redensart lautet: „Vor Angst ist ihm/ihr das Herz in die Hose gerutscht.“

  2. Koseform für Aleksej.

  3. Eine weitere, besonders verniedlichende Koseform für Nikolaj.

  4. Koseform für Daria.

Kapitel 5. Ein unglaubliches Ereignis

Frühjahr 1989, die Zeit verfliegt und wird von der Vorbereitung auf die Abschlussklausuren und von Diskussionen eingenommen, wer nach unserer „unvollständigen Mittelschule“ wohin geht; die einen gehen ans Technikum1, die anderen beginnen eine Ausbildung. Ich und mein bester Freund Alexander beschließen, uns am polytechnischen Technikum von Semipalatinsk einzuschreiben, wobei wir allerdings nur wenig selbst entscheiden können; meine Eltern sind dagegen, vor allem meine Mutter …

– Nein, Saschenka, du machst an der Gorkij-Schule weiter, du brauchst einen mittleren Abschluss, ohne ihn kannst du dich nicht am Institut einschreiben.

– Mama! Ich will mich nicht am Institut einschreiben, das packe ich nicht …

– Und das Technikum „packst“ du? Wie stellst du dir das vor? Und was willst du später einmal arbeiten?

– Ich habe alles durchdacht, am Technikum geht man in einem Jahr die zehnte und die elfte Klasse durch und bekommt einen mittleren Abschluss, danach mache ich eine dreijährige Ausbildung als technischer Mechaniker. Ich werde Meister …

– Mein Sohn! „Meister“ ist auch eine einfache Arbeitskraft und keine leitende Stellung, damit macht man keine Karriere! Überleg dir das nochmal, sonst ärgerst du dich später das ganze Leben lang, dir stehen alle Türen ans Institut offen, du bist sehr begabt und kannst vieles erreichen, wenn du willst!

– Mama! Mein Entschluss steht fest, bitte lasst mich ohne Auseinandersetzungen gehen, ich bitte euch …

– Na gut. Aber ich und Papa helfen dir nicht, du schreibst dich selbst ein, legst die Aufnahmeprüfungen ab, nimmst am Wettbewerb teil, und wenn sie dich nicht zulassen, dann kommst du zurück, beendest die Mittelschule und schreibst dich am Institut ein. Versprich mir das.

– Ok, Mama! Versprochen!

Nach Beendigung der Schule fuhr ich mit meinem Vater nach Semipalatinsk, wo wir die Unterlagen am Polytechnikum abgaben und wo man uns das Datum der Aufnahmeprüfungen nannte.

Sommer 1989. Ich bin 15 Jahre alt, sitze in der Sommerküche und bereite mich auf die Aufnahmeprüfungen am Technikum vor: Ich gehe Mathematik, Geometrie, Literatur und Russisch durch …

Mein Vater kommt herein und schaut mich mitleidig an:

– Wie sieht’s aus, mein Sohn, bist du bereit? Es ist soweit. In drei Tagen brechen wir auf. Wir fahren mit dem Bus, wir könnten natürlich mit dem Dienstwagen mit Chauffeur fahren, aber ich habe Urlaub genommen. Wir steigen bei Tante Valja2 ab, du wohnst eine Woche bei ihnen und legst die Prüfungen ab, und ich fahre solange zu meinen Schwestern nach Serebrjansk.

– Ok, Papa! Ich laufe rüber zu Sanja und sage es ihm, er fährt doch auch mit!

Semipalatinsk, 31. Juli 1989, Montag, sechs Uhr morgens. Am Busbahnhof warten Olja3, die Schwester meines Freundes Alexander, und ihr Mann auf uns. Olja war acht Jahre älter als wir: eine schlanke junge Frau mit dichten, gekräuselten, kastanienbraunen Haaren, die im Wind wehten …

– Sanek! Komm wir fahren zuerst zu meiner Schwester, du kannst danach zu deinen Leuten fahren …!

– Nicht doch, Sanja, das ist mir irgendwie unangenehm …

– Du bist mein Freund! Was soll daran unangenehm sein?!

– Nein-nein, meine Entscheidung steht fest, – Alexander wusste nur allzu gut, dass es sehr schwierig war, mich von einer Sache abzubringen, denn ich war ein stolzer Junge, der niemandem zu etwas verpflichtet sein wollte.

Ich fuhr mit meinem Vater an den Flusshafen.

– Mein Junge, ich muss herausfinden, wann das Passagierschiff „Raketa“ über den Irtysch zu meinen Schwestern nach Serebrjansk fährt …

An der Kasse führte mein Vater ein längeres Gespräch mit dem Kassierer, währenddessen er mich ansah. Schließlich wandte er sich an mich:

– Mein Sohn, die „Raketa“ fährt jetzt sofort, um sieben Uhr morgens, einmal täglich, ich kann also erst morgen früh fahren: Ich muss dich doch noch zu Tante Valja bringen und dann zurück – das schaffe ich beim besten Willen nicht!

– Fahren Sie doch jetzt, Papa! Ich finde selbst zu Tante Valja, ich kenne den Weg, und ich bin schon groß: Ich bin 15 Jahre alt!

– Nein, Sascha, kommt nicht in Frage, du bist noch zu klein …

– Papa, das schaffe ich schon!

Mein Vater lächelt und blickt mich zögerlich an:

– Einerseits wäre das eine Idee, aber angenommen, du irrst dich und verwechselst etwas?

– Was sollte ich denn verwechseln, Paps, ich bin doch nicht zum ersten Mal hier …

– Also gut, mein Junge, – erklärte sich mein Vater immer noch zweifelnd einverstanden:

– Dann schau her, mit diesem Bus der Linie elf kommst du direkt zur Militärsiedlung „Junost“4, dort wohnt Tante Valja gleich neben der Haltestelle: Hausnummer 23, Wohnung 20. Sascha, hast du alles verstanden?

– Natürlich, Papa, dort waren wir doch schon mehrere Male!

In der Siedlung „Junost“ angekommen, fand ich schnell das Haus, in dem meine Tante wohnte. Alle Türen sind mit einem braunen Lederimitat beschlagen, was für Militärswohnungen typisch ist. Ich klingle, keiner macht auf, ich klingle noch einmal – vollkommene Stille, also begann ich, mich umzusehen: Eigentlich stimmt doch alles … Wohnung 23, Hausnummer 20 … Vielleicht sind sie noch nicht von der Datscha zurück? Gestern war noch Wochenende, die Arbeit beginnt gegen acht, und bei Onkel Andrej weiß ich gar nicht, wie sie es in der Armee handhaben. Oder hatte ich doch etwas verwechselt? Ich kratzte mich am Nacken und entschied, hinunterzugehen und auf der Bank bei der Einfahrt auf sie zu warten.

Etwa zwei Stunden sitze ich nun schon auf der Bank – jetzt ist es 9.30 Uhr. Ich beobachte das Haus: Je höher die Sonne steigt, umso mehr Leute erscheinen im Hof, doch zu meinem Bedauern waren keine mir bekannten Gesichter darunter. Fieberhaft gehe ich in Gedanken meinen weiteren Handlungsplan durch. Soll ich zu Onkel Rafael fahren? Bei ihnen würde ich wie aus heiterem Himmel auftauchen: Er und Tante Katja wissen ja nicht, dass ich in der Stadt bin. Was sollte ich ihnen sagen? Kurzum: Ihre Gastfreundschaft konnte ich nicht beanspruchen.

Ich fahre also ans Technikum und frage nach einem Platz im Wohnheim für die Prüfungszeit …

Am Technikum wurde meine Bitte abgelehnt:

– Sie sind noch nicht bei uns eingeschrieben, folglich sind wir dazu nicht berechtigt.

Ich wollte nicht darauf bestehen …

Als ich aus dem Technikum trat, blickte ich auf meine Armbanduhr: Es war bereits zwölf Uhr mittags.

Ich seufzte: Ob ich will oder nicht, ich muss wohl zu Onkel Rafael fahren … Hoffentlich ist wenigstens Onkel Artur, ihr 36-jähriger noch unverheirateter Sohn, nicht zu Hause … Was würde er über mich denken? Alle hielten ihn für einen „Gelehrten“, was sollte er mit mir anfangen? Er selbst war Arzt …

Den Weg zu Onkel Rafael kannte ich genau, die Adresse benötigte ich nicht, denn ich hatte sie mir gemerkt, als ich mit meinem Vater meine Unterlagen ans Technikum gebracht hatte. Nach Abgabe der Dokumente musste mein Vater damals geschäftlich weiterfahren, während ich mit dem Linienbus Nummer sieben so zu Onkel Rafaels Haus fuhr, wie Vater es mir erklärt hatte.

So trottete ich zur Bushaltestelle, zu der es ungefähr 500 Meter waren; ich hatte keinerlei Gedanken im Kopf, sondern lief einfach mit einer stumpfsinnigen Gleichgültigkeit gegenüber der Situation vor mich hin …

Nach 100 Metern spürte ich, wie ein Windhauch aufkam, und es war, als träte jemand von der linken Seite an mich heran. Ich konnte dem keine Beachtung schenken, denn dieser „Jemand“ fing plötzlich an, mit meiner inneren Stimme zu mir zu sprechen:

– Jetzt bist du alleine, ohne Mama und Papa; nun ja, der Mensch bleibt immer irgendwann alleine. EINER jedoch ist immer bei dir – DER, Der immer bei dir ist.

Ich erstarrte und verlangsamte meinen Schritt, meine Verwunderung und Fassungslosigkeit waren grenzenlos: Spreche ich mit mir selbst? Wie kann das sein?

Vorsichtig brachte ich innerlich die Frage hervor:

– Wer bist du?

Die Antwort folgte unverzüglich, auch diesmal wieder mit meiner inneren Stimme:

– DER, Der immer bei dir ist. Den du gejagt hast.

Sofort wurden in meinem Bewusstsein die Erinnerungen nach oben gespült, wie ich und meine Freunde die Jungs aus der Kirche beleidigt und „Gottesanbeter“ gerufen hatten.

Unfreiwillig flossen mir Tränen aus den Augen, und ich begann zu weinen:

– Gott! Bist DU es wirklich? Wenn Du es bist, dann verspreche ich Dir, ein guter Mensch zu werden: Ich lasse mich taufen, lese die Bibel, befolge Deine Gebote und werde weder trinken noch rauchen!

Die mir antwortende Stimme war kalt und eine unbeschreibliche Kraft ging von ihr aus:

– Du kennst den Weg zu deiner Tante. Fahr jetzt!

Als ich im Bus saß, begriff ich nicht, was vor sich ging und warum ich so ruhig war. Meine Seele war ruhig – als würde sie Ihn seit ewigen Zeiten kennen … Und in diesem seligen Zustand schlief ich ein.

Ich erwachte genau dort, wo ich aussteigen musste, und kaum war ich ausgestiegen, als die Stimme erneut auftauchte:

– Dort an der Tankstelle ist ein Taxi; geh dorthin und sag, dass du zum Busbahnhof musst.

Ich öffnete leicht den Mund vor Verwunderung und stellte mir nun ohne besondere Angst die Frage:

– Wozu?

– Dort ist eine Fernsprechstelle: Du rufst in Urdzhar an und findest die Adresse heraus.

Als ich das gehört hatte, freute ich mich und sprach zu mir selbst: „Ja sicher! Das ist genau die richtige Idee! Und das Wichtigste: Sie ist logisch!“ Ich antwortete IHM:

– Also gut, ich gehe dorthin und frage den Taxifahrer.

Eine Antwort blieb aus, das war das Letzte, was mir gesagt wurde …

Ich dachte damals nicht daran, dass die Buslinie elf, mit der ich gekommen war, auf ihrem Rückweg direkt zum Busbahnhof fuhr … Ich kannte Seinen Plan nicht, kannte Seine Weisheit und Sein Vorhaben nicht. Er kannte mich und wusste, dass ich niemals ohne Grund zum Taxifahrer gegangen wäre.

Der Taxifahrer, ein kleiner Mann mit kurz geschnittenen, grau schimmernden Haaren, war dem Aussehen nach etwa 50 Jahre alt und gerade fertig mit dem Tanken; als er den Schlauch aus der Tanköffnung nahm, warf er einen Blick auf mich:

– Klar doch, mein Junge, warte fünf Minuten hier, man hat mich hierher gerufen – ich lasse die Kunden einsteigen, dann komme ich zu dir. Bleib hier.

Als ich im Taxi saß, bemerkte ich auf den hinteren Plätzen zwei Frauen mit blonden Haaren, die sich ähnelten wie ein Ei dem anderen und ungefähr vierzig Jahre alt waren; sie unterhielten sich lebhaft miteinander.

Der Taxifahrer achtete aufmerksam auf die Strecke und fragte, nachdem er einen Augenblick in meine Richtung geschaut hatte:

– Ich sehe, dass mit dir etwas passiert ist, Junge. Warum musst du zum Busbahnhof?

Die Frauen verstummten und hörten unserem Gespräch zu. Ausführlich und konfus antwortete ich dem Taxifahrer.

Einstimmig riefen die Frauen:

– Was für ein Zufall! Wir sind vor zehn Jahren von Urdzhar nach Semipalatinsk umgezogen, wie ist dein Nachname, Junge?

– Chrispens!

Meinen Nachnamen hatte sich noch niemand beim ersten Mal merken können, immer wurde nochmal nachgefragt, doch die Frauen fragten nicht nach:

– Solche kennen wir nicht, aber du bist unser Landsmann, und wir laden dich zu uns ein: für die Zeit, in der du Aufnahmeprüfungen hast, und dann kommen deine Eltern und finden eine Wohnung für dich.

Ich wunderte mich über eine derart liebenswerte Einladung, konnte sie jedoch aus demselben Grund nicht annehmen: Ich wollte niemandem zur Last fallen:

– Danke für die Einladung, aber es tut mir leid, das geht nicht.

– Junger Mann! Wir akzeptieren dein Nein nicht, unsere Entscheidung steht fest, wir fahren zu uns, auch wir haben Kinder, und ihr werdet mit Sicherheit Freunde; deine Eltern hätten mit unseren Kindern sicher genau dasselbe getan! Also: Wir fahren zu uns.

– Danke, aber nein!

Der Taxifahrer blickte mich noch einmal an und sprach meinen Nachnamen völlig ohne Stocken aus – zum ersten Mal in meinem Leben wurde mein Nachname beim ersten Versuch richtig und so klangvoll ausgesprochen:

– Ist Johann Chrispens nicht dein Onkel?

Vor Verwunderung sperrte ich den Mund auf. Ich sah den Chauffeur aufmerksam an: Es war noch nie vorgekommen, dass ich jemanden mit meinem Nachnamen getroffen hatte, vor allem nicht 500 Kilometer von Zuhause entfernt und in einer so großen Stadt, – einem Nachnamen, der mir peinlich war und den ich ändern wollte:

– Nein, kenne ich nicht, mein Onkel ist es nicht …

– Er ist mein bester Freund, ein guter Mensch, wenn du willst, können wir zu ihm fahren. Er nimmt dich auf wie einen Sohn, euer Nachname kommt sehr selten vor, er wird sich sehr freuen, jemanden mit demselben Nachnamen und vielleicht sogar einen Verwandten zu sehen.

– Nein, nein danke!

Unsere Blicke begegneten sich. Ich sah mir den Taxifahrer genau an und konnte nicht glauben, dass all das ein Zufall war. Der Taxifahrer lächelte:

– Und was machst du am Busbahnhof?

– Ich rufe meine Leute an und finde die Adresse meiner Tante heraus.

Die Frauen, die unser Gespräch aufmerksam belauscht hatten, verkündeten:

– Wir lassen dich nicht gehen, Junge, das können wir nicht, wir würden uns Sorgen um dich machen!

Ich schwieg und hatte meine Entscheidung schon lange getroffen. Der Taxifahrer blickte auf die Straße und fuhr fort:

– Na gut. Es gibt eine dritte Variante: Ich kann dich ins Hotel bringen.

– Und wie viel kostet das?

– Zweieinhalb Rubel pro Tag.

Ich rechnete gedanklich meine finanziellen Möglichkeiten durch: Heute ist Montag, morgen die Prüfung: Mathematik und Geometrie in einem, am Donnerstag Russisch und Literatur … Kurzum, am Donnerstagabend kann ich nach Hause fahren, also maximal vier Tage, das macht zehn Rubel; acht Rubel kostet das Busticket, 14 das Flugticket, ich werde also sparen und nehme den Bus; mit dem Essen kostet mich alles maximal 30 Rubel, und ich habe 40 Rubel dabei!

– Danke, wissen Sie, in diesem Fall ist diese Variante die beste Lösung, und ich wäre Ihnen sehr verbunden!

Die Frauen schlugen beim Aussteigen noch einmal vor, bei ihnen abzusteigen, und ich lehnte erneut ab:

– Vielen Dank! Aber das ist mir unangenehm, ich möchte Ihnen keinesfalls zur Last fallen.

Die Frauen, denen der Fahrer ihre Sachen übergab, gaben diesem mit auf den Weg:

– Tovarish5 Chauffeur! Wir sind unfreiwillig zu Zeugen der Situation dieses Jungen geworden, es tut uns sehr leid, dass er unsere Einladung nicht angenommen hat, doch wir bitten Sie: Finden Sie ihm eine möglichst sichere Bleibe, für ihn ist es doch trotz allem eine große und unbekannte Stadt!

– Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich richte alles ein: Er ist doch auch mein Bekannter!

Auf dem Weg nahmen wir noch einen Fahrgast auf, der Taxifahrer erklärte ihr, er müsse zum Hotel fahren, weswegen sie warten müsse, und sie war einverstanden. Der Taxifahrer handelte einen Preis aus und ließ mich im Hotel; während ich meine Ausweise hervorkramte, war er schon beim Auto, ich konnte ihm nicht einmal „Danke“ sagen …

Die Hotelzimmer bestanden aus zwei Betten, die auf beiden Seiten des Zimmers standen, beide Betten waren frei. In der linken Ecke stand ein kleiner Kühlschrank, in der rechten ein Fernseher auf einem Tischchen, in der Mitte war ein großes Fenster, das geöffnet war, frische Luft wehte herein, und die Sonnenstrahlen fielen auf den Boden, teilten das Zimmer in zwei Teile und bildeten eine Lichtschranke, die zum Fenster führte; ich lief sie entlang, trat ans Fenster, kniff unfreiwillig die Augen vor dem Lichtspektrum zusammen und blickte blinzelnd auf die Landschaft hinter dem Fenster: Die Erde aus der Vogelperspektive zu sehen, war für mich völlig neu! Die Stadt ging ihren gewohnten Gang: Fußgänger gingen durch den kleinen Park, die einen beeilten sich, die anderen saßen auf Bänken und erfreuten sich an der Schönheit der Natur, der nur die Stille fehlte: Von überall drang der Lärm der Fahrzeuge her, die über die Straßen rasten.

Die Sonnenstrahlen waren so grell, dass ich einen Blick auf ihren Ursprung werfen wollte; vorsichtig hob ich die Augen und versuchte, während ich mit den Augen zum Ursprung wanderte, das strahlende Licht des Himmelskörpers zu ertragen, doch das war nahezu unmöglich: Meine Augen schlossen sich automatisch von selbst. Während ich einige Zeit mit geschlossenen Augen am Fenster stand, ließ ich den heutigen Tag Revue passieren, und vor dem Hintergrund der ständig wechselnden Eindrücke beschäftigte mich nur eine Frage: Jene Stimme, was ist das, WER war das? Wie heißt ER? War es tatsächlich Gott, Der einfach so zu jedem von uns kommen kann? Wo lebt Er? Wie hat Er es gesagt … „DER, Der immer bei dir ist. Den du gejagt hast.“

In Anbetracht dieser Erinnerungen traten mir Tränen in die Augen, aus irgendeinem Grund war ich gekränkt und traurig, ich wollte IHN wieder hören und versuchte, mit IHM zu sprechen, doch da ich nicht wusste, wie ich mich an IHN wenden sollte, suchte ich mühevoll nach Worten:

– Gott! Herr! Ich weiß nicht, ob ich mich richtig an Dich wende … Ich weiß nicht, wie es richtig geht, aber eines weiß ich: DU warst heute meine Rettung, ich habe Dich nicht darum gebeten, hätte nicht einmal gedacht, dass man darum bitten kann, doch DU hast meine Not gesehen und bist zu mir herabgekommen, zu mir, der ich das nicht verdient habe, denn ich bin doch nicht gläubig.

Gott! Ich kann es nicht glauben, wenn mir jemand davon erzählt hätte, hätte ich es niemals geglaubt, doch es ist mit mir geschehen, ich habe alles durch mein Dasein erfahren, DU hast mich überzeugt, dass Du existierst, es ist alles wahr, und ich werde erfüllen, was ich Dir versprochen habe, ich weiß nicht einmal, wie es dazu gekommen ist; doch wenn ich es versprochen habe, dann erfülle ich es, und ich hoffe, dass ich in Deiner Bibel alles finde, was mich interessiert. Gott! Wenn DU mich hörst, dann antworte mir bitte!

Eine Antwort blieb aus. Lange noch lauschte ich in der Stille. Doch es war hoffnungslos – um mich herum war nur Schweigen …

– Gott! Ich danke Dir! Niemals werde ich diesen Tag und das, was DU für mich getan hast, vergessen. Ich danke Dir, GOTT!

Die Aufnahme ans Technikum bestand ich. Die ersten Monate des Lehrjahres waren für mich am schwierigsten: Ich hatte schreckliches Heimweh, schwelgte in Erinnerungen, und es gab einfach nichts, worüber ich mich hier freuen konnte: eine neue Umgebung, neue Freunde – alles war fremd und unvertraut; doch mit der Zeit nahm ich immer aktiver am neuen Leben teil und gewöhnte mich schrittweise an alles. Mit der Wohnung hatte ich Glück: Meine Verwandten kannten eine alte Oma, eine Kriegsveteranin, sie hatte keine eigenen Kinder, und ich war für sie wie ein Enkel – sie nahm nicht einmal Miete von mir; „Oma Lida“ war wirklich ein sehr guter Mensch, ich lernte vieles von ihr, vor allem die Wahrheit ohne Kränkung anzuerkennen, so bitter sie auch gewesen sein mochte, meinen Hochmut zu zügeln und selbständig zu sein.

Ich hatte von Anfang an eine ernsthafte Einstellung zum Studium, und dennoch schloss ich das erste Semester mit zwei Dreiern ab: In Physik und Chemie sah ich einfach kein Land, ich hatte viele Lücken aus der Schulzeit und war dennoch unendlich motiviert, zudem gab es den Anreiz, ein erhöhtes Stipendium zu bekommen, das 25 Prozent höher als ein normales war. Ich wollte meine Eltern so wenig wie möglich belasten – sie unterstützten mich, womit sie nur konnten. Sie riefen mich häufig an und gratulierten mir zu allen Feiertagen; so erhielt ich auch heute, am zweiten Januar 1990, einen Anruf aus einer anderen Stadt. Ich nahm den Hörer ab und vernahm eine nur allzu vertraute Stimme:

– Mein Sohn! Wir gratulieren dir zum Geburtstag!

– Danke, Mama, aber mein Geburtstag ist schon vorbei: Er war am 21. Dezember, und ich habe ihn mit meinen Freunden gefeiert. Ich bin schon 16, wie kommt es, dass ihr nicht versteht, dass der Geburtstag der Tag ist, an dem ein Mensch geboren wurde, und nicht der, der fälschlicherweise eingetragen wurde; als ich bei euch gewohnt habe, habe ich mich euch untergeordnet, aber jetzt wohne ich alleine, Mama, also gratuliert mir bitte am 21. Dezember, ok?

– Sascha! Es tut mir weh, das zu hören, wir wollten es für dich so gut wie möglich machen, aber wenn du darauf bestehst, gratulieren wir dir in Zukunft am 21. Dezember …

– Danke, Mama!

Das war ein Anstoß für mich: Das zweite Semester schloss ich ohne einen einzigen Dreier ab, die darauf folgenden ebenso, und ich verteidigte mein Diplom erfolgreich.

Danach folgte im Jahr 1993 der Militärdienst bei den Luftstreitkräften der Republik Kasachstan, die zu jener Zeit bereits unabhängig war, denn die UdSSR war im Dezember 1991 zerfallen.


  1. Das russische Technikum ist etwa zwischen einer Ausbildung und einem Studium einzuordnen. Nur wer das Technikum abgeschlossen hat, kann später Meister werden.

  2. Koseform für Valentina.

  3. Koseform für Olga.

  4. Auf Deutsch: Jugend.

  5. Übersetzung aus dem Russischen (товарищ): Genosse. Gebräuchliche Form der Anrede in zahlreichen sozialistischen Staaten.

Kapitel 6. Glaubensanzeichen

Begegnungen, Begegnungen, Begegnungen … Unser ganzes Leben ist ein einziger Kreislauf von Begegnungen, doch im Trubel des Alltags messen wir ihnen zeitweise nur wenig Bedeutung bei und denken nicht daran, dass jede von ihnen ein Ereignis ist, und erst wenn das Bewusstsein plötzlich durch eines dieser Ereignisse hell auflodert, fangen wir an, ihren Sinn zu begreifen. Wie auch den Sinn unserer Träume. Dies jedoch erst viel später und manchmal endgültig zu spät.

August 1998, gegen sieben Uhr abends. Die abendliche Sonne steht tief am Himmel und zeigt an, dass sie bald unter den Horizont sinkt. Ich fahre über die Hauptstraße von Urdzhar. Im Zentrum sehe ich seitlich an der Ampel einen Polizeiwagen der staatlichen Fahrzeuginspektion; ein junger Inspektor weist mich mit dem Stab an, anzuhalten, und ich komme seiner Aufforderung nach …

Er nimmt erschöpft die Kappe ab und setzt sich plötzlich zu mir ins Auto:

– Wie lang ist’s her? Sanek! Mein Wehrdienstkamerad, ich wollte dich schon lange anhalten, ein wenig plaudern und mich an unseren Wehrdienst erinnern, aber ich konnte dich beim besten Willen nicht alleine erwischen!

– Oh! Hallo, Valera1! Ja, lang ist’s her, vier Jahre schon, aber du hättest mir doch ein Zeichen geben können!

– Nun ja, ich wollte nicht stören: Alle sind so beschäftigt und ständig in Eile …

Wir sahen einander an und lächelten uns gegenseitig zu; ich freute mich aufrichtig, meinen Kollegen aus der Armee zu sehen …

– Was kann man da machen, Valera! So ist alles in diesem Leben eingerichtet …

– Weißt du, ich denke oft an unsere Tage in der Armee zurück … Die Flucht am dritten Diensttag, erinnerst du dich? Ich habe dich doch damals dazu angestiftet, die UdSSR war zerfallen und überall war nichts als Chaos, Nationalismus, alle sind davongelaufen, die einen aus dem Land, die anderen vor dem Heer, wie auch wir damals … 800 Kilometer von Zuhause entfernt, weißt du noch? Die ersten Tage wie im Biwak: ohne Wasser, ohne Essen, 60 Km durch die Steppe, dann mit den reisenden Händlern, per Anhalter, 50 Kilometer von Zuhause haben uns glaub‘ ich die Bullen erwischt …

– Ich erinnere mich, Valera! Ich kann mich an alles erinnern: an ihre Schläge, ihre Beleidigungen, wie sie „Deserteure!“ geschrien haben … Aber wen haben sie angeschrien? 18-jährige Jungs, die noch keinen Eid geschworen haben, und umgegangen sind sie mit uns wie mit erwachsenen Kerlen! An die Rückkehr erinnere ich mich auch noch. Dieses Gefühl kann man nicht wiedergeben, das versteht nur einer, der es mitgemacht hat, nicht wahr?

– Sanek! Hättest du damals bei der Flucht nicht mitgemacht, ich wäre auch nicht geflohen, ich habe mir damals gesagt: „Ich fliehe nur, wenn Sanja flieht“, du warst anders als die anderen, hast Vertrauen eingeflößt, du bist mir schon aufgefallen, als wir damals im Kreiswehrersatzamt übernachtet haben; ich kann mich an den Kampf erinnern, an dem du beteiligt warst, als du deinen Gegner mit drei Schlägen umgehauen hast … Mich hat die Szene beeindruckt, als das Licht eingeschaltet wurde, auf dem Boden eine Blutlache, und er liegt da, wie die Offiziere gebrüllt haben und wie sie dich wegbrachten …

– Ja, da war was los, ich weiß noch, ich war damals sehr wütend, der eine Einberufene hat mich mitten in der Nacht mit den Worten „Hey, du Arschloch, geh runter vom Bett!“ geweckt. Ich habe ihm gesagt, er solle sich verpissen, daraufhin ist er auf mich losgegangen, und ich musste mich an das erinnern, was man uns zu Studienzeiten in der Boxschule beigebracht hat … Auch wenn ich mir wegen des Boxens meinen eingesetzten Zahn noch einmal einsetzen lassen musste! Nach jener Nacht hat sich etwas in mir geändert, und ich konnte nicht mehr so zuschlagen, ich war es leid … Ich bin doch noch mit gemischten Gefühlen zur Armee gegangen, mit Kampfeslust, und ich war nationalistischen Gedanken nicht abgeneigt, verstehst du? Aber gerade in der Armee hat sich alles geändert, gerade die „Tshurki“, wie wir sie damals genannt haben, haben mich nicht fallen lassen, haben mich unterstützt, gerade sie haben es nicht zugelassen, dass ich zerbreche, dass meine Seele zerbricht, sie sind wie Brüder für mich gewesen …

Und von meinen nationalistischen Überzeugungen ist nur der Ärger auf mein Volk geblieben, wegen dem man uns ins ferne Kasachstan geschickt hat; übrigens, wir warten schon seit sechs Jahren auf die Dokumente zur Ausreise nach Deutschland, eine unglaubliche Bürokratie: Alles wird überprüft, alle möglichen Tests und Sprachprüfungen werden angeordnet, aber wie sollen wir unsere Muttersprache „perfekt beherrschen“, wo es doch Verbote gab und man deswegen verfolgt wurde? In meinen Adern fließt deutsches Blut, kann sich meine Nationalität etwa allein dadurch ändern, dass ich in Kasachstan geboren bin?

– Das heißt, du fährst ins „Vaterland“?

– Ja, Valera …

– Hm, ok. Und ich habe deine Brüder häufig gesehen, habe sie beobachtet … Ach übrigens, wo ist deine Stute?

– Haben wir verkauft …

– Schade. Was für ein Gang, und sie war unglaublich schön!

– Ja, da hast du recht, es kam vor, dass ich in den Stall gehe, und sie scharrt schon mit den Hufen und schnaubt – sie grüßt mich und schaut mich mit verständnisvollen Augen an, und dann legt sie den Kopf auf die Schulter, als würde sie einen umarmen …

Da hörte man ein Klopfen am Seitenfenster, ich drehte mich um: Den Kopf lächelnd zur Seite gelegt, stand ein großer schwarzhaariger junger Mann beim Auto, ich öffnete leicht das Fenster:

– Oh, Serzh2! Was für eine Ehre, was machst einer wie du allein, zu Fuß und ohne „Security“ hier?

– Mein Auto ist liegengeblieben und steht in der Werkstatt. Und wen sehe ich da? Sanja – bist du es oder nicht? Bist du noch lange hier?

– Wir sind eigentlich gerade fertig, vielleicht noch fünf Minuten …

Ich drehte mich zu Valera um, Valera blickte mich fragend an:

– Ich hätte nicht gedacht, dass du ihn kennst – ist er dein Freund?

– Ja, kann man wohl sagen …

– Und wo ist dein Kumpel und Geschäftspartner?

– In Alma-Ata.

– Ok, auf geht’s, du wirst erwartet, Sanja. Ich will dich nicht aufhalten, außerdem muss ich arbeiten …

Wir drückten uns fest die Hände und blickten einander in die Augen:

– Valera! Zu guter Letzt möchte ich dich noch etwas fragen: Bist du nachsichtig, wenn du irgendwann solche Soldaten schnappst, wie wir sie waren?

Ohne nachzudenken, antwortete er mit einem Lächeln:

– Natürlich, Bruder!

Als ich aus dem Auto stieg, begrüßten ich und Serzh uns noch einmal, dazu umarmten wir uns brüderlich:

– Was ist los, San, gibt es Probleme?

– Aber nicht doch, das ist mein Mitstreiter, wir haben zusammen Wehrdienst geleistet.

– Du warst beim Militär …? Warum hast du dich denn nicht freigekauft?

– Damals hatte ich kein Geld und wollte meinen Eltern keine Probleme bereiten: Weißt du, wir sind eine große Familie und mussten jede Kopeke einzeln umdrehen. In der damaligen Zeit des Umbruchs konnte man die Krise wegen des im ganzen Land herrschenden Durcheinanders überall spüren: Was gehört wem und wofür muss man zahlen? Fast alle Unternehmen stellten ihre Tätigkeit vorübergehend ein – die Menschen hatten monatelang kein Einkommen …

Serikzhan blickte mir aufmerksam in die Augen:

– Ja, welch großer Staat fiel doch damals auseinander – fast halb so groß wie der gesamte Erdkreis! Wie viele menschliche Schicksale … Das neugeborene Kasachstan wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion um sein rechtmäßiges Erbe beraubt. Wir hatten noch Glück, dass wir uns friedlich trennen konnten, ganz ohne Krieg …

– Gott sei Dank!

Serikzhan nickte zustimmend:

– Wie sagt man doch bei uns im Osten: „Gott behüte dich vor einem Leben im Umbruch …!“

Einen Moment lang erhasche ich den Blick meines Gesprächspartners und bemerke eine nicht zu verbergende Schwermut in seinen Augen. Meine Intuition sagt mir, dass er nicht wegen des verlorenen Landes betrübt ist:

– Serzh, und warum bist du hier mit einer solchen Laune …?

Mit der ihm eigenen Offenheit meint Serikzhan:

– Meine Laune ist furchtbar, ich dachte, sie würde in der Kneipe steigen, aber nein, es ist aussichtslos …

– Was bedrückt dich denn?

– Hast du gehört, dass der Aufseher beseitigt wurde? – Er war eine Autorität unter den Kriminellen in Urdzhar.

– Ja, aber ich habe ihn nicht persönlich gekannt …

– Für mich war er wie ein Bruder, er hat mich protegiert. Wenn es zu Reibereien mit der kriminellen Szene kam, bin ich zu ihm gegangen, und er hat alles friedlich geregelt. Heute war das Begräbnis, der gesamte Clan kam zusammen, aus Russland waren viele Leute da, viele haben ihn gekannt, und kein Blatt Papier hat mehr zwischen sie gepasst, du weißt doch, dass wir Muslime ein Gesetz haben: Alle Kränkungen, alle Schulden müssen auf dem Friedhof genannt werden, nach dem Begräbnis ist es zu spät. Nun, als gefragt wurde, wer eine Kränkung durch ihn erfahren hat oder wem er Geld schuldet, der möge sofort sprechen: Hier würde er Gerechtigkeit erfahren; er schuldete mir Geld, ich habe ihm seinerzeit aus der Patsche geholfen, einen Teil hat er mir zurückgezahlt, den Rest hat er nicht geschafft. Und ich habe geschwiegen …

– Mein Beileid, sei stark, Serzh, ich finde, dass er auf Messers Schneide lief, und da rutscht man leicht mal aus. Er tut mir wirklich leid.

– Da gebe ich dir Recht, einen solchen Weg sollte man besser nicht beschreiten – das verzeiht Allah nicht, man sollte so ehrlich und rein wie möglich leben …

– So ist es, Serzh! Für alles muss man sich irgendwann vor Gott verantworten oder wie wir Ihn auch immer nennen – Es gibt nur einen Schöpfer für alle Lebewesen auf diesem Planeten!

– Sanek! Du erstaunst mich: Du sprichst wie einer, der den Glauben gefunden hat …

– Ich habe vor kurzem den Glauben gefunden, aber es ist natürlich noch kein tiefer Glaube … Vor zwei Jahren habe ich meine ganze Familie überzeugt, sich taufen zu lassen; wir haben in der evangelisch-lutherischen Kirche die Taufe empfangen.

– Ist das die Kirche, die bei euch in „Berlin“ steht?

– Nein, das ist die Christliche Gemeinde, ich hätte es selbst nie gedacht, aber gerade aus diesem Bethaus habe ich jetzt viele Bekannte und Freunde – unsere Wohngegend ist schon fast komplett in Deutschland, und so haben viele dieser Gläubigen in unserer Wohngegend Häuser gekauft und sind jetzt meine Nachbarn. Die evangelisch-lutherische Kirche steht gegenüber der „Kasachischen Landwirtschaftstechnik“, Serzh …

Serikzhan hörte mir aufmerksam zu und schaute mich mit vor Verwunderung weit geöffneten Augen an, was ich amüsant fand, und so begann ich zu lachen:

– Entschuldigung, Serzh, aber so, wie du mich anglotzt, musst du neben deinen Augen nur noch deinen Mund aufreißen, um das Bild der Verwunderung zu vervollständigen!

Wir steckten uns gegenseitig zu einem Gelächter an, das unsere Lehrer in der Schule als „Prusten von Pferden“ bezeichnet hätten, was uns jedoch egal war: Wir lachten aus vollem Herzen.

In der Ferne hielt Valera durch leichtes Winken mit seinem Polizeistab Autos an und sah uns vermutlich an wie Verrückte, wir jedoch kehrten nach ausgiebigem Lachen langsam zurück zu unserem vorigen Zustand:

– Sanek! Von deiner exakten Schilderung habe ich große Augen bekommen! Wie sieht es bei dir mit der Zeit aus, gehen wir ins „Ravshan“?

– Eigentlich habe ich hier schon genug Zeit verloren, ich müsste schon längst bei jemandem sein …

Serzh blickte mich beleidigt an:

– Sanek! Wir sehen uns so selten, schlag mir deine Gesellschaft an einem für mich so schwierigen Tag nicht aus, oder willst du, dass ich mit meiner Frau zuhause sitze und mich über Putzlappen unterhalte? Ich habe ihr gesagt, dass ich gleich zurückkomme, bin aber selbst verschwunden. Niemand weiß, wo ich bin, und du bist ein Mensch, der mir seelenverwandt ist und mit dem man nicht nur über die Sorgen des Alltags sprechen kann. Also, San?

Die Worte Serikzhans berührten mich, er hatte sie von Herzen vorgebracht.

– Aber Serzh! Ich bin dir eine schlechte Gesellschaft, du weißt doch, dass ich so gut wie nicht trinke, außerdem muss ich noch fahren …

– Genau das brauche ich jetzt: Welchen Sinn haben die betrunkenen Gespräche, nach denen man sich nicht erinnern kann, worüber man gesprochen hat? Wir Kasachen sind maßvoll, das bringen uns unsere Alten von Kindesbeinen an bei, wie du rauche auch ich nicht und habe meine Prinzipien!

Nun war ich es, der sich nicht ablenken ließ und seinem Gesprächspartner aufmerksam zuhörte. Ich versuchte, ihn zu verstehen und dachte über jedes seiner Worte genau nach …

– Also gut, Serzh, gehen wir!

– Ich lade dich ein, Sanja! Alles geht auf mich, außerdem habe ich einen Vorschlag für dich, aber gut, das können wir bei Tisch besprechen …

Ich rief Valera zu:

– Valera! Bist du noch lange hier?

Valera unterbrach sein Gespräch mit einem Fahrer und rief:

– Noch ein Stündchen!

– Ich gehe kurz ins „Ravshan“, wenn ich länger dort bleiben sollte, dann bis bald und viel Erfolg!

– Wünsch‘ ich dir auch, und vergiss nicht: Du musst noch fahren!

– Ok!

Im Restaurant „Ravshan“ herrschte eine für mich ungewohnte Atmosphäre: Düster war es und es lief gedämpfte Musik …

Wir setzten uns an einen kleinen Tisch in der hinteren Ecke, die Bedienung kam zu uns:

– Was darf ich Ihnen bringen?

Serzh meinte mit auf den Tisch gelegten Händen:

– Sveta3, darf ich vorstellen, das ist mein Bruder Alexander! Achte nicht darauf, dass er weiß ist, wir haben einen VATER! – Serzh blinzelte mir mit einem Auge zu …

Die blonde junge Frau streckte mir die Hand aus:

– Sveta!

Ich stand kurz auf und reichte ihr ebenfalls die Hand:

– Freut mich, Alexander!

– Ebenso! Also, was darf ich Ihnen bringen?

Ein breites Grinsen zog sich über Serzhs Gesicht:

– Sanek! Sollen wir „Kasy“ bestellen, das kasachische Nationalgericht aus Pferdefleisch?

– Es besteht doch hoffentlich nicht aus meiner Meteliza4?

– Bruder! Willst du mich kränken, deine Stute galoppiert noch immer …

– Na gut, bestellen wir es, und für mich bitte noch Schaschlik aus Lammfleisch mit Zwiebeln, und bitte mit viel Zwiebel …

– Bruder! Nimm noch etwas von den Heißgerichten: Plov5, Beschbarmak6 oder vielleicht Borsch?

– Danke, Bruder! Heute lieber nicht.

– Svet, also dann Kasy mit Gurken, für mich wie gewohnt 50 Gramm7, und für meinen Bruder … San, was trinkst du?

– Zhigulevskoe-Bier.

Sveta, die uns prüfend anschaute, schrieb unsere Bestellung auf:

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739457130
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Scheidung Lebenssinn Erlösung Glaubenszeugnis Gott Herr Buße unglaubliche Geschichten Liebesdrama

Autor

  • Alexander Chrispens (Autor:in)

Alexander Chrispens wurde 1973 in der ehemaligen UdSSR geboren, schloss die technische Mittelschule ab und lebt und arbeitet seit 1999 in Deutschland.
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Titel: BERÜHRUNG