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Doggy Style

Liebe ist tierisch

von Ina Linger (Autor:in) Cina Bard (Autor:in)
345 Seiten

Zusammenfassung

Inhalt: Wenn es eines gibt, das Liam Chandler, A-Klasse-Schauspieler, reich und gutaussehend, im Übermaß hat, dann sind das eindeutige Angebote von schönen Frauen zum netten Zeitvertreib. Bedauerlicherweise hat seine neue, tierische Mitbewohnerin Grace Kelly große Freude daran, genau diese Damen aus dem Haus zu graulen – bis Nayeli Lopéz in Liams Leben tritt. Die selbstbewusste ‘Hundeflüsterin’, die sich weder von Liams Reichtum und Ruhm noch von seinem Aussehen beeindrucken lässt, macht sich mit Eifer daran, die gestörte Zweibeiner-Vierbeinerbeziehung wieder ins Lot zu bringen. Dabei weckt sie ungewollt Liams Interesse und Ehrgeiz, denn wie kann es sein, dass jemand gegen seinen Charme immun ist? Bald schon steht bei den gemeinsamen Trainingsstunden mit Gracie zumindest für Liam ein neues Ziel im Vordergrund: Nayeli verführen – ohne sich dabei in sie zu verlieben. Zu Liams großer Überraschung scheint letzteres allerdings schwerer zu sein als geahnt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

DeckblattDoggyStyle2klein 

 

 

 

 

 

 

Die Leiden des jungen L.

 

 

 

 

 

Montag.

 5:30 Uhr: Nach einer weiteren rauschenden Party ins Koma … Bett fallen.

5:40 Uhr: Zwei Aspirin einwerfen und mit einem Dreiviertelliter eines importierten Hochgebirgsbachwassers herunterspülen.

06:30 Uhr: Toilettengang Nummer 1.

06:32 Uhr: Toilettengang Nummer 2.

07:12 Uhr: Aufwachen auf dem flauschigen Badezimmerteppich mit einem Handtuch als Decke und Toilettengang Nummer 3.

11:30 Uhr:

 

Schrecklich. Er hatte ein solch schreckliches Leben. Was genau so schrecklich war? Alles. Obwohl derzeit keine Dreharbeiten anstanden, hatte er heute bereits sehr früh aufstehen müssen. Um acht! Acht Uhr! Morgens! Trotz seines offensichtlich schonungsbedürftigen Zustandes hatte sein Personal Trainer keine Gnade gekannt und ihn schreckliche zwei Stunden lang in seinem Privatfitnessstudio schwitzen lassen. Die Aspirin sowie jahrelanges Partytraining hatten ihn zwar vor Kopfschmerzen bewahrt, jedoch bestimmt nicht vor dem Muskelkater, der ihn die nächsten Tage begleiten würde und es jetzt schon vom letzten Mal tat. Und das alles nur, weil dieser Schinder ihn neben dem Training, als das er seine Malträtierungen verkaufte, mit der grässlichen Aussicht auf eine drohende Zukunft als schwabbeliges Dickerchen, das keiner mehr engagieren würde, zusätzlich unter Druck gesetzt hatte.

Zum Frühstück hatte es obendrein einen dieser schrecklichen, zuckerfreien Proteinshakes gegeben. Mit Spirulina und Spinat – Liam kannte kein Lebensmittel, das mit diesen beiden Buchstaben begann und das er nicht grauenvoll fand. Spitzkohl, Sprotten, Sprossen … allesamt furchtbar. Und nun durfte er sich gerade mal eine halbe Stunde ausruhen.

Die Sonne brannte unbarmherzig heiß vom Himmel herab. Es war einer dieser Tage, an denen man sich am liebsten mit einem eisgekühlten Drink an den Pool verzog. Unter einen riesigen Sonnenschirm! Mit Klimaanlage … und vielleicht einem Halstuch, damit man sich nicht erkältete bei all dem kühlen künstlichen Wind.

Wieso nur hatten andere Menschen es so gut, während er dieses Leben voller Entbehrungen führen musste? Und es war keines, das er sich selbst ausgesucht hatte, wie sein bester Freund Nick ihm in seiner unendlichen Naivität immer weiszumachen versuchte: Zum Schauspieldasein wurde man geboren, es war eine Berufung, etwas, dem man folgen musste. Er hatte gar keine Wahl gehabt.

Während er matt an seiner mit einem isotonischen Getränk gefüllten Trainingsflasche nuckelte und auf einem gütigerweise von seinem Personal Sadist im Halbschatten bereitgestellten Stuhl mehr hing als saß, war alles, was er wollte, nun endlich wenigstens kurz dem Vogelgezwitscher in den Rosen- und Hortensienbüschen um sich herum lauschen zu dürfen. Doch nicht einmal das war ihm vergönnt, denn statt des lieblichen Gesanges, ertönte eine Reihe kurzer klackernder Geräusche, die auch direkt neben ihm nicht aufhörten, sondern sich sogar noch steigerten. Dazu  stieg ein beinahe stechender Vanilleduft in seine Nase. Das stakkatoeske Geräusch kam von einem Paar teurer High Heels, genaugenommen nur noch von einem, und fand mit einem harten, letzten Schlag einer roten Sohle auf hellen Terrakottafliesen seinen fulminanten Abschluss. Im nächsten Augenblick baumelte etwas vor seinem Gesicht herum und kleine Teile davon bröckelten in seinen Schoß und auf den Boden.

„Alycia, Liebes, bitte mach keinen Dreck, den du nicht selbst entfernen möchtest“, brachte er geschwächt heraus. „Die neue Haushälterin kommt frühestens morgen Vormittag und ich habe bei meinem brutalen Tagesprogramm nun wirklich keine Zeit, selbst aufzuräumen.“

„Oh“, ertönte ihre zuckersüßzitronensaure Stimme. „Ohooo, das tut mir aber leid, aber vielleicht wäre das gar nicht erst passiert, wenn dieses ungezogene Biest eine Erziehung genossen hätte!“

„Hattest du wieder Streit mit deiner Schwester? Das tut mir leid zu hören“, sagte Liam nach außen hin mitfühlend, innerlich die Augen verdrehend.

Er wollte sich nicht schon wieder langweilige Einzelheiten des letzten Streits zwischen seiner zeitweiligen Geliebten und ihrer ehemaligen Studentinnenverbindungsschwester anhören, aber wenn Alycia in dieser Laune war, dann war es besser, sie einfach quatschen zu lassen und innerlich abzuschalten. Was etwas schwer war, da das seltsame Gebilde, das sie in der Hand hielt, nun komplett in seinen Schoß fiel. Sein müder Blick sank nach unten. Rosa … Leder … eine halbe Blüte … oh. Das war eine der Sandalen, die er Alycia zu ihrem Geburtstag gekauft hatte und die nun offensichtlich das neueste Opfer seines kleinen felligen Lieblings geworden waren. Vermutlich hatte dieser die andere in eines seiner Geheimverstecke getragen und kaute gerade genüsslich darauf herum.

Mit einem schmerzverzerrten Verziehen des Gesichtes öffnete er die Schenkel und das, was einmal das Werk eines talentierten Schuhmachers gewesen war, fiel zu Boden. „Kauf dir doch einfach neue“, murmelte er matt.

„Einfach so? Ich dachte, das war eine Spezialanfertigung, ein Unikat, nur für mich designt. Einmalig, Liam!!“

Er schloss kurz die Augen. Seine deutlich benötigte Ruhepause wurde empfindlich dezimiert – er fragte sich ohnehin, warum Alycia immer noch da war, schließlich wohnte sie nicht bei ihm – und die Morgensonne war gewandert und verwandelte sein schattiges Plätzchen langsam in eines in der direkten Sonne.

„Alycia, Liebes, komm doch bitte kurz her.“

„Ich bin doch schon da!“, giftete sie, doch er setzte seinen besten Hundeblick auf und registrierte zufrieden, wie ihre wütende Fassade Risse bekam.

„Noch ein wenig näher … hier herüber“, er streckte matt eine Hand nach ihr aus und winkte sie heran, ließ seinen flehenden Blick weiterhin auf ihren Augen ruhen und Alycia bewegte sich langsam auf ihn zu.

„Stopp“, rief er und schob sie an der Hüfte ein paar Millimeter zurück und nach links. „So ist es perfekt.“

Und das war es auch, denn ihr großer Sonnenhut und ihre noch riesigere Handtasche befanden sich nun genau im richtigen Winkel, um seinen ausgestreckten Füßen wieder Schatten zu bieten. Ansonsten hätte er sie anziehen müssen und dazu war er nach den Strapazen der letzten Stunden nun wirklich nicht in der Lage.

Alycia sah ihn irritiert an und hüpfte dann mit einem kleinen Kreischen wieder in den Schattenbereich der Markise. „Willst du, dass ich eine Lederhaut bekomme wie Meghan Williams von nebenan?! Sie ist fünfundvierzig und sieht aus wie siebzig. Igitt! Du weißt doch, wie empfindlich meine Haut ist!“

Natürlich tat er das, schließlich erinnerte sie ihn jeden Tag daran. Ein dauerhaft sonniger Ort wie L.A. war nichts für jemanden wie sie, aber wenn man es genau nahm, war sie ja auch nicht wegen des Wetters hier.

Liam gab ein unwilliges Brummen von sich und musste seine eigene Suche nach mehr Sonnenschutz nun ganz allein bewältigen. Er hob seinen Hintern gerade mal so viel, dass er den Stuhl ein paar Zentimeter zurückschieben konnte, ohne Kratzer auf den Fliesen zu hinterlassen. Also zusätzliche zu denen von Alycias Absätzen. Gott, es nahm aber auch wirklich niemand Rücksicht auf ihn!

Das Klacken ertönte erneut, weil Alycia die armen Terrakottafliesen wieder mit ihrem Schuh bearbeitete.

„Du musst endlich etwas gegen dieses gemeingefährliche Vieh unternehmen!“, verlangte sie.

Liam hielt inne und sandte ihr einen wütenden Blick. „Sie ist kein Vieh, sondern eine kleine Lady!“ Im Gegensatz zu manch anderer Anwesender.

„Ach, kleine Ladies zerkauen also anderer Leute Schuhe, wenn der kleine Gentleman nicht daheim ist?!“, schnappte sie.

Liam wollte etwas entgegnen, doch Alycia giftete weiter. „Womit wir zur nächsten Frage kommen: Wo war der Herr denn gestern Nacht beziehungsweise heute bis in die frühen Morgenstunden?! Ich hab dir mindestens zehn Nachrichten hinterlassen und ich weiß, dass du an deinem Handy klebst, als wäre es ein Körperteil!“

Ooops. Normalerweise um keine Ausrede verlegen, arbeitete Liams Hirn heute aufgrund all der Strapazen der vergangenen Stunden noch auf Sparflamme. „Ich … war nur mit ein paar Freunden unterwegs.“

„Und einer dieser Freunde hieß nicht zufällig Joel Milano? Der gestern eine Privatparty in seinem Club veranstaltet hat?“

Er-wischt.

„‚Woher weißt du das denn, Alycia?‘“, ahmte sie seine Stimme mehr schlecht als recht nach. „Das weiß ich von den Reportern draußen, weil die gefragt haben, wieso ich nicht da war!“

„Kann sein, dass er auch dabei war …“, wich Liam aus.

„Liam Chandler! Du hast versprochen, mich ihm vorzustellen! Du hast gesagt …“

Er hörte nur mit halbem Ohr hin, als eine erneute Tirade über ihre Zukunftspläne folgte, die er gemeinerweise boykottierte, wenn er sie nicht zu jeder Party mitschleppte. Was ja eigentlich zu Beginn einer der Hauptgründe ihres Zusammenseins gewesen war. Er hatte das ehemalige Model durch einen Kollegen bei TFP kennengelernt – oder eher auf dessen Geburtstagsparty. Mit ihren hellblonden Locken, den großen blauen Augen und ihrer zierlichen Figur machte sie sich einfach gut als Eventbegleiterin. So quasi als gewisses Extra zu seiner eigenen sexy Erscheinung. Anfangs hatte er sie sogar dafür bezahlt, mit ihm auf Filmpremieren, Partys oder anderen Events zu erscheinen, bis sie schließlich zusammen im Bett gelandet waren und ihre ‚Beziehung‘ persönlicher geworden war. Dass er sie anschließend weiter in seinem Leben geduldet hatte, lag eindeutig an Nicks halbjähriger Abwesenheit und dem Gefühl der Einsamkeit, das Liam meist in dieser Zeit verstärkt quälte. Alycia und er hatten zwar nicht viel gemein, aber es war besser, von ihr genervt zu sein, als sich über einen längeren Zeitraum allein und ungeliebt zu fühlen. Zumindest hatte er das zu Beginn angenommen.

Dann hatte sie leider begonnen, sich ebenfalls für eine Schauspielkarriere zu begeistern, und versuchte nun permanent, ihn und seine ‚Connections‘ als Sprungbrett in eben diese zu nutzen. Anfangs hatte er es noch irgendwie niedlich gefunden. Außerdem war der Sex gut und es ab und an auch mal ganz angenehm, wenn er nicht ständig mit einer neuen Begleiterin auftauchte, der er erst alles erklären musste. Die Presse liebte es, weil sie zur Abwechslung über eine ernsthafte Beziehung spekulieren konnte – was es aus seiner Sicht selbstverständlich nicht war – und wenn die Presse zufrieden war, war er zufrieden. Meistens. Manchmal. Dann und wann … Hauptsache, sie schrieben immer wieder brav über ihn. Darüber hinaus: Ständig eine Neue haben konnte ja jeder und diese eigentlich recht lockere Beziehung dauerte nun bereits die erstaunliche Zeit von zwei Monaten an.

„… würde vorschlagen, dass wir heute Nachmittag einen dieser Käfige bestellen, die so viele haben. Die Hunde sollen sich darin sogar ganz wohl fühlen und ich würde natürlich auch einen großen kaufen, obwohl … sie ist ja so ein kleines Vi… Ding, da reicht dann auch die Standardgröße.“

Liam blinzelte, aber nicht wegen erneuten Sonneneinfalls. „Entschuldige?“, erkundigte er sich in der Hoffnung, sich verhört zu haben.

„Ein Hundekäfig für Gracie“, wiederholte die junge Frau vor ihm so, als würde sie über das Wetter reden.

„Meine Gracie wird nicht eingesperrt!!“, fuhr er auf und auch Alycias Augen funkelten zornig.

„Liam Chandler, wenn das hier“, sie wedelte mit der Hand zwischen ihnen beiden hin und her, „ernst werden soll, dann muss etwas passieren! Meine Güte, ich habe ja nicht verlangt, dass du sie weggeben sollst!“

Liams Unterkiefer klappte herunter.

„Und für die Zeit, in der sie nicht da drinnen ist, habe ich ihr schon einmal etwas gekauft und zwar einen ganz süßen, pinken, mit Swarovski-Diamanten besetzten  Maulkorb –“ Alycia stockte, als Liam sich mit einem übertriebenen Stöhnen von seinem Stuhl erhob und sie daraufhin um einen Kopf überragte.

„Du hast was?“, fragte er wütend.

Alycia sah ihn verständnislos an, machte dann aber einen Schritt zurück, allerdings nicht aus Angst, sondern offensichtlich aufgrund seines postalkoholischen Mundgeruches, wie sie mit einem Handwedeln vor ihrer Nase demonstrierte. Schließlich zuckte sie die Schultern.

„Wir können ja auch eine andere Farbe nehmen, wenn dir pink nicht gefällt“, bot sie an.

Liams Mund öffnete und schloss sich wieder und das ein paar Mal in Folge, weil selbst einem wortgewandten Mann wie ihm im ersten Moment buchstäblich die Worte angesichts solcher Infamie fehlten. Vor seinem inneren Auge tauchte eine zitternde, leise winselnde Gracie auf, die traurig in einem Metallgefängnis saß, und er schnappte entsetzt nach Luft. Sein geschockter Geist ersetzte Gracie daraufhin durch Alycia, was ihn zu einem kurzen belustigten Grunzen veranlasste. So war es viel besser, bloß keine furchtbaren Erinnerungen hochkommen lassen.

„Du wirst dich jetzt aber nicht übergeben, oder?“, missinterpretierte die Frau vor ihm das Geräusch pikiert und brachte vorsichtshalber noch ein wenig mehr Abstand zwischen sie beide, nervös auf ihr Kleid – reine indische Mugaseide, maßgeschneidert – und ihre Schuhe – mit einer berühmten roten Sohle und aus der eigentlich erst nächste Woche erscheinenden Sommerkollektion – blickend.

Liam, seines Zeichens edler, wenn auch nicht uneigennütziger Spender all dieser Gaben richtete sich hoch auf und versuchte, seine schmerzenden Glieder zu ignorieren.

„Meine liebste Alycia“, begann er zu sprechen und sich gleichzeitig auf sie zuzubewegen. „Eher (aua) wird Cooper Bradley (aua) vor mir einen (uff) Oscar bekommen (auaha), als dass (aua) Lady Grace Kelly (oy) erneut zu einer Gefangenen (aua, aua) in ihrem eigenen Reich wird (autsch). Ist. Das. Klar?!“

Alycia war automatisch synchron rückwärts ins Haus gelaufen und legte nun eine wohlmanikürte Hand an ihre Nase. „Abgesehen davon, dass du dringend Pfefferminzpastillen oder einen anderen Atemerfrischer zu deinen neuen Begleitern machen solltest: HÖRST DU DIR ÜBERHAUPT SELBST ZU?!?!“

Sein lieblicher kleiner Engel ließ sein zartes Stimmchen vernehmen und im nächsten Augenblick kam er, einem laufenden Wollknäuel ähnelnd, um die Ecke gefegt, direkt auf Alycia und ihn zuhaltend. Das Knäuel stoppte abrupt ab, schlitterte auf dem blankpolierten Steinboden noch einen halben Meter weiter und rannte dann so schnell wie möglich wieder zurück, Alycia dabei lautstark ihre Verärgerung kundtuend.

Ihr Reich?!“, mischte sich Alycias Kläf… Stimme in das Gebell und der kleine Hund sprang vorwärts in Richtung ihrer Füße. „Du hast doch einen – lass das, Gracie!! – du hast doch einen – Gracie! Liam, jetzt tu doch mal was!“

„Gracie, Darling, lass das …“, sagte Liam nach ein paar Sekunden des mit sich Ringens, weil es so schön war, sein Schätzchen glücklich spielen zu sehen.

„Bitte nicht so nachdrücklich!“, beschwerte sich Alycia und versuchte, den kleinen Hund zu packen. „Gracie, AUS!!“

Sie schüttelte ihren Fuß und Liam beugte sich schnell hinunter, um seinen kleinen Schatz hochzunehmen, bevor er möglicherweise noch verletzt wurde. „Geht es dir gut?“, fragte er besorgt.

„Natürlich NICHT!“, keifte sein Gegenüber und er bedachte sie mit einem abfälligen Blick.

„Ich rede mit Gracie!“, ließ er sie wissen und sie schnappte empört nach Luft, während seine Hundedame sich in seinen Armen wand, um freizukommen, ihm dann kurz das Gesicht abschleckte und weiterbellte.

„Du … du hast doch einen Knall!“, rief Alycia und hob ihre Handtasche auf, die ihr im Trubel heruntergefallen war. „Das ist doch nicht normal, Liam! Den Hund über mich zu stellen – hat man Worte?!“

„Na, du offensichtlich eine ganze Menge mehr, als ich hören wollte“, gab er über das Gebell hinweg laut zurück und Alycias Mund öffnete sich entsetzt, schloss sich aber gleich wieder, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und durch das Wohnzimmer Richtung Haustür rauschte.

„Es ist aus, Liam! AUS! Meine Sachen werde ich später holen!“, rief sie und kreischte dann entsetzt auf, weil Gracie es endlich geschafft hatte, Liams Umarmung zu entkommen und lautstark ihre Verfolgung aufzunehmen.

„Welche Sachen?“, rief er ihr verständnislos nach. „Du wohnst doch gar nicht hier!“

„Du wirst noch an mich denken!“, war das Letzte, was er von seiner vermeintlichen Mitbewohnerin vernahm, bevor sie erneut loskreischte.

Memo an ihn selbst: Neue Begleitung für Hugh Jacksons große Party in drei Wochen besorgen und überlegen, ob es zu früh war, den Beziehungsstatus in den sozialen Medien wieder auf ‚Single‘ zu setzen.

Liam widmete sich diesen überaus bedeutenden Gedanken noch einen Moment, dann rannte er, heldenhaft seine verkrampfte Muskulatur ignorierend, hinter Gracie her, damit sie in ihrer Spiellaune nicht von der rücksichtslosen Alycia in der Tür eingeklemmt wurde.

 

 

 

 

 

 

Freuden des Alltags

 

 

NayeliPostkarte 

 

 

Dienstag.

 4:30 Uhr: Nach drei Stunden Schlaf aufstehen und duschen.

4:40 Uhr: Instantkaffee in Thermosbecher füllen.

4:41 Uhr: Küchentresen und Boden von Kaffeeüberschwemmung befreien.

4:42 Uhr: restlichen Kaffee mit kaltem Wasser auffüllen.

4:43 Uhr: Hund schnappen und übermüdet die Straßen entlangstolpern.

5:00 Uhr: Hund bei Mutter abliefern und zum ersten Job des Tages fahren.

5:30 Uhr: *QUIEEETSCH BUMM KRCHXZ*

5:32 Uhr: Nicht heulen und keinen Mord begehen.

 

Im ersten Moment begriff Nayeli nicht ganz, was passiert war. Eben noch hatte sie an einem weiteren Kaffee genippt, nach einem neuen Sender gesucht, der etwas anderes als Einschlafmusik spielte, und dann einen kurzen Blick auf ihr Handy geworfen. Auf die Ampel schielte sie kaum. Sie kannte diese Kreuzung. Irgendetwas stimmte seit Jahren nicht mit der Ampelanlage. Der Fehler verzögerte das Umschalten, sodass man vergleichsweise lang dort stehen musste, also hatte sie praktisch alle Zeit der Welt – die sie eigentlich nicht hatte, weil ihr Tag minutiös durchgeplant war und vierundzwanzig Stunden noch zu wenig waren – um noch einmal kurz zur Ruhe zu kommen, bevor der  Stress begann.

Von einer auf die andere Sekunde quietschte und krachte es plötzlich, ihr Wagen wurde ein Stück nach vorne geschoben, der lauwarme Kaffee ergoss sich über das Armaturenbrett und sie selbst flog unangenehm in ihrem Sitz nach vorne. Sicherheitstechnische Spielereien wie einen Airbag besaß der alte Wagen nicht, doch der Gurt hielt gut. So gut, dass sie für eine Sekunde keine Luft mehr bekam, bevor ihr Oberkörper wieder zurück gegen den Sitz kippte. Dort blieb sie wie erstarrt sitzen, schaute auf die lauwarme, braune Brühe, die über den Lenker hinab auf ihr Hosenbein und in den Fußraum tropfte. Sie schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf und nahm einen heftigen Atemzug, der abgasverunreinigten Sauerstoff in ihr Hirn und Leben zurück in ihre Glieder brachte. Mit zittrigen Fingern schnallte sich ab und stieg aus.

Die Kraft des Aufpralls saß Nayeli noch in den Knochen und ihre Beine waren recht weich, trugen sie aber dennoch an das Auto des Mannes hinter ihrem heran. Der Mann, der gerade mit einem schiefen Grinsen ausstieg und sich am Kopf kratzte, während er sich die Misere besah; der Mann, den sie am liebsten am Kragen gepackt und durchgeschüttelt hätte, damit in seinem Oberstübchen alles wieder an den richtigen Platz fiel; der Mann, der es tatsächlich wagte, in dieser Situation Folgendes zu äußern: „Oops.“

Oops? Nayeli verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke. OOPS?!

„Alles okay mit – “

„SAG MAL, HAKT’S BEI DIR?!“, platzte es in Stadionlautstärke aus Nayeli heraus und der Typ machte einen erschrockenen Schritt rückwärts. „HAST DU DEN FÜHRERSCHEIN IM LOTTO GEWONNEN?? BIST DU FARBENBLIND ODER WARUM ZUM HENKER FÄHRST DU MIR HINTEN REIN, WÄHREND ICH AN EINER ROTEN AMPEL STEHE?!?!“

„Whoa!“, der junge Mann vollführte eine abwehrende Geste mit den Händen, ein in der Morgensonne glitzerndes Smartphone in der rechten haltend. „Wir müssen mal chillen und das Ganze wie – “

„Chillen? Chillen?! ICH GEB DIR GLEICH CHILLEN!“ Nayelis Augen sprühten Funken und sie hob warnend einen Zeigefinger. „Und wenn du jetzt wagst, das Wort ‚Erwachsene‘ zu benutzen, werde ich dafür sorgen, dass du dieses Alter nicht erreichst!“

„I-ich bin einundzw – “

„Erwachsene sind umsichtig! Erwachsene sind verantwortungsvoll und Erwachsene fahren einem NICHT HINTEN REIN, WEIL SIE IHRE AUGEN AUF DEM HANDY STATT DER FAHRBAHN HABEN!!“

Eingeschüchtert ließ der junge Mann sein Mobiltelefon in der Hosentasche verschwinden. Okay, okay, sie hatte auch auf ihres geschaut, aber sie hatte gestanden. Und natürlich waren Erwachsene oft nicht die Vorbilder, die sie sein sollten, aber in dieser Situation konnte ihr auch niemand hundertprozentige Logik abverlangen. 

„Also … wie machen wir das jetzt …?“, fragte der  unfähige Fahrer nervös, als sie ihr eigenes Smartphone aus dem Wagen holte und zunächst einige Beweisbilder machte.

Immer noch vor Wut kochend wandte sie sich zu ihm um. „Komisch, bei deiner Fahrweise müsstest du doch den genauen Ablauf bereits kennen. Ich meine, das ist ja bestimmt nicht dein erster Unfall.“

„Na ja“, er kratzte sich verlegen am Kopf und Nayelis Stresspegel schoss von ‚durch die Decke‘ Richtung ‚drittes Universum von links‘, weil sie bereits eine Ahnung davon hatte, was er jetzt gleich gestehen würde. Wie sie es hasste, wenn sie in solchen Momenten recht hatte!

„Du bist nicht versichert“, sprach sie tonlos für ihn weiter und er nickte mit einem schiefen Grinsen, mit dem er sicher reihenweise Frauenherzen brach, Nayelis allerdings immer weiter zu Eis erstarren ließ. Sie konnte Typen, die ihr attraktives Äußeres einsetzten, um sich durchs Leben zu schummeln, nicht ausstehen. Dasselbe galt selbstverständlich für Frauen.

„Verstehst du, ich bin Schauspieler“, erklärte er mit einem sehr einstudiert wirkenden Augenaufschlag, „und stehe noch am Anfang, da kann ich mir so was nicht leisten, weil ich wirklich alles in meine Karriere investiere, in exklusiven Clubs Drinks ordern muss, die ein Monatsgehalt kosten, weil ich die Connections –“

„Wie ein Irrer Auto zu fahren kannst du dir aber leisten, ja?“, fuhr sie auf.

„Maaann, ich hab die rote Ampel schon auf etwa 200 Meter Entfernung gesehen, aber –“

„Die du ja bei deinem Fahrstil in einer Sekunde überwunden haben dürftest.“

„– ich bin von der Bremse abgerutscht“, gestand er lahm und ihr Blick fiel automatisch auf seine Füße. Flip-Flops! FLIP FLOPS!!!

„Hey, hör mal … das können wir doch bestimmt auch so klären …“, fuhr er beschwichtigend fort.

„Na klar“, sie grinste falsch. „Ich rufe nur kurz die Polizei.“

Abwehrend hob er die Hände. „Aber wieso denn?“ Er machte eine Geste in Richtung ihres Wagens. „Schau mal, wenn wir ehrlich sind, ist deine Karre ja jetzt auch nicht sooo viel wert.“

„WAS?!“, herrschte sie ihn an und er biss sich auf die Unterlippe.

Nayeli wollte ihm eine weitere wütende Antwort um die Ohren hauen, starrte ihn aber nur zornig an und presste die Lippen zusammen.

Ganz falscher Punkt, auch wenn er recht hatte. Ihr Auto hatte bessere Tage gesehen und das nicht nur bezüglich dieses Unfalls. Die traurige Wahrheit war: Selbst wenn sie die Polizei rief und dieser Junge nicht log, nur damit man seine Versicherungsbeiträge nicht heraufsetzte, würde sie für ihren Wagen wenig bis gar nichts bekommen. Das war nicht ihr erstes gebrauchtes, altes Auto. Auch vor dem Unfall hatte es gerade noch so als fahrtüchtig gegolten. Der Aufprall hatte – neben dem abgefallenen Auspuff, der kaputten Stoßstange und dem zerstörten Rücklicht – unter Garantie die alte Achse verzogen und somit einen Totalschaden verursacht, was bedeutete, dass sie maximal den Schrottwert ihres Wagens ausbezahlt bekommen würde, und der war zu gering, um sich einen neuen leisten zu können.

Sie bewegte ihre Schultern und dehnte vorsichtig ihren Nacken gegen die aufkommenden Verspannungsgefühle, die so oft ihre Begleiter waren und im schlimmsten Fall in fiesen Kopfschmerzen endeten.

„Oh, du … du hast jetzt aber kein Schleudertrauma oder so, oder?“, drang die unsicher-genervte Stimme des Autofahreralptraums an ihr Ohr. „O Mann, das ist bei mir finanziell echt gar nicht drin …“

Schleudertrauma? Madre de Dios! An so etwas durfte sie nicht einmal denken! Und es war auch nicht ihr Problem, dass er sich die Folgen seines talentfreien Fahrens nicht leisten konnte. Aber was brachte es, eine Anzeige und einen vermutlich langwierigen Prozess anzustrengen, für den sie weder Nerven noch Zeit, geschweige denn Geld hatte? Selbst wenn die Kosten im Endeffekt an ihrem Gegner hängenblieben, konnte sie sich momentan nicht mal eine Erstberatung bei einem Anwalt leisten. Und wenn der Junge tatsächlich kaum Geld hatte und Privatinsolvenz anmeldete, bekam sie ohnehin nichts.

Noch mehr Wut stieg in Nayeli auf. Dieser Unfall bedeutete für sie so viel mehr, als dieser verdammte kleine Möchtegernschauspieler-Hosenscheißer sich überhaupt vorstellen konnte. Keinen eigenen fahrbaren Untersatz zu haben, kam in ihrer jetzigen Situation und mit ihrem derzeitigen Beruf einem Desaster gleich! Sie hatte zu hart gearbeitet, sie verdiente es nicht, einen derart miesen Strich durch die Rechnung gemacht zu bekommen!

„Sag mal … heulst du etwa?“, hörte sie die Stimme des jungen Mannes.

„Natürlich nicht, ich hab Heuschnupfen!“, fauchte sie, speziell, weil sie spürte, wie tatsächlich Tränen ihre Wangen herunterliefen. Nayeli war bestimmt nicht empfindlich und heulte bei jeder Gelegenheit los wie ein Kleinkind. Es handelte sich hier um eine fiese Kombination aus Schlafmangel, Dauerstress, Geldsorgen und PMS – etwas, was ein Mann nie verstehen und persönlich keinesfalls lebend überstehen würde.

Das ihr gegenüberstehende Exemplar dieser Art begann in seinen Taschen herumzuwühlen und Nayeli sah ihn warnend an. „Biete mir kein Taschentuch an!“

„Ja, aber – “

„Nein!“, stellte sie klar. „Das einzige, nach dem du in deinen Taschen suchen wirst, ist dein Geld!“

Und sie in ihren nach einem Zellstofftuch, mit dem sie sich dezent die Nase schnäuzte, während sie zusah, wie der bestimmt nicht nächste Zac Efron die Schultern zuckte und dann zu seinem Wagen ging.

„Abhauen nützt nichts, ich hab dein Kennzeichen“, ließ sie ihn wissen und er nickte brav.

„Hol nur meine Kohle.“

 

Mit 223,75 Dollar („Das ist echt alles, was ich habe!“) mehr in der Tasche und einem fahrbaren Untersatz weniger unter dem Hintern, stand sie, bepackt mit ihrem Rucksack (der glücklicherweise auch immer Wechselsachen beinhaltete) anschließend gerade mal in Höhe des Dodger Stadions – was etwa einem Drittel ihres Weges entsprach – am Straßenrand und atmete tief durch. Wenigstens tat sie das nicht mehr ganz so zittrig.

Super. An diesem ohnehin bereits mit Terminen vollgepackten Tag war sie extra noch früher als sonst aufgestanden, weil sie auf dem Weg zu ihrem ersten Klienten noch einen zweiten Zwischenstopp in Montebello einlegen wollte. Gut, ‚wollen‘ war zu viel gesagt, weil ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, ihrer Cousine Valentina eine Pastete und ein paar andere Sachen vorbeizubringen. Weil es ja ‚auf dem Weg lag‘ – ein sehr dehnbarer Begriff, wenn es nach ihrer Mutter ging.

Der einzige Grund, aus dem Nayeli ab und zu einen Zwischenstopp in Montebello einlegte, war, ihre beste Freundin Tula zu besuchen, die dort in einem Coffeeshop arbeitete, der den besten Kaffee machte, den sie kannte. Da sie beide recht viel beschäftigt waren und Tula vor einem Jahr ihr zweites Kind bekommen hatte, waren gemeinsame Momente rar gesät. Oft genug fanden ihre Treffen gegen sechs Uhr in der Früh statt, wenn der Verkehr auf den Straßen noch fließend genug war, um eine Strecke von gut 40 Kilometern in der einfachen Zeit exklusive statt der dreifachen inklusive Staus hinter sich zu bringen.

Ihr Handy vibrierte, sie wischte sich erneute Tränen ab und zog es aus ihrer Tasche.

„Mija“, drang die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr und begann sofort mit ihrer Lieblingsfrage nach dem Standort ihrer Tochter. „Dónde estas? Hast du Valentina die Pastete und die Babykleidung für Rafael gegeben?“

„Nein“, antwortete sie matt.

„Por qué no?“, klang es verwundert aus dem Hörer. „Ich habe dir doch alles eingepackt. Hast du wieder vergessen, es abzugeben? Naye, wieso kannst du mir nie richtig zuhören? Mira, ahora tengo que ...“

Nayeli lehnte sich gegen ihren Wagen, den sie mithilfe des junges Mannes an den Straßenrand geschoben hatte, und atmete tief durch, während sie den Hörer ein Stück  weghielt und die Beschwerden ihrer Mutter darüber, was ihr Kind ihr jetzt an Zusatzarbeit aufgehalst hatte, zu einem Hintergrundgeräusch verblassten. Langsam zählte sie bis zehn und hob das Telefon anschließend wieder an ihr Ohr.

„Mamá, kannst du mir die Nummer von Tante Tia geben?“, fragte sie in eine Atempause hinein. Beim letzten Handywechsel vor zirka einer Woche waren bedauerlicherweise nicht alle wichtigen Nummern übertragen worden, was sie nun zu ihrem Leidwesen dazu brachte, ihre Mutter in die unangenehme Angelegenheit miteinbeziehen zu müssen.

„Tia?“, echote ihre Mutter. „Wieso? Que pasó? Hattest du etwa einen Unfall? Bist du okay?!“

Nayeli biss kurz die Zähne zusammen und hielt die Luft an. „Ja, aber mein Wagen ist Schrott.“

Erneut erfolgte ein ganzer Schwall Worte, die eine Mischung aus Besorgtheit und Vorwürfen bildeten, die nur ihre Mutter hinbekam.

 „Mamá, hör mal, ich habe jetzt keine Zeit, okay? Bitte schick mir die Nummer, ich muss jetzt schauen, dass ich einen Bus zu meinem nächsten Job bekomme. Hab dich lieb.“

Damit legte sie auf und atmete aus. Sie googelte die beste Verbindungsmöglichkeit per Bus nach Anaheim, mit einem Zwischenstopp in Pico Rivera, bei ihrer Cousine. Da sie immer überpünktlich losfuhr und diesmal eine gute Stunde bei Tula eingeplant hatte, konnte sie es noch rechtzeitig zu ihrem ersten Kunden schaffen – leider ohne einen Besuch bei ihrer Freundin. Der bei ihrer Cousine konnte das nicht aufwiegen.

Zähneknirschend schrieb sie Tula eine Textnachricht und telefonierte unter der währenddessen eingegangenen Nummer mit ihrer Tante. Im Anschluss holte sie zwei Kaffee in einer naheliegenden Bäckerei und wartete, starrte auf die sich allmählich mehr mit Autos und Menschen füllenden Straßen. Wenn sie die Zeit hatte, zog sie es vor, so wie heute, ihren Weg durch Nebenstraßen zu nehmen. Das war wie eine kleine Sightseeingtour und sie entdeckte immer etwas Neues. Andere Leute machten solcherlei Dinge im Urlaub, ein Luxus, den Nayeli sich nicht leisten konnte.

 

Nach zwanzig Minuten und vier weggedrückten Anrufen ihrer Mutter bog Tias Abschleppwagen um die Ecke und sie nahm die Tasche mit den Babysachen sowie die Form mit der Pastete aus dem Wagen.

„Holla, mi ninscha“, begrüßte die knapp vierzigjährige Frau sie in ihrem wie üblich betont grauenvollen Spanisch durch das offene Seitenfenster, schon bevor sie ausstieg, und begutachtete kurze Zeit später erst sie und dann den Wagen.

„Alles okay bei dir? Deine Mutter hat hysterisch bei mir angerufen und verlangt, dass ich ihr sofort Bescheid sage, wie es dir geht, weil du ja unter Schock stehen würdest und einfach aufgelegt hättest. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, dein Handy bei der Polizei orten zu lassen. Also: Möchtest du vor oder nach dem Anruf zum Arzt? Vielleicht wäscht der dir ja auch die Kaffeeflecken aus der Kleidung.“

Trotz der schrecklichen Situation musste Nayeli lachen und Tia zog sie kurz in die Arme und gab ihr einen Kuss auf den Kopf, bevor sie sie auf Armeslänge von sich weg hielt. „Jetzt mal im Ernst: geht es dir gut – also so den Umständen entsprechend?“

„Nein“, antwortete Nayeli wahrheitsgemäß, „aber ich bin nicht verletzt.“

Tia nickte verständnisvoll und wandte sich dem Wagen zu. „Ja …“, lautete ihr Urteil kurz darauf, „das hat der Achse hinten den Rest gegeben. Möchtest du dich noch kurz verabschieden?“

Entgegen aller Logik hatte es ein klitzekleines Hoffnungsfünkchen in Nayeli gegeben, das nun auch erlosch. Tía Tia hatte, seit sie ein Kind gewesen war, in der Autowerkstatt ihres Vaters und Großvaters geholfen und Nayeli kannte niemanden, der sich besser mit Autos und Motorrädern auskannte als sie.

„Leider habe ich gerade auch so gar keinen Ersatzwagen für dich … hm …“ Tia kratzte sich ihr kurzes, blondes Haar. „Zumindest heute nicht mehr … aber Jack kriegt morgen was rein, meint er, dann kommst du vorbei, okay? Es sei denn, du hast das hier über deine miese Versicherung laufen lassen und bekommst von denen …“ Sie studierte die genervt hochgezogenen Brauen ihres Gegenübers und nickte. „Wie viel hast du bekommen?“

„223,75 Dollar.“

„Fünfundsiebzig Cent??“, lachte Tia und nahm den angebotenen Kaffee vom Wagendach dankbar an.

„Der schmeckt furchtbar“, ließ sie ihre unfreiwillige Kundin nach dem ersten Schluck wissen und deutete auf das Fahrerhäuschen. „Wohin musst du zum Kläfferhüten?“

Nayelis Augen verengten sich. „Du glaubst, wenn du mir aus der Patsche hilfst, darfst auch du dich ungestraft über meinen Job lustig machen?“

Tia nickte begeistert und Nayeli schnaubte abfällig, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie liebte Tia. Wenn man es genau nahm, war diese nicht ihre wirkliche Tante, sondern die Tochter einer Freundin von Nayelis Mutter. Kurz nachdem Anita López mit ihrer Familie in die USA gekommen war, hatte sie drei Jobs angenommen, um sich über Wasser zu halten, und Tia war in dieser Zeit so lieb gewesen, für einen geringen Stundenlohn auf ihre Kinder aufzupassen. ‚Tía Tia‘ hatte Nayeli sie immer genannt und dieser Name war nicht nur an Tia haften geblieben, sondern zierte seit zwanzig Jahren auch den Namensschriftzug ihres Abschleppdienstes.

„Nach Anaheim“, antwortete Nayeli letztendlich doch noch auf die zuvor gestellte Frage und Tia kratzte sich erneut am Kopf. „Bis Pico Rivera kann ich dich bringen, aber dann muss ich weiter in die Avo Heights.“

Nayeli nickte dankbar, wartete, bis der Wagen aufgeladen war, stieg ein und rief als erstes ihre Mutter an, um diese vor einem Herzinfarkt zu bewahren. Dann starrte sie auf die zwölf neuen Nachrichten von Little Monster, las sie kopfschüttelnd durch und tippte eine kurze Antwort, in der sie erklärte, dass sie erst am späten Abend wieder erreichbar sei.

„Und? Konntest du deine Mammassitta beruhigen?“, erkundigte Tia sich und Nayeli warf ihrer ehemaligen Babysitterin einen konsternierten Blick zu.

„Du weißt schon, dass das nicht für ‚Mamalein‘ steht, sondern du sie quasi grad als heiße Braut bezeichnet hast?“

Ein breites Grinsen legte sich auf Tias Gesicht. „Natürlich! Deine Mama sieht aber auch gut aus für ihr Alter. Freu dich, Kleine, wenn du nach ihr kommst, brauchst du später kein Botox.“

Nayeli lachte. Tia hatte sie schon immer aufmuntern können. Ihr Spanisch war auch wesentlich besser, als es sich gerade anhörte. Im Laufe der Jahre hatte sie die Sprache von Nayeli und ihrer Mutter gelernt und Nayeli war sehr streng gewesen, was die Aussprache betraf, weshalb Tia sie heute noch gerne damit aufzog, indem sie einzelne Worte ganz grauenvoll schlecht aussprach.

„Viel zu tun heute?“, fragte Tia als nächstes.

Nayeli blies die Wangen auf und ließ die Luft geräuschvoll entweichen, während sie nickte.

Ihren Terminplan ‚voll‘ zu nennen, war eine Untertreibung. Allein heute hatte sie vier reguläre Termine, weil die meisten ihrer Klienten aus unerfindlichen Gründen den Dienstag für die beste Zeit für ein Treffen hielten. Am gestrigen späten Abend hatte sie eine weitere Anfrage erhalten und die äußerst aufgebrachte Dame hatte wiederholt die Dringlichkeit ihres Anliegens betont und auf dem Folgetag bestanden. Noch konnte Nayeli sich ihre Aufträge nicht wirklich aussuchen und als sie gehört hatte, für welche Art Klient sie arbeiten würde, hatte sie es zunächst für einen Scherz gehalten, dann jedoch allein auf die Gefahr hin, dass es keiner war, zugesagt.

Gott sei Dank lagen die einzelnen Termine zeitlich recht gut auseinander, nur einen hatte sie aufgrund der neuen Situation ein wenig nach hinten verschieben müssen, was glücklicherweise der bei ihrer unproblematischsten Kundin war.

In Pico Rivera verabschiedete sie sich von Tia, legte draußen kurz die Finger an die Lippen und dann auf das Blech ihres verbeulten Autos, nickte in stummer Verabschiedung und hievte die Gaben für ihre Cousine auf Schulter und Arme. Noch ein kurzer Besuch, drei Termine und stundenlange Busfahrten, bis sie ihren neuesten Klienten treffen würde. Hoffentlich lohnte sich der Besuch, ansonsten würde sie an diesem Tag im schlimmsten Fall draufzahlen, statt etwas zu verdienen – und gleich zwei Schauspieler waren dann an einer nicht unerheblichen finanziellen Einbuße schuld.

 

 

 

 

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Begegnung der tierischen Art

 

 

 

 

 

Nachdem Nayeli den Taxifahrer bezahlt hatte, stieg sie aus und wartete, bis dessen Wagen wieder verschwunden war. Zusammen mit ihrem sauer verdienten Geld. Sie nahm kein Taxi, wenn es sich vermeiden ließ, nur leider war sie nach dem letzten Termin arg spät dran gewesen und hatte bei ihrem neuen Kunden keinesfalls mit Unpünktlichkeit glänzen wollen. Die Konsequenz war, dass die unfallbedingte Fahrt hier raus sie ein kleines Vermögen gekostet hatte und sie immer noch rund zehn Minuten zu spät ankam. Na ja, sie konnte in der nächsten Woche ja auch einfach mal nichts essen. Oder sich selbst bei ihrer Mutter einladen und sich dann wieder stundenlang anhören, dass sie sich doch einen ‚echten‘ Job suchen solle, einen, der einem auch ein geregeltes Einkommen garantierte.

Wenn es nach ihrer Mutter gegangen wäre, hätte sie gleich nach der Schule eine Ausbildung zur Verkäuferin im Schuhladen ihres Onkels gemacht. Den ganzen Tag stinkige Käsequanten anderer Leute riechen zu müssen, war allerdings nichts, was bei Nayeli Begeisterungsstürme auslöste. Eigentlich hatte sie Tiermedizin studieren wollen und das war immer noch ihr großer Traum. Leider war das Studium alles andere als billig. Sie hatte sich um ein Stipendium beworben, das dann aber an jemand anderen vergeben worden war. Wochenlang war Nayeli am Boden zerstört gewesen. Bis ihre beste Freundin Tula ihr schließlich vorgeschlagen hatte, ihr Gespür für Tiere anderweitig zu nutzen und sich damit selbstständig zu machen.

Das Wort ‚Hundeflüsterin‘ hatte sie nicht sofort in den Mund genommen, aber Nayeli hatte es aus ihren großen braunen Augen gelesen, als hätte es jemand dort eingemeißelt. Wie die Idee sich in Tulas hübschem Kopf eingenistet hatte, war nicht schwer zu erraten gewesen. Tulas Lieblingstante besaß einen furchtbar unerzogenen Dackel, zu dessen Lieblingsbeschäftigungen lange Zeit sinnloses Herumbellen und Hackenbeißen gezählt hatten – bis sich Nayeli bei einem der gemeinsamen Besuche mit ihrer Freundin entschlossen hatte, sich dieses Problems anzunehmen. Nach ein paar Wochen intensiven Trainings mit Hund und Frauchen, war aus dem garstigen Prince ein relativ handzahmes Hündchen geworden und Nayeli laut der dankbaren Tante zu einem Engel mit unsichtbaren Flügeln avanciert.

„Hey, ich halte dich nicht für ein Wunderwesen wie Tante Emeline“, hatte Tula vor einem halben Jahr zu ihr gesagt, „aber du hast ein großes Talent, was gestörte Viecher angeht – warum willst du das nicht nutzen? L.A. ist voll von Spezialisten für die merkwürdigsten Dinge und fähige Hundefl- … trainer sind begehrt. Wenn du Glück hast, meldet sich vielleicht sogar irgendwann eine berühmte Schauspielerin bei dir, weil deren Fiffi ihr immer in die Silikonmöpse beißt, und ehe du dich’s versiehst, schwimmst du in Geld. Dann kannst du dir den Traum vom Medizinstudium schneller erfüllen, als du ‚Hundehaufen‘ sagen kannst.“

Die Schauspielerin mit den Silikonbrüsten entpuppte sich zwar gerade als Schauspieler mit Sixpack (wenn die Bilder, die Nayeli sich schnell im Internet angesehen hatte, aktuell und nicht extrem gephotoshopt waren), aber sonst hatte Tula mit ihrer Prognose recht gehabt. Noch machte ihre Arbeit als ‚Hundepsychologin‘ Nayeli nicht reich, die Einkünfte genügten jedoch, um sich über Wasser zu halten und nach und nach ihr Sparkonto fürs Studium zu füllen. Liam Chandler und sein verzogenes Hündchen konnten allerdings das Sprungbrett hinein in die High Society Hollywoods sein und ihr im Endeffekt den Geldsegen bringen, den sie brauchte – jetzt dringender denn je.

Sie strich sich rasch die schlichte, rosa Bluse glatt, die sie sich in Tias Abschlepper zusammen mit einer hellen Jeans übergeworfen hatte, und schloss den vorwitzigen Knopf, der sich leider bereits zum dritten Mal an diesem Tag geöffnet hatte. Ohne ihr Einverständnis und einen großzügigeren Blick auf ihr recht üppiges Dekolletee gestattend, als es erwünscht war. Wenn sie bei ihren Klienten keinen falschen Eindruck erwecken wollte, musste sie  ihre Wechselsachen demnächst unbedingt sorgfältiger aussuchen. Anschließend trat sie an das prunkvolle Tor heran, hinter dem ein Kiesweg vorbei an blühenden Rhododendron- und Rosenbüschen hinauf zur Prachtvilla des – wenn man den Gerüchten glauben konnte – neuen Oscaranwärters Hollywoods führte.

‚Angeber’, dachte Nayeli und schob den Hauch von Neid rasch beiseite, bevor sie auf die Klingel am Seitenpfeiler des Tores drückte.

Ein Summen über ihr machte sie auf die Sicherheitskamera auf dem Pfeiler aufmerksam, die sich nun eindeutig auf sie richtete. Die Sprechanlage knackste kurz, aber anstatt einer Stimme aus dieser ertönte ein weiteres Summen am Tor, welches sich wie von Geisterhand öffnete und sie einlud, hineinzukommen.

Nayeli zögerte, straffte dann aber die Schultern und machte sich auf den Weg hinauf zum Haus, nein, beinahe schon Schloss, dessen seitlicher, etwas schlichterer Anbau sicherlich für das Personal bestimmt war. Es hätte sie nicht gewundert, auf dem Platz hinter dem Springbrunnen eine Kutsche vorzufinden, doch es war nur ein ‚schlichter‘ Maserati in knallroter Lackierung.

„Angeber“, kam es nun doch leise und in der Sicherheit, nicht gehört zu werden, über ihre Lippen.

Reiß dich zusammen!, befahl ihre Stimme der Vernunft postwendend. Wir sehen unsere Kunden nur als Menschen mit Problemen und bewerten sie nicht aufgrund ihres Äußeren oder der Umstände, unter denen sie leben. Freundlich und verständnisvoll – so gehen wir auf sie zu.

Nayeli bewältigte die breiten Marmorstufen zu der ebenso breiten und edlen Tür des Hauses ohne weitere negative Gedanken und betätigte dann die güldene Klingel zu ihrer Seite. Die Tür vor ihr bestand zum großen Teil aus dickem Milchglas und so konnte sie sehen, dass sich ihr jemand näherte. Vermutlich der Hausdiener, denn als Berühmtheit vergaß man ja oft, wie solch komplizierte Dinge wie Türöffnen funktionierten. Noch schlimmer wurde es nach den ersten Filmpreisen, da brauchte man dann sicherlich sogar jemanden, der einem das zeit- und kräfteraubende Zähneputzen abnahm.

Verdammt, Nayeli! Schluss jetzt mit den abfälligen Gedanken! Welch wunderliche Fügung des Schicksals Mr. Chandlers Freundin auch dazu gebracht hat, ausgerechnet dich als Rettung in der Not anzurufen – sei dankbar dafür und benimm dich!

Die Tür öffnete sich und sie blickte in das Gesicht eines braungebrannten, blonden Adonis’, dessen umwerfendes Lächeln ihr den Atem stocken ließ. Für einen viel zu langen Augenblick fehlte ihr die Sprache. Sie hatte gewusst, dass Liam Chandler gut aussah, dies jedoch auch der heutigen Fotobearbeitungstechnik zugerechnet. Wer hätte ahnen können, dass der Mann im Original mit stylisch verwuscheltem Haar, dem Bartschatten um Lippen und Kinn und ohne Make-Up noch besser aussah. Auch wenn sie normalerweise mehr auf innere Werte achtete und die Männer, die sie gewöhnlich datete, bestimmt nicht als Model arbeiten konnten, konnte sie sich nicht dagegen wehren, sich auf den ersten Blick extrem von diesem Kerl angezogen zu fühlen.

„Ein bisschen spät, oder?“, fragte der nun und riss sie damit glücklicherweise ruckartig aus ihrer Trance.

„Ja … ich … ich hatte heute Morgen einen kleinen Autounfall und dadurch Schwierigkeiten mit der Einhaltung meines Zeitplans“, stammelt sie. Na toll! Schlechter erster Eindruck beim verwöhnten Prinzlein, aber wenn man es genau nahm, war sie nicht zu spät, denn am Telefon hatte es geheißen ‚zwischen elf und zwölf‘ und nun war es gerade zehn nach elf, aber sie war nicht hier, um zu streiten.

„Oh.“ Er machte einen leicht bestürzten Eindruck. „Aber du hast dich nicht verletzt, oder? Es funktioniert noch alles, ja? Besonders Hände, Knie? Ansonsten habe ich ein ganz tolles Schmerzmittel, das mir gestern auch nach meinem Training das Leben gerettet hat.“

Hände und Knie?? Sie stutzte – hauptsächlich wegen der etwas seltsamen Formulierung seiner Sorge um sie sowie dem ungefragten Duzen.

„Ich will nicht unsensibel wirken, aber ich brauche wirklich ganz dringend Hilfe!“ Seine sicherlich von einem Profi gezupften, etwas dunkleren Brauen, die darauf schließen ließen, dass er keine natürliche ‚Blondine‘ war, wanderten in milder Verzweiflung aufeinander zu. „Das kann auf keinen Fall noch länger warten.“

Ah! Daher wehte der Wind! Jetzt erst vernahm Nayeli aus dem Hintergrund das gedämpfte Kläffen eines vermutlich kleineren Hundes. Er musste das Tier vorsorglich eingesperrt haben, was wohl hieß, dass es in der Tat Schwierigkeiten mit dem Auftauchen von Besuch hatte. Große Schwierigkeiten – so gestresst wie Mr.. Chandler aussah.

„Bis auf einen leichten Schock geht es mir gut“, beantwortete sie nun doch noch seine Frage. Wahre Größe war, über die kleinen Schwächen der Mitmenschen hinwegzusehen und trotzdem mit ihnen zusammenarbeiten zu können. „Aber um ehrlich zu sein, war ich nicht darauf vorbereitet, gleich heute mit der Arbeit anzufangen. Ich dachte, wir lernen uns erst einmal alle kennen.“

Für viel mehr hatte sie auch keine Zeit, da ihr nächster Termin bereits um zwei Uhr war. Normalerweise hätte sie diesen neuen Job auf den nächsten Tag verschoben, aber als sie gehört hatte, wer ihr neuer Klient und wie dringend die Angelegenheit war, hatte sie nicht riskieren wollen, dass ihr die Konkurrenz den Kunden wegschnappte.

Ihr Gegenüber machte ein enttäuschtes Gesicht, nickte dann aber einsichtig. „Komm doch erst einmal rein“, sagte der junge Mann und trat zur Seite, sodass sie seiner Aufforderung nachkommen konnte. Marmorboden und ein Vorraum, der ungefähr die Größe ihrer gesamten Wohnung hatte, begrüßten sie.

„Vielleicht zeig ich dir erst mal das Haus?“, schlug er zu ihrer Überraschung vor.

Sie zuckte etwas unschlüssig die Schultern. „Ja“, begann sie und konnte sich gerade noch beherrschen, das desinteressierte ‚Warum nicht?‘ auszusprechen, auch wenn sie von der Idee, sich seinen Reichtum anzusehen, alles andere als begeistert war. „Gern, Mr.. Chandler“, fügte sie stattdessen hinzu.

„Prima!“, freute er sich und lief ihr voran durch den Flur, dessen Garderobe bestimmt teurer war als ihre komplette Inneneinrichtung. „Und bitte nenn mich ‚Liam‘ und sag ‚du‘, sonst komm ich mir so alt vor. Ich hab dich ja auch gleich geduzt, weil wir das hier alle so machen. Ich hoffe, das war okay?“

Sie nickte lächelnd, auch wenn es das nicht war.

„Das Büro zeige ich dir später“, sagte er im Vorbeigehen an der Tür, hinter der sein Hund ein Bell- und Heulkonzert erster Klasse veranstaltete. „Gracie ist grad ein bisschen unleidlich.“

Unleidlich? Herrje! Da bahnte sich ja was an! Im Stillen hatte sie gehofft, dass die Auftraggeberin übertrieben hatte und der Hund nur ein wenig zu verwöhnt und verspielt war. Das, wonach sich die Geräusche hinter der Tür anhörten, erreichte allerdings eher das Level ‚Katastrophe‘. Gerade polterten sogar einige Dinge zu Boden. Mist!

„Gracie heißt sie also, ja?“, erkundigte sich Nayeli betont interessiert.

„Eigentlich Grace Kelly“, führte er weiter aus, „aber das spricht sich so schlecht und ist nur für den Stammbaum und die Presse. Ich persönlich mag’s kurz und bündig. Gracie, Liam, Nick … das sind gute Namen. Alles mit mehr als zwei Silben verschwendet nur meine Zeit. Wie heißt du denn?“

Sie konnte es sich nicht verkneifen, die Brauen zu heben und ihren Namen überdeutlich auszusprechen: „Na-ye-li Ló-pez.“

Liams Adamsapfel wanderte unter der Haut sichtbar auf und ab. „Sehr schöner Name“, erwiderte er und setzte rasch wieder sein charmantes Lächeln auf. „Dafür verschwende ich gern meine Zeit.“

Er öffnete eine Tür und wies ihr den Weg hinein in die Traumküche schlechthin. Hell, geräumig mit einem separaten Koch- und Arbeitsbereich in der Mitte.

„Das ist die Küche …“, erklärte er unnötigerweise.

„Ist ja riesig!“, stieß sie beeindruckt aus.

„Das täuscht. Meine letzte Haushälterin hat für die Grundreinigung nur ungefähr zwei Stunden gebraucht.“

Nayeli sah ihn etwas hilflos an. Smalltalk war allem Anschein nach nicht gerade seine Stärke. „Das ist schön“, gab sie der Höflichkeit halber zurück. Und nun bitte Hund und Freundin vorstellen und dann weitere Termine machen.

„Ja …“ Er sah sich nachdenklich um, als würde er seine eigene Küche zum ersten Mal betrachten. „Die Fenster haben auch schon länger kein Wischtuch gesehen.“

„Ist für mich kein Problem“, winkte sie ab und seine Gesichtszüge erhellten sich, als hätte sie gerade verkündet, der Weltfrieden sei eingetreten.

„Ich sehe schon – wir bewegen uns auf einer Wellenlänge“, lächelte er und ging ihr voran, wieder hinein in den Flur.

Ihre Hoffnung, dass er nun endlich seinen Hund aus dem Büro lassen würde, erfüllte sich jedoch nicht. Stattdessen öffnete er eine andere Tür und stellte den dahinterliegenden Raum als ‚Gästebad‘ vor. Die erste nützliche Information. Bedauerlicherweise ging es danach weiter zum Wohnzimmer – oder auch Saal –  mit Kamin, Hausbar und einer Couchlandschaft, auf der man ein ganzes Rugbyteam unterbringen konnte, und dann hinüber zu einer breiten Treppe, die zum oberen Stockwerk führte.

Nayeli blieb davor stehen und Liam, der bereits die ersten Stufen erklommen hatte, sah irritiert zu ihr hinunter. „Warum kommst du nicht mit?“

„Was ist denn da oben?“, wollte sie wissen.

„Drei Schlafzimmer, zwei Bäder, ein Arbeitszimmer und der Fitnessraum.“

„Schön.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Dann weiß ich das ja jetzt.“

„Das reicht?“ Er kam erstaunt zu ihr hinunter.

Sie runzelte die Stirn. „Ja. Ich hab nicht vor, die Räume oben zu betreten.“ Was dachte sich der Kerl eigentlich?!

Er lachte, blinzelte dann verwirrt, wohl weil sie nicht in sein Lachen einstimmte, und zog anschließend die Brauen zusammen. „Bedeutet das, du hast dich schon entschieden, nicht für mich zu arbeiten?“

Was sollte das denn jetzt heißen? War es einfach eine seltsame Form der Höflichkeit, erst einmal eine komplette Hausführung zu machen, reines Protzen oder hatte er angenommen, sie würden nur bei ihm daheim arbeiten?

„Was? Nein, das heißt das selbstverständlich nicht!“, sagte sie schnell. „Wir müssen da nur ein paar Dinge klarstellen, denke ich.“

„Selbstverständlich, aber ich dachte, wir regeln die Dauer der Anstellung und die Bezahlung später.“

Nayeli zog die Brauen zusammen. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie aneinander vorbeiredeten. „Dauer der Anstellung?“, wiederholte sie. „Wie lange wolltest du mich denn engagieren?“

„Na, ich dachte schon an ein paar Jahre“, war die schockierende Antwort.

„Jahre?!“ Sie riss die Augen auf und schluckte schwer. Normalerweise bot sie nach einem kostenlosen Probetermin je nach zu erwartendem Arbeitsaufwand ein Grundtraining von fünf bis zehn Terminen á anderthalb Stunden an, das dann wahlweise verlängert werden konnte.

„Ich mag keine ständigen Wechsel der Belegschaft“, erklärte Liam rasch. „Leute, die für mich arbeiten, tun das in der Regel für längere Zeit und sind meist sehr zufrieden.“

Nayeli schloss kurz die Augen und schluckte den Ärger hinunter, der in ihr aufkam. Heute war so gar nicht ihr Tag und ihre Geduld nahezu nicht mehr existent, aber sie sollte sich das hier wirklich nicht verderben.

„Das ist noch so ein Punkt, den ich gern klarstellen würde“, erklärte sie mit einer Ruhe, die sie nicht besaß, „ich arbeite nicht für dich, sondern mit dir.“

„Was?!“ Liam machte ein entsetztes Gesicht. „Mit mir?“

„Selbstverständlich! Was dachtest du denn?“

„Na, ich wollte bestimmt nicht die ganze Zeit daneben sitzen und dir zugucken, sondern schon mal das Haus verlassen, wenn …“

„Das Haus verlassen?? Etwa allein?!“ Sie sah ihn entgeistert an. „Entschuldige, aber das macht überhaupt keinen Sinn! So arbeite ich nicht.“

Na toll! Wieder jemand, der dachte, sie könne sein Haustier wie ein technisches Gerät seinen Wünschen entsprechend neu justieren und ihm dann einfach übergeben.

„Du willst, dass ich zugucke?“ Er hob überrascht die Brauen. „Ist das … äh … eine Art Fetisch von dir?“

„Fetisch?!“ Der Typ hatte einen Schaden! Langsam riss ihr selbst der vorgespielte Geduldsfaden. „Ich komme hier her, damit du zusiehst und von mir lernst. Du sollst das, was ich tue, ja schließlich irgendwann allein können.“

Liam öffnete den Mund, brauchte jedoch ein paar Anläufe, um auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag: „Wenn ich das selbst machen wollte, würde ich niemanden einstellen, der es für mich tut. Ich dachte, du bist eine Fachkraft und weißt, wie die Dinge laufen.“

Nayeli schnappte empört nach Luft. „Ich bin eine der Besten in meinem Job!“, fuhr sie auf und ignorierte ihre innere Stimme, die ihr zuschrie, ihr Temperament sofort zehn Stufen herunterzufahren. „Aber ehrlich – jemand wie du ist mir noch nie begegnet! Wie kann man sich derart aus dem Schlamassel ziehen wollen und dann am besten auch noch Wunder von der Fachfrau erwarten?!“

„Ich erwarte keine Wunder, sondern nur ordentliche Arbeit!“, gab Liam nun ähnlich verärgert zurück.

„Die du von mir ganz bestimmt nicht bekommen wirst!“, stieß sie aus, bevor sie ihre Worte durchdacht hatte. „Mir tut es nur um die arme Gracie leid, die jetzt weiter mit ihrem problematischen Verhalten leben muss.“

„Mein Hund ist nicht problematisch!“, entfuhr es Liam aufgebracht. „Persönlich zu werden, wird dir auch keine Anstellung verschaffen!“

Persönlich?“, wiederholte sie schrill. „Gracie ist der Grund, warum ich hier bin!“

„Was?!“ Liam blinzelte verwirrt, brauchte einen Moment, um die nächsten Worte herauszubringen. „Ich suche jemanden, der mich und mein Haus umsorgt – nicht meinen Hund!“

Nayeli, die schon wieder Luft geholt hatte, um dem Mistkerl eine gepfefferte Antwort zu servieren, hielt inne und starrte Liam mit großen Augen an.

„Dein … Haus“, wiederholte sie und der Schauspieler nickte nachdrücklich.

„Das Wort Haushälterin deutet eigentlich darauf hin, nicht wahr?“, sagte er mit einem arroganten Gesichtsausdruck.

Nayeli biss kurz die Zähne zusammen. Ein Teil von ihr stürmte aus viel zitiertem Gebäude, zerschmetterte vorher noch ein paar teure Gegenstände und kehrte diesem Mann für immer den Rücken. Natürlich. Der Sexismus bei seiner Verwechslung störte sie weniger als der Rassismus. Er sah nicht nur eine Frau, nein, er sah eine Frau mit augenscheinlich lateinamerikanischen Wurzeln und natürlich konnte sie nichts anderes sein als die neue Haushälterin, auch wenn es hier offensichtlich zwei Positionen zu besetzen gab. Es war nicht das erste Mal, dass ihr so etwas passierte und würde auch nicht das letzte Mal sein. Sie konnte gehen, ihren Stolz über alles stellen und den Job sausen lassen. Oder das tun, was sie schon so oft getan hatte und hasste, weil sie es sich nicht leisten konnte, Aufträge auszuschlagen: Augen zu und durch und irgendwann in der Lage sein, unter ihren Klienten diejenigen auszusuchen, die sie ihrer Zeit für wert befand.

„Ja, so wie das Wort Hundetrainerin bedeutet, dass der Hund im Vordergrund meiner Arbeit steht“, erwiderte sie schließlich mit einem falschen Lächeln.

Hundetrainerin?“, echote dieses Mal Liam und Nayeli nickte nachdrücklich. „Aber ich sagte deiner Firma klar und deutlich, dass ich eine neue Haushälterin brauche. Haus-häl-te-rin. Die beiden Worte kann man doch gar nicht durcheinanderbringen. Die klingen vollkommen unterschiedlich!“

„Ich arbeite für keine Firma“, klärte sie ihn rasch auf. „Ich bin selbstständig. Deine Freundin hat mich angerufen und den Termin für heute mit mir ausgemacht. Sie sagte, das sei mit dir abgesprochen.“

„Freundin?“ Liam blinzelte perplex. „Ich hab keine Freundin.“

Nayeli wurde heiß und kalt zugleich. War sie etwa Opfer eines dummen Streichs unter Freunden geworden? Immerhin hatte sie sich nach Eingang des Anrufs ja erst einmal selbst gewundert, wie die Freundin eines derart berühmten Schauspielers ausgerechnet auf sie gekommen war. So bekannt war sie bedauerlicherweise ja noch nicht.

„Sie … sie sagte aber, sie sei deine Freundin“, stammelte sie. „Ihr Name ist Alycia Bowles und …“

„Alycia?“ Liam schnappte nach Luft. „Alycia hat dich angerufen? Um was zu tun? Meinen armen Hund zu quälen?“

„Ich quäle keine Hunde!“, entfuhr es Nayeli nun doch wieder verärgert. „Ich helfe ihnen! Oder besser ihren Besitzern.“

Liam lachte unecht. „Wir brauchen keine Hilfe“, behauptete er, obwohl das helle Kläffen seines Hundes weiterhin durch das gesamte Haus hallte und nun auch noch von einem nervigen Kratzen an der Tür begleitet wurde.

Zu Nayelis Ärger fügte sich langsam Angst. Sie brauchte diesen Job, hatte das Geld bereits fest eingeplant – insbesondere, weil sie sich jetzt nun auch noch ein neues Auto zulegen musste. „Deine Freundin sagte aber …“

„Seit gestern Ex-Freundin“, verbesserte Liam sie, bevor sie weitersprechen konnte. „Oder eher Ex-Geliebte.“

Nayelis Herz sank. Oje, das war gar nicht gut.

„… Ex-Geliebte“, griff sie seine Formulierung dennoch auf, „sagte mir, Gracie wäre bissig und würde jeden Gast aus dem Haus graulen.“

Die Dame hatte am Telefon hysterisch geklungen, weshalb Nayeli angenommen hatte, es würde sich um starke Übertreibung handeln.

„Was?!“ Liam stieß einen empörten Laut aus. „Dieses Miststück! Ich meine Alycia, denn Gracie ist mein kleiner Engel und ganz bestimmt nicht bissig. Meine Ex wollte bestimmt nur meinen …“

„Das heißt, es gibt keine Schwierigkeiten, wenn Besuch erscheint?“, hakte Nayeli rasch nach und warf demonstrativ einen Blick in Richtung der Zerstörungsgeräusche. Wenn der Hund so weiter machte, würde er bald durch die Tür brechen.

Liam zögerte deutlich und hob schließlich die Schultern. „Nein?“

Nayeli unterdrückte ein Grinsen. Solche Reaktionen waren ihr vertraut.

„Zumindest nicht, wenn ich sie wegsperre“, setzte er hinzu.

„Und das Theater macht sie dann immer?“ Sie wies mit dem Daumen über die Schulter.

„Nein. Es … variiert ein wenig.“

Nun erschien ihr Grinsen doch, glücklicherweise aber nur für eine halbe Sekunde. „Und du fühlst dich mit der Praxis, sie einzusperren, wohl?“, hakte sie vorsichtig nach.

„Selbstverständlich nicht!“, platzte es etwas ungehalten aus Liam heraus, dann hatte er sich wieder im Griff, musterte Nayeli aus ihrer Sicht viel zu lange von oben bis unten und seufzte schließlich leise.

„Gut. Nehmen wir mal an, ich hätte Schwierigkeiten mit der Erziehung der Herzdame in meinem Leben – wie würde das mit uns dann ablaufen?“

„Ich würde den Hund kennenlernen und euch beiden im Umgang miteinander zusehen, du würdest mir beim gemütlichen Zusammensitzen erzählen, welche Verhaltensänderungen bei Gracie du dir wünschst und dann würden wir gemeinsam die Termine fürs Training planen.“

Liam schürzte nachdenklich die Lippen und sah hinüber zum Ort Terrors.

„Keine Sorge, ich bin noch nicht sehr teuer, auch wenn mein Ruf bereits ein sehr guter ist“, setzte Nayeli hinzu.

Der Schauspieler gab ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrücktes Lachen klang. „Geld ist hier nicht das Problem“, sagte er und öffnete die Arme zum Raum um ihn herum, alles andere als dezent auf seinen Reichtum hinweisend.

„Was dann?“, hakte sie nach, weil sein Zögern noch deutlich spürbar war.

„Mein Ruf“, gestand er ihr. „Ich bin derzeit einer der gefragtesten Schauspieler Hollywoods und stehe ständig im Mittelpunkt der Presse. Du hast die Paparazzi beim Betreten meines Hauses vielleicht nicht bemerkt, aber sie sind da, lauern in Büschen und Autos und überlegen schon, wie sie die Fotos von dir verkaufen können.“

„Von mir?!“, entfuhr es Nayeli entsetzt und Liam nickte mitfühlend.

„Nimm es als kostenlose Promotion für dein Geschäft hin … oder besser nicht – was mich gleich zum eigentlichen Problem zurückführt. Wenn wir das hier machen“, er wedelte mit der Hand zwischen ihnen hin und her, „dann darf niemand wissen, dass du das Verhalten meines Hundes korrigierst …“

Wir! Wir machen das! Zusammen!“, verbesserte Nayeli ihn rasch und stutzte dann. „Was soll das heißen, niemand darf davon wissen?“

„Weil das meinem Ruf schadet“, war die für sie noch unsinnigere Antwort. „Ich sehe schon die Schlagzeilen: ‚Liam Chandler – A-Klasse-Schauspieler – F-Klasse-Hundebesitzer’ oder Liam Chandler – Tierliebhaber oder Tierquäler?’, ‚Warum sich Superstars keine Tiere halten sollten – Fallbeispiel Liam Chandler‘. Nee, nee, nee. Davon dürfte niemand etwas erfahren.“

„Gut dann …“ Nayeli dachte schnell nach, obwohl das Ganze ihren eigenen Plan, sich durch ihn einen Namen unter den Promis zu machen, durchkreuzte. Den Job überhaupt zu bekommen hatte allerdings zunächst Priorität. „… dann bin ich eben offiziell“, sie unterdrückte einen Seufzer, „doch deine neue Haushälterin.“

„Willst du denn zusätzlich auch das Haus putzen und bei Bedarf Essen kochen?“, hakte er nach.

„Auf keinen Fall!“

„Dann geht das nicht, schließlich wird demnächst hier wieder eine echte neue Haushälterin ein- und ausgehen und die Presse wird sich dann fragen, wer sie ist.“

„Was sie nichts angeht?“ Nayeli zuckte die Schultern und erntete einen großväterlich-nachsichtigen Blick von Liam. Nun gut, von solcherlei Dingen verstand er wohl tatsächlich mehr als sie.

„Gut, dann bin ich deine Yogalehrerin“, schlug Nayeli vor.

„Hab ich schon“, gab Liam mit einem leichten Kopfschütteln zurück.

„Persönliche Assistentin?“

„Jenny ist darin ausgezeichnet.“

„Motivationscoach?“

„Brandon Kutscher – nicht verwandt mit Ashton und ebenfalls ein Ass in seinem Fach.“

„Fitnesstrainerin?“

Liam gab ein unterdrücktes Prusten von sich und seine Augen flogen kurz über ihren Körper – jedoch nicht, ohne für eine halbe Sekunde an ihrem Dekolletee hängenzubleiben (Verdammter Knopf!). Sie hatte eine normale Figur, war weder sonderlich trainiert noch spindeldürr oder sonst etwas, das seinem Anspruch zu genügen schien.

„Wir sollten schon was nehmen, was man dir glaubt.“

Nayeli unterdrückte ein empörtes nach Luft schnappen, während sie sich darum bemühte, den störrischen Knopf ihrer Bluse möglichst unauffällig zu schließen. Trotz aller Widrigkeiten war sie auf dem Weg zu einem erfolgreichen Geschäftsabschluss und durfte sich das jetzt nicht mehr durch ihr gekränktes Ego verderben.

„Psychologin?“, fiel ihr noch ein.

Liam verzog sein Gesicht, als hätte sie ihn geohrfeigt. „Das wär dann noch schlimmer als die Hundetrainerin – also nein.“

Sie stöhnte genervt auf. „Da mir langsam Ideen und Zeit ausgehen, mache ich dir einen Vorschlag: Ich lerne erst einmal deinen Hund und euer gemeinsames Problem kennen und wenn wir dann immer noch der Meinung sind, dass es eine gute Idee ist, zusammenzuarbeiten, können wir erneut unsere Fantasie spielen lassen, was meine Rolle in deinem Leben angeht, ja?“

Liam dachte kurz über ihre Idee nach und nickte schließlich. „Na, dann …“, sagte er und wies hinüber zum Flur.

Nayeli wollte schon losmarschieren, doch Liam hielt sie überraschenderweise am Arm fest. „Mir fällt gerade ein, dass du vielleicht deine Schuhe ausziehen solltest.“

„Oh, teurer Boden, verstehe“, sagte Nayeli und beugte sich hinunter, um sie auszuziehen. Aus dem Augenwinkel nahm sie das Kopfschütteln ihres potenziellen Klienten wahr und hielt inne.

„Das ist eines der … Konfliktgebiete“, erklärte Liam.

„Meine Schuhe?“

Er nickte mit einem Hauch von Verlegenheit in seiner Mimik. „Das, was Alycia als ‚Bissigkeit‘ deklariert hat, richtet sich nicht gegen Menschen, sondern gegen ihr Schuhwerk.“

Nayeli runzelte die Stirn. „Dein Hund hasst Schuhe?“

„Nein! Gracie liebt sie! Sie will sie nur gern … zerkauen. Alle. Nacheinander, manchmal abwechselnd. Insbesondere Absatzschuhe.“

„Und das mögen deine Gäste verständlicherweise nicht – verstehe“, erwiderte sie, zog sich ihre Turnschuhe aus und hielt sie Liam vor die Nase.

Der rümpfte diese kurz, nahm ihre Treter aber trotzdem mit spitzen Fingern entgegen und stellte sie auf die Kommode zu seiner rechten Seite, während Nayeli auf Socken bereits an die leicht wackelnde Tür des Büros herantrat.

„Noch irgendwas Wichtiges, bevor wir die Bestie aus ihrem Kerker lassen?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und einer Hand auf dem Türknauf.

„Ja –“ Liam kratzte sich nun deutlich verlegen am Hinterkopf, was irgendwie niedlich aussah. „Bist du an den Füßen kitzelig?“

„Beißt sie da auch rein?“, erkundigte sie sich deutlich weniger genervt, als sie es tatsächlich war. Sie hasste es, wenn sie ihren Kunden alle wichtigen Informationen aus der Nase ziehen musste.

„Nein, aber sie hat einen kleinen Fußfetisch. Sie muss jeden Fuß erst einmal beschnuppern und, wenn sie nackt sind, sogar ablecken, was in deinem Fall ja nicht zutrifft, aber ich dachte mir, ich warne dich trotzdem vor.“

„Ich hab schon Schlimmeres erlebt“, gab sie mit einem Schulterzucken zurück und öffnete kurzerhand die Tür.

Hinaus schoss ein kleiner, weiß-brauner Fellball, der erst vor ihr zurückschreckte und einen rekordverdächtigen Sprung in Richtung seines Herrchens machte, um sich dann tatsächlich sofort auf ihre Füße zu stürzen. Nayeli hielt tapfer still, in der Hoffnung, dass Liam sie bezüglich Gracies Beißbereitschaft nicht angelogen hatte, und atmete unauffällig aus, als der Hund seinen intensiven Beschnupperungsakt schwanzwedelnd hinter sich gebracht hatte.

„Ein Bolonka also“, stellte Nayeli fest und Liam strahlte sie begeistert an, obwohl Gracie nun wieder dazu überging, die Kraft ihrer Stimmbänder unter Beweis zu stellen. „Leider vergessen viele Menschen oft, dass auch die kleinen, niedlichen Hunde eine ordentliche Erziehung brauchen, weil sie sonst ziemlich garstig und anstrengend werden können.“

„Ich hab das nicht vergessen!“, entgegnete Liam sofort und glücklicherweise so laut, dass sie ihn trotz des Gebells verstand. „Jedes Lebewesen braucht eine ordentliche Erziehung und ich hab mich bemüht, dafür zu sorgen.“

„Dann sorg dafür, dass sie aufhört zu bellen“, verlangte seine – hoffentlich! – zukünftige Hundetrainerin ebenfalls etwas lauter.

„Ich hab sie ja noch nicht so lange“, verteidigte sich der Schauspieler, „deswegen kennt sie nur die wichtigsten Grundlagen.“

„Die da wären …?“

„Pass auf!“ Liam stellte sich vor seinen Hund. „Sitz!“, sagte er sanft und Gracie ließ sich nieder, wedelte mit dem Schwanz und bekam sofort ein Leckerli ins Maul gestopft.

Der Schauspieler wandte sich stolz zu Nayeli um. „Na?“, fragte er doch allen Ernstes, während Gracie längst wieder aufgestanden war und erneut seinen Gast zu verbellen versuchte.

„Super!“, lobte Nayeli ihn überschwänglich, ohne es ernst zu meinen. „Und welche wichtigen Grundlagen beherrscht sie noch?“

Liam geriet eindeutig ins Grübeln, biss sich auf die Unterlippe und nickte dann. „Sie kann Treppen laufen, ist stubenrein, schläft auf ihrer Seite des Bettes, ohne zu schnarchen, und mittlerweile können Gäste auch neben ihr auf der Couch sitzen, ohne dass sie knurrt.“

Ob er ihr dazu Beruhigungsmittel verabreichte? Das hohe Dauergekläffe zerrte an ihren Nerven. Vielleicht fütterte er sie aber auch mit Leckerlis in ein halbes Fresskoma. Ausdauernd war die Kleine ja, das musste man ihr lassen. Nayeli wartete, ob noch etwas Erfreuliches kam, womit sie arbeiten konnte, doch Liam sah sie nur an, als erwarte er ein weiteres Lob.

„Puh!“, machte sie nur und ging vor dem bellenden Hund in die Hocke. „Da haben wir aber ein ganzes Stück Arbeit vor uns“, sagte sie zu dem Tier, das nun endlich wieder verstummte und erstaunt den Kopf schräg legte.

„Du … du besteigst sie jetzt aber nicht, oder?“, hörte sie Liam besorgt von oben fragen und Nayeli warf ihm einen verständnislosen Blick zu.

„Ich will deinem Hund helfen, nicht ihn erdrücken“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Es gibt andere, viel bessere Methoden, einen Hund zum richtigen Verhalten gegenüber Menschen zu erziehen.“

„Dann bin ich beruhigt“, seufzte Liam erleichtert.

Nayeli ließ Gracie an ihrer Hand schnuppern und kraulte ihr kurz das Köpfchen, bevor sie sich aufrichtete. Sofort setzte das Gebell wieder ein.

„Ich beobachte, analysiere und versuche dann die Beziehung zwischen Hund und Besitzer in einen Zustand zu bringen, mit dem sie beide glücklich sind. Gewalt und Zwang sind bei mir tabu. Dafür verlange ich Kontinuität, den Willen, meine Ratschläge anzunehmen, und vor allen Dingen Zeit in die Arbeit mit dem Tier zu investieren. Wenn das alles auch für dich passt, können wir uns gern zusammensetzen, um den nächsten, richtigen Kennlerntermin festzulegen.“

Liam sah hinunter zu seinem Hund, der zusätzlich zu seinem Kläffen nun versuchte, mit lustigen Hüpfern und Aufforderungen zum Spiel Nayelis Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

„Nicht beachten“, riet sie ihm leise und seine Augen richteten sich wieder auf ihr Gesicht.

„Okay“, sagte er schließlich entschlossen und ihr Herz machte ein paar erfreute Sprünge. „Probieren wir’s.“

 

 

 

 

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Backstage-Gedanken

 

 

 

 

 

Das Gesicht im Spiegel war überdurchschnittlich attraktiv. Ebenmäßig. Faltenfrei. Ausdrucksstarke braune Augen, eine gerade, nicht allzu große Nase, sinnliche Lippen. Glatte, porentiefreine Haut. Trotz der sechsunddreißig Jahre, die Liam jetzt schon auf dem Buckel hatte. Gut, die Visagistin von ‚Justin’s Nightlife‘, der Show, in der er gleich auftreten sollte, hatte bereits Hand an ihn gelegt, aber auch ohne das Make-Up sah er seiner eigenen Meinung nach einschüchternd gut aus. Wie war es also möglich, dass er genau diesen Effekt bei seiner neuen weiblichen Bekanntschaft nicht hatte erzielen können? Das war ihm schon seit Ewigkeiten nicht mehr passiert. Hatte er etwa durch seine Liaison mit Miss-Super-Anstrengend seinen Charme verloren?

Die Visagistin trat wieder an ihn heran, um sich nun um sein wunderbar volles, glänzendes Haar zu kümmern, und Liam schenkte ihr über den Spiegel mit funkelnden Augen das Lächeln, mit dem er bisher jedes weibliche und auch einige männliche Wesen nervös gemacht hatte. Mit Erfolg. Die junge Frau lief rot an, kicherte leise und ließ im nächsten Moment den Kamm fallen, mit dem sie sein Haar hatte stylen wollen. Sie bückte sich rasch danach und bedachte ihn mit einem entschuldigenden Lächeln, bevor sie sich mit glühenden Wangen wieder an die Arbeit machte.

Sie war ein hübsches Mädchen, mit dunklen Locken und zartem Puppengesicht, das sicherlich vielen Männern gefiel. Daher war ihr Verhalten eigentlich schon Beweis genug, dass er nichts von seiner Anziehungskraft verloren hatte. Dennoch genügte ihm ihre Reaktion noch nicht, um zu seiner alten Selbstsicherheit zurückzufinden.

„Sagen Sie, Mary“, sprach er die junge Frau an und hatte sofort wieder ihre Aufmerksamkeit, „finden Sie, dass ich älter aussehe als letztes Jahr?“

„Marian“, verbesserte sie ihn, „und letztes Jahr habe ich noch nicht hier gearbeitet.“

„Aber Sie kennen mich doch sicherlich aus den Medien.“

Sie nickte sofort und hielt auf sein nachdrückliches Heben der gerade erst in Form gebrachten Augenbrauen hin kurz inne. „Ach so … nein, ich finde, Sie sind keinen Deut gealtert. Ich würde Sie maximal auf Ende Zwanzig schätzen.“

Sehr schön. Das war doch genau das, was er hatte hören wollen … und trotzdem ging es ihm damit immer noch nicht wieder richtig gut. Was albern war, denn was machte es schon, wenn mal eine Frau nicht gleich vollkommen hin und weg von ihm war? Zudem noch eine, die nicht aus seiner Branche kam, sondern den Großteil ihrer Zeit unter gestörten Vierbeinern verbrachte. Wahrscheinlich war er zu wenig behaart, um ihr Interesse zu wecken.

Er gab ein leises Lachen von sich und schüttelte den Kopf, was ein wenig schmerzhaft war, da Mary immer noch an ihm herumfrisierte. Ihre leise Entschuldigung tat er mit einer abwinkenden Handbewegung ab, denn gerade in diesem Moment begann das Handy auf dem Kosmetiktisch zu vibrieren und zeigte einen Namen an, der sein Herz einen kleinen Sprung machen ließ.

„Nickilein, mein allerbester Freund – mein Bruder – mein Seelenverwandter!“, begrüßte er den Anrufer überschwänglich. „Wird ja auch wirklich langsam Zeit, dass du mal wieder von dir hören lässt!“

„Wir haben erst vorgestern Abend telefoniert“, wurde er unnötigerweise erinnert.

„Erst?“, hakte Liam verständnislos nach. „Das sind achtundvierzig Stunden – und ich hab dir gesimst, dass ich in Schwierigkeiten stecke.“

„Musstest du jetzt etwa selbst den Staubwedel schwingen?“, fragte sein räudiger Freund mit hörbarer Belustigung nach.

„Mach dich nur über mein Leid lustig“, knurrte Liam ins Telefon. „Du hast ja keine Ahnung, was in der Zwischenzeit alles passiert ist!“

„Ist Alycia über ein Staubknäuel gestolpert und verklagt dich jetzt?“, feixte Nick weiter.

„Alycia ist nicht mehr“, brummte Liam.

Stille.

„Sie ist was nicht mehr?“, hakte Nick nur wenig später nach – endlich mit der nötigen Ernsthaftigkeit. „Am Leben? Nicht mehr dünn? Nicht mehr deine Freundin?“

„Letzteres – nun sei mal nicht überdramatisch! Sie ist eine junge Frau, deren Leben sich nur um sie selbst dreht. Wie soll der schon was zustoßen? Außerdem hat sie sicherlich jemanden, der für sie da ist, sich um sie kümmert, ernsthaft nachfragt, wie es ihr geht …“

Ein Seufzen war aus dem Handy zu vernehmen. „Also gut – wie geht es dir nach der Trennung?“

„Schlecht“, gab Liam zurück und brachte seinen besten Freund damit erneut aus dem Takt.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis wieder etwas von ihm zu hören war. „Das tut mir leid. Ich hatte bisher immer das Gefühl, dass ihr nichts Ernsthaftes laufen habt und sie dich in letzter Zeit furchtbar gestresst hat.“

„So war es ja auch“, offenbarte Liam ihm. „Mir geht’s ja nicht schlecht, weil sie weg ist – eigentlich hatte ich sogar das Bedürfnis, das angemessen zu feiern – sondern wegen dem, was sie mir angetan hat.“

„Okay, Liam, das ist jetzt nicht mehr lustig!“, beschwerte sich Nick. „Sag mir jetzt direkt, was los ist! Sofort!“

„Machst du dir Sorgen?“, fragte Liam erfreut. Sein Freund liebte ihn immer noch – trotz der sechsmonatigen Trennung über Zeit und Raum!

„Li!“

Oje – jetzt wurde er wirklich stinkig. Da war es wohl besser, mit der Sprache herauszurücken.

„Sie hat mir eine sogenannte Hundeflüsterin auf den Hals gehetzt.“

Erneute Stille.

„Eine bitte was?“

„Eine Hundetrainerin. Jemand, der Leuten dabei hilft, ihren Hund besser zu erziehen.“

„Wenn du sagst, dass Alycia sie dir auf den Hals gehetzt hat, dann meinst du, sie soll mit Gracie trainieren, oder?“

Liam stutzte. „Ja, natürlich! Mit wem denn sonst? Etwa mit mir?“

„Na ja, so ein bisschen Feinschliff könnte dein Benehmen schon vertragen.“

„Ha – ha – ha“, machte Liam, während sein lausiger Freund nicht einmal des Anstands halber leise in sich hineinlachte. „Schön, dass dich mein Kummer so amüsiert.“

„Li, jetzt mal ganz ehrlich: Ich sehe das Drama bei der Sache nicht so wirklich“, musste Nick nun auch noch von sich geben. „Ein bisschen Erziehung kann deinem Hund nicht schaden.“

„Was soll denn das heißen?!“, entfuhr es Liam empört. „Mein Hund hat sehr wohl bereits Erziehung genossen. Sonst würde sie sich ja immer noch in der Wohnung erleichtern und Stuhlbeine anknabbern.“

„Nur weil sie nicht in dein Bett kackt, heißt das nicht, dass sie ausreichend erzogen ist.“

„Und nur weil du Bonnies Teilzeitdaddy bist, heißt das nicht, dass du alles über Hundeerziehung weißt, Herr Schlaumeier!“ Irgendwie geriet ihr Gespräch langsam außer Kontrolle und wurde immer mehr zu einem ernsthaften Streit. Dabei hatte Liam sich doch so viel davon versprochen – vor allem Trost und Verständnis.

Ich hab mich aber im Gegensatz zu dir über Hundeerziehung informiert und sogar mit ihr eine Hundeschule besucht“, gab Nick verärgert zurück. „Und du hast dich selbst bei mir darüber beklagt, dass Gracie jeden Besuch verbellt und alle Schuhe attackiert, die sich in ihrer Reichweite befinden. Du warst unglücklich darüber, dass du sie immer einsperren musst, wenn es an der Tür klingelt – und trotzdem hast du dich geweigert, mit ihr zur Hundeschule zu gehen!“

„Aber natürlich!“, platzte es sofort aus Liam heraus und durch Nicks folgendes und eindeutig selbstgefälliges Schweigen sah er sich plötzlich auch noch gezwungen, seine Antwort logisch zu untermauern.

„Sonst wäre genau das passiert, was ich durch mein umsichtiges Verhalten zu verhindern versucht  habe: miese Schlagzeilen. Der Kreis der Beteiligten muss so klein wie möglich gehalten werden!“

Sein Blick fiel auf die Visagistin, die deutlich versuchte, desinteressiert auszusehen. Er suchte ihren Blick im Spiegel und wies mit dem Finger auf ihr Spiegelbild. „Haben Sie eigentlich schon die aktuellste Version der Verschwiegenheitserklärung unterschrieben?“

Aus dem Augenwinkel sah er sie unsicher die Schultern zucken und sandte sich ein mentales Memo, das unbedingt weiterzuverfolgen.

„Wie wichtig so etwas ist, muss ich dir ja wohl kaum erklären, Nick!“, fuhr er fort und hielt inne, auf eine zustimmende Antwort wartend. Die nicht kam. Auch nicht nach dem zweiten „Nick??“ Es raschelte kurz unangenehm im Hörer, dann meldete sich am anderen Ende endlich wieder jemand.

„Sorry, er musste mir kurz hochhelfen, weil ich immer wieder vergesse, dass diese kuscheligen Sitzsäcke gerade nichts für mich sind.“

„Lisa, mein Schatz, mein sprudelnder Quell der Vernunft und Umsicht!“, freute sich Liam. „Wie geht es dir und meinem Patenkind und wenn wir schon so nett dabei sind zu plaudern: Wo ist dessen werter Herr Vater hin?“

„Gut, sehr gut und mir eine Limo holen, weil ich mich ja auf dem Weg zum Kühlschrank schwangerschaftsdemenztechnisch verlaufen oder vor Überanstrengung umfallen könnte“, gab sie ein wenig genervt zurück. „Und selbst?“

„Tu doch nicht so, als hättest du nicht mitgehört“, rügte Liam sie sanft. „Nick hat bestimmt den Lautsprecher angemacht und dabei mit den Augen gerollt.“

Dazu sagte sie erst einmal nichts, was Bestätigung genug war.

„Aber du als Frau hast bestimmt genügend Einfühlungsvermögen, um meine Gefühlslage zu verstehen“, setzte Liam hinzu.

„Ehrlich gesagt, bin ich mir noch nicht sicher, was deine Gefühlslage ist.“

„Enttäusch mich nicht, Lisa …“

„Nein, wirklich – ich verstehe, dass Alycias Handeln dich ärgert, aber niemand zwingt dich, die Hundeflüsterin anzustellen.“

Mist. Damit brachte sie die Sache leider auf den Punkt. Sein Blick fiel auf das zusammengerollte kleine Fellknäuel am anderen Ende des Raums. Er hatte dafür gesorgt, dass er seinen kleinen Schatz zu fast jeder Show, die ihn als Gast haben wollte, mitnehmen durfte und für Gracie immer ein eigens für sie bereitgestelltes Körbchen nebst einer Schale frischen Wassers in der jeweiligen Garderobe stand. Dasselbe galt für jedwede Dreharbeiten. Auch darüber hatte Alycia sich wiederholt lustig gemacht – gleich nachdem sie beim ersten Set-Besuch einen Aufstand gemacht hatte, weil es ihr eigenes französisches Lieblingswasser nicht gegeben hatte.

„Sicherlich hast du sie bereits wieder weggeschickt“, spekulierte Lisa in einer Tonlage, die ihre Zweifel an ihrer eigenen Aussage nur allzu deutlich machte, „deswegen frage ich mich, warum dich das Ganze immer noch so beschäftigt.“

Liam atmete tief ein und wieder aus. „Ich hab sie nicht weggeschickt, sondern angestellt.“ Über den Spiegel warf er einen weiteren misstrauischen Blick auf Mary. Die Visagistin hob eine Hand und führte ihre Finger an den Lippen entlang, als würde sie einen Reißverschluss schließen.

„Und das ärgert dich?“, erkannte Lisa ganz richtig.

„Irgendwie schon“, gab er nach kurzem Zögern zu. „Und nicht nur, weil ich damit zugebe, dass Gracie und ich … na ja … nicht ganz so harmonisch miteinander leben, wie ich es mir immer gern selbst vormache.“

„Ist sie denn nicht nett gewesen?“

„Einerseits ja, aber andererseits …“

„Könntest du ein bisschen genauer werden?“

Er seufzte leise und wandte sich zur Visagistin um. „Sind sie jetzt fertig?“, fragte er etwas ungeduldig.

„Wenn Sie mit Ihrem Aussehen zufrieden sind?“, gab die junge Frau verunsichert zurück.

Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Perfekt war es nicht, aber einen Menschen wie ihn konnte man nur schwer entstellen. Mit einem knappen Nicken brachte er Mary dazu, seine Seite und damit auch das kleine Zimmer zu verlassen.

„Findest du, dass ich äußerlich abgebaut habe?“, fragte er schließlich Lisa und ärgerte sich dabei ein weiteres Mal über seine eigene Unsicherheit.

Seine Freundin antwortete nicht sofort und vor seinem inneren Auge sah Liam, wie sie gerade irritiert blinzelte.

„Hat sie etwas in der Art zu dir gesagt?“, tönte ihre Stimme nur wenig später durch das Telefon.

„Nein, sie war nur so … unbeeindruckt und irgendwie … schroff.“

„Ernsthaft, Liam – das ist dein Problem?“, erwiderte Lisa hörbar belustigt.

„Ja, ist es!“, gab er mit leichtem Ärger zurück. „Mein Äußeres und meine Wirkung auf andere sichern mir meinen Job! Das wär so, als würde jemand deine Bücher lesen, dabei keine Miene verziehen und dir am Ende nur freundlich lächelnd ein ‚Ganz nett‘ ins Gesicht klatschen!“

„Du warst doch aber nicht beim Casting, sondern hast lediglich eine Hundetrainerin kennengelernt“, erinnerte Lisa ihn nun schon etwas sanfter. „Vielleicht wollte sie auch einfach nur professionell sein und hat sich ihre Aufregung deswegen nicht anmerken lassen.“

Er schürzte nachdenklich die Lippen. Kein schlechtes Argument. „Aber richtig professionell war sie auch nicht“, grübelte er, „denn dann wär sie viel freundlicher gewesen und nicht so … frech.“

„Inwiefern war sie frech?“

„Na, sie hat sich darüber empört, dass ich sie für meine zukünftige Haushälterin gehalten habe. Dabei war ich super freundlich und charmant und habe auch …“

„Du hast sie für deine Haushälterin gehalten?!“

„Nein, für jemanden, der sich auf die Stelle bewirbt, weil ich ja mit der Firma telefoniert hatte und die mir versprochen hatten, mir so schnell wie möglich jemanden rumzuschicken. Und da meine alte Haushälterin auch aus Mexiko kam, dachte ich …“

Auch?! Heißt das, die Hundeflüsterin hat mexikanische Wurzeln?!“

„Nicht unbedingt. Könnte auch zentral- oder südamerikanisch sein, aber …“

„Liam!“, unterbrach Lisa ihn schon wieder unhöflich. „Sie hatte jedes Recht dazu, empört zu sein. Du kannst doch nicht von dem Erscheinungsbild eines Menschen auf dessen berufliche Ausbildung schließen!“

„Ich glaub nicht, dass man eine Ausbildung braucht, um Hundetrainerin zu werden“, merkte er an und musste dabei feststellen, dass seine Wangen sich aufgrund von Lisas Vorwurf tatsächlich ein wenig röteten. Tief in seinem Inneren wusste er ganz genau, dass sein Benehmen Nyali gegenüber grenzwertig gewesen war.

„Li!“, dröhnte es nun zweistimmig aus dem Telefon. Augenscheinlich hatte sich Nick wieder neben seiner Angetrauten eingefunden.

„Es ist ein Wunder, dass die Frau trotzdem noch für dich arbeiten wollte“, fügte sein bester Freund an.

„Wollte sie ja nicht, es war ja eine Verwechslung“, gab Liam nun etwas verwirrt zurück.

„Als Hundetrainerin!“, stellte Lisa nachdrücklich klar.

„Ach so – ja, na klar. Ich denke, sie braucht Geld und ich war für einen Moment schwach und wollte ihr den Job nicht wegnehmen …“

„Aus lauter Herzensgüte“, setzte Nick ironisch hinzu.

„Ja – genau deswegen!“, schnauzte Liam ungehalten ins Handy. „Ich tue anderen gern etwas Gutes und das weißt du genau! Gracie mag nicht der perfekte Hund sein, aber wir kommen klar und ich hätte mir nie von allein eine Hundeflüsterin aufgehalst – schon gar keine, die so … ruppig ist wie diese Nayali. Aber sie kann nichts dafür, dass Alycia sie benutzt hat, um mich zu ärgern, und ich wollte nicht, dass sie darunter leiden muss. Das bisschen Geld für ein paar Stunden Hundetraining hab ich ganz bestimmt!“

„Okay, okay, beruhige dich, Li“, kam Nick ihm nun endlich entgegen. „Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Mich musst du nicht überzeugen. Ich frage mich nur, warum dich das alles so sehr aufregt.“

Wenn Liam ehrlich war, fragte er sich das auch allmählich. Bisher war ja nicht viel und auch nichts Schlimmes passiert. Er hatte an alles gedacht, Naylali die Verschwiegenheitserklärung unterschreiben lassen und sie hatten erst einmal nur einen Termin ausgemacht. Darüber hinaus wirkte die junge Frau in der Tat recht professionell (ja, jetzt konnte er es zugeben) und – wenn man es weniger negativ ausdrücken wollte – erfrischend anders. Und eben wenig von ihm begeistert, auch wenn er den ein oder anderen Blick bemerkt hatte. Einem Liam Chandler konnte man (und frau und alles andere, denn heutzutage musste man ja sooooo politisch korrekt sein) nichts vormachen.

Hm – vielleicht hatte er doch nichts von seinem Schlag bei Frauen verloren und nur nicht richtig auf die Zeichen geachtet.

„Liam?“, hörte er Nick vorsichtig fragen. „Alles gut bei dir?“

„Ja, ich …“ Er schüttelte kurz den Kopf. „Wahrscheinlich hab ich nur schlecht geschlafen. Die Vorbereitungen zum Dreh des neuen Films beginnen ja schon morgen und dann ist da noch die Show jetzt und die Sache mit Alycia … Nicht dass ich es bereue, mit ihr Schluss gemacht zu haben, aber die hat zuvor einen Aufstand gemacht, der mich einige Nerven gekostet hat.“ Er seufzte leise. „Tut mir leid, dass ihr das jetzt mit ausbaden musstet.“

„Alles gut“, versicherte Nick ihm, während Lisa „Dafür sind Freunde doch da!“ zum Besten gab.

„Behältst du die Hundeflüsterin jetzt?“, hakte sein Freund gleich darauf nach.

„Ich sagte doch, ich bin ein guter Mensch“, erwiderte Liam und ignorierte das leise, erleichterte Seufzen im Hintergrund. „Sie hat es zumindest verdient, mir zu zeigen, dass sie ihr Geld wert ist. Wenn aus dem Top-Team Griam das Mega-Top-team Lacie wird, gewinnen schließlich alle.“

Er grinste sich selbst breit im Spiegel an und konnte es nicht lassen, sich auch noch zuzuzwinkern – so wie Nick es manchmal tat, wenn sie zusammen herumwitzelten. Gott, vermisste er diesen Kerl!

„Wenn du es sagst“, erwiderte sein Freund und er konnte dessen Grinsen deutlich heraushören.

Fast im selben Moment öffnete sich die Tür des Zimmers und einer der Regie-Assistenten steckte seinen Kopf herein. „Ihr Auftritt wär dann in etwa zehn Minuten“, informierte der junge Mann ihn, während aus der Ferne bereits das Gelächter des Publikums zu vernehmen war.

„Ich bin bereit“, gab Liam zurück und der Mann verschwand wieder mit einem höflichen Lächeln.

Justin’s Nightlife heute?“, hakte Nick nach und Liam wurde ganz warm ums Herz. Auf seinen besten Freund war doch immer Verlass. Selbst im weit entfernten Deutschland kannte er noch Liams Wochenplan. Gut, er hatte ihm diesen selbst gesandt, aber Nick musste ihn zumindest einmal angesehen haben – trotz schwangerer Frau und neuem Buchprojekt. Liams Liebe wurde eindeutig erwidert.

„Genau“, stimmte er ihm zu. „Ich ruf dich morgen an und berichte dir davon.“

„Mach das, aber ich weiß, du wirst sie alle wie immer umhauen“, gab Nick vollkommen ernsthaft zurück.

„Küss Lisa von mir – du weißt, auf die harmlose Art, damit sie dich nicht verlässt, um mit mir zusammen zu sein“, zog Liam ihn liebevoll auf und erhielt dafür ein leises Lachen von Nick und ein lautes Prusten von Lisa, wie immer.

Als er schließlich auflegte, ging es ihm sehr viel besser. Menschen wie Nick und Lisa in seinem Leben zu haben war ein Segen. Sie holten ihn immer auf den Boden der Tatsachen zurück, weil sie ihn eben nie auf einen Sockel stellten, ihn wie einen ganz normalen Menschen behandelten. Er legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn. Im Grunde hatte Nayilli das auch getan, ihn wie einen gewöhnlichen Kunden behandelt. Warum hatte ihn das so geärgert, wenn es ihm bei seinen Freunden doch so gut tat?

Eben weil sie seine Freunde waren und keine Fremden. Und dennoch – sollte er Nayillis Verhalten nicht eher zu schätzen wissen, sich darauf freuen, mit einem normalen Menschen zusammenzuarbeiten, auch wenn es nur für ein paar wenige Stunden in der Woche war?

Sich selbst zustimmend nickte er sich zu. Er würde der Hundeflüsterin eine Chance geben – rein geschäftlich gesehen natürlich, denn obwohl sie mit ihren Kurven, dem dunklen Teint und den temperamentvoll leuchtenden Augen recht attraktiv war, war sie nicht der Typ Frau, der ihm normalerweise den Kopf verdrehte. Zudem waren seine Angestellten für ihn bis auf kleine Flirts seit einigen Jahren tabu.

Sich bei ihrem nächsten Treffen ein bisschen mehr von seiner charmanten, verführerischen Seite zu zeigen konnte dennoch nicht schaden. Einfach nur um die Bestätigung zu erhalten, dass er noch der Alte war und auch die Widerspenstigen weichkochen konnte. Schließlich war er Liam Chandler, Superstar und Frauenschwarm. Um diesen Ruf zu behalten, hieß es halt manchmal, etwas Zeit und Arbeit zu investieren. Auf professionelle Art und Weise selbstverständlich und ohne dafür wegen sexueller Belästigung belangt oder gar verklagt werden zu können. So ein Mistkerl war er nicht.

 

 

 

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Sensei Nayeli

 

 

 

 

 

Zwei Tage waren vergangen, seit Nayeli sich zuletzt auf den Weg zum Chandlerschen Anwesen gemacht hatte. Dieses Mal tat sie dies allerdings in einem neuen alten Wagen, den Jack, Geschäftspartner und bester Freund von Tia, ihr zu einem absoluten Freundschaftspreis verkauft hatte und für den sie mehr als dankbar war.

Ihre Mutter lag ihr immer in den Ohren, dass sie sich endlich einen Neuwagen auf Abzahlung zulegen sollte, was schon etwas hieß, denn normalerweise lehnte Anita López das Schuldenmachen strikt ab.

„In meinem ganzen Leben habe ich nur ein einziges Mal Schulden gemacht – una sola vez!“, sagte sie immer, „und  das war, um hierher zu kommen und dir eine bessere Zukunft zu ermöglichen, mija! Und ich hatte drei Jobs! Meine Tochter, die nur einen Job hat, macht keine Schulden!“

Rein logisch gesehen wäre die Sache mit dem Neuwagen sicherlich auch die bessere Entscheidung gewesen, wenn man dafür nicht eine Anzahlung hätte hinlegen müssen, die Nayelis finanzielle Möglichkeiten bei Weitem überstieg. Sie lebte sozusagen von der Hand in den Mund, denn das einzige Geld, das sie zurzeit auf die hohe Kante legen konnte, war das für ihr Studium und dieses Ersparte würde sie für nichts anderes in der Welt anrühren – außer vielleicht, um einem Familienmitglied (und dazu zählte sie auch ihren Hund Larry) in großer Not zu helfen. So hangelte sie sich von Gebrauchtwagen zu Gebrauchtwagen und wenn nicht ein gewisser Vollidiot ihren Weg ‚gekreuzt‘ hätte, säße sie auch noch am Steuer ihres alten alten Autos.

 Als sie heute vor dem Anwesen von Liam Chandler ausstieg, um auf die Klingel am Seitenpfeiler zu drücken, meinte sie tatsächlich, ein Rascheln in einem der Büsche um sie herum und das Klicken eines Kameraauslösers zu vernehmen, konnte aber niemanden entdecken. Die Sprechanlage knackte und abgehackte Silben ertönten, die aus so gut wie jeder Sprache stammen und von ‚Komm herein‘ bis ‚Verschwinde‘ alles bedeuten konnten. Da sich das Tor aber kurz darauf öffnete, hieß es wohl ersteres.

Nayeli war gerade ein paar Schritte gelaufen, als die Sprechanlage erneut unverständliche Worte ausspie und kurze Zeit später ihr Handy klingelte. Na, wer würde es sein? Ihre Mutter, Little Monster oder … verwirrt betrachtete sie den Namen auf dem Display: Liam Chandler.

„Ja, bitte?“, meldete sie sich irritiert.

„Nailia“, ertönte seine gestresste Stimme, „würdest du bitte ein Herz haben und dein … dein … mit was immer du da auch unterwegs bist, mit reinbringen und direkt vor dem Haus abstellen, wenn es das bis dahin schafft? Sei so gut, ja?“

Damit wurde die Verbindung unterbrochen und ‚Nailia‘ starrte erst das Handy und dann ihren Wagen an. Okay, vermutlich musste sie sich einfach an so etwas gewöhnen. Schon bei ihrem ersten Treffen hatte sich Mr. Superstar als wenig feinfühlig erwiesen. Ob er immer schon so gewesen war oder ob einen der Ruhm derart verdarb?

Wie dem auch sein mochte, Nayeli wanderte schulterzuckend zu ihrem Auto zurück und parkte es kurz darauf hinter dem auf Hochglanz polierten Maserati vor dem Springbrunnen. Neben diesem auf menschenkompatible Größe gezogenen Spielzeugrennauto mit extra großem Heckspoiler sah ihr eigener fahrbarer Untersatz natürlich noch zehnmal ärmlicher aus, als er es eigentlich war. Dabei zählte der gebrauchte Ford Fiesta aus den 90er Jahren noch zu den besten Autos, die sie jemals besessen hatte.

„Hallöchen, Nailili!“, ertönte eine weitere falsche Version ihres Namens und wie ein Beachboy aus einem 4k-Urlaubswerbespot lehnte Liam Chandler lässig im Türrahmen seines Hauseinganges und strahlte ihr entgegen. Ein kleiner braunweißer Blitz fegte an ihm vorbei und stürzte sich mit freudigem Gebell auf Nayelis Turnschuhe.

„Nein!“, rief diese entschieden und der Hund vor ihr stoppte einen Moment irritiert und sah sie mit schiefgelegtem Kopf an.

„Och Gott, ist sie nicht süß, wenn sie das macht??“, fragte Liam verzückt, während er geschmeidig die Treppe zu ihr hinunterlief. Lernte man heute an Schauspielschulen auch das Sich-sexy-Bewegen? Denn Liam war ein wirklicher Profi darin. Glücklicherweise sah der Bolonka das Verhalten seines Besitzers wohl als Erlaubnis weiterzumachen an, und brachte sie dazu, sich rasch wieder auf ihre Arbeit zu besinnen.

„Nein, pfui!“, sagte Nayeli laut, beugte sich hinunter und hielt der Hündin die ausgestreckte Handinnenfläche entgegen.

„Musst du sie so anherrschen?“, maulte Liam im Hintergrund und trat noch näher. Ohne ihn anzusehen, hob sie einen mahnenden Zeigefinger in seine Richtung.

„Nein!“, wiederholte sie streng. „Das sind meine Schuhe und die werden nicht angefressen!“

Gracie sah verwirrt von ihrem Herrchen zu Nayeli und wieder zurück und setzte sich erst einmal hin. Für genau eine Sekunde, dann machte sie einen erneuten Satz vorwärts, wurde aber von Nayelis Händen aufgehalten und zurückgeschoben, jedes weitere Mal mit einem bestimmten ‚nein!‘ verbunden.

„Nicht so grob, Nailea!“, beschwerte sich Liam ärgerlich, beugte sich hinunter und nahm Gracie auf den Arm, der es gar nicht gefiel, aus der Reichweite ihres neuen potenziellen Kauspielzeuges entfernt zu werden. Sie kläffte und strampelte in Liams Armen herum, winselte, leckte ihm über das Gesicht und versucht dann doch noch, unten oder oben durchzurutschen, immer wieder mit aufgerissenen Knopfaugen auf die Turnschuhe schielend. 

Nayeli seufzte und richtete sich auf. „Nayeli. Und ich bin nicht grob, sondern bestimmt, etwas, das du dir auch dringend angewöhnen solltest, damit das hier …“, sie wies auf Liam, den Hund und sich, „… funktioniert.“

„Aber Alycia hat sie immer so angeschrien und das konnten wir gar nicht leiden, nicht wahr, Lady Kelly?“

Der Hund winselte erneut, wohl aber eher, weil er immer noch so weit von einem gewissen Paar Leisetretern entfernt war.

„Ich habe nicht geschrien, ich war nachdrücklich“, korrigierte Nayeli den Mann vor sich ein weiteres Mal und konnte es sich gerade mal so verkneifen, seine braune, leicht beharrte Brust anzustarren, von der ein viel zu großer Teil durch das recht weit geöffnete, weiße Hemd zu sehen war.

„Dann sei es eben freundlicher“, verlangte die männliche Diva.

Nayeli blinzelte wiederholt ungläubig mit den Augen, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. „Wie wäre es, wenn wir die kleine Lady hier erst mal zusammen Gassi führen, hm? Dann kann sie sich ein wenig austoben und so lernt man einander am besten kennen und –“

„Wir gehen nicht Gassi“, überraschte Liam sie mit seiner Antwort und einem leicht pikierten Kopfschütteln. 

„… tun wir nicht?“, hakte sie verwirrt nach.

„Natürlich nicht.“

„Also warst du schon.“

Ein Mann mittleren Alters kam aus dem Hausinneren nach draußen und nickte ihnen im Vorbeigehen kurz zu. War das die neue Haushaltshilfe?

„Nein“, fuhr Liam fort und erwiderte den Gruß. „Mein Hund macht doch nicht so etwas Lapidares wie Gassi gehen“, fügte er noch hinzu, als sei es das Normalste der Welt. „Und schon gar nicht in dieser Gegend hier. Hier gibt es echt aggressive Katzen!“

„Das war jetzt hoffentlich ein Scherz.“

„Nein – die gibt es wirklich“, missverstand er sie. „Insbesondere die von den Kentons schräg gegenüber. Sehr revierbezogen und sehr kratzbürstig – im wahrsten Sinne des Wortes. Grace Kelly und ich meiden die Straßen hier. Sie hat ihren eigenen Gartenteil zum Herumtoben.“

„Du meinst, in der kleinen Parkanlage hier draußen?“ Die, die sie gestern nur durch die Terrassenfenster gesehen hatte, weil sie ja nicht zum von der Haushälterin zu reinigenden Teil des Anwesens gehörte. Nicht wieder daran denken und ruhig bleiben!

„Genau. Da hat sie ihre Wiese, Bäume, Sträucher und einen kleinen Badeteich und viermal täglich entfernt Paul  ihre Hinterlassenschaften, das reicht vollkommen.“

Der Mann, der kurz zuvor an ihnen vorbeigelaufen war und sich nun mit einer Sprühflasche bewaffnet an den Blumenbüschen zu schaffen machte, sah kurz auf und schüttelte nachdrücklich den Kopf, was aber nur Nayeli von ihrer Position aus sehen konnte. Paul vermutlich, der eindeutig nicht die neue Haushaltshilfe war.

Sie schloss kurz perplex ihre Augen und wandte sich dann wieder ihrem neuen Klienten zu. „Du meinst das ernst, oder?“

Der Mann hatte einen Knall. Oh, und nicht nur einen. Nerven behalten und lächeln, der Auftrag wirkt sich positiv auf den Stand deines Sparkontos aus.

„Aber ja. Ich tue schließlich alles für meinen kleinen Liebling, stimmt’s, Gracie?“

Der kleine Hund hob eins seiner Ohren und warf seinem Herrchen einen interessierten Blick zu. Der setzte ihn endlich ab, sich daneben auf die unterste Stufe der Treppe, die zur Haustür führte, griff nach etwas in seiner Hosentasche und sofort sprang das Fellknäuel auf seinen Schoß und schnappte sich die angebotenen Hundekekse.

Irritiert sah Nayeli ihn an und schluckte die ihr so zahlreich im Kopf herumschwirrenden bissigen Bemerkungen herunter. Vermutlich hatte Liam die gleiche (V)Erziehung wie sein Hund genossen und für wirklich jeden Pups ein Leckerli bekommen. Wie schnell man doch durch sein Verhalten an Attraktivität einbüßte.

„Aber Hunde brauchen andere Hunde“, erklärte sie stattdessen ruhig. „Im Zusammenleben sind wir Menschen zwar Ersatz für ihr Rudel, jedoch nicht für den realen Kontakt zu einem Artgenossen. Zwei Stunden spielen mit Menschen können nicht einmal fünf Minuten mit einem anderen Hund ersetzen.“

 „Ach, davon sprichst du!“ Liam winkte lachend ab. „Na, hör mal, als ich sagte, ich tue alles für meine Gracie, da meinte ich das auch so. Zum Flanieren verlassen wir selbstverständlich das Grundstück und fahren in eine katzenfreiere Gegend. Aber du willst das doch nicht jetzt machen, oder? Ich hab noch ein paar wichtige Termine nach unserer Stunde.“

Nayeli seufzte leise. „Nein, es muss nicht jetzt sein. Dann gehen wir zum besseren Kennenlernen halt erst mal in … Gracies Gartenbereich.“

„Na, wunderbar!“, freute sich Liam, bedachte sie mit einem seine strahlendweißen Zähne entblößenden Lächeln, das man mit nichts anderem als ‚umwerfend‘ betiteln konnte, und stand mitsamt seines Hundes auf. Anscheinend musste das arme Tier seine Beine nicht allzu häufig benutzen.

 

Durch das Haus hindurch gelangten sie in den hinteren Bereich des Grundstückes und der war noch viel größer, als es von drinnen den Anschein gehabt hatte. Wie konnte ein einziger Mensch in einer solch bevölkerten Stadt so viel Platz haben? Nayeli war bereits dankbar, dass sie einen Minigarten um ihr kleines, altes Haus herum hatte – wenn man die nicht einmal einen Meter breite Grünfläche als solchen bezeichnen konnte – aber das hier war eine private Parkanlage, die eine Kleinstadt hätte beherbergen können. Gut, das war übertrieben und zweifellos war Liam nicht der einzige Bewohner L.A.s, der ein solches Anwesen sein Eigen nennen konnte. Nur hatte sie noch nie zuvor ein Anwesen dieser Art betreten.

„Was sollte das eigentlich mit meinem Auto?“, stellte sie schließlich die Frage, die sie schon seit ihrer Ankunft beschäftigte und davon abhielt, weiterhin mit offenem Mund ihre Umgebung anzustarren.

„Na ja, also den kann man ja nicht einfach so da vor meiner Einfahrt herumstehen lassen“, zeigte Liam sich einmal mehr von seiner ‚charmantesten‘ Seite, während er Gracie auf den Boden setzte und der kleine Hund wie eine Rakete losschoss. „Ist das eigentlich immer noch der Unfallwagen?“

Vielleicht hatte er auch nur diese eine Seite. 

„Wieso hast du dir keinen neuen geholt?“

Und als Superstar brauchte er ja auch keine weitere.

„Das ist ein neuer“, verteidigte sich Nayeli und ärgerte sich sowohl über seinen Kommentar als auch aufgrund ihres Dranges, sich rechtfertigen zu müssen. „Ein … alter-neuer … umweltgerechtes Recycling quasi. “

Liams eher dunkelblonde Augenbrauen wanderten in die Höhe und er lachte ungläubig. „Da hat man dich aber ganz schön über den Tisch gezogen, was? Soll ich den Fall mal der Anwältin meines Vertrauens geben? Die ist top!“

„Nein, danke, ich bin zufrieden“, gab Nayeli mit zusammengebissenen Zähnen zurück und wollte das Thema wechseln, bevor sie noch eine ganze Menge Jobschädigendes hinzufügen würde, doch Liam war offensichtlich noch nicht fertig.

„Du musst das verstehen: Die Nachbarn sind etwas streng und könnten denken, da würde sich zwielichtiges Gesindel herumtreiben, wenn so ein schro… schro…“, er fing ihren empörten Blick auf, „…ffes Gefährt vor der Tür steht.“

„Ach, aber direkt vor deiner Haustür durfte ich mein schro-o-offes Gefährt parken, ja?“, machte Nayeli ihn nun doch verärgert nach, aber er zuckte nur grinsend die Schultern. Immerhin war er nicht so empfindlich, wie sie angenommen hatte.

„Alles ist besser als draußen, wo es dann auch der letzte Paparazzo sehen kann“, erklärte er. „Du würdest das verstehen, wenn du in meiner Lage wärst. Ansonsten ist mein Haus recht gut vor neugierigen Blicken geschützt und ich hab ein Sonderrecht erwirkt, sodass keine Hubschrauber über meinem Grundstück kreisen dürfen. Sollte dennoch ein aus der Luft geschossenes Bild in Umlauf kommen, wartet eine saftige Strafe auf denjenigen, der so dumm war, sich mit Liaren anzulegen.“

„Liaren?“, erkundigte sich Nayeli verständnislos.

„Das sind meine Anwältin Karen und ich. Ein unschlagbares Duo. Fast überall.“

Irrte sie sich oder huschte da ein bedauerndes Lächeln über Liams Gesicht? Ob er und diese Karen mal was miteinander gehabt hatten? Wieso stellte sie sich solche Fragen? Wenn es sie so brennend interessierte, konnte sie es ja sicher in den Klatschseiten im Internet nachlesen. Was sie selbstverständlich nicht tun würde.

„Wie schön, dass dann geklärt wäre, dass ich kein Gesindel bin.“ Nayeli konnte sich die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen, doch Liam winkte nur fröhlich ab.

Natürlich nicht. Schließlich schaue ich mir jeden, der für mich arbeitet, genau an.“

Sie atmete tief durch und zwang sich, sachlich zu bleiben. „Soweit ich mich erinnere, hast du mich weder zuerst kontaktiert noch mich zunächst engagieren wollen und auch nicht meine Referenzen überprüft, als ich das erste Mal hier war.“

„Oh, da täusch dich mal nicht“, gab er mit angenehm tiefer Stimme zurück und seine braunen Augen leuchteten herausfordernd. „Ich hab in den letzten beiden Tagen alle Infos über dich einholen lassen, die es da draußen gibt.“ Er runzelte die Stirn. „Viel war es allerdings nicht, dann wiederum auch nicht so wenig, dass es verdächtig wirken würde.“

Wie liebenswürdig.

„Aber was machst du sonst? Darüber konnte ich so gar nichts finden. “

Jetzt war es an ihr, die Stirn zu runzeln. „Wie, … sonst?“

„Na, beruflich“, erklärte er, „also als richtigen Job.“

Ihre Gesichtszüge gefroren. „Das hier ist ein richtiger Job.“ Wie satt sie es hatte, das immer wieder erklären zu müssen!

Er winkte ab. „Jaja, schon klar, weil du das hier für anstrengend hältst mit Gracie, aber ich meine, was du machst, um deinen Unterhalt zu verdienen? Quasi professionell.“

Nayeli blinzelte, teils aus Verwirrung, teils aus Wut, breitete dann in einer allumfassenden Geste ihre Arme aus und nickte bekräftigend. Vielleicht verstand der Mann ja simple Zeichensprache.

„Du bist also nur Hundetrainerin?“

„Und du nur Schauspieler?“, konterte sie und die Augen ihres Gegenübers weiteten sich entsetzt. 

„Ooooh, oh oh oh oh – whoa!“, machte Liam und hob in dramatischer Abwehr seine Hände. „Ich erwarte nicht, dass das ein Außenstehender versteht, aber Schauspieler zu sein ist eine hohe Kunst, die gelernt sein will und extrem viel von einem fordert.“

„Und du meinst, Hundetrainerin kann jeder werden, ja?“

„Na ja“, gab er unbedarft mit einem Achselzucken zurück, „also das ist ja wohl nichts, wofür man eine großartige Ausbildung braucht.“

„Ach so und deshalb kommst du auch so perfekt mit Gracie aus und benötigst eigentlich gar keine Hilfe?“

„Wenn du dich mal erinnern möchtest, hat dich meine Ex engagiert. Ich komme meiner Meinung nach großartig mit Gracie aus!“

Was das Hauptproblem darstellte.

„Im Ernst: Sie ist halt ein wenig temperamentvoller als andere Hunde, aber das gibt ihr ja auch Charakter …“

„Stimmt“, erwiderte Nayeli und unterdrückte krampfhaft ein Grinsen. „Der zeigt sich gerade besonders schön in ihrer unerschütterlichen Liebe zu … italienischem Leder?“

„Du meinst Salami“, wurde sie verbessert, „die habe ich ihr vorhin hingelegt.“

Nun legte sich von ganz allein ein süßliches Lächeln  auf Nayelis Gesicht und sie wies zur Seite, wo Gracie sich neben einer Gartenliege an etwas Länglichem zu schaffen machte. „Sie zerlegt gerade deine Flip-Flops.“

„Was??“ Liam fuhr herum und starrte entgeistert zum Ort des ‚Verbrechens‘. „Gracie, nein!! Pfui!! Aus!! Nicht die von Luigi!!“

Er lief auf sie zu. Gracie, die das Ganze für ein lustiges Spiel hielt, sprang freudig bellend herum und legte sich dann spielerisch knurrend hinter ihre Beute.

„Gib her, giiiib heeer, seeeeei liiiieb“, versuchte es Liam und zog dann seinen rechten Sportschuh aus.  „Schau mal, hier … den kannst du stattdessen haben“, säuselte er und hielt ihn der kleinen Hundedame hin, „dann muss ich nachher vielleicht nicht zum Training.“

Gracie legte den Kopf schief und vergrub genüsslich wieder die Zähne in den bis dato noch einigermaßen gut aussehenden zweiten Flip-Flop.

„Hilf mir doch mal!“, zischte Liam über die Schulter Nayeli zu, doch die verschränkte nur die Arme, lehnte sich an die Hauswand und schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, du hast das doch alles im Griff. So was kann doch jeder, dafür braucht es nicht viel Erfahrung.“

„Ich bezahle dich nicht fürs Rumsitzen!“, brummte er.

Typisch, jetzt plötzlich den Chef raushängen lassen.

„Oh, ich arbeite!“, versicherte sie ihm. „Teil eins: ‚Observation und Analyse‘.“

Sei gefälligst professioneller!, fuhr sie sich daraufhin selbst innerlich an. Auch wenn er ein arrogantes Arschloch ist und das verdient hat.

Leise seufzend gesellte sie sich zu dem Dream-Team. Vor dem Hund ging sie in die Hocke.

„Lass das!“, sagte sie streng zu Gracie und deutete auf die Schuhe. „Das ist ganz pfui! Pfui!“, wiederholte sie und packte das Tier behutsam, aber nachdrücklich am Nacken. Mit der anderen Hand ergriff sie ein Ende des Schuhs, vermied es aber, daran zu ziehen.

Gracie gab ein leises Knurren von sich und versuchte samt Beute zurückzuweichen, doch der feste Griff um ihren Nacken verhinderte dies.

„Nicht zu doll“, mischte Liam sich gleich wieder ein und machte einen Schritt auf sie zu, doch sowohl Hundetrainerin als auch Hundedame ignorierten ihn, woraufhin er sich wundersamerweise zurückhielt.

„Aus!“, befahl Nayeli streng und sah dem Tier dabei fest in die Augen. Es dauerte noch ein paar Sekunden, doch schließlich ließ Gracie den Schuh widerwillig los.

„Feeein!“, lobte Nayeli sie überschwänglich, streichelte ihr über das Köpfchen und warf Liam einen auffordernden Blick zu. Der verstand glücklicherweise sofort, holte ein Leckerli aus seiner Hosentasche und belohnte seinen Hund ausnahmsweise mal dafür, etwas richtig gemacht zu haben. Gracie verschlang den Keks schwanzwedelnd und rannte im nächsten Moment einem vorbeifliegenden Schmetterling hinterher.

Nayeli wusste, dass es nicht sehr klug war, aber als sie sich erhob, konnte sie es sich nicht verkneifen, Liam provokant anzugrinsen. „Scheint so, als wäre es dann doch nicht so einfach, das zu schaffen, was jemand hinbekommt, wenn er ‚nur‘ ein Hundetrainer ist.“

Ihr schwieriger Klient schnaufte leise, während er ihr den leicht beschädigten Schuh abnahm, den sie ihm reichte. „Als ‚nur‘ Starschauspieler hab ich wenigstens finanziell ausgesorgt“, erwiderte er etwas eingeschnappt. „Du auch?“

Nayeli biss sich auf die Unterlippe, um nicht auf sehr beleidigende Art zu kontern oder auf andere Weise zu zeigen, dass er sie getroffen hatte. Mist! Geld war momentan so ein verdammt wunder Punkt, aber sie konnte das in keinem Fall auf sich sitzen lassen.

„Ach, weißt du, wer’s braucht …“, erwiderte sie mit gespielter Nonchalance. „Materielles wird ja auch oft überschätzt. Ich folge lieber meiner Berufung.“

Liams Kopf zuckte ein wenig zur Seite und er musterte sie. Die plötzlich auftretende Stille und das Starren seiner braunen Augen verunsicherten Nayeli, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Sie hasste solch nonverbale Kommunikation, lieber waren ihr Beleidigungen oder dergleichen. Das hier war wie bei Pater Lourdes, der sich immer ganz viel Zeit für jedes seiner ‚Schäfchen‘ nahm und geduldiges Schweigen zu einer Kunstform perfektioniert hatte. Diese war für Nayeli unerträglich und hatte sie als Kind dazu gebracht, wirklich alles zu gestehen, selbst die kleinsten Dinge. Und hier war nicht einmal die Trennwand eines Beichtstuhles dazwischen.

Gerade, als sie es nicht mehr aushielt und zu einer ungewollten Entschuldigung ansetzte, nickte Liam nachdrücklich.

„Die Schauspielerei ist kein Job, es ist meine Berufung, mein LEBEN!“, verkündete er mit übertriebenem Pathos. „Hashtag ‚nomorematerialboy‘, Hashtag ‚superstarlife‘, Hashtag ‚bestactor‘, Hashtag ‚sexiestmanaliveeva, Hashtag ‚famousquotes‘!“ Er kramte sein Handy hervor und entsperrte es. „Das tweete ich sofort! Vielleicht auch noch ein kurzer Beitrag auf Instagram …“ Er hielt kurz inne. „Soll ich dich taggen? Ist ja schließlich von dir inspiriert.“

Nayeli blinzelte fassungslos. „Nein?“

„Ach, sorry, ich vergess manchmal, wie unbed … unbekannt du bist, wozu brauchst du einen Account?“

„Vielleicht, um so tollen Leuten, wie dir zu folgen!“, gab sie bissig zurück, weil ihr durchaus klar war, dass er zunächst hatte ‚unbedeutend‘ sagen wollen.

Er richtete einen Zeigefinger auf sie, während er mit den Fingern der anderen Hand fleißig auf seinem Smartphone herumtippte. „Genau, du weißt ja nicht, was dir entgeht.“

Nayeli verdrehte die Augen. Liam musste nicht wissen, dass sie tatsächlich einen Twitter-Account besaß, auf dem sie aber hauptsächlich Tierschutzorganisationen und Tierheimen folgte und deren Einträge retweetete. Eigenwerbung war nicht so ihr Ding, obgleich sie berufstechnisch natürlich unbedingt daran arbeiten musste.

„Könnten wir uns vielleicht wieder auf den Grund konzentrieren, aus dem ich hier bin?“, verlangte sie mit Nachdruck von ihrem Gegenüber.

Stirnrunzelnd sah er von seinem Handy auf.

„Deinen Hund!“, erinnerte sie ihn und wies auf den braun-weißen Fellball, der munter durch den Garten tobte, dabei immer wieder nach den hier in großer Zahl herumflatternden Schmetterlingen schnappend.

„Machen wir das nicht?“, wagte der Schauspieler doch tatsächlich mit ein paar Falten des Erstaunens auf der Stirn zu fragen.

„Normalerweise ist der Hund in meiner Nähe, wenn ich mit ihm trainiere und in unser beider Fokus. Wenn du nicht auf einer Hundetrainings-App bist, ist das zumindest gerade bei dir nicht der Fall!“

Liam hob erfreut die Brauen. „Gibt es so was?“

„Weißt du was?“, platzte es nun doch aus Nayeli heraus. „Vielleicht komme ich an einem anderen Tag wieder. Du scheinst heute nicht sonderlich viel Lust darauf zu haben, deinem Hund das Leben leichter zu machen …“

„Neinneinneinnein!“, unterbrach Liam sie rasch und hielt sie am Ellenbogen fest, als hätte er Angst, sie könne jeden Moment davonsprinten. „Das Glück meines Hundes ist mir überaus wichtig! Mir spukt nur momentan viel im Kopf herum. Da gibt es diesen neuen Film, ein paar Werbeauftritte und Pressekonferenzen und so weiter … in meinem Job muss man halt manchmal ein paar Dinge parallel machen. Multi-Tasking liegt mir.“

„Ach so?“, hakte Nayeli skeptisch nach, weil Liams Augen schon wieder auf dem Display seines Handys gelandet waren.

Er runzelte die Stirn. „Wieso habe ich nur 200 Likes und 150 Retweets? Ich habe das doch bereits vor vier Minuten gepostet. Hätte ich doch lieber auf Snapchat …“, er hielt inne und grinste dann zufrieden. „Ah, hat nur zu spät upgedatet. 600 und 400 klingen doch gleich viel besser.“

Frustriert warf Nayeli die Hände in die Luft und wandte sich zum Gehen um, wurde jedoch gleich wieder festgehalten.

„Ich pack’s weg, okay?“, schlug er rasch vor, als sie sich zu ihm umgedreht und ihn mit einem vorwurfsvollen Blick auf die unangemessene Hand-Schulter-Verbindung zwischen ihnen aufmerksam gemacht hatte. Die Hand verschwand umgehend von ihrer Schulter und das Telefon in der Gesäßtasche seiner Jeans. „Siehst du? Weg ist es.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn zweifelnd an. „Für wie lange?“

„Mindestens zehn Minuten?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Fünfzehn?“

Ein weiteres Kopfschütteln.

Liam verzog gequält das Gesicht. „Zwanzig?“

„Eine halbe Stunde“, verlangte sie. „Danach kannst du fünf Minuten damit machen, was du willst, und anschließend legen wir noch eine halbe Stunde Handy-freie Zeit drauf.“

Vielleicht war diese Forderung ein bisschen gewagt, aber einen Versuch war es wert. Wie sollte sie auch sonst mit dem Mann arbeiten? Er blähte seine Wangen auf und ließ die Luft hörbar entweichen, bevor er sich zu einem Nicken durchringen konnte.

Na, also! Ging doch. Nayeli straffte die Schultern und lief auf Gracie zu, die immer noch mit den Schmetterlingen beschäftigt war. Ob das dort ‚ihr‘ Bereich war? Wenn ja, dann nahm er fast den halben Garten ein. Zu ihrer Beruhigung kam Liam tatsächlich gleich mit ihr, obwohl sein Handy immer wieder ein leises Brummen von sich gab.

„Hunde sind eigentlich sehr lernwillige Tiere, die sich ständig darum bemühen, ihren Bezugspersonen zu gefallen“, erklärte sie dem Schauspieler. „Das kann man für die Erziehung wunderbar nutzen, aber auch viel damit versauen, wenn man falsch belohnt.“

„Falsch belohnt?“, wiederholte Liam in einem fast eingeschnappten Tonfall. So ein Sensibelchen.

„Ja“, bestätigte sie dennoch, „positive Verstärkung von schlechtem Verhalten hat manchmal sogar schlimmere Folgen, weil es sehr schwierig ist, das wieder aus einem Tier herauszubekommen. Außerdem können zu viele Leckerlis auch zu einem ungesunden Übergewicht führen und …“

„Gracie ist nicht dick!“, beschwerte sich Liam sofort. „Sie geht regelmäßig zum Tierarzt und der hat mir bestätigt, dass sie Idealgewicht hat – quasi Modelmaße unter Hunden.“

„Gut, aber deine ‚Giselle Hündchen‘ ist noch jung und bewegt sich viel“, wandte Nayeli ein. „Das ändert sich bald und dann geht sie bei deiner Belohnungsfütterung auf wie ein Pfannkuchen.“

„Aber Belohnung ist wichtig!“, beschwerte sich Liam,

„Man kann auch Keks-frei belohnen.“

„O bitte, jetzt komm mir nicht mit diesem albernen Klicker-Training! Ich kann nicht auf der Wiese stehen und auf diesem komischen Ding herumdrücken, ohne mich total lächerlich zu machen. Sorry – aber nein.“

Einmal mehr atmete Nayeli tief durch, um weiterhin ruhig zu bleiben. Wenigstens ging es thematisch jetzt endlich wieder um den Hund. Das war doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung und sie hatte mehr als eine Methode zur Hundeerziehung im Repertoire. Wenn er auf die Leckerlis nicht verzichten wollte: Bitteschön.

„Gut, dann setz weiterhin Kekse als Belohnung ein“, gestand sie ihm zu, „aber bitte nur, wenn es angebracht ist.“

„Wann ist es denn deiner Meinung nach angebracht?“

„Das kann ich dir gern demonstrieren. Ruf sie mal zu dir heran.“

Liam räusperte sich. „Gracie, komm her!“, rief er in einem überaus süßlichen Ton, doch der Hund hob nur kurz den Kopf und spielte dann weiter Fangen mit dem Ball, den er soeben gefunden hatte. Erwartungen noch untertroffen. Super!

Liam gab einen Laut von sich, den man durchaus als Unmut interpretieren konnte, und ging in die Hocke. „Gracielein“, versuchte er es noch einmal, doch diesmal ignorierte sie ihn völlig.

„Sie ist halt beschäftigt“, erklärte ihr Klient mit einem Schulterzucken und es schien ihm keineswegs unangenehm zu sein, dass seine kleine fellige Lady ihn links liegen ließ. Oder er war ein besserer Schauspieler, als Nayeli angenommen hatte.

„Nein“, sagte sie entschieden. „Wenn du sie rufst, dann ist zu dir zu kommen keine Option, okay?“

Seine Brauen bewegten sich aufeinander zu, gaben seinem Gesicht einen beinahe trotzigen Ausdruck. „Meine Gracie hat ihren eigenen Willen und das ist auch vollkommen okay so“, gab er zurück und nun war sie sich sicher, dass er ihr etwas vormachte. Da war so ein angespannter Zug um seine Lippen herum. „Ich will ja schließlich kein trainiertes Zirkuspferd, sondern einen Hund mit Charakter.“

Nayeli schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Nicht sie entscheidet, was getan wird, sondern du. Du bist der Boss, der Anführer des Rudels und das muss sie lernen zu akzeptieren.“

„Rudel?“ Die Falte zwischen Liams Brauen wurde gleich noch tiefer. „Wir sind eine Familie und da haben alle die gleichen Rechte!“

„Das ist in diesem Fall das gleiche“, wandte Nayeli rasch ein. „Und auch in einer Familie stimmt das nicht hundertprozentig.“ Wovon sie persönlich ein Lied singen konnte. „Der Hund ist wie ein Kind, allerdings wird dieses Kind nie erwachsen und vollkommen selbstständig und zwar, weil wir ihn nicht lassen. Im häuslichen Zusammenleben machen wir die Hunde von uns abhängig, indem wir entscheiden, was, wann und wie viel sie fressen. Wir bestimmen, wann sie Gassi gehen dürfen, wann Spiel- und Schlafenszeit ist – ihren gesamten Tagesablauf. Ein Teil dessen ist natürlich, weil auch das Alphatier in einem Rudel den Großteil dieser Dinge bestimmt, aber andere Entscheidungen sind darauf zurückzuführen, dass dieses Zusammenleben in unserer Gesellschaft ansonsten nicht funktionieren würde. All dies bedeutet allerdings auch, dass wir als Besitzer Verantwortung übernehmen müssen.“

„Das tue ich doch“, erwiderte Liam verstimmt.

„Ja, aber so, wie es halt jemand macht, der weder eine Hundeschule besuchen noch Fachliteratur zum Thema Hundeerziehung wälzen will.“

„Wer sagt, dass ich mir keine Bücher zugelegt habe?“

„Zugelegt und danach auch gelesen?“

Liam kniff die Lippen zusammen und wich ihrem fragenden Blick aus. Ertappt! Es hätte sie auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre.

„Außerdem mag ich das Wort ‚Besitzer‘ nicht“, beschwerte er sich nun. „Das ist so anmaßend. Ich sehe mich eher als ihren Vater.“

„Sehr gut“, lobte sie ihn, um nicht nur an ihm herumzukritisieren. Auch Menschen brauchten Lob, wenn sie weiter an sich arbeiten sollten. „Und als guter Vater musst du dich um dein Kind kümmern, es liebevoll versorgen, aber ihm auch Grenzen setzen. Wenn du das nicht tust, wird es nie in seinem Leben welche kennen und immer Schwierigkeiten haben. Ebenso wie du.“

„Hör mal, das klingt ja alles recht logisch, aber ich glaube, dein sonstiges Klientel ist so ganz anders als wir“, versuchte er sich dennoch ihrem Rat zu entziehen.

Stimmt, keiner war so reich – und derart stur.

„Was auch immer dir Alycia erzählt hat, ist ja jetzt obsolet, weil sie nicht mehr da ist.“ Er bedachte sie mit einem etwas verkrampften Lächeln und wich ihrem Blick sofort wieder aus. „Gracie ist kein … schwieriger Fall und ich bin auch kein solcher Erziehungsversager, wie sie behauptet.“

Nayeli runzelte die Stirn. An irgendeiner Stelle musste sie einen wunden Punkt getroffen haben, denn der Liam Chandler, der nun neben ihr stand, war ein ganz anderer als der, den sie bisher kennengelernt hatte. Er war verunsichert und nervös, entfernte sich jetzt sogar ein paar Schritte von ihr, die Augen dabei voller Sorge auf seinen Hund gerichtet. Sie musste jetzt vorsichtig sein, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollte – und das war nicht so leicht, solange sie nicht wusste, wo genau Liams wunde Stelle war. Vielleicht die ganze Sache mit dem Vatersein? War er ein Scheidungskind oder hatte gar wie sie seinen Vater zu früh verloren?

„Ich weiß, dass Außenstehende oft einen anderen Blick auf die Beziehung zwischen Hund und Mensch haben“, sagte sie sanft. „Sicherlich waren Alycias Beschreibungen von ihrer Wut über den Beziehungsabbruch gefärbt …“

„Hundertprozentig!“, stimmte Liam ihr gleich zu.

„… aber wir beide haben uns ja nicht ihretwegen verabredet, sondern weil du selbst zugegeben hast, dass du in Hinblick auf ein paar Eigenarten von Gracie doch etwas unglücklich bist“, führte sie ihren Satz trotzdem zu Ende. „Hat sich an diesem Empfinden etwas geändert?“

Sie sah wie Liams Brust sich unter einem langen und tiefen Atemzug hob und senkte, dann wandte er sich ihr wieder zu. „Nein“, gab er zu. „Ich mag es nur nicht, wenn … wenn man mich als jemanden hinstellt, der sich nicht um seine Lieben kümmert. Ich bin kein Drückeberger.“

„Das hatte ich auch nicht beabsichtigt“, lenkte sie sofort ein. „Und ich denke auch nicht so über dich. Wenn du sagst, dass du ihr alle Grundlagen, die du für wichtig hältst, beigebracht hast, glaube ich dir. Es ist nur so, dass auch diese Grundlagen wieder … verwaschen können, wenn man nicht die Zeit hat, sie zu pflegen.“

„Ja, das könnte natürlich sein“, griff er nach dem Strohhalm, den sie ihm zuwarf.

„… und dass man aus eben diesem Zeitmangel vielleicht auch nicht so auf dem Laufenden ist, was die neuesten Erkenntnisse über das, was ein Hund können sollte, angeht“, setzte sie hinzu.

„Auch gut möglich“, kam er ihr weiter entgegen.

„Also, wäre es dann machbar, dass ich dir erst einmal erzähle, was dein Hund unter meiner Anleitung alles lernen könnte und wir uns danach ein paar Sachen raussuchen, an denen wir heute und in der nächsten Stunde arbeiten?“

Da war es endlich, das Nicken, das sie mehr als dringend gebraucht hatte – kombiniert mit einem Lächeln, das sie fast aus dem Takt brachte. Sie musste sich dringend daran gewöhnen.

„Ja, Sensei Nayeli“, sagte er, faltete die Hände vor der Brust und verneigte sich kurz, sodass sie ungewollt ein leises Prusten von sich gab. Der alte, selbstsichere Liam schien zurück zu sein. Schade. Aber mit ihm ließ sich sicherlich auch arbeiten.

 

 

 

 

 

 

 

NayeliLiam1 

 

 

Hund aufs Herz

 

 

 

 

 

Gut eine halbe Stunde später stand endlich zumindest der Trainingsplan für die nächsten beiden Termine auf wackeligen Beinen – den Liam auch umgehend in seinem Handy festhalten musste: 1. Arbeiten an der Kommunikation. 2. Gehorsamkeitstraining oder auch in Liams Worten: Kooperationstraining. 3. Gemeinsames Gassigehen, um Erlerntes zu testen und zu verfestigen.

„Puh!“, machte der Schauspier, als er fertig mit dem Tippen war, und wischte sich mit dem Arm über die doch recht trockene Stirn. Immerhin hatten sie sich kaum vom Fleck bewegt. „Das klingt nach Arbeit.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137125
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
sonne filmstar romance hund humor losangeles sommer liebe Liebeskomödie Romcom Humor

Autoren

  • Ina Linger (Autor:in)

  • Cina Bard (Autor:in)

Ina Linger und Cina Bard wurden in den Siebziger Jahren in Berlin geboren und hatten schon als Kinder eine immense Fantasie. Seit ihrer Jugendzeit schreiben die beiden Autorinnen zusammen Geschichten und haben bereits mehrere Werke im Genre 'Romantische Komödie' zusammen veröffentlicht.
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Titel: Doggy Style