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Der Staat

von W. H. Sarau (Autor:in)
235 Seiten

Zusammenfassung

»Wir sind die neue Ordnung! Wir sind der Staat!«, lautet die unheilverkündende Botschaft, die eine neue, unsichtbare Macht, die sich plötzlich aus den Untiefen des Word Wide Web erhebt, an die gesamte Menschheit richtet. Was von den Regierungen der Welt zunächst für eine leere Drohung gehalten wird, entwickelt sich schnell zur größten Bedrohung, der sich die Menschheit je gegenüber gesehen hat. Denn »Der Staat« macht unmissverständlich deutlich, dass er kein Erbarmen kennt, keine Skrupel hat und auch vor Tausenden Toten nicht zurückschreckt. Ryan Carter, Agent der National Cyber Division, wird gemeinsam mit der CIA Analystin Susanne Young und seinem jungen Kollegen Lucas Alexander beauftragt, dem Phantom auf die Spur zu kommen, und deckt dabei eine groß angelegte Verschwörung auf, die sich bis in die obersten Kreise der US-Regierung erstreckt. Die verzweifelte Suche nach einem Ausweg aus dieser allgegenwärtigen Bedrohung entwickelt sich für das Trio zusehends zu einem Wettlauf gegen die Zeit, denn der schier allmächtige »Staat« scheint ihnen ständig einen Schritt voraus zu sein – und er kennt keine Gnade! Verschwörungen, Dauerspannung und rasante Action! Der neue Roman vom Autor von "Die Legenden von Carthan" und "Konstrukt"

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel I

DIE WARNUNG

New York City


Noch sieben Stunden. 

Carter zupfte sein Hemd zurecht, bevor er sich in seinen bequemen Stuhl zurückfallen ließ. 

Er hasste es, einen Anzug tragen zu müssen. Die unnatürliche Enge, die er durch maßgeschneiderte Hemden, Hosen samt Jackett empfand, brachte ihn ständig zum Schwitzen. Und wenn er schwitzte, litt seine Produktivität. Ein Umstand, gegen den sich sein Inneres unentwegt mit Vehemenz sträubte, denn nichts schätzte er mehr als Produktivität und damit einhergehend natürlich auch Effizienz. Beide waren der Garant dafür, dass man nicht dazu verdammt war, sein halbes Leben am Schreibtisch zu verbringen, sondern sich nach schnell erledigter Arbeit auch weitaus angenehmeren Dingen widmen konnte; jenseits dieser Plackerei samt an der Haut klebenden Kleidungsstücken, unter denen, jeder Klimaanlage zum Trotz, gerne tropische Temperaturen herrschten.

Wer auch immer diese Fetzen zum ersten Mal geschneidert hatte, musste nicht ganz richtig im Kopf gewesen sein, wurde er nicht müde, gegenüber seinen Mitmenschen zu betonen.

Doch wie immer, wenn eines dieser endlosen Meetings mit dem Direktor anstand, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem vorherrschenden Kleidungszwang zu beugen.

Nach einem kurzen Seufzer warf er einen Blick ins Innere des Großraumbüros. 

Es war an diesem Tag wie leergefegt.

Dort, wo sich üblicherweise Hunderte Mitarbeiter der NCD tummelten, herrschte nun eine Art von Stille, die ihm hier noch nie zuvor begegnet war. Kein hektisches Umhergetrampel unzähliger, klackernder Schuhe, kein reges Stimmengewirr, kein emsiges Getippe und keine dieser lästigen Durchsagen des Division Departements, die in regelmäßigen Abständen auf die Mitarbeiter eindröhnten, störte ihn an diesem Nachmittag bei seiner Arbeit.

Die Ruhe war beinahe gespenstisch.

Bedingt durch diese Leere, wurden ihm wieder einmal die Ausmaße der ihn umgebenden Räumlichkeiten bewusst.

In langen Kolonnen reihte sich Arbeitsplatz an Arbeitsplatz, getrennt durch gläserne Wände, auf denen eingraviert das Logo der NCD prangte, sodass der gesamte dritte Stock wie ein dichter Wald aus Tischen, Stühlen und überdimensionalen Screens wirkte.

Die kühle, spartanisch wirkende Einrichtung vermittelte jedem Besucher ganz unverhohlen, dass hier jene neue Moderne gepflegt wurde, deren oberstes Prinzip es war, dass Form stets der Funktion zu weichen hatte.

Und sie vermittelte Geschäftigkeit.

Er hatte sich hier nie besonders wohlgefühlt.

Das lag nicht ausschließlich an dem nüchternen Umfeld samt der trockenen, klimatisierten Luft, sondern vielmehr an seinen Kollegen, die allesamt aus einer anderen Welt zu kommen schienen.

Während die eine Hälfte aus hageren, weißhäutigen jungen Burschen bestand, bei denen man die Befürchtung hegte, jeder noch so kleine Windstoß würde sie mühelos zu Fall bringen, wirkte die andere wie eine Anklage gegen die amerikanische Fast-Food-Industrie, die nicht davor zurückschreckte, alles in sich hineinzustopfen, was genügend Fett und Zucker enthielt. Und dies am besten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und selbstverständlich auch noch darüber hinaus.

Er hatte sich oft die Frage gestellt, wie es diese teigigen, stets unrasierten Kolosse, mit ihren fettigen Haaren und den geschmacklosen T-Shirts, eigentlich aus und wieder in ihre Stühle schafften.

Sollte das mal genauer beobachten, dachte er und schmunzelte.

Eines jedoch vereinte beide Kategorien dieses neuen Menschen.

Sie waren allesamt Nerds.

Die Speerspitze des Departements im Kampf gegen jegliche Form digitaler Kriminalität.

Die Sherlock Holmes’ des dritten Jahrtausends, die Hercule Poirots der Neuzeit, die neuen, schlagkräftigen Legionen der Virtualität im Dienste einer Nation, die sich bereits seit gut einem Jahrhundert in permanentem Kriegszustand befand.

Waren es früher die Taten von Soldaten auf blutgetränkten Schlachtfeldern gewesen, die man als Krieg definiert hatte, so stürmten nun jene bleichen Heerscharen, mit denen er sich ein Büro teilen musste, Seite an Seite mit den Soldaten dort draußen gegen die unzähligen, unsichtbaren Feinde, die in den Tiefen einer Welt aus Codes und Algorithmen lauerten.

›Hybrider Krieg‹ nannte man dieses bizarre Konstrukt moderner Konfliktbewältigung.

Weder die eine noch die andere Form war inzwischen noch imstande, für sich allein zu existieren.

Sie waren untrennbar durch die Tatsache miteinander verbunden, dass die eher weniger von ethischen Wertvorstellungen geprägten Nationen dort draußen – und von denen gab es viele – schon vor langer Zeit die Achillesferse jener Staaten erkannt hatten, die man gemeinhin als zivilisiert bezeichnete: die öffentliche Meinung und alle damit einhergehenden Konsequenzen für die Handlungen der Machthabenden.

Es war vor allem diesem Sachverhalt geschuldet, dass sich kaum noch etwas auf dieser Welt ereignete, ohne dass es unbeobachtet blieb und nicht für mannigfaltige politische oder ideologische Zwecke missbraucht oder bewusst fehlinterpretiert wurde.

Jedwede Maßnahme der politischen Elite lief Gefahr, durch die Omnipräsenz winziger künstlicher Augen, Hacks oder Leaks enttarnt zu werden, um sie dann der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und es dauerte in den seltensten Fällen besonders lange, bis sie in diversen digitalen Medien strandeten, wo sie sich ungefiltert, oftmals verfälscht oder durch Bots aufgeplustert, wie Viren verbreiteten.

Die unentwegten Kollisionen zwischen dem, was man noch als seriöse Berichterstattung bezeichnen konnte, und der persönlichen Auslegung von Fakten – die man dann mit dem Unwort Alternative Fakten bedachte – wurden zu einer immer unschärferen Grenze, die einzelne Staaten beinahe an den Rand der Regierungsunfähigkeit brachte.

Um dieser Fehlentwicklung mit entsprechender Vehemenz entgegentreten zu können, wurde eine neue Behörde geschaffen: die National Cyber Division.

Was zunächst mit nur wenigen Mitarbeitern begonnen hatte, plusterte sich nach dem Jahr 2025 zu einem wahrhaftig bürokratischen Monster auf, das sich nicht nur die allmächtige NSA inzwischen einverleibt hatte, sondern mittlerweile auch mehr Personal umfasste als CIA und FBI zusammen.

Technisch bestmöglich ausgestattet, rekrutierte man unablässig die hellsten Köpfe des Landes. Dies ging sogar so weit, dass aufgrund der ansehnlichen Gehälter, die bei der NCD gezahlt wurden, selbst die Wallstreet ins Schwitzen gekommen war, da ihnen Zug um Zug jene Mathematiker abhanden gekommen waren, die bis dahin ihre undurchschaubaren Finanzprodukte entwickelt hatten.

Ab 2030 schließlich stand die NCD unangefochten an der Spitze aller staatlichen Verbrechensbekämpfungsbehörden, ausgestattet mit einem gigantischen Budget, das selbst die kühnsten Vorstellungen der kleinen Steuerzahler dort draußen übertraf.

Und auch wenn die Bilanz dieser Monsterbehörde im Kampf gegen das virtuelle Verbrechen bis Dato durchaus ansehnlich gewesen war, worauf Carter doch recht stolz war, eines war geblieben: Er hatte sich bis heute nicht mit diesem ganz speziellen Menschenschlag anfreunden können, der die Büros hier bevölkerte.

Weder hatte er jemals verstanden, wie man zwölf oder mehr Stunden im Angesicht endloser Zahlen- und Buchstabenreihen verbringen konnte, neben sich einen schiefen Turm von Pizzaboxen und vor respektive unter sich die zerdrückten Reste unzähliger Aludosen, aus denen man bereits während der frühen Vormittagsstunden literweise eine stark zucker- und koffeinhaltige Brühe geschlürft hatte, noch wie man den Horizont seines eigenen Daseins auf jene vierzig Zoll beschränken konnte, die direkt vor der eigenen Nase den Blick auf die reale Welt dort draußen versperrten.

Schon der Gedanke an eine derartige Lebens- und Arbeitsweise verursachte ihm ein Gefühl des Unbehagens.

Dass sich hinter den meisten von ihnen Autisten verbargen, deren ausgeprägte Fähigkeiten auf einem einzigen speziellen Gebiet mit dem Fehlen sozialer Kompetenz sowie sonstiger Begabungen einhergingen, bot zwar eine rationale Erklärung für die Beschaffenheit der einzelnen Persönlichkeiten, machte jedoch die Zusammenarbeit mit ihnen auch nicht einfacher.

Zum wiederholten Mal stellte er fest, dass in einer Behörde wie dieser wohl kaum ein Mensch mehr fehl am Platz sein konnte wie er. 

Vielleicht lag es einfach daran, dass er im Grunde in beiden Welten dieses unablässigen Krieges beheimatet war, jedoch in keine von ihnen zu hundert Prozent gehörte.

»Hey, Ryan! Auch noch hier?«

Carter schwenkte mit seinem Stuhl nach rechts in Richtung des Störenfrieds, der ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte.

»Hallo, Lucas!«, sagte er, so freundlich, wie er nur konnte, in Richtung des Mittzwanzigers, der unübersehbar der Gruppe der Hageren angehörte. 

Lucas Alexander war einer der Teamleader der Division, mit denen Carter regelmäßig zusammenarbeitete.

Oder vielmehr zusammenarbeiten musste, wie er es selbst zu definieren pflegte.

Er war zweifellos das, was man einen Parade-Nerd nannte, doch etwas unterschied ihn maßgeblich von seinen Kollegen: sein brillanter Verstand.

Carter hatte während seiner Zeit bei der NCD diverse sogenannte Wunderkinder kennengelernt, doch dieser Bursche übertraf sie alle, was man wegen seines eher bescheidenen Äußeren kaum vermuten würde.

Lucas verfügte nämlich über ein einzigartiges Talent.

Jeder hier konnte vermeintliche Verdächtige tracen, aufgrund von Recherchen, denen ausgeklügelte Suchalgorithmen zugrunde lagen, Persönlichkeitsprofile erstellen, oder das jeweilige Userverhalten entsprechend analysieren, mit Fake News das Netz überschwemmen, Trolle programmieren, Trojaner platzieren, doch Lucas besaß das, was über Fantasie weit hinausging, und überraschte stets mit vollkommen neuen Gedankenansätzen, die schon so manch etablierte Arbeitsprozesse über den Haufen geworfen hatten. Hätte es jemals so etwas wie eine Skala für abstraktes Denken gegeben, Lucas wäre wohl der Gradmesser dafür gewesen.

Wie genau er das bewerkstelligte, hatte Carter nie verstanden, das musste er auch nicht. Sein Aufgabengebiet war ein anderes.

Die Art und Weise jedoch, wie Lucas in der Lage war, noch so gut verborgene Informationen ans Licht zu holen, erschien ihm teilweise wie reine Magie.

Zudem musste Carter nach Jahren der Skepsis inzwischen neidlos anerkennen, dass sein Gegenüber zu einem unverzichtbaren Teil seiner eigenen Tätigkeit geworden war. Für jemanden, der alleine zu arbeiten pflegte, ein lobendes Zugeständnis.

Er musterte ihn eingehend.

Der dunkelhaarige Wuschelkopf lehnte in der für ihn typischen, beinahe schüchtern wirkenden Haltung an einem Schrank unweit seines Schreibtischs.

In seiner schmalen, kreidebleichen Hand, auf der sich fragil wirkende Venen abzeichneten, hielt er einen großen Pott Kaffee.

»Wie viele hattest du heute schon davon?« Carter nickte in Richtung der blauen Tasse, auf der das Logo der NCD in goldenen Lettern leuchtete.

»Keine Ahnung, zehn, fünfzehn. Ich zähl nie mit«, sagte Lucas lächelnd.

»So wie du zitterst, waren es wohl eher so um die zwanzig.« Carter schüttelte verständnislos den Kopf.

»Nee, hab noch nicht viel gegessen.« Lucas zuckte mit den Achseln. »Bin wohl etwas unterzuckert.«

»Na ja, dann solltest du dich wohl eher hinsetzen.« Er wies auf einen der beiden Stühle vor seinem Platz.

Lucas nahm dankend an, ließ sich mit einem Seufzen nieder und schlug die Beine übereinander.

Sitzt da wie eine Frau, war der erste Gedanke, der Carter durch den Kopf ging.

»Schon eigenartig, wie ruhig es heute hier ist, findest du nicht?«, sagte Lucas, nachdem er sich einen kurzen Moment umgesehen hatte. »Komischer Gedanke, dass es vielleicht in einem Jahr oder noch früher hier immer so aussehen wird.«

»Nun, wir werden sehen.«

»Komm schon!« Lucas beugte sich ein wenig nach vorne und sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Glaub mir, wenn QUAID erst mal vollständig aktiviert wird, sind wir überflüssig. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet.«

»Hört sich für mich so an, als würde dich das nicht besonders kümmern.«

»Nun ja.« Lucas lehnte sich zurück und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse. »Eine neue Zeitrechnung bricht an. Ein Paradigmenwechsel, verstehst du? Das bringt immer große Veränderungen mit sich. Und damit gehen natürlich auch eine Menge neuer Möglichkeiten einher. Chancen!«

»Ja, für Nerds wie dich vielleicht!«, ätzte Carter. »Wundert mich, dass dir das Konsortium nicht schon längst einen Job angeboten hat.«

»Nerds?«, lachte Lucas. »Haben sie dich gerade erst aufgetaut?«

Carter winkte ab. »Vollkommen egal, wie man euch Jungs nennt, um euch muss man sich wohl kaum Sorgen machen.«

Lucas neigte den Kopf zu Seite. Das tat er immer, wenn er in seinem randvollen Datenspeicher, den man bei normalen Menschen Gehirn zu nennen pflegte, Informationen abrief.

»Ja, das GMC hat mir das eine oder andere angeboten«, gestand er schließlich. »Aber ehrlich gesagt sind das eher wenig verlockende Jobs. Wenn das Ding so arbeitet, wie es konzipiert wurde, und das wird es, dann werden Typen wie ich künftig eher zu Zuschauern degradiert. Ich hab einige Testläufe oben im Neunten gesehen. War schon recht beeindruckend.«

Carter verkniff es sich, weiter auf dieses Thema einzugehen. Die Tatsache, dass bis zur Aktivierung dieser neuen Supermaschine nur noch wenige Stunden vergehen würden, war, anders als bei den in maßloser Euphorie dahinschwelgenden Massen dort draußen, eher spurlos an ihm vorübergegangen. Nicht weil es nicht auch sein Leben betraf, denn das tat es, wie Lucas richtig bemerkt hatte, sondern weil er es mit einer gewissen Ignoranz beiseite schob. Er hatte keinerlei Interesse daran. Weder an der Maschine selbst, noch an der zweifelhaften Inszenierung ihrer Aktivierung, die massenwirksam pünktlich zum Jahreswechsel stattfinden würde.

Aus gutem Grund.

»Abgesehen davon, mache ich mir um dich auch keine wirklichen Sorgen«, schwenkte Lucas um.

Carter schürzte die Lippen und warf seinem Gegenüber einen fragenden Blick zu.

»Na ja, jemand wie du? Studium am MIT, Marines, danach Sealtraining, ein paar Jahre bei der CIA, dann leitender Beamter für Außeneinsätze bei der NCD? Außerdem Veteran. Drei Auslandseinsätze …«

»Hast du meine Akte auswendig gelernt?«, unterbrach ihn Carter ärgerlich.

»Und das Wichtigste hab ich natürlich vergessen«, fuhr Lucas unbeeindruckt fort. »Du hast Cythulhu zur Strecke gebracht.«

Carter schüttelte den Kopf.

»Zum einen«, sagte er etwas genervt, »finde ich es etwas irritierend, dass du meine Akte, für die du eigentlich nie eine Freigabe erhalten hast …«

»Ach komm schon, Ryan«, rief Lucas frech dazwischen, »jeder hier kennt deine Akte. Du bist eine Legende! Der Mann, der beim berüchtigtsten Hacker aller Zeiten die Handschellen hat klicken lassen. Die Jungs vergöttern dich.«

»Dann haben sie eine seltsame Art, das zu zeigen. Davon abgesehen, dass das Wort Privatsphäre offenbar ein Fremdwort für sie ist.«

»Weil sie Nerds sind«, lachte Lucas. »Für die bist du so was wie Superman oder Batman oder … Thor, ja, das trifft es am besten. Der Gott des Donners. Es gibt eigentlich nur eins, wovor sie noch mehr Respekt haben als vor dir.«

»Und das wäre?«, fragte Carter beiläufig, während er sich wieder seinem Schirm zuwandte.

»Weiber!«, konstatierte Lucas und lachte. »Wenn du eine dieser Kalkleisten hier richtig einknicken sehen willst, dann setz ihm eine schöne Frau vor die Nase. Am besten noch eine mit Monstertitten. Zuerst wird ihnen der Sabber aus dem Mund laufen, und dann werden sie ihn Ohnmacht fallen. Und was das Wort Privatsphäre anbelangt: Die ist genau genommen schon damals gestorben, als das World Wide Web das Licht der Welt erblickt hat. Nur wusste das zu diesem Zeitpunkt noch keiner.«

Da spottet eine Kalkleiste über die anderen und sinniert über Privatsphäre, dachte Carter. Ein Hacker.

»Ach ja, du wolltest vorher noch was sagen?« Die Signale, dass Carter dieses Gespräch schon längst beenden wollte, waren offenbar nicht bei Lucas angekommen.

Carter hämmerte einige Zahlen in seine Tastatur. »Ich wollte eigentlich nur sagen, dass uns Cythulhu durch pures Glück ins Netz gegangen ist.«

Cythulhu, eigentlich ein recht ansprechender Name, auch wenn er nur eine eher einfallslose Abwandlung von Lovecrafts Schöpfung ist, dachte er beiläufig.

»Na ja, ich bin mir da nicht so sicher, ob das nur Glück war«, sagte Lucas mit leicht zynischem Tonfall. »Deine Intuition im Vorfeld seiner Festnahme war schon recht hilfreich, um ihm auf die Spur zu kommen. Ich frag mich noch heute, wie du eigentlich drauf gekommen bist.«

»Wie du bereits gesagt hast … Intuition.«

»Hm, ja, dann soll es so sein. Aber davon abgesehen, man hat irgendwie immer den Eindruck bei dir, dass dir Ruhm absolut nichts bedeutet, obwohl du die meiste Arbeit gemacht hast. Als er bei der ersten versuchten Festnahme geflohen ist, hast du ihn schließlich erneut aufgespürt, durch die halbe Stadt gejagt und am Ende festgenommen. Ich glaub nicht, dass irgendein anderer hier das auch nur annähernd zustande gebracht hätte.«

Carter winkte ab. »Das war nichts weiter als gute, alte Ermittlungsarbeit. Selbst Typen wie Cythulhu machen irgendwann Fehler. Seiner war, dass er immer öffentliche Netzwerke benutzt hat, um seinen kruden Geschäften nachzugehen. Und was das Jagen betrifft: So was ist einfach nicht euer Job. Liegt wohl auch daran, dass die eine Hälfte von euch ziemliche Spargel sind und die andere recht saftige Hüften hat. Was man seltsamerweise von Cythulhu nicht behaupten konnte.«

Carter musterte ihn von oben bis unten und grinste.

»Touché!«, rief Lucas und hob seine Tasse.

Carter warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand gegenüber.

»Tja, noch fünf Stunden«, bemerkte Lucas, dem das nicht entgangen war. »Kommst du heute auch mit rüber zum Times Square, um dir die Präsentation anzusehen? Zehn Minuten vor Mitternacht soll’s losgehen. Fast alle aus der Division sind mit dabei, auch die scharfen Mädels aus dem Vierten. Du weißt schon.«

Lucas zwinkerte ihm kurz zu.

Es wirkte etwas skurril.

»Nein, lass mal«, sagte Carter kopfschüttelnd. »Ich tu das, was ich jeden Abend mache. Ich geh laufen, park meinen müden Hintern dann vor dem Fernseher und hoffe, dass ich den ganzen Trubel verschlafen werde. Sofern ich heute noch rechtzeitig hier rauskomme.« Er nickte in Richtung des Stapels von Berichten, der sich auf seinem Schreibtisch türmte.

»Verstehe. Und über die Feiertage?«

Carter kniff die Augen zusammen und rieb sich die Schläfen. »Morgen Nachmittag fliege ich rüber nach Montana, auf die Ranch meines Bruders. Diese stinkende Stadt endlich mal eine Zeit lang hinter mir lassen und wieder mal gute Luft atmen – darauf freu ich mich schon das ganze Jahr.«

»Klingt … gut!«

Lucas log. Wie auch seine Kollegen konnte er mit der Aussicht auf Landurlaub absolut nichts anfangen. Seine Heimat war diese Stadt mit ihrem Licht, ihrem Lärm, ihrem kalten Stahl und nackten Beton und den schier unendlichen Möglichkeiten der Zerstreuung.

»Wie gesagt, falls ich noch rechtzeitig hier rauskomme.«

Er seufzte erneut, diese Mal etwas lauter.

Lucas hatte den Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl nun scheinbar endlich verstanden.

»Na gut … dann …«, sagte er und erhob sich. »Sehen wir uns dann, wenn du zurück bist?«

»Klar, wie gehabt.« Carter versuchte, so freundlich zu wirken, wie es ihm nach dieser eher enervierenden Begegnung noch möglich war. »Und Lucas?«

Der Kleine sah ihn fragend an.

»Viel Glück heute bei der Jagd!«

Es dauerte einen Moment, bis er verstanden hatte. Dann hob er mit einer triumphierenden Geste den Daumen, lachte und ging.

»Nerds«, seufzte Carter.

Er kam nicht umhin festzustellen, dass er für einen Moment mit dem Gedanken gespielt hatte, sich Lucas und seinem Gefolge anzuschließen.

Doch dieser Moment war nur so kurz wie ein Atemzug gewesen.

Er hasste große Menschenansammlungen. Sie vermittelten ihm ein Gefühl der Enge, ebenso wie dieser beschissene Anzug, der ihm nun zusehends ein kratzendes Gefühl am Rücken verursachte.

Er verbrachte jede Minute seiner kostbaren Freizeit weit entfernt von dieser Stadt. Entweder beim Tauchen an der Küste oder mutterseelenallein in den stillen Wäldern im Norden.

Nur unter Wasser oder wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten war er imstande, zu entspannen und all den Trubel, der ansonsten sein Leben beherrschte, hinter sich zu lassen.

Er warf einen kurzen Blick auf seinen Schreibtisch.

Vier Berichte waren noch abzuarbeiten.

Vier Berichte, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemand lesen würde. Sie würden, wie der Rest seiner Falldokumentionen der vergangenen Monate tief in der Datenbank der NCD verschwinden, nur um dann, wenn sie eines Tages benötigt werden würden, von irgendeinem seiner Nerdkollegen hervorgekramt zu werden.

Sein letzter spektakulärer Fall, die Ergreifung von Cythulhu, lag bereits Jahre zurück. Seit dieser Zeit arbeitete er sich an banalen Akten von Netzkriminalität den Rücken krumm, die in den seltensten Fällen die Notwendigkeit eines Außeneinsatzes mit sich brachten.

Er war gefangen in diesem Büro, gefangen in dieser Stadt, die ihm, würde er nicht über seine mannigfaltigen Möglichkeiten zur Zerstreuung verfügen, die noch aus seiner Armeezeit herrührten, längst das letzte Quäntchen an Lebenswillen ausgesaugt hätte.

Was soll´s, dachte er und deaktivierte schließlich den Screen vor sich. 



Geheimer Ort, Arizona


Noch drei Stunden

Mason hasste die Wüste.

Kein Ort auf dieser Welt hatte ihn bisher mehr abgestoßen als dieser. Die kargen Weiten mit ihrer sengenden Hitze, vor allem während der endlosen Tage in den Sommermonaten, und der vollkommen im Widerspruch dazu stehenden klirrenden Kälte in der Nacht. Dazu kam noch dieser lästige, kratzende Flugsand, der vom Wind in jede noch so kleine Ritze, egal ob bei Mensch oder Material, getrieben wurde.

Und wenn er an das seltsame Getier dachte, das in dem harten Boden unter ihm sein Unwesen trieb, sträubten sich ihm immer wieder die Nackenhaare.

Klapperschlangen, Skorpione, Spinnen und Echsen.

Nicht wenige dieser Ausgeburten der Evolution hatten nichts anderes im Sinn, als jeden zu töten, der ihnen zu nahe kam.

Ein Grund mehr, dieses Projekt endlich zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, um diesen Ort schnellstmöglich wieder verlassen zu können.

Er kramte in der Tasche seines weißen Kittels und förderte eine Packung Zigaretten samt Feuerzeug zutage.

Noch während er sich einen der Glimmstengel in den Mund steckte, voll gieriger Erwartung, dass die bevorstehende Dosis an Nikotin seinem angespannten Nervenkostüm ein wenig Linderung verschaffen würde, ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen.

Die Nacht war bereits hereingebrochen.

Zwar war das Klima während dieser Jahreszeit tagsüber weitaus erträglicher als in den sengend heißen Sommern, die Nächte hingegen waren dafür umso kälter. Nicht selten sanken die Temperaturen unter null Grad, was der simplen Tatsache geschuldet war, dass es in dieser Ödnis nichts gab, was in der Lage war, Wärme über einen längeren Zeitraum hinweg zu speichern.

Die Hitze des Tages verpuffte einfach, sobald sich die Dämmerung über das Land legte.

Der Grund, warum er sich überhaupt in diese Unbehaglichkeit heraufwagte, war schlicht, dass in der gesamten Anlage das Rauchen verboten war. Als wäre die Arbeit, die er gut vierzehn Stunden pro Tag leisten musste, nicht schon anstrengend genug –ganz davon abgesehen, dass ihm inzwischen kaum noch gestattet wurde, das Gelände zu verlassen –, versagte man ihm auch noch jenes letzte Laster, dass ihm in seinem Leben geblieben war.

Kein Geld der Welt ist das alles wert, war der immer wiederkehrende Gedanke, der seinem Groll wortlos Ausdruck verlieh.

Er nahm einen tiefen Zug und sah gedankenverloren nach oben.

Einzig der prächtige Sternenhimmel über ihm entschädigte ein wenig für all diese Mühen. Kein Streulicht einer nahen Stadt trübte ihn hier. Die Sicht war derart klar, dass man in manchen Nächten sogar das sternenüberschüttete Band der Milchstraße erkennen konnte, das sich eindrucksvoll über das gesamte Firmament spannte.

Von den nur schemenhaft erkennbaren Umrissen der Sierra Estrella ausgehend, die sich schwach vor dem weit entfernten Horizont abzeichneten, bis weit über die südlichen Ausläufer dieser Weite hinaus glänzte und funkelte es in makelloser Schönheit.

Es gab kaum etwas auf dieser Welt, das diesem Anblick gleichkam und das ihm gleichzeitig vermittelte, wie unbedeutend all das war, was ihn und die Seinen hier unten antrieb.

Dieser Anblick und natürlich auch das Nikotin, das inzwischen in Form eines leichten Kribbelns in seinen Blutkreislauf getreten war, beruhigten ihn allmählich.

»Dr. Mason?«

Die Stimme hinter ihm hatte etwas Forderndes an sich.

»Was gibt’s?«, sagte er, ohne sich umzuwenden.

Er hatte inzwischen gelernt, den Sicherheitslakaien des Konsortiums mit, wenn auch vorgetäuschter, Überheblichkeit zu begegnen. 

Aus reinem Selbstschutz.

Denn diese mit militärischem Gehabe auftretenden Hampelmänner neigten ansonsten nur allzugern dazu, vor allem Wissenschaftler nach Belieben in ihre starren Hierarchien einzureihen, was schnell dazu führen konnte, dass man, ehe man sich versah, zum Laufburschen degradiert wurde.

»Dr. Mckinnon und Dr. Schwarz haben mich geschickt«, sagte der Mann harsch. »Ich wurde gebeten, Ihnen auszurichten, dass die Testroutinen nun in die entscheidende Phase gehen. Ihre sofortige Anwesenheit wird gewünscht.«

Mason ließ sich bewusst Zeit, bevor er antwortete.

Er nahm einen weiteren, tiefen Zug und blies dicke Rauchschwaden hinaus in den Nachthimmel.

»Richten Sie den Herren aus, ich komme in fünf Minuten.«

»Natürlich, Sir!«

Er lächelte zufrieden, als er hörte, wie sich der Laufbursche ohne weiteren Einwand mit raschen Schritten entfernte.

Nur wenig später warf er die Zigarette auf den Boden, trat sie mit einem Seufzen aus und wandte sich um.

Die kleine abbruchreife Hütte, die sich als äußerst wirksame Tarnung für das Quaid-Projekt erwiesen hatte, stand einsam inmitten der weiten Ebene. Der Zugang zu dem unterirdischen Komplex darin diente lediglich dazu, dass sich das Personal dann und wann hier draußen die Beine vertreten konnte.

Einen lebenswichtigen Nutzen hatte die Bruchbude nicht.

Denn die gesamte Logistik für die Versorgung der Einrichtung erfolgte durch einen viele Meilen langen Tunnel, der schnurgerade von einer neu errichteten Militärbasis im Süden heraufführte.

Niemand hatte je Verdacht geschöpft, dass sich unter diesem löchrigen Dach, durch das das Licht der Sterne wie durch einen Schweizer Käse hereinfiel, eine der fünf wichtigsten Forschungseinrichtungen in der Geschichte der Menschheit verbarg.

Selbst das Manhattan-Projekt hatte dagegen, gemessen am Aufwand, der sowohl hier wie auch auf den anderen vier Kontinenten betrieben wurde, kaum noch Bedeutung.

Er trat in das staubig riechende Innere.

In der Mitte des Raumes ragte ein kubusförmiger Aufbau empor. Die Fahrstuhltür in der Mitte stand offen, und die Wache darin erwartete bereits seine Ankunft.


Als sich einige Minuten später und dreißig Stockwerke tiefer die Tür wieder öffnete, wurde er von der regen Geschäftigkeit, die bereits in den Zubringerkorridoren herrschte, beinahe erschlagen.

Nach der Stille dort oben wirkte das Szenario hier unten wie ein Tollhaus.

Hunderte Frauen und Männer unterschiedlicher Couleur und Alters liefen wie eine aufgescheuchte Hühnerschar umher, stießen zusammen oder schlingerten, die Arme bis oben hin mit diversen Utensilien beladen, in waghalsigen Manövern aneinander vorbei.

Mason, der ein eher stoischer Charakter war, fand diese Hektik ermüdend, um nicht zu sagen enervierend. Ihr wohnte jene Unberechenbarkeit inne, die sich rationaler Planbarkeit weitgehend entzog. 

Doch so verhielt es sich stets mit diesen verfluchten Deadlines. Je näher sie rückten, umso emsiger wurde die Betriebsamkeit, als hätte es die unzähligen Jahre davor nie gegeben.

Während der letzten Tage hatte sich die Summe seiner Aufgaben derart gesteigert, dass er das Gefühl hatte, er befände sich inmitten des Kompressionszylinders, in dem man den flüssigen Stickstoff herstellte, der für die Kühlung von Quaid unabdinglich war. Seine Gemütsverfassung wurde unablässig gequetscht, gestaucht und komprimiert, sodass sein Innerstes bis zum Zerreißen gespannt war.

Mit Wehmut erinnerte er sich an die Zeit am MIT, als nur Schwarz, Mckinnon und er selbst in einem damals eher bescheidenen Labor, jenseits der wachsamen Augen des Konsortiums, den Grundstein für den Bau von Quaid gelegt hatten.

Und nun, nach dreißig Jahren unermüdlicher Forschungs- und Planungsarbeit, war es endlich so weit.

Der erste Super-Quantencomputer würde der breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Er wusste nicht, worüber er glücklicher sein sollte: über die Tatsache, dass die Schufterei von Erfolg gekrönt sein würde, oder darüber, dass sie nun endlich vorbei war.

Natürlich hatten bereits unzählige Gerüchte die Runde gemacht, vor allem in diesen verdammten sozialen Netzwerken. Keine Erfindung in der Geschichte der Menschheit hatte er bisher als überflüssiger empfunden, als diese virtuellen Begegnungsstätten, in denen jeder Ottonormalbürger, geschützt durch die Anonymität des Cyberraums, sich bemüßigt fühlte, sein Innersten nach außen zu kehren. Der beinahe abstrakt wirkende Exhibitionismus, der letztendlich daraus entstanden war, hatte etwas grotesk Banales an sich.

Und er war gefährlich. Zumindest dann wenn man, wie im Fall des Quaid-Projekts um Geheimhaltung bemüht war.

Man war zwar, so gut es in der heutigen Zeit noch möglich war, vor allem aus Sicherheitsgründen um diese bemüht, doch die Natur strikter Geheimhaltung war es stets gewesen, dass sie umgangen werden wollte.

Menschen waren neugierig.

Sie empfanden stets ein hohes Maß an Furcht gegenüber allem, was sich ihrer Kenntnis oder ihrer Kontrolle entzog.

Und sie waren immer die Schwachstelle in derartigen Bestrebungen.

Auch beim Manhattan-Projekt waren die Pläne der Bombe schließlich in die Hände der Sowjets gelangt, was schließlich den Startschuss für das schlimmste Wettrüsten in der Geschichte der Menschheit bedeutet hatte.

Internationale Staatengemeinschaft plant Supercomputer mit künstlicher Intelligenz! Das Ende der Menschheit, so wie wir sie kennen?, hatte eine der ersten Schlagzeilen auf einer dieser Plattformen für Verschwörungstheorien gelautet.

Er selbst hatte von Anfang an dafür plädiert, dass man das Projekt so transparent wie möglich gestalten sollte, um derartigen Schwachsinn bereits im Keim zu ersticken.

Denn Quaid war in keinster Weise eine eigenständige künstliche Intelligenz. Das allein wäre schon ein absurder Gedanke gewesen.

Er würde kein H.A.L aus Clarkes 2001 sein, der aufgrund widersprüchlicher Befehle Gefahr lief, in einer H Moebius-Schleife gefangen zu sein, die ihn schließlich zu seinen Untaten getrieben hatte.

Intelligenz war eben nicht nur eine Frage der Rechenleistung, sondern vor allem der Empirik. Denn ähnlich wie ein Mensch hätte die Maschine nach ihrer Aktivierung Jahre damit verbringen müssen, die bereits implementierten Daten durch Erfahrungen anzureichern, um auch nur annähernd so etwas wie eine Persönlichkeit herausbilden zu können.

Doch dafür war sie nicht geschaffen worden.

Sie verfügte lediglich über das, was er und seine Mitstreiter als analytische Intelligenz bezeichneten.

Der Gedanke, dass sich aus der fundamentalen Architektur der Maschine heraus ein fühlendes, atmendes Wesen entwickeln würde, war also nicht nur vollkommen abwegig, er war schlichtweg unmöglich.

Quaids Bestimmung war eine andere.

Er sollte die unzähligen Probleme, die diese Welt seit nunmehr hundert Jahren vor unlösbare Aufgaben stellten, durch sein schier unendliches Potenzial der Analysefähigkeit endlich lösbar machen.

Er war geschaffen worden, um die Weltformel zu entschlüsseln.

So einfach war das. Punkt, aus.

Doch wie immer, wenn Unsummen an Geld im Spiel waren, schlichen sich wie von selbst Bedenken diverser, äußerst einflussreicher Vereinigungen ein, die vor allem ihre Investitionen vor der Unvorhersehbarkeit menschlicher Handlungen schützen wollten.

Und so waren sie schließlich hierher verbannt worden.

Weit weg von jeder potenziellen Gefahr ungezügelter Informationsverbreitung.

In den Staub.

In die Wüste.

In die Einsamkeit.

»Guter Gott, Daniel, wo warst du so lange?«

Simon Schwarz stürmte aus einem der zahlreichen Seitengänge in den breiten Hauptkorridor der Anlage. Seine schwarzen, maßgefertigten Schuhe quietschten auf dem auf Hochglanz polierten Linoleumboden und hinterließen kleine Schleifspuren. 

In einigen Stunden würde davon nichts mehr zu sehen sein. Die Putzkolonnen würden anrücken und den Boden, der zusammen mit den makellos weißen Wänden um ihn herum den Eindruck vermittelte, er befände sich in einem Krankenhaus, wieder emsig säubern.

Es gab Tage, an denen er sich ernsthaft die Frage stellte, ob er bei seiner Rückkehr in die Zivilisation nicht todkrank werden würde, nachdem der so viele Jahre in dieser beinahe penibel sterilen Umgebung verbracht hatte.

»Hab eine geraucht«, sagte er griesgrämig, ohne seinen Kollegen dabei anzusehen.

»Ja, gute Idee«, erwiderte Schwarz ärgerlich. »Ich erspare mir inzwischen jeden Tadel, denn zweifellos wird dich das ohnehin eines Tages umbringen.«

»Und? Was gibt’s so Wichtiges?«

»Was denn wohl?« Der Ärger in Schwarz’ Stimme schwoll weiter an. »Wir haben nur noch zwei Stunden! Bevor das Spektakel losgeht, sollten noch sämtliche Checks durchgeführt werden. Und ich will auch noch mal den Spot besprechen. Das PR-Team nervt mich schon den ganzen Tag damit.«

Mason seufzte.

Es kam in letzter Zeit häufiger vor, dass er Schwarz gegenüber Mordgelüste verspürte. Seine Penibilität war in den letzten Monaten unerträglich geworden.

Sicher, er hatte deutsche Wurzeln, man konnte es ihm daher kaum verübeln, denn die Deutschen waren schon immer für ihre maßlose und überbordende Gründlichkeit bekannt gewesen.

In Schwarz’ Fall äußerte sich das nicht nur darin, dass er mit extremer Eitelkeit auf sein Äußeres bedacht war – das perfekt gescheitelte blonde Haar, die stets blank geputzte Nickelbrille auf seiner Nase und die scharfe Rasur seines kantigen Kinns, samt gezupfter Brauen und gestutzter Wimpern, damit seine strahlend blauen Augen besser zur Geltung kamen, waren nur einige Beispiele dafür –, sondern auch darin, dass er dazu neigte, alles zu Tode zu besprechen und zu testen.

Und das war bei weitem nicht das Einzige.

Während alle anderen nach einem langen Arbeitstag in die Kantinen strömten, ging Schwarz hinaus und lief endlos lange Strecken durch die Wüste. Vermutlich um nachzudenken.

Manchmal fragte sich Mason, woher der Mann seine schier unerschöpfliche Energie nahm.

»Meine Güte, Simon«, sagte er schließlich. »Komm wieder runter, das Ding wird perfekt laufen, da mach ich mir keine Sorgen.«

Sie erreichten ihren persönlichen Arbeitsbereich, der durch ein mächtiges Sicherheitsschott vom Hauptkorridor abgetrennt war. Niemandem außer den drei Schöpfern von Quaid war hier der Zugang gestattet. Der Vorstand der Konsortiums natürlich ausgenommen. Doch die Schlipsträger ließen sich nur selten hier blicken.

»Oder? Hab ich nicht recht, Kevin?«

»Das hast du, mein Freund«, antwortete Kevin Mckinnon, der die beiden bereits im Inneren des heiligsten Heiligtums der Anlage erwartete.

Das Triumvirat der Maschine, wie sie Schwarz in seiner Theatralik gerne zu nennen pflegte, war nun komplett.

»Du weißt doch gar nicht, worum es gerade geht«, ätzte Schwarz und ließ sich in seinen makellos weißen Stuhl fallen.

Mckinnon lächelte zynisch und zeigte ihm ungeniert seine nicht gerade ansehnlichen Zähne, die beinahe ein Klischee bei all jenen waren, die von der kleinen Insel stammten, die an den östlichen Ausläufern des Atlantiks im Meer trieb.

Zweifellos hatte der kleine Schotte es heute wieder einmal nicht für Wert befunden, das Badezimmer in seinem Quartier aufzusuchen. Sein rotes Haar stand in alle Richtung ab, er war unrasiert, und auch das T-Shirt, das er unter seinem Kittel trug, hatte bessere Zeiten gesehen. Nicht nur dass es ihm gut eine Nummer zu klein und damit kaum in der Lage war, sein zusehends anschwellendes Bäuchlein im Zaum zu halten, es fand sich auch der eine oder andere Kaffeefleck darauf, der gut und gerne drei Tage alt war.

Mason ließ sich ebenfalls auf seinem Stuhl nieder und sah sich um.

Er hasste die karge Aufgeräumtheit seines Arbeitsplatzes.

Über den großen Schirm unmittelbar vor ihm, einem der neuartigen Quantenscreens, oder QS, wie ihn das Konsortium getauft hatte, liefen endlose Zahlenreihen und abstrakte Diagramme, die den Zustand der Maschine in für den Menschen verständliche Form brachte.

Unmittelbar daneben stand ein kleiner schwarzer Würfel, der Prototyp eines Computers auf Silizium-Kristall-Basis, über den die Kommunikation mit Quaid in einer bis dato unfassbaren Geschwindigkeit ablief.

Nur die gute alte Tastatur hatte noch nicht ausgedient, wirkte jedoch im Vergleich mit der schlichten Geometrie dieser neuen Technologie beinahe wie ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit.

Jedes einzelne Stück davon war natürlich bereits geschützt, patentiert, mit einem entsprechenden Label versehen worden und bereit, in naher Zukunft seinen Weg hinaus in die Häuser der elf Milliarden Menschen zu finden, die diese Welt inzwischen bevölkerten und deren drückende ökonomische und ökologische Last den Weg für den Bau von Quaid erst ermöglicht hatte.

Bei der Aussicht auf die billionenschweren Einnahmen lief dem Vorstand des Konsortiums sicher schon jetzt der Sabber aus den Mundwinkeln.

So also würde die Zukunft der Informationsverarbeitung nun aussehen: karg und nüchtern, streng geometrisch und seelenlos. Und dazwischen nichts als Leere.

Für einen kurzen Moment verfluchte er jenen Mann, der in den späten Neunzigern den Computern so etwas wie Persönlichkeit verliehen hatte, in dem er die Form vor die Funktionalität gestellt hatte, und so eine Entwicklung in Gang gesetzt hatte, in der das Design zu einem wesentlichen Bestandteil bei der Entwicklung der Maschinen geworden war.

Er schnaubte verächtlich.

Computer waren Maschinen, nichts weiter.

Sie sollten funktionieren und keine Designpreise gewinnen.

Das Labor am MIT kam ihm erneut in den Sinn.

Er erinnerte sich noch lebhaft derart, dass Mckinnon und er selbst derart mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen waren, dass ihnen kaum aufgefallen war, dass sich die leeren Take-away-Kartons schon bis an die Decke stapelten. Der Geruch war dementsprechend streng gewesen. Das ging stets so weit, dass selbst das Betreten des Labors irgendwann zu einem schwierigen Unterfangen wurde, sodass man letztendlich in überstürzten Aufräumaktionen immer wieder für Ordnung sorgen musste.

Dennoch zauberte ihm der bloße Gedanke an dieses Chaos ein Lächeln ins Gesicht. Alles hatte eine gewisse Substanz, einen menschlichen Touch gehabt – nicht zu vergessen, dass aus diesem Chaos etwas Beeindruckendes entstanden war. 

Das war natürlich, bevor Schwarz zu ihrem illustren Duo gestoßen war.

Bevor dessen krankhafter Ordnungswahn Einzug gehalten hatte.

All das hier trug nun unübersehbar seine Handschrift.

Es verging eine längere Zeit des Schweigens, in der jeder die ihm zugedachten Routinen durchlaufen ließ.

»Gut, wollen wir anfangen?«, sagte Schwarz dann. Die Erregung in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Je schneller, umso besser.« Mason stieß ein entnervtes Seufzen aus.

»Relaxion?«, begann Schwarz, unbeeindruckt von Masons mürrischem Gehabe, seine Checkliste herunterzubeten.

»Check.«

»Dekohärenz?«

»Bei null Komma vier«, antwortete Mckinnon.

»Zustand Quantengatter?«

»Stabil«, meldete Mason.

»Qubits?«

»Konstant bei tausendeinhundert.«

Diese Zahl jagte Mason noch immer wohlige Schauer über den Rücken. Zu Beginn ihrer Forschung hatte er kaum zu denken gewagt, dass sie eines Tages die magische Zahl von dreihundert Qubits noch übertreffen würden – jene Zahl am Ende einer exponentiellen Wachstumsreihe, die sogar die Anzahl der Teilchen des gesamten Universums abzubilden imstande war.

Gemessen an den Möglichkeiten des einst so trägen Bit-Zeitalters schien Quaid in seiner derzeitigen Architektur über beinahe unendliche Ressourcen zu verfügen.

»Sekundärer Kern?«

»Läuft zu hundert Prozent synchron.«

»Zustand des Reaktors?«

»Läuft konstant auf Optimalleistung«, sagte Mason. »Deuterium-Tritium-Reaktion ist stabil. Alle Werte innerhalb der vorhergesehenen Parameter. Photonenemissionen im optimalen Bereich.«

»Quantenschnittstellen?«

»Keine Verluste bei der Signalübertragung. Funktionieren einwandfrei.«

Mason erkannte, wie Schwarz seine Wangen aufblies. »Gut, dann sollte nun nichts mehr schiefgehen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Synchronisation mit den anderen Einheiten ebenso reibungslos ablaufen wird.«

Noch zwei Stunden.

Mason lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Eine lähmende Müdigkeit überkam ihn langsam. Von allen langen Tagen während der letzten Jahre war der heutige zweifellos der längste gewesen.

Und er war sich sicher, dass die darauf folgenden, sollte Quaid funktionieren, woran er keinen Moment zweifelte, noch schlimmer werden würden.

Das Konsortium würde auf den Plan treten.

Die Politik und das Militär würden hinzustoßen und sich gemeinsam mit dem Vorstand in eitler Selbstbeweihräucherung suhlen. Von weiser Voraussicht und dem unbedingten Willen zur Innovationsförderung würde unentwegt die Rede sein, und die scheinheiligen Huldigungen würden ewig kein Ende nehmen.

Das berühmte Wir haben es schon immer gewusst würde an der Spitze jener hohlen Phrasen stehen, mit denen die Unvermögenden nur zu gern ihren Mangel an Verständnis tarnten.

Und Schwarz, so viel stand fest, würde es unendlich genießen.

Mason störte sich eigentlich nicht daran, dass sein Kollege als der Architekt von Quaid die meisten Lorbeeren einheimsen würde.

Mckinnon und er selbst, in ihrer Eigenschaft als Experimentalphysiker, hatten zwar die technischen Grundlagen für seinen Bau geschaffen, doch der Geist in der Maschine entsprang unbestreitbar Schwarz’ genialem Verstand.

Mason hatte sich nicht selten gefragt, wie sein Kollege überhaupt imstande gewesen war, diese Mammutaufgabe fast im Alleingang zu bewältigen.

Er hatte nie eine Erklärung dafür erhalten.

Vielleicht weil Schwarz nicht in der Lage war, Außenstehenden Zugang zu seiner abstrakten Gedankenwelt zu gewähren, in der sich die fundamentale Funktionsweise der Maschine in einem undurchdringlichen Gewirr aus Algorithmen und Formeln verbarg.

Inzwischen spielte das jedoch kaum noch eine Rolle.

Denn es stand bereits fest, dass der eitle Deutsche nun endlich den Ruhm erhalten würde, der ihm seiner Meinung nach zustand. Am morgigen Tag – und Schwarz dachte sicher in diesen Kategorien – würde er sie endlich alle hinter sich gelassen haben. Gates, Jobs, Wozniak, Berners-Lee und sogar den legendären Alan Turing.

Nein, Turing vielleicht nicht.

Dessen früher Tod hatte ihn zweifellos in die Gefilde der Märtyrer der Wissenschaft gehoben, damit konnte nicht einmal Schwarz, sollte er sich nicht in absehbarer Zeit das Leben nehmen, mithalten.

Mason öffnete die Augen und sah auf die alte Armbanduhr an seinem linken Handgelenk.

Tick, tack, tick, tack …


Times Square, New York City


Der Abend war bisher ganz nach Lucas’ Geschmack verlaufen.

Die Mädels aus dem Vierten hatten reichlich getankt und schienen zu jeder Schandtat bereit.

Vor allem Lucy, eine der Mitarbeiterinnen aus der PR-Abteilung, war mittlerweile außer Rand und Band und tanzte bereits seit gut einer Stunde zu den Rhythmen des Technomülls, der aus den überdimensionalen Lautsprechern dröhnte, die den Platz von allen Seiten beschallten.

Immer wieder stieß sie dabei mit ihrem recht üppigen Vorbau, der beinahe hypnotisierend auf und ab wippte, gegen seine schmächtige Brust, was ihn an den Rand einer peinlichen Situation in seiner Lendengegend brachte.

Somit stand sein Plan bereits fest.

In wenigen Sekunden war Mitternacht.

Die Sektkorken würden knallen, Feuerwerk würde trotz des alljährlichen Verbots massenhaft abgefeuert werden, und die holde Weiblichkeit würde sich auf das nächstbeste Opfer in ihrer unmittelbaren Umgebung stürzen, um ihm überschwänglich die Zunge in den Mund zu stecken.

Lucas leckte sich kurz die Lippen, als er daran dachte, wie sich dieser volle Mund bereitwillig auf seinen legen würde.

Er hoffte inständig, dass sie betrunken genug war, um den Abend in seinem Appartement zu beschließen, damit er sich endlich von seiner Jungfräulichkeit befreien konnte.

Er war so tief in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der Countdown für ein neues Jahrzehnt beinahe abgelaufen war.

Zwei, eins …

Der Lärm um ihn herum wurde ohrenbetäubend.

Der Big Apple war nie ein ruhiger Ort, das war allgemein bekannt. Doch im Angesicht dieses Tobens, das nun wie eine gewaltige Sturmflut auf ihn einbrandete, nahm sich ein normaler Tag dort aus wie ein Waldspaziergang.

Menschen jubelten, schrien, schwangen Flaschen und Gläser, und »Happy New Year« wurde aus Tausenden Kehlen gerufen.

Nur Lucy war verschwunden.

Enttäuscht hielt er nach dem Objekt seiner Begierde Ausschau, doch alles, was er sah, war die vibrierende Masse, die in erstaunlicher Homogenität auf und ab sprang.

Mit griesgrämiger Miene bahnte er sich einen Weg an den Rand des v-förmigen Platzes, der wie zu jeder Tages- und Nachtzeit hell erleuchtet war.

Von Hunderten Screens zuckten die Bilder der Werbecampagnen aller bekannten Großkonzerne herab, die das lang ersehnte Erwachen von Quaid dazu nutzten, um ihre Botschaften denen entgegenzuschmettern, die dafür empfänglich waren.

War es in den letzten Jahrzehnten stets der Super Bowl gewesen, in dessen Pausen horrende Beträge für die Präsentation neuer oder altbekannter Produkte bezahlt wurden, war es nun dieses Ereignis, das wie kaum ein anderes in die Analen der Menschheitsgeschichte eingehen sollte.

Auf dem zentralen Billboard direkt im Zentrum des Platzes lief bereits in riesigen Lettern der Countdown für dieses Megaereignis ab.

In etwas mehr als einer Minute würde der Rest der Menschheit zu sehen bekommen, was er selbst schon in den Büros der NCD bestaunen durfte.

Er erinnerte sich noch gut daran, wie beindruckend die Präsentation gewesen war.

Sie zeigte in bester Visual-Effects-Art, untermalt von episch-theatralischer Musik, wie Tausende Drohnen die Erdoberfläche überflogen, die mit revolutionären, neuartigen 3D-Scannern bis in den Bereich von Nanometern jeden noch so verborgenen Winkel vermessen konnten. Das Gleiche geschah nur wenig später unter Wasser, als ein ganzes Heer submariner Drohnen in Tiefen hinabdrang, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen war.

Die Myriaden von Informationen, die so diesem Planeten entlockt wurden, sammelten sich schließlich in Form eines schier unüberschaubaren Gewirrs von Linien, Zahlen und Diagrammen in den fünf Kernen der Quaid-Maschine, wo sie visuell für jedermann verständlich verarbeitet und entwirrt wurden.

Das ganze Spektakel, so schätzte er, ging gut zehn Minuten, bis sich schließlich das Bild verdunkelt hatte und nur eine einzige Grafik übriggeblieben war, die nichts anderes als die Lösung der Weltformel darstellen und in eine verheißungsvolle Zukunft jenseits von Leid, Armut und Hunger weisen sollte.

Die Zukunft beginnt heute.

Was für ein ausgelutschter Slogan.

Hollywood hatte in der Tat ganze Arbeit geleistet.

Für einen kurzen Augenblick dachte er tatsächlich daran, den Platz zu verlassen, jetzt wo seine amourösen Erwartungen sich schlagartig in Luft aufgelöst hatten; doch der Gedanke daran, den Clip auf der überdimensionalen Leinwand, die man über die gesamte Nordseite des Platzes gespannt hatte, noch einmal erleben zu können, ließ ihn schließlich noch verweilen.

Er lehnte sich gegen eine der Straßenlaternen und wartete.

Noch fünfzehn Sekunden.

Noch während der Countdown auf null zulief, bemerkte er, wie die bis noch vor kurzem hemmungslos feiernde Menge zusehends verstummte.

Tausende Augen richteten sich nacheinander auf den Screen, auf dem die Ankunft des neuen Messias mit Spannung erwartet wurde.

Null.

Die Bilder auf den großen Billboards erloschen, und der Platz wurde in tiefe Dunkelheit getaucht.

Die zentrale Bildwand leuchtete plötzlich in grellem Gelb auf, dessen unnatürliche Helligkeit ihn die Augen zusammenkneifen ließ.

Ein scheußliches Geräusch hob an.

Ein schrilles, hohes Kreischen, das die wuchtigen Lautsprecher hinter ihm bedrohlich vibrieren ließ. Überall um ihn herum pressten die Menschen ihre Handflächen auf die Ohren, doch das Geräusch überwand mühelos die wenigen Zentimeter Fleisch samt Knochen und trieb den Schmerz bis in die Tiefen des Trommelfells hinab.

Lucas krümmte sich zusammen und wäre beinahe gestürzt.

Schwindel stahl sich in sein Hirn.

Dann wurde es urplötzlich wieder still.

Ein riesiges, rudimentär wirkendes schwarzes Auge erschien inmitten des Gelbs.

Nur wenige Sekunden später wechselte die Ansicht erneut, und eine schemenhafte schwarze Gestalt, deren überdimensionales Gesicht von einer Art Spiegelmaske verdeckt wurde, warf ihren unsichtbaren Blick auf die staunende Menge herab.

Augen waren darunter keine zu erkennen, doch instinktiv spürte jeder Anwesende, dass er von wachsamen Blicken gemustert wurde.

Auf der Oberfläche der reflektierenden Maske liefen in zuckenden Bildern kurze Ausschnitte der größten Katastrophen des letzten Jahrhunderts ab.

Kanonen donnerten, Marschkolonnen flanierten vorbei, geschundene, ausgezehrte Körper lagen in riesigen Haufen übereinandergestapelt da, Atombomben detonierten, Städte und Wälder brannten, Öl erstickte Wasser und Tiere, rauchende Schlote schickten ihre beißende Last in den Himmel, Mord und Todschlag, Mensch und Tier, rotes Fleisch, Blut ... Grauen. Und dazwischen die unzähligen verheißungsvollen Lügen der Machthabenden, die von hohen Rednerpulten aus hinabgeschmettert wurden.

Lucas stand mit offenem Mund da und beobachtete mit einer Mischung aus Neugier und Irritation die Szenerie.

Er achtete keine Sekunde mehr auf die Menschen um sich herum.

Weder ihr Flüstern noch ihre zunehmend nervöser werdenden Bewegungen drangen in seine Augen oder an seine Ohren.

Es gab nur noch das Drama, das inmitten dieses formlosen Gesichts langsam auf seinen Höhepunkt zustrebte, und seinen wie betäubt wirkenden Verstand, der nur langsam wieder aufklarte.

Und dann war es vorbei.

Der Spiegel begann gleichmäßig zu glänzen, der unsichtbare Blick darunter, so spürte er, richtete sich geradeaus, und der Schemen dahinter verharrte vollkommen regungslos.

»Wir sind die neue Ordnung!«

Die Stimme dröhnte wie Donnergrollen in seine Gebeine, dunkel und bedrohlich, unheilverkündend und unbarmherzig.

»Wir sind der Staat!«

Kapitel II

DER ERSTE SCHLAG

Queens, New York City

Carter erwachte.

Die Nacht war zu kurz gewesen. 

Mit einer trägen Handbewegung wischte er sich den Schlaf aus den Augen und sah sich etwas verwirrt um.

Salingers Der Fänger im Roggen fiel halb aufgeschlagen mit einem Krachen zu Boden, als er sich auf seiner Schlafcouch herumzuwälzen begann. Er war bereits nach wenigen Seiten eingeschlafen, trotz des maßlosen Trubels außerhalb seines Appartements, der bestimmt bis in die frühen Morgenstunden angehalten hatte.

Der Tag war hinter den geschlossenen Vorhängen längst angebrochen, und die Sonne schickte erste Strahlen durch den schmalen Spalt in der Mitte zu ihm herein, die ihn unangenehm im Gesicht kitzelten.

Er nieste und beobachtete die winzigen Tröpfchen, die durch die aufgefächerten Bahnen aus Licht tanzten.

»Gesundheit«, sagte er zu sich selbst und erhob sich.

Er streckte sich und gähnte laut in die Stille seines Wohnzimmers hinein.

In der gegenüberliegenden Ecke standen bereits die gepackten Koffer für seine Abreise nach Montana bereit.

Der Anblick zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Drei Wochen nichts als makelloses Weiß. Endlose Wälder, der zugefrorene See vor der Ranch und das Bellen der Huskys, die begierig darauf warteten, endlich vor den Schlitten gespannt zu werden, um stundenlang durch den tiefen Schnee zu toben.

Was für eine verheißungsvolle Aussicht.

Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf.

New York, die Stadt die niemals schlief, war heute offenbar noch nicht erwacht.

Er hätte eigentlich erwartet, dass die Müllabfuhr schon in den frühen Morgenstunden auf den Beinen sein würde, um das Chaos aus Tausenden Pappbechern, bis zum Bersten vollen Kondomen und sonstigem Unrat zu beseitigen.

Doch in der kleinen Seitenstraße vor seinem Fenster herrschte Totenstille.

Kein Mensch war zu sehen.

Er schenkte diesem ungewöhnlichen Umstand nur für kurze Zeit Beachtung und ging in die Küche.

Kaffee, durchfuhr es ihn.

Sein Magen knurrte, und ihn gierte nach der Dosis Zucker, mit der er das heiße Schwarz stets in großen Mengen zu versetzen pflegte.

Im Vorbeigehen warf einen Blick auf seine Smartwatch, die er am Abend zuvor auf lautlos geschaltet hatte.

Das Display blinkte nervös.

Vierzehn neue Nachrichten, war darauf zu lesen.

Absender: Lucas Alexander.

Er schnallte sich das schlanke Teil ans linke Handgelenk und aktivierte die Rückruffunktion.

»Meine Güte, Ryan! Ich versuche seit vier Stunden, dich zu erreichen, wo warst du?«

Lucas klang erregt, beinahe panisch.

»Ich bin im Urlaub, schon vergessen?«, antwortete er knapp, während er den Kaffee-Vollautomaten aktivierte.

Das laute Mahlgeräusch übertönte Lucas’ nächste Worte.

»Was?«

»Du musst sofort herkommen!«

»Wozu?« Carter griff in die Zuckerdose und ließ drei Würfel in die Tasse fallen. Sein Metabolismus gierte nach Energie. »Ich breche in vier Stunden nach Montana auf und hab absolute keine Lust, vorher noch ins Büro zu fahren. Davon abgesehen …«

»Nicht in die Division«, unterbrach ihn Lucas. »Wir müssen nach D.C.!«

Carter stutzte. »Was zum Teufel soll ich in D.C.?«

»Sag mal, lebst du hinterm Mond?«

»Achte auf deinen Ton, junger Mann«, maßregelte ihn Carter. »Ich hab dir schon hundertmal …«

»Hast du nicht mitbekommen, was letzte Nacht passiert ist?«, rief Lucas.

»Nein, ich hab geschlafen!« Carter gähnte erneut. »Was ist los, hat irgendein Wahnsinniger die Silvesternacht dazu genutzt, um in der ganzen Stadt den Strom abzuschalten.«

»Wenn’s nur das wäre.« Lucas’ Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich kann dir über diese ungesicherte Verbindung nicht mehr sagen. Bitte komm sofort zum Flughafen! Am JFK steht eine Maschine für uns bereit. Die gesamte Führungsriege der Division wird ebenfalls dabei sein. Wir starten in einer Stunde.«

»Wie soll ich es in einer Stunde bis zum Flughafen schaffen?«

»Hast du schon mal auf die Straße gesehen?«

Die ungewöhnliche Stille, die auch in diesem Moment draußen herrschte, kam ihm wieder in den Sinn.

Schlagartig war seine Neugierde geweckt, und er war hellwach.

»Kannst du mir zum Teufel noch mal sagen, was hier eigentlich los ist?«, entfuhr es ihm.

»Nicht jetzt! Komm einfach her, okay?«

»Okay.«

»Und Ryan?«

»Ja?«

»Mit Anzug!«



Joint Operations Center, NCD, Washington D.C.


Die Besprechung war bereits in vollem Gange, als Carter und Lucas etwas verspätet hinzustießen und sich an der holzvertäfelten Wand entlang in Richtung ihrer zugewiesenen Sitzplätze drückten.

Alles, was in den obersten Sicherheitsbehörden Rang und Namen hatte, war hier versammelt, natürlich mit Ausnahme des Präsidenten samt seines persönlichen Beraterstabs, der sich, laut Lucas, noch in den Tiefen des Bunkers befand. Warum der Präsident durch einen offensichtlichen Hackerangriff dort hinuntergezwungen worden war, blieb ihm ein Rätsel.

Der Teamleiter hatte ihn, so gut wie möglich, während ihres gemeinsamen Fluges hierher, instruiert und es dabei nicht unterlassen, seine ganz persönliche Erfahrung samt erster Analyse zu präsentieren.

Nun aber all das mit eigenen Augen zu sehen, was er in der Nacht zuvor verschlafen hatte, war etwas, auf den ihn keine Lagebesprechung hätte vorbereiten können.

Das Donnergrollen der seltsamen Stimme drang mit einem bedrohlichen Vibrieren durch den Lageraum. 

»Wir sind die neue Ordnung! Wir sind der Staat! Unser Wort ist Gesetz! Wir sind der Richter, wir sind der Henker! Vom heutigen Tage an sind wir das neue Gewissen dieser Welt! Jeder Mensch, jede Nation und jede Institution ist von nun an unsere Weisungen gebunden. Zuwiderhandlungen gegen unsere Forderungen werden unnachsichtig bestraft! Um unseren künftigen Anliegen Nachdruck zu verleihen, werden wir heute exakt um drei Punkt null null Uhr ein Exempel statuieren, das unsere Möglichkeiten jeder Art von Intervention unter Beweis stellen wird. Ihr wurdet gewarnt!«

Nachdem das Bild erloschen war, starrte Carter noch eine Zeit lang wie gebannt auf den leeren Screen, der am nördlichen Ende des großen Lageraums angebracht war.

Die unzähligen Stimmen, die kurz danach anhoben, drangen wie ein weit entferntes Störgeräusch auf ihn ein. Dumpf und unverständlich.

»Diese Botschaft«, durchbrach die Stimme von Erik Abene, dem Direktor der NCD, das Stimmengewirr, »lief in allen relevanten Sprachen synchron auf allen Quantenscreens, die für die Präsentation von Quaid errichtet worden sind, bei allen regionalen und überregionalen Fernseh- und Radiosendern, in allen sozialen Netzwerken sowie, und das hat uns am meisten überrascht, auf allen jemals auf diesem Planeten erstellten Websites. Es ist davon auszugehen, dass jeder Mensch auf diesem Planeten, ausgenommen natürlich jene, die in sehr abgelegenen Regionen leben, zugesehen hat. Wie genau das bewerkstelligt wurde, ist uns bis zum jetzigen Zeitpunkt ein Rätsel.«

Sein durchaus stattlicher Vorgesetzter mit indischen Wurzeln wirkte überraschend verloren, als er aufrecht vor dem großen Tisch stand und mit leicht unsicheren Bewegungen versuchte, seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Botschaft?«, sagte der nationale Sicherheitsberater aus dem Weißen Haus, Kurt Cunningham. »Wohl eher eine unmissverständliche Drohung. Und die hat ihre Wirkung auch nicht verfehlt. Das ganze Land befindet sich in einer Art Schockstarre! Alle Zeitungen und Sender berichten von nichts anderem mehr. Die zentrale Frage, die sich alle stellen, mich eingeschlossen, ist: Was hat es mit diesem Exempel auf sich?«

»Bis jetzt gibt es im Zuge unserer Ermittlungen keinerlei Hinweise darauf, dass es für die erwähnte Drohung irgendeine Grundlage gibt. Wir gehen eher davon aus, dass …«

»Entschuldigen Sie bitte! Ich muss Ihnen leider widersprechen!«

Cunningham, wie auch der Rest der Anwesenden, wandte sich in Richtung des Urhebers dieser Worte.

Es war der Chef des Generalstabs, General Walter Hanson. »Wir haben inzwischen vielmehr die Gewissheit, dass es sich dabei nicht um eine leere Drohung gehandelt hat.«

»Ähm, wie darf ich das verstehen?«, entfuhr es Cunningham und Abene beinahe gleichzeitig.

»Nun!« Hanson holte tief Luft. »Exakt um null dreihundert erfolgte, gemäß der zuvor erwähnen Drohung, respektive Ankündigung, ein koordinierter Luftschlag gegen die fünf militärischen Einrichtungen, die das Konsortium in Kooperation mit den jeweiligen Regierungen auf allen Kontinenten unterhält und deren Aufgabe es war, besagte Einrichtungen zu schützen. USA, China, Russland, Südafrika und Australien. Wir können inzwischen davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Zufall handelt, sondern um eben jenes Exempel, das … dieser … sogenannte Staat zuvor angekündigt hat.«

Carter entging nicht, dass Abene dem Stabschef einen überraschten Blick zuwarf.

Cunninghams Miene spiegelte eher aufkeimende Wut wider. »Ein koordinierter Luftschlag? Von wem? Und warum erfahre ich davon erst jetzt?«

»Weil diese Information als geheim eingestuft ist oder besser gesagt war. Es handelt sich dabei um eine militärische Angelegenheit. Sämtliche verifizierten Daten mussten erst entsprechend ausgewertet werden, und ich habe erst unmittelbar vor dieser Besprechung die Freigabe von Seiten des Präsidenten erhalten. Niemand außerhalb dieses Raumes hat bis dato davon Kenntnis!«

Eine Feststellung, die Cunningham offenbar nicht behagte. Dem schneidigen Mitdreißiger in seinem teuren Maßanzug stieg merklich die Zornesröte ins Gesicht. Es war nicht schwer für Carter zu erahnen, dass es selbst dem Sicherheitsberater des Präsidenten nicht anders als ihm selbst ergangen war. Man hatte ihn uninformiert an diesem Feiertag aus dem Bett geholt und in diese Besprechung hineingestoßen.

Zuständigkeits- und Informationschaos, dachte er. Das alte Lied.

»Gut«, presste Cunningham zwischen den Zähnen hervor. »Was wissen wir inzwischen genau darüber?«

Der grauhaarige Viersternegeneral in seiner perfekt sitzenden Dienstuniform der Air Force verzog keine Miene, wandte sich seinem Adjutanten zu und gab ihm flüsternd eine kurze, unverständliche Anweisung.

Der große Lageschirm wurde wieder aktiviert und zeigte in einer Totalen die Ansicht einer Nachtsichtkamera über einer weitläufigen Militärbasis.

Nur wenig später zuckten kurze Detonationsblitze durch die Nacht, die beinahe zeitgleich in hoher Zahl das gesamte Gelände taghell erleuchteten. Nach und nach schwanden die Gebäude dahin, gingen in unzähligen Staubwolken unter, die die wuchtigen Einschläge aufwirbelten. Auch die auf den Aufnahmen erkennbaren motorisierten Patrouillen und selbst einzelne Soldaten, die hier und da herumstanden, wurden gnadenlos unter Beschuss genommen.

Carter war in militärischer Taktik versiert genug, um zu erkennen, dass dieser Angriff keinerlei Kriterien entsprach, nach denen konventionelle Armeen vorzugehen pflegten. Üblicherweise hatte die Zerstörung von Material Priorität.

Doch hier ging es nur um eines: pure Vernichtung.

Es war offensichtlich, dass der Angreifer keine Zeugen zurücklassen wollte.

»Diese Aufnahme stammt von einem unserer Awacs-Aufklärer, der sich routinemäßig über dem Zielgebiet befand. Wie Sie aufgrund der unzähligen Treffer zweifellos erkennen können, wurde dieser Luftschlag mit äußerster Präzision geführt. Der Feind wusste ganz genau, wo er uns zu treffen hatte, um maximalen Schaden anzurichten. Wir gehen davon aus, dass sich das Muster dieses Angriffs auch bei den verbliebenen Einrichtungen überall auf der Welt wiederholt hat.«

Carter folgte der Aufzeichnung, die über dreißig Minuten lang war, mit morbider Faszination. Das Szenario hatte etwas schaurig Schönes an sich. Wie ein Gewittersturm im Spätsommer.

Cunningham schlug mit der Faust auf den Tisch. »Guter Gott!«

»Sir, wenn ich …«

»Und wer bitte soll das gewesen sein?«, unterbrach er Hanson. »Die beschissenen Nordkoreaner?«

Der General räusperte sich. »Das ist auszuschließen.«

»Und diese Schlussfolgerung beruht worauf?«

Hanson zögerte einen kurzen Moment. »Nach derzeitigem Kenntnisstand gehen wir davon aus, dass der Angriff von unseren eigenen Streitkräften ausgeführt wurde. Laut den spärlichen Informationen, die wir bis jetzt aus China und Russland erhalten haben, verhält es sich dort ähnlich.«

Cunningham schüttelte ungläubig den Kopf. »Soll das ein Witz sein?«

»Bei solchen Dingen pflegen wir nicht zu scherzen, Sir«, sagte der General kühl. »Der Schlag erfolgte durch unbemannte Stealth-Drohnen vom Typ Predator IV, die in einer koordinierten Aktion von allen in unmittelbarer Nähe liegenden Basen abgezogen wurden. Eigentlich waren sie, in Absprache mit dem Konsortium, für das Projekt Quaid abgestellt.«

»Und ich nehme an, darum waren sie auch bewaffnet?«, fuhr Cunningham dazwischen. »Ist wohl die Standardvorgehensweise, dass Forschungsdrohnen bewaffnet sind.«

»Nein, Sir.« Der General verzog seine Lippen zu einem blassen Bogen. Die Attacken des nationalen Sicherheitsberaters behagten ihm definitiv nicht. »Die Bewaffnung erfolgte im Zuge einer … wie wir mittlerweile wissen, fingierten Alarmübung, die punkt null einhundert gestartet wurde.«

»Von wem?«

»Auch das wissen wir nicht, Sir. Derartige Anweisungen werden inzwischen ausnahmslos vom Stab des Strategic Air Commands in Absprache mit dem Pentagon angeordnet. Nichts Derartiges wurde jedoch vollzogen. Der Alarm wurde direkt aus dem nationalen Verteidigungsnetzwerk heraus ausgelöst.«

Darum sind wir also hier, durchfuhr es Carter. Irgendein Wahnsinniger hat zuerst das Internet und dann das nationale Verteidigungs-Netzwerk gehackt. Und offenbar nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt.

Für einen kurzen Moment versuchte er, das gewaltige Potenzial, das für einen derartigen Angriff notwendig wäre, einzuordnen. 

»Und ich frage Sie nochmals! Von wem?«, holte ihn Cunninghams Gebrüll wieder aus seinen Gedanken.

»Wir gehen der Sache inzwischen mit aller zu Gebote stehenden Gründlichkeit nach, Sir! Die Auswertung wird jedoch noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen.«

Cunningham war sichtbar fassungslos.

Carter konnte nur erahnen, was gerade in ihm vorging.

Die modernste Armee der Welt war in nur wenigen Stunden vollkommen überrumpelt worden und hatte einen Teil ihrer Streitkräfte gegen eine ihrer eigenen Einrichtungen eingesetzt.

Erinnerungen an den 11. September wurden plötzlich wach. Er hatte ihn damals nicht so bewusst miterlebt, dafür war er noch zu jung gewesen. Der tiefe Einschnitt, den der Anschlag im kollektiven Bewusstsein der Nation hinterlassen hatte, hatte bis heute jedoch nichts von seiner Wirkung eingebüßt.

Und hier, da war er sich sicher, würde es sich ähnlich verhalten, sofern diese Informationen je an die Öffentlichkeit gelangten. Bereits die erste Botschaft des Staates hatte genügt, um die Menschen dort draußen in Panik zu versetzen.

»Und wir waren nicht imstande, das zu verhindern?«, fragte Cunningham schließlich mit einem Seufzen.

»Nein, Sir«, erwiderte Hanson geknickt. »Wir haben die Kontrolle über die Drohnen gegen null zweihundert verloren. Ein von der Andrews  Base gestarteter Abfangversuch kam zu spät. Als die Maschinen über dem Zielgebiet in Arizona eintrafen, war bereits alles vorbei. Alles weitere steht im Bericht des Generalstabs, der in Kürze fertiggestellt sein wird.«

»Ich habe keine Lust, Berichte zu lesen«, rief Cunningham. »Ich will Antworten! Und zwar hier und jetzt! Auf der Stelle!«

Noch bevor der General etwas darauf erwidern konnte, ging Abene dazwischen und versuchte durch eine kontrahäre Fragestellung zu beschwichtigen. »General, wie viele Verluste? Also weltweit?«

»Das wissen wir noch nicht.« Hansons Stimme sank zu einem Murmeln herab. »Aber in Bezug auf die Einrichtung auf amerikanischem Boden rechnen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit einem Totalverlust.«

»Mein Gott!«, ertönte es ihm Chor.

Carter empfand die Beschwörung des Allmächtigen in derartigen Situationen als ein Klischee, das man eigentlich nur aus schlechten Filmen kannte. Doch aus Respekt vor der gegenwärtigen Situation verkniff er sich jedwede äußere Reaktion darauf.

Totenstille hielt Einzug in das Lagezentrum der Zentrale der NCD.

Die meisten Teilnehmer sahen beschämt auf den Lagetisch oder nippten nervös an dem scheußlich schmeckenden Kantinenkaffee, der in aller Eile in Plastikkannen herangeschafft worden war.

»Gut«, sagte Cunningham schließlich, rieb sich die Schläfen und warf einen fordernden Blick in die Runde. »Und was jetzt? Ich gehe davon aus, und darin stimmen wir wohl alle überein, dass derjenige oder diejenigen, die sich für diesen feigen Angriff verantwortlich zeigen, zweifellos die Fähigkeit haben, weitere folgen zu lassen. Zumindest war dies der Tenor ihrer Drohung. Der Typ in der Botschaft hat von einem Exempel gesprochen. Einem Exempel! Und dann?«

Die Anwesenden quittierten seine Aufforderung mit ratlosem Schweigen.

Es dauerte eine Weile, bis er nachsetzte. »Wollt ihr mich verarschen?«, polterte er schließlich los. »Die besten Köpfe und führenden Militärs dieser Nation sitzen mit mir hier an einem Tisch, und alles, was sie dazu zu sagen haben, ist … nichts?«

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Was ist mit den Herrschaften weiter hinten? Mir ist in meiner Laufbahn schon der eine oder andere rotzfreche Lümmel aus der zweiten Reihe begegnet, der mehr Grips hatte als alte Männer und Frauen, die sich ausschließlich Erfahrung ans Revers heften können.«

Sein Blick ging in Richtung der anwesenden Militärs und der Vertreter der CIA.

Der stellvertretende Direktor der Agency, Warren Edwards, der ein Stück rechts von Carter saß, schickte sich an, einen seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle in Richtung des Opportunisten am Kopf des Tisches loszulassen. Carter war bereits seit einigen Minuten aufgefallen, dass der rundköpfige Brillenträger etwas ungehalten auf seinem Stuhl hin und her gerutscht war. Es war kein Geheimnis, dass er und der nationale Sicherheitsberater keine Freunde waren.

Doch es kam nicht mehr dazu.

»Sir?«

Carter wandte sich nach links und sah eine schlanke, recht ansehnliche Frau in einem perfekt sitzenden dunklen Hosenanzug, die sich unbemerkt von allen anderen erhoben hatte.

»Agent Susanne Young, CIA, Abteilung für geostrategische Analyse«, sagte sie, während sie dem stellvertretenden Direktor einen flüchtigen Blick zuwarf, in dem sie unmissverständlich um Vergebung für ihr dreistes Verhalten bat.

Sehr zu Carters Überraschung nickte dieser nur kurz in Richtung der attraktiven Brünetten. Offenbar spürte der Alte keinerlei Verlangen mehr, sich von seinem Gegenüber demütigen zu lassen, und überließ der jüngeren Mitarbeiterin das Feld.

»Ah«, frohlockte Cunningham, »die zweite Reihe unserer allmächtigen Central Intelligence Agency meldet sich zu Wort. Und, Miss Young? Sie haben etwas zur allgemeinen Ratlosigkeit beizutragen?«

Young rang sich ein gequältes Lächeln ab. Spott auf die Agency, so wusste Carter aus eigener Erfahrung, war seit jeher ein Sakrileg.

»Nicht ganz, Sir«, sagte sie schließlich mit gebotenem Ernst. »Wir haben während der letzten Stunden bereits eine Vorabanalyse der übermittelten Botschaft durchgeführt und sind zu dem Schluss gekommen, dass zweifellos eine Koinzidenz zwischen den beiden Vorfällen besteht, dass sich vermutlich eine in den USA ansässige terroristisch motivierte, lose Hackervereinigung dahinter verbirgt. Ihre politische Motivation ist vermutlich dem eher linken Spektrum …«

»Blödsinn«, entfuhr es Carter plötzlich.

Er erschrak selbst darüber, dass er für den Bruchteil einer Sekunde die Kontrolle über sich verloren hatte, doch die Ausführungen dieser jungen, nur allzu beflissenen Opportunistin hatten sich aus seiner Sicht bereits nach nur wenigen Worten ad absurdum geführt.

»Und Sie sind wer?« Cunningham beugte sich vor und grinste ihn unverhohlen an.

»Ähm, das ist Special Agent Carter von der NCD …«, hob Abene an.

Cunningham winkte ab. »Ich denke, er kann für sich selbst sprechen.«

Carter räusperte sich und stand auf.

»Special Agent Carter, NCD, Sir! Ich bin stellvertretender Leiter der Exekutiv-Abteilung für Cyberkriminalität.«

»Ah, der Cythulhu-Jäger«, sagte Young mit spöttischem Unterton.

»Verstehe, Sie sind das.« Cunningham grinste erneut.

Carter achtete nicht auf Youngs Seitenhieb und behielt seine stoische Miene bei.

»Also gut, Agent Carter«, sagte Cunningham lächelnd. »Sie sind also der Meinung, die Ausführungen von Agent Young seien … Blödsinn.«

»Sir, ich wollte wirklich nicht respektlos erscheinen, aber …«

»Schon gut, schon gut! Sprechen Sie frei heraus!«

Carter straffte sich. »Ich gehe davon aus, dass sich Agent Young in ihrer Analyse auf Erfahrungen mit Hackervereinigungen stützt, die kurz nach der Jahrtausendwende in Erscheinung getreten sind, wie etwa Anonymous.«

»Und wer zum Teufel ist Anonymous?«, unterbrach ihn Cunningham.

»Anonymous war eine anarchistisch gesinnte Hacker-Community, die um 2008 politisch mit Protestaktionen für absolute Redefreiheit, die Unabhängigkeit des Internets und diversen anderen Forderungen in Erscheinung trat«, referierte Young. »Die Mitglieder organisierten sich anfangs nur im Internet, betrieben später auch Aktivitäten außerhalb davon, wie etwa Protestmärsche, Demonstrationen und vieles mehr. Die Aktivisten selbst traten dabei stets mit für sie zum Markenzeichen gewordenen Gesichtsmasken auf, die eine Hommage an den katholischen Attentäter Guy Fawkes darstellten, der seinerseits gegen ein unterdrückerisches Regime kämpfte.«

Streberin, dachte Carter.

Sie erinnerte ihn entfernt an die Filmfigur einer FBI-Agentin aus den Neunzigern, die ihm bei ihrer Jagd auf einen kannibalischen Serienkiller mit ihrer beflissen-emsigen Art gewaltig auf die Nerven gegangen war.

Nur dass Young besser aussah.

Sehr viel besser sogar.

Er nickte anerkennend zu ihr hinüber, als sie ihren Vortrag beendet hatte, sie quittierte diese Geste jedoch lediglich mit geringschätziger Miene.

»Okay, und Sie denken, es stecken solche Typen dahinter?«

»Vielleicht eine Nachfolgeorganisation davon, das wäre möglich«, bejahte Young. »Sowohl die Art der Botschaft wie auch deren äußeres Erscheinungsbild erinnern sehr daran. Dramatischer Auftritt, Maske und entsprechende Drohungen. Einiges deutet darauf hin. Da sich jedoch die Community in ihrer ursprünglichen Form gegen Ende 2030 zerstreut hat, können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nichts Genaueres sagen.«

Cunningham wandte sich wieder an Carter. »Und Sie sind ebenfalls dieser Meinung?«

»Keineswegs. Trotz aller Dramatik waren die Taten von Anonymous nie von Gewalt geprägt. Sie beschränkten sich auf mehr oder weniger friedliche Aktionen, die nie Menschenleben in Gefahr gebracht haben. Das, was sich letzte Nacht abgespielt hat, hat eine ganz andere Dimension.«

»Nie gewalttätig?«, protestierte Young. »Traf das auch auf Cythulhu zu?«

»Cythulhu hat sich zu Beginn seiner … Karriere ... zweifellos an Anonymous orientiert«, korrigierte Carter sie. »Man könnte ihn während dieser Zeit tatsächlich als eine Art Erben ihrer Traditionen betrachten. Er hat sich jedoch bereits in seinen frühen Jahren von dieser Philosophie abgewandt, weil ihm ihre Aktionen nicht radikal genug waren. Und was noch wichtiger erscheint: Seine späteren Taten, wie etwa die Hacks von Kernkraftwerken, der nationalen Flugsicherung und …«, er warf einen kurzen Seitenblick auf die anwesenden Militärs, »das wiederholte Eindringen in das nationale Verteidigungsnetzwerk waren die Taten von jemandem, den wir als einsamen Wolf klassifizieren. Es steht inzwischen zu hundert Prozent fest, dass Liam Frost ausschließlich allein gehandelt hat. Und das alleine unterscheidet seine Vorgehensweise maßgeblich von der ursprünglichen Organisationsstruktur von Anonymus.«

Cunningham seufzte und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Gut, ich sehe schon, das bringt uns keinen Schritt weiter. Und guter Gott, könnte mal jemand hier ordentlichen Kaffee besorgen? Von dieser Brühe bekommt man ja Magengeschwüre!«

Er stellte das Behältnis krachend auf den Tisch.

»Wenn ich noch etwas sagen darf?«, hob Carter vorsichtig an.

»Ich bitte darum.« Der oberste Sicherheitsberater war hörbar genervt.

»In einem Punkt stimme ich Agent Young zu. Sie sprach von Koinzidenzen. Die einzige Koinzidenz jedoch, die ich in diesen Fall sehe, ist die, dass das Erscheinen des Staates in direktem zeitlichen Zusammenhang mit der Aktivierung von Quaid steht.«

Diese Behauptung verfehlte ihre Wirkung nicht.

Ein Raunen ging durch die Anwesenden.

Edwards wandte sich Carter zu. »Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, oder?«

Cunningham brachte den Direktor der CIA mit einer abwehrenden Handbewegung sofort wieder zum Schweigen.

»Fahren Sie fort … Mister Carter!«

Er warf Lucas, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, einen kurzen Blick zu. Der Kleine saß in der für ihn typischen, etwas schüchtern wirkenden Haltung da und antwortete mit einem kurzen Nicken.

Danach wandte er sich an Abene, der ebenfalls seine Zustimmung gab.

»Wir haben inzwischen berechtigten Grund zu der Annahme«, hob er schließlich an, »dass Quaid, wenn vielleicht auch nicht direkt, für diese Angriffe verantwortlich sein könnte. Und ich darf betonen: könnte!«

»Das ist doch Unfug!«, polterte General Hanson dazwischen. »Wir haben dazu bereits in Absprache mit der CIA eine Einschätzung vorliegen. Quaid wurde zwar offenbar aktiviert, ist jedoch nie vollständig ans Netz gegangen. Denn unmittelbar nach der Botschaft des Staates wurden sämtliche Verbindungen nach außen aus Sicherheitsgründen augenblicklich wieder deaktiviert, die Einrichtung automatisch versiegelt und eine zweiundsiebzig Stunden andauernde Quarantäne eingeleitet. Wir haben bereits ein Seal-Team vor Ort und mehrere Geschwader der Air Force in der Luft, die das gesamte Areal sichern. Niemand kommt dort noch rein oder raus!«

»Dann war Quaid also fast zehn Minuten lang online?«, fragte Lucas.

Der Kleine zog seine Stirn in Falten und erhob sich kurz darauf.

»Nach unserem Kenntnisstand, ja, zumindest teilweise«, bestätigte Hanson. »Also kaum der Rede wert. Ich denke, wir können ausschließen …«

»Bei allem gebührenden Respekt, General«, unterbrach ihn Lucas mit erstaunlich kräftiger Stimme. »Sie haben offenbar keine Ahnung, womit Sie es im Fall von Quaid zu tun haben!«

»Und wer sind Sie jetzt noch mal?«, rief Cunningham dazwischen.

»Sir, das ist Lucas Alexander«, erklärte Abene. »Unser bester Analyst von der NCD in New York.«

Cunningham nickte und wandte sich wieder der schmächtigen Gestalt zu, die noch immer etwas unsicher in die Runde blickte. »Was meinten Sie damit, wir hätten keine Ahnung, womit wir es zu tun haben?«

»Ähm … nun ja.«

»Holen Sie mal tief Luft, junger Mann, und sprechen Sie frei heraus. Niemand hier beißt.«

Lucas lächelte gequält. »Lassen Sie es mich so veranschaulichen: Quaid wurde auf Basis der Rechenleistung von tausend Qubits konzipiert. Ich will Ihnen die technischen Details ersparen, auch was es mit Qubits auf sich hat … das würde zu weit führen. Davon abgesehen, hat sich das Konsortium mit der Freigabe von Informationen recht bedeckt gehalten, was unsere Aufgabe nun enorm erschwert, da unser Informationsstand sich lediglich auf rudimentäre Kenntnisse seiner Funktionsweise beschränkt. Aber eines kann ich Ihnen versichern: Wenn eine Maschine mit einer derartigen Leistung auch nur zehn Minuten läuft, ist das in etwa so, also würden alle Computer auf dieser Welt zusammen mehrere Jahrzehnte, wenn nicht gar länger, laufen.«

»Verstehe«, sagte Cunningham, »aber worauf wollen Sie damit hinaus?«

»Ich bin seit über zehn Jahren bei der Division als Analyst tätig und habe während dieser Zeit jeden Eingriff in beinahe jedes gängige Netzwerk eingehend analysiert, natürlich auch die … besonders die von Cythulhu. Selbst ein derart routinierter Hacker wie er, der nebenbei, das muss man ihm einfach zugestehen, über einen wahrhaft brillanten Verstand verfügte, hat immer Spuren hinterlassen. Und das auch schon bei relativ überschaubaren Aktionen. Dadurch sind wir im letztendlich auch auf die Schliche gekommen. Was jedoch, diesen …  ich kann es nicht anders bezeichnen … Großangriff der letzten Nacht, der in einem derartigen Ausmaß noch nie stattgefunden hat, anbelangt …«

Lucas machte eine Pause, offenbar um sich zu sammeln.

»Ja? Nur weiter!«, forderte ihn Cunningham auf.

»Nichts!«, sagte er zähneknirschend. »Wir haben absolut nichts gefunden! Ich will mich jetzt nicht damit aus der Affäre ziehen, dass die Zeit bisher einfach zu kurz war, um eine entsprechend umfangreiche Analyse durchzuführen, aber es ist bereits aus jetziger Sicht eher unwahrscheinlich, dass wir überhaupt etwas finden werden.«

»Was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte Hanson herablassend. Es war mehr als offensichtlich, dass ihm schon Lucas’ bloße Erscheinung zuwider war. »Dass Sie nicht imstande sind, Ihren Job anständig zu machen?«

»Das habe ich natürlich nicht gesagt!«, wies Lucas ihn zurecht, worüber er selbst kurz erschrak. Sein leicht irritiert wirkendes Äußeres verriet es.

»Was er damit sagen will, ist«, ging Carter energisch dazwischen, »dass, selbst wenn man die Kapazitäten aller Computer dieses Planeten vereint, dies nicht ausreichen würde, um einen Angriff dieser Art vollkommen unbemerkt und ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen durchführen könnte! Das war nicht das Werk eines Einzelnen oder mehrerer Menschen, General! Das ist schlichtweg unmöglich! Und somit wird der Kreis der potenziellen Urheber, oder zumindest deren technische Möglichkeiten, doch etwas eng!«

Das hatte gesessen.

Carter entging nicht, dass sowohl Cunningham wie auch Abene ein kurzes Lächeln übers Gesicht huschte.

»General, wenn Sie sich bitte vergegenwärtigen würden, dass allein über dreißig Milliarden Websites, manche davon mit ausgeklügelten Sicherheitssystemen, und auch der Datenschrott, der seit der Jahrtausendwende im Netz lagert, gehackt wurden, um darauf diese Botschaft zu streamen, ohne dass die Quelle des Streams bisher ausfindig gemacht werden konnte, ist das für sich gesehen schon beeindruckend. Von der Infiltration des am besten gesicherten militärischen Netzwerks aller Zeiten und der .… Entwendung einiger ihrer … Angriffsgeschwader, oder wie immer das auch genannt wird, ganz zu schweigen. Die Mannigfaltigkeit all dieser verschiedenen Kodierungen .. kein einzelner Mensch verfügt über ein derart breit gestreutes Wissen. Und was noch wichtiger ist: Seit wir Cythulhu aus dem Verkehr gezogen haben, ist es niemandem mehr auch nur annähernd gelungen, in die Nähe relevanter Kernsysteme der kritischen Infrastruktur vorzustoßen«, ergänzte Lucas. »All das zusammen genommen, selbst unter der Hypothese, dass Hunderte oder Tausende der besten Hacker der Welt daran beteiligt gewesen wären … ich denke, selbst ein Laie wird erkennen, dass das schlichtweg unmöglich ist.«

»Klingt einleuchtend«, stellte Cunningham fest. »Wenn man alle rationalen Erklärungen ausschließt, bleibt offenbar tatsächlich nur die eine irrationale übrig.«

Er klang, als würde er mehr zu sich selbst sprechen.

»Sie wollen uns also damit ernsthaft weismachen, Quaid wäre dafür verantwortlich gewesen? Wie soll das vonstatten gegangen sein? Denken Sie etwa, er hätte eine Art … Eigenleben entwickelt?«, höhnte Hanson. »Etwas Besseres haben Sie nicht zu bieten, meine Herrschaften? Vielleicht noch Aliens oder noch mehr krude Verschwörungstheorien?«

»Nein«, entgegnete Lucas. »Das wollte ich damit nicht sagen, und das halte ich auch für unwahrscheinlich. Warum hätte eine Maschine von sich aus so handeln sollen? Ich will Sie nicht mit dem gegenwärtigen Stand der KI-Forschung langweilen, das würde den Rahmen dieses Treffens sprengen. Ich kann nur Hypothesen auf Basis vorliegender Fakten aufstellen. Und meine Hypothese geht in die Richtung, dass Quaid und seine enormen Kapazitäten … eventuell missbraucht wurden, wenn Sie so wollen.«

»Sie meinen, er wurde … gehackt?«

»Ich weiß, dass klingt unglaublich. Auch ich kann mich nur schwer mit diesem Gedanken anfreunden. Sowohl Quaid selbst wie auch sein Kerncode oder seine grundlegende Funktionsweise sind bis dato ein extrem gut gehütetes Geheimnis. Ich denke, ähnliche Sicherheitsvorkehrungen gab es nur ein einziges Mal zuvor, damals bei der Entwicklung der Atombombe. Und ja, falls diese Frage noch auftaucht, jemand müsste, um sich die Fähigkeiten dieser Maschine zunutze machen zu können, ihren Kerncode kennen.«

»Sie behaupten also, dass es in der am besten geschützten Forschungsanlage der Welt ein Leck gibt?« Young hatte lange geschwiegen, meldete nun aber ihrerseits Zweifel an Lucas’ Hypothese an. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Das wäre nur möglich, wenn es innerhalb der Anlage einen Maulwurf geben würde. Und da wir die entsprechenden Sicherheitsprotokolle, die vom Konsortium angewandt werden, sowie Überprüfungsstandards für alle potenziellen Mitarbeiter entwickelt haben, lässt sich das aus meiner Sicht ausschließen.«

Darum fühlen sie sich also so auf den Schlips getreten, dachte Carter.

Noch bevor Young weitersprechen konnte, sprang die Tür hinter ihnen auf, und ein Offizier in Air-Force-Uniform eilte durch den Raum in Hansons Richtung.

»Ich denke, unser nächster Gesprächsteilnehmer wird mit Sicherheit ein wenig Klarheit in diese Angelegenheit bringen«, sagte er mit zufriedener Miene, nachdem ihm sein Adjutant einige Worte ins Ohr geflüstert hatte.

Der Lageschirm wurde aktiviert, und das Gesicht von Dr. Schwarz erschien darauf.

»Doktor, schön Sie zusehen«, sagte Hanson mit einem Lächeln. »Ich hoffe, alle in Q-One sind wohlauf.«

Er verschwendete keine Sekunde darauf, Schwarz vorzustellen. Mit Sicherheit ging er davon aus, dass der genialste Wissenschaftler des letzten Jahrzehnts dessen nicht bedurfte.

»Uns geht es so weit gut, General, danke der Nachfrage«, antwortete Schwarz sachlich. »Ich muss mich für diesen etwas verspäteten Lagebericht entschuldigen, aber die Unterbrechung aller Kommunikationswege ist, neben der Versiegelung aller Ein- und Ausgänge, Teil des automatischen Notfallprotokolls, das die Anlage im Fall einer terroristischen Intervention abriegelt. Wir haben Teile dieses Protokolls inzwischen manuell außer Kraft gesetzt, da diese Situation etwas … nun, nennen wir es speziell ist. Inzwischen wurden sowohl der Vorstand des Konsortiums wie auch der Präsident darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Quarantäne planmäßig und ohne Zwischenfälle verläuft und nach Ablauf der vorgesehenen Frist wieder aufgehoben wird.«

Carter entging nicht, dass Cunningham nicht besonders erfreut über diese Aussage war, besonders über den letzten Teil.

Sie übergehen alle Instanzen und haben die Möglichkeit, sich direkt an den Präsidenten zu wenden, dachte er erstaunt. Auch das etwas zu vertraut wirkende Verhältnis zu den anwesenden Militärs fand er irritierend.

Und er war nicht der Einzige.

Selbst Edwards schien den General mit prüfenden Blicken zu mustern.

Amerika und seine Generäle, dachte er etwas amüsiert. Hanson sah sich zweifellos der Tradition eines Curtis Lemay oder Douglas Macarthur verpflichtet, mit denen die jeweiligen politischen Machthaber stets ihre liebe Not gehabt hatten. Der Omnipotenzwahn gewisser Individuen aus den Kreisen der Streitkräfte hatte in der Vergangenheit immer wieder für die eine oder andere Unstimmigkeit gesorgt.

Hanson winkte ab. »Niemand hat mehr Verständnis dafür als ich selbst. Aber bitte, lassen Sie uns gleich zum Punkt kommen.«

»Sie haben meine volle Aufmerksamkeit, General«, sagte Schwarz mit einem Lächeln.

»Schön! Es gibt hier einige unter uns, die darüber spekulieren, dass die Ereignisse der letzten Nacht unter Zuhilfenahme Ihrer neuen Wundermaschine vonstatten gegangen sind.«

Schwarz grinste. Es war ein überhebliches, geringschätziges Grinsen, das zweifellos der gesamten Runde galt. Seine nächsten Worte verrieten es. »Das ist aus Sicht eines Laien durchaus nachvollziehbar.«

»Hat der Kerl eben Laien gesagt?«, wandte sich Lucas erbost an Carter.

»Ruhig bleiben, Kleiner.«

»Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir das vollkommen ausschließen können«, schob Schwarz nach.

»Können Sie uns das näher erläutern?«, schaltete sich Cunningham nun wieder ein.

»Natürlich, Mister Cunningham. Der Grund dafür ist ganz einfach: weil Quaid in der derzeitigen Phase nicht dazu in der Lage ist. Ein Eingriff wie letzte Nacht würde voraussetzen, dass er mit dem bestehenden globalen Netzwerk, und damit auch mit dem Verteidigungsnetzwerk, verbunden gewesen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall, da wir noch Schwierigkeiten bei der Synchronisation mit den bereits vorhandenen Strukturen haben. Quaids enorme Leistungsfähigkeit würde jedes Netzwerk einfach ausgedrückt überfordern und, das haben Simulationen gezeigt, im schlimmsten Fall sogar kollabieren lassen. Wir arbeiten bereits an der Lösung dieses Problems und sind zuversichtlich, dass wir es noch im Laufe dieses Jahres werden lösen können.«

Hanson wandte sich an Cunningham. »Ich denke, das sollte die Spekulationen der NCD wohl entkräften, nicht wahr?«

»Nicht so schnell!«, rief Lucas. »Was ist mit dem militärischen Netzwerk? Ich nehme an, darauf hat Quaid bereits Zugriff. Wie sollte sonst die Steuerung der Vermessungsdrohnen erfolgen?« 

»Das habe ich bereits verneint«, erwiderte Schwarz. »Lediglich die Sensorik der Drohnen wurde auf Basis von Quaid-Technologie konzipiert. Die Übertragung der dabei gewonnen Daten erfolgt auf separatem Weg über unser Quanten-Satellitensystem. Und was die Steuerung anbelangt, so wurde von Seiten unserer Einrichtung lediglich das GPS-Raster etabliert. Quaid hat also keinen Einfluss darauf und kann folglich keinerlei wie auch immer geartete Kurskorrekturen anordnen. Von einem koordinierten Angriff ganz zu schweigen. All das ist Sache der Air Force. Ähnlich verhält es sich mit den submarinen Drohnen, nur dass hier die Kontrolle von Seiten der Navy erfolgt. All das ist Teil des Sicherheitsprotokolls im Laufe dessen, was wir als Stufe eins bezeichnen. Durch die Inkompatibilität mit den noch vorhandenen, rudimentären Technologien, war eine derartige Vorgehensweise logisch. Bei unseren Verbündeten kommen nebenbei bemerkt ähnliche Protokolle zur Anwendung. Quaids Aufgabe in diesem gesamten Prozess beschränkt sich auf die exakte Verarbeitung und Interpretation der gelieferten Daten. Derartige Szenarien, die Sie offenbar im Zuge Ihrer Beratung erwogen haben, wären nur in einer hypothetischen Zukunft möglich, in der die letzte Phase seiner Vernetzung bereits abgeschlossen ist. Und selbst dann wäre es höchst unwahrscheinlich. Abgesehen davon, sind wir noch ein gutes Jahrzehnt von einem solchen … nennen wir es Paradigmenwechsel entfernt.«

»Danke, Doktor, für diese gut verständliche Darlegung der Faktenlage«, sagte Hanson hörbar zufrieden.

»Keine Ursache. Wir werden Ihnen dazu in den nächsten Tagen noch einen detaillierten Bericht liefern, der, so bin ich überzeugt, alle Zweifel vollständig ausräumen sollte. Wenn Sie also keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich …«

»Eine letzte noch«, rief Lucas dazwischen.

Schwarz hielt überrascht inne. »Bitte!«

»Was hat Sie dazu veranlasst, Quaids Vernetzung so frühzeitig zu unterbinden, dass er letztendlich, wie ich vermute, keine Verbindung mit den anderen Q-Einheiten einging? Das zivile Internet und das militärische Netzwerk waren ja nie Teil der ersten Projektstufe, wie Sie bereits sagten.« Lucas fixierte das Abbild von Schwarz. »Ich frage nur deshalb, weil dies laut des an die NCD übermittelten Zeitplans exakt eine Minute nach Mitternacht stattfinden sollte, auch wenn der Start der Präsentation und somit des gesamten Projekts erst neun Minuten später erfolgen sollte. Aber diese lief ja, davon gehe ich aus, unabhängig von den Kernsystemen. Laut Aussage von General Hanson wurde Quaid erst unmittelbar nach der Übertragung der Botschaft wieder deaktiviert und somit die Vernetzung mit seinen Zwillingscomputern unterbrochen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Schwarz ungeduldig.

»Erstens: Warum wurde die Verbindung überhaupt wieder unterbrochen? Ich denke, der Aufwand, der notwendig sein wird, um das Netzwerk neu zu etablieren, ist nicht gerade gering, zumal es ja, weil keine unmittelbare Gefahr bestand, im Grunde nicht notwendig war. Doch vor allem: Was ist im Zeitraum dazwischen geschehen? Also in diesen neun Minuten?«

»Dieser Zeitraum war für die Etablierung der Kalibrierungsroutinen vorgesehen. Sie können sich sicher vorstellen, dass die Verbindung derart komplexer Systeme etwas aufwändiger ist als die Vernetzung Ihrer … NCD-Einheiten. Die Details sind jedoch geheim. Niemand in diesem Raum, ausgenommen General Hanson, verfügt über die nötige Sicherheitsfreigabe für derartige Informationen. Die kann ausschließlich vom Präsidenten persönlich erteilt werden. Und um auf Ihre erste Frage einzugehen: Das geschah lediglich aus Sicherheitsgründen! Die richtige Entscheidung, wie sich durch den späteren Angriff herausgestellt hat.«

»Noch weitere Fragen?« Hanson sah in die Runde. »Keine? Danke, Doktor Schwarz, für Ihre Zeit. Wir erwarten dann Ihren Bericht.«

Der Schöpfer von Quaid deaktivierte ohne ein weiteres Wort die Verbindung. Ein dunkler, leerer Schirm war alles, was zurückblieb.

Carter warf einen kurzen Blick zu Lucas, der, sehr zu seiner Überraschung, verstohlen lächelte und wieder auf seinem Stuhl Platz nahm.

»Also gut«, sagte Cunningham. »Wenn es keine weiteren Fragen gibt? Dann würde ich sagen, ich beende hiermit diese Sitzung, und alle gehen wieder an die Arbeit!«


Carter und Lucas schlenderten durch die große Eingangshalle der NCD-Zentrale in Richtung Ausgang.

Die hohen, mit weißem Marmor getäfelten Wände glänzten im Licht der einfallenden Vormittagssonne. Mit ihrem neoklassizistischen Erscheinungsbild reihte sich die NCD-Zentrale nahtlos in den vorherrschenden Architekturstil ein, der D.C. sein typisches Erscheinungsbild verlieh. Vom Lincoln oder Jefferson Memorial über das Capitol, das Weiße Haus, das Washington Monument, bis hin zu den unzähligen Verwaltungsgebäuden war dieses Gebäude lediglich eine konsequente Fortsetzung des Versuchs, dem Machtanspruch der Hauptstadt eine sichtbare Form zu verleihen.

Irgendwie erinnerte ihn D.C. ein wenig an das alte Rom, wenngleich es etwas kühler wirkte.

»Das war’s dann wohl mit Montana«, seufzte er, als sie vor der Sicherheitskontrolle unmittelbar vor dem Hauptportal stehen blieben.

»Sei doch froh«, sagte Lucas, während er vor einem bulligen Sicherheitsbeamten die Taschen zu leeren begann. »Was gibt’s dort schon Großartiges, außer Kuh- und Pferdescheiße.«

Carter schüttelte den Kopf. »Weißt du, ein bisschen frische Luft und körperliche Arbeit würden dir wirklich gut tun. Ich würde gerne mal sehen, wie sich eine Kalkleiste wie du beim Stallausmisten anstellt.«

Er zwinkerte dem Jüngeren kurz zu.

»Und vor allem wird man dort nicht dazu genötigt, für eine so abrupt abgebrochene Besprechung so weit zu fliegen. Ich frage mich tatsächlich …«

»Agent Carter, Agent Alexander!«

Die Stimme gehörte zu einem großgewachsenen Farbigen mit kahlgeschorenem Kopf, der in gebieterischer Haltung hinter ihnen Aufstellung genommen hatte.

»Alter, da will einer der Harlem Globetrotters was von uns«, scherzte Lucas.

Der Hüne, zweifellos ein Mitglied des Secret Service, verzog keine Miene.

»Sie werden erwartet.« Er wies mit der Hand ins Innere des Gebäudes.

»Erwartet? Von wem?«, wollte Carter wissen.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden!«

Sie sahen sich fragend an.

Carter war im Umgang mit diversen Sicherheitsinstitutionen versiert genug, dass ihm schnell klar wurde, dass es nur wenig Sinn machte, weitere Fragen zu stellen. Man hatte diesem menschlichen Bollwerk lediglich diese Instruktion erteilt, und er würde keinen Widerspruch ihrerseits gelten lassen, sondern einfach roboterhaft seinen Auftrag ausführen.

»Nun denn«, sagte er lächelnd. »Dann folgen wir eben.«

Sie durchquerten die große Eingangshalle mit schnellen Schritten und gelangten schließlich an den eher bescheiden wirkenden Hinterausgang, wo ein großer Lincoln am Bordstein geparkt war.

»Wow, eine Limo nur für uns«, stellte Lucas freudig fest.

»Bitte einsteigen«, befahl ihr Begleiter.



Büro des nationalen Sicherheitsberaters, Washington D.C.


Cunninghams Büro verkörperte so ziemlich jedes Klischee eines hohen Regierungsmitarbeiters aus D.C. 
Der klassische, gediegen wirkende Schreibtisch aus dunklem Holz samt Chesterfield-Stuhl, das penibel drapierte Star Sprangled Banner dahinter und die Besprechungscouch in dem seltsamen, pastellfarbenen Grünton inmitten stuckverzierter Wände sowie Echtholzboden aus Eiche hätten ohne weiteres aus einem Musterkatalog des achtzehnten Jahrhunderts stammen können.

Ganz im Gegensatz zu früheren Geflogenheiten, hatte der National Security Advisor der USA sein Büro nicht im weißen Haus, sondern unweit davon an einem nicht großartig propagiertem Ort mitten im Regierungsviertel.

Zu seiner Überraschung erblickte Carter kurz nach Betreten dieser ehrwürdigen Räumlichkeiten das bezaubernde Antlitz von Agent Young, die bereits auf einem der ausladenden Couchsessel Platz genommen hatte und in Richtung des gegenüberliegenden Fensters starrte.

Erst jetzt, als er sich in ihrer unmittelbaren Umgebung befand, nahm er sich die Zeit, sie eingehender zu betrachten.

Die beinahe unnatürlich blau wirkenden Augen, die unter perfekt gezupften Brauen die Umgebung musterten, waren ihm schon im Situation Room aufgefallen, ebenso wie ihr schlankes Äußeres, das sie in die Riege jener Frauen hob, die man trotz ihrer eher kühl wirkenden Erscheinung nicht von der Bettkante stoßen würde. Ihr Gesicht war für seinen Geschmack etwas zu kantig für eine Frau ihres Alters, doch dies war zweifellos der Lebensweise einer CIA-Agentin geschuldet, die nicht selten zwölf Stunden oder mehr pro Tag arbeitete.

Für einen Moment fragte er sich, ob ihre wohlgeformte Nase das Resultat einer Schönheitsoperation war.

Er verwarf diesen Gedanken sofort wieder, als die Tür hinter ihnen aufsprang und Cunningham in den Raum stürmte.

»Herrschaften!«, sagte er, während mit er sich mit einer behänden Bewegung auf der Couch niederließ. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Bitte nehmen Sie Platz! Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Wasser?«

Sowohl Lucas wie auch er selbst verneinten und folgten Cunninghams Beispiel.

»Danke, Lucy, wir brauchen nichts«, sagte der zu seiner Sekretärin, die daraufhin wortlos den Raum verließ.

»Sie werden sich sicher fragen, warum ich Sie hergebeten habe«, begann Cunningham, als sich die Tür geschlossen hatte.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Carter, nachdem er das solariumgebräunte Gesicht des jungen, aufstrebenden Politikers, aus dem ihn freundlich wirkende, braune Augen ansahen, eine Zeit lang betrachtet hatte.

Cunningham verkörperte all das, was der Präsident der Öffentlichkeit mit der Berufung seines neuen Beraterstabs suggerieren wollte. Er war relativ jung, dynamisch, sah blendend aus und hatte jene forsche Art an sich, die alteingesessenen, erzkonservativen oder reaktionären Senatoren, Militärs und sonstigen Verwaltungsbeamten unmissverständlich zu verstehen gab, dass eine neues Zeitalter des politischen Umgangs angebrochen war. Was ihm an Erfahrung fehlte, machte der schlanke Opportunist mit seiner Unerschrockenheit wett, die er schon zuvor im Situation Room an den Tag gelegt hatte.

Carter kam nicht umhin festzustellen, dass er ihn irgendwie mochte, obwohl er natürlich noch immer ein Politiker war, und denen konnte man selten trauen.

»Verständlich.« Cunningham lächelte.

Er lehnte sich zurück, knöpfte sein Jackett auf und ließ seine einstudierte, aufrechte Haltung fallen.

»Nun, wie Ihnen zweifellos nicht entgangen sein dürfte, habe ich diese Besprechung frühzeitig abgebrochen. Aus gutem Grund. Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich ging, aber ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass gewisse … Kreise nicht ganz aufrichtig zu uns waren.«

»Pff, aufrichtig!«, schnaubte Lucas.

»Lucas!«, sagte Carter tadelnd.

»Schon gut, schon gut«, winkte Cunningham ab. »Ich habe schon vorhin festgestellt, dass wir es hier mit einem recht hellen Köpfchen zu tun haben. Lassen Sie ihn einfach seine Sicht der Dinge darlegen. Sein Blickwinkel scheint mir recht interessant.«

Lucas sondierte für einen Moment das Innere des Büros. Sein Blick streifte prüfend über die Möbel und blieb schließlich am Konterfei des alten Abe haften, der von der Wand hinter Cunninghams Schreibtisch seinen erhabenen Blick in die Runde warf.

»Mein Büro wird nicht überwacht, keine Angst, junger Mann!«

Junger Mann, dachte Carter schmunzelnd.

Der Altersunterschied zwischen den beiden konnte kaum mehr als zehn Jahre betragen. Cunninghams Drang, seinen Untergebenen gegenüber so seine Autorität auszuspielen, schien ebenso Teil seines antrainierten Gehabes zu sein wie sein Dauergrinsen, das er unentwegt auf seinem Gesicht trug.

»Schön«, sagte Lucas und entspannte sich. »Aufrichtig ist wohl kaum das richtige Wort, wenn Sie mich fragen. Die lügen doch wie gedruckt.«

Cunningham beugte sich etwas vor. »Wer genau lügt?«

»Vor allem Hanson und dieser Doktor Schwarz! Die anderen haben ja kaum einen Ton von sich gegeben!«

»Und zu dieser Feststellung kamen Sie, weil?«

Lucas atmete tief ein.

Carter wusste, was nun folgen würde.

Lucas war Schwarz’ abfälliges Gehabe zweifellos nahegegangen, und nun sah er die Gelegenheit gekommen, den Makel, den diese Behandlung aus seiner Sicht auf der weißen Weste seiner Kompetenz hinterlassen hatte, wieder zu tilgen.

»Schwarz hält uns offensichtlich für dumm! Er wollte uns doch tatsächlich weismachen, dass die Vernetzung von Quaid, also die Kalibrierungsroutinen, wie er es genannt hat, mit seinen Zwillingscomputern neun Minuten in Anspruch genommen haben? Das kann doch nur ein Witz sein! Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen über Quaids hypothetische Kapazitäten gesagt habe? Ein derartiger Vorgang kann bei seiner Architektur höchstens einige Mikrosekunden in Anspruch genommen haben, vor allem wenn man berücksichtigt, dass dieser Vorgang zweifellos in endlosen Simulationen bis zum Exzess getestet wurde. Ich kann natürlich nur spekulieren, aber irgendwas ist dort in Arizona gewaltig schiefgelaufen, und das versucht man nun zu vertuschen.«

»Und Sie teilen diese Einschätzung?«, wandte sich Cunningham an Carter und Young.

»Absolut!«, konstatierte Carter knapp.

»Ich bin da etwas skeptisch«, brach Young ihr Schweigen. »Natürlich muss ich zugeben, dass mir so manche Erklärung etwas seltsam erscheint, aber ich würde nicht so weit gehen, dass hier bewusst gelogen wurde. Ich denke eher, dass es eine gewaltige Panne gegeben hat, die man nun unter den Tisch zu kehren versucht. Was Mister Alexander hier zum Besten gibt, klingt mir zu sehr nach Verschwörungstheorie.« 

Noch bevor Lucas, der mit Youngs Behauptung gar nicht einverstanden war, etwas darauf erwidern konnte, klatschte Cunningham begeistert in die Hände. »Perfekt, genau das wollte ich hören.«

»Sir, ich verstehe nicht ganz«, sagte Young erstaunt.

Cunningham lehnte sich wieder zurück und ließ seinen Blick über die Runde schweifen. »Also, wir sind uns ja offenbar alle darüber einig, dass wir hier die Möglichkeit einer Vertuschung in Betracht ziehen müssen. Über die Gründe sind wir uns zwar noch uneinig, aber sei’s drum. Ich persönlich habe kein besonderes Vertrauensverhältnis zum Militär und allen, die ihm nahestehen. In diesem Punkt gebe ich also Mister Alexander recht. Den obersten Befehlshabern, also im unserem Fall dem Stab der Joint Operation Forces, mit General Hanson an der Spitze, ist es erfahrungsgemäß scheißegal, wie viele Leben geopfert werden müssen, damit sie ihre Ziele durchsetzen können, auch wenn sie das, wie wir heute wieder erleben mussten, recht geschickt hinter ihrem heuchlerischen Bedauern tarnen, so wie sie es, für den Fall, dass mal etwas schiefgeht, immer tun. Man muss kein Historiker sein, um sich dessen bewusst zu sein. Diese Vorgehensweise zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte. Ich neige jedoch dazu, nicht tatenlos zuzusehen, wie sowohl unsere Moral als auch unsere Gesetze wieder einmal mit Füßen getreten werden. Ich will Klarheit, und zwar schnell. Von diesem Haufen Betonköpfen werden wir keine Klarheit erhalten, so viel steht mittlerweile wohl fest. Also werde ich hier und jetzt eine Taskforce ins Leben rufen, die von jetzt an zwei Aufgaben hat!«

Carter sah zu Lucas hinüber und erkannte ein grimmiges Lächeln im Gesicht des Nerds.

»Erstens: Ich will genau wissen, was dort unten in Arizona passiert ist!«, fuhr Cunningham fort. »Und zweitens – und das ist eigentlich noch wichtiger : Ich will, dass dieser Staat, wer auch immer dahintersteckt, ausgeschaltet wird! Koste es, was es wolle!«

»Sir?«, sagte Young. »Ich verstehe nicht, welche Aufgabe Sie dabei mir, respektive der Agency, zugedacht haben. Wie ich bereits kurz erörtert habe, stehe ich den Thesen von Mister Carter und Mister Alexander eher skeptisch gegenüber.«

»Und genau das ist Ihre Aufgabe«, erwiderte Cunningham. »Die des professionellen Skeptikers. Und natürlich benötigen wir in diesem Spiel auch die Ressourcen der Agency, denn ich glaube nicht, dass der Staat ein rein amerikanisches Problem ist. Die Angriffe auf die restlichen Quaid-Einrichtungen haben das zweifellos bewiesen.«

»Und wie soll ich das Ihrer Meinung nach dem stellvertretenden Direktor verkaufen?« Young schüttelte den Kopf.

»Das müssen Sie nicht, darum werde ich mich kümmern», konstatierte Cunningham. Direktor Muller und ich haben ein recht gutes Verhältnis, und Edwards wird nichts anderes übrig bleiben, als sich dessen Anordnungen zu fügen. Er weiß nur zu gut, wie die Dinge in Washington und somit auch in Langley laufen. An der Tatsache, dass die Exekutive der Politik folgt, wird auch er nicht zu rütteln versuchen.«

Young nahm diese Aussage mit einem Nicken zur Kenntnis.

»Und was Direktor Abene anbelangt …«

»Das sollte kein Problem sein«, unterbrach ihn Carter. »Ich denke, er sieht das ähnlich wie wir.«

»Hervorragend! Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen sowohl in budgetärer wie auch logistischer Hinsicht keinerlei Steine in den Weg gelegt werden. Sie berichten direkt an ihre Vorgesetzten und diese weiter an mich. Ich halte dann meinerseits den Präsidenten auf dem Laufenden.«

»Und der Senat?«, wollte Young wissen.

»Um den müssen Sie sich ebenfalls keine Sorgen machen«, sagte Cunningham lächelnd. »Vor allem ist diese Angelegenheit äußerst dringlich. Denn ich fürchte, das, was wir letzte Nacht erlebt haben, war nur der Anfang!«

Kapitel III

DER ZWEITE SCHLAG

NCD, New York City 

Im Hauptquartier der NCD herrschte blankes Chaos.

Nicht weil die Gründung der neuen Taskforce eine schier unüberschaubare Menge an Maßnahmen erforderte, die sich inzwischen wie ein Rattenschwanz hinter den Mitarbeitern des Departments herzogen. All das wäre in absehbarer Zeit lösbar gewesen.

Doch der Staat war erneut auf der Bildfläche erschienen.

Und dies zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, als die NCD im Zuge ihrer Umstrukturierungsmaßnahmen wie gelähmt schien.

Drei Tage nach der ersten Ankündigung hatte die neue, unsichtbare Macht wieder das gesamte Internet wie auch sämtliche anderen verbreitungsfähigen Medien gekapert, um ihre unheilverkündende Botschaft in die Welt hinauszusenden.

Ganz im Gegensatz zur ersten Botschaft, hatte man dieses Mal die Primetime für die nächste Ankündigung auserkoren, jene Zeit, in der die Bürger der Vereinigten Staaten zum größten Teil vor den Schirmen hingen.

Eröffnet wurde die Intervention, wie schon beim ersten Mal, durch das schrille Kreischen, das in der Lage war, Ohnmachtsanfälle auszulösen, gefolgt von den Aufnahmen des vorangegangenen Angriffs auf die Sicherungseinheiten der Quaid-Forschungseinrichtung.

Carter konnte nur erahnen, was in den Köpfen der Militärs drüben in D.C. vorging, denn er hatte genau diese Aufnahmen schon einmal gesehen, im Situation Room der NCD in Washington.

Offenbar war der Staat mühelos in der Lage gewesen, in die Überwachungseinrichtungen an Bord der Awacs-Maschine einzudringen, sodass diese als streng geheim klassifizierten Bilder nun ungefiltert und unzensiert jedem Menschen auf der Welt zugänglich gemacht worden waren.

Und nicht nur das.

Auch die Aufnahmen der Angriffe auf die anderen Quaid-Einrichtungen, die auf allen Kontinenten verteilt waren, fanden so ihren Weg hinaus zu den Milliarden, die diesen Planeten bevölkerten.

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln konnte jeder nun nachverfolgen, wie Gebäude barsten, Soldaten zerfetzt wurden und militärisches Gerät wie von Geisterhand bewegt durch die Gegend geschleudert wurde.

Feuer, Blut und Zerstörung waren allgegenwärtig.

Die Botschaft, die diesem Schreckensszenario folgte, war unmissverständlich.

»Wir sind die neue Ordnung! Wir sind der Staat!«, erklang die Stimme des Schemens mit der Spiegelmaske von allen Schirmen. »Am 1. Januar diesen Jahres, um exakt null, drei, null, null, wurde im Zuge des von uns statuierten Exempels ein koordinierter Angriff auf die Verteidigungseinrichtungen des sogenannten Konsortiums durchgeführt. Die von den jeweiligen Regierungen eingeleiteten Gegenmaßnahmen haben sich als völlig wirkungslos erwiesen, sodass sämtliche Einrichtungen vollkommen zerstört werden konnten. Die Bilder, die Sie soeben gesehen haben, sind authentisch und wurden keiner Manipulation unterzogen. Sollten die betroffenen militärischen und zivilen Führer deren Echtheit leugnen, wird dies unmittelbare Konsequenzen nach sich ziehen!«

Der Schemen machte eine Pause, wohl um diesen schrecklichen Worten Nachdruck zu verleihen.

Carter nutzte die Stille und wandte sich in Lucas’ Richtung, der mit starrem Blick vor seinem Schirm saß, während seine Hände mit unfassbarer Geschwindigkeit über die Tasten fegten.

Er war kreidebleich und schwitzte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132472
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Cyber Thriller Computer Militär Künstliche Intelligenz Hacker KI Krimi Ermittler

Autor

  • W. H. Sarau (Autor:in)

Walter Herbert Sarau wurde 1972 in Wien geboren. Neben seiner Tätigkeit als Autor arbeitet er hauptberuflich als konzeptioneller Designer und Matte Painting Artist. Bereits sein Erstlingswerk, »Die Legenden von Carthan«, eine illustrierte Novelle, wurde von einem renommierten Magazin ausgezeichnet. Im Jahr 2019 veröffentlichte er die Novelle »Konstrukt«, den ersten Band einer dystopischen Science Fiction Trilogie. W. H. Sarau lebt und arbeitet im Kurort Semmering in Österreich.
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Titel: Der Staat