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Todesherbst

von W. H. Sarau (Autor:in)
100 Seiten
Reihe: 3 Jahreszeiten, Band 3

Zusammenfassung

Drei gruselig-schaurige Kurzgeschichten aus der Novellensammlung »Drei Jahreszeiten« Dunkle Gewölbe: Eine Frau sitzt seit vielen Jahren unter enormen Sicherheitsvorkehrungen in einem abgelegenen Sanatorium. Selbst das Klinikpersonal wagt es nicht, ihr zu nahe zu kommen. Doktor Miller, ein Neuling unter der Ärzteschaft, wird mit ihrem rätselhaften Fall betraut ...Der Clown: Was, wenn ein Clown die ständigen Erniedrigungen in seinem Leben satthat und sich entschließt, den Spieß umzudrehen? Warnung! Nichts für schwache Nerven!Chain Kain: Eine bestialische Mordserie erschüttert eine Kleinstadt. Der Herbst des Todes ist erneut angebrochen. Pater Connor und Detective Shoemaker machen sich auf die Suche nach dem Mörder. Und entdecken dabei Schreckliches …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dunkle Gewölbe

»So! Hier sind wir nun auf der Station mit der höchsten Sicherheitsstufe«, bemerkte Doktor Snyder, nachdem sich die Fahrstuhltür hinter ihnen geschlossen hatte.

Er klappte das schwarze Notizbuch zu, in dem er während der kurzen Fahrt gelesen hatte und klemmte es unter seinen Arm.

»Oder das Verlies, wie wir es hier nennen«, bemerkte ein weißgekleideter Pfleger beiläufig, der soeben an ihnen vorbeieilte, ohne sie dabei eines Blickes zu würdigen.

Snyder räusperte sich. 

»Nun ... ja«, stammelte er peinlich berührt und rückte sich die in die Jahre gekommene Hornbrille unter seinen buschigen Augenbrauen zurecht. »Eine nicht gerade zutreffende Bezeichnung für die führende psychiatrische Abteilung des gesamten Landes.«

Der unterschwellige Stolz, der in diesen Worten mitschwang, klang etwas gekünstelt.

Miller lächelte gequält.

»Ja, Sir! Gewiss, Sir«, antwortete er schließlich mit gespielter Unterwürfigkeit. »Ihr Ruf eilt ihnen zweifellos voraus. Und ich finde auch, dass diese ... Titulierung dem Respekt, den man ihrer Arbeit hier entgegenbringen sollte, doch etwas zuwiderläuft.«

Snyder nickte dankend. 

»Genau meine Rede!«, sagte er, reckte seinen dünnen, faltigen Hals gebieterisch nach oben und wies Miller mit einer kurzen Handbewegung den langen Gang unmittelbar vor ihnen hinab.

»Wie Sie ja zweifellos wissen, Doktor Miller«, hob er erneut an, »ist in unserem Haus die Crème de la Crème all jener Straftäter versammelt, deren Taten Auffälligkeiten aufweisen, denen die Bezeichnung pathologisch noch nicht einmal annähernd gerecht wird.«

Während er den Worten seines neuen Vorgesetzten mit bewusst zur Schau gestellter Aufmerksamkeit lauschte, musterte er im Vorbeigehen die Umgebung, die für die nächsten zwei Jahre sein Arbeitsplatz sein würde.

Verlies traf es in der Tat recht gut.

Die Wand an seiner rechten Seite bestand aus nackten, rußigen und unregelmäßig aufeinander gestapelten Sandsteinen, die über ihm in ein Rundbogengewölbe übergingen, das in Abständen von etwa vier Metern von groben Stahlträgern gestützt wurde, an denen der Rost der Jahrzehnte unablässig nagte.

Auf der linken Seite reihten sich die Zellen der Insassen aneinander; jede einzelne von ihnen trennte die Außenwelt mittels massiven, schwarz glänzenden Gitterstäben von der vermeintlichen Gefahr, die dahinter lauerte, sodass sich der Blick, so fiel ihm sofort auf, nach nur wenigen Metern in unzähligen Schattierungen von Schwarz und Grau verlor.

Der graue Linoleumboden, der ganz im Gegensatz zum Rest der Einrichtung penibel sauber gehalten wurde, quietschte bei jedem einzelnen Schritt, während das leicht flackernde Neonlicht über ihnen helle Flecken darauf zauberte.

»Meine Kollegen und ich haben es uns zur Aufgabe gemacht, den mannigfaltigen Motiven, die unsere werten Insassen letztendlich zu ihren Gräueltaten veranlasst haben, eingehend auf den Grund zu gehen«, referierte Snyder weiter. »Wir hoffen, dass wir durch unsere intensive und mittlerweile auch recht weit fortgeschrittene Forschungsarbeit einen wertvollen Beitrag für künftige Ermittlungsarbeiten der Exekutive leisten können. Wir gehen davon aus, dass sich zumindest einige der potentiellen Verbrechen so bereits im frühen Stadium verhindern lassen.«

»Ja, Sir«, antwortete Miller. »Ich habe mir natürlich alle ihre bisherigen Publikationen eingehend zu Gemüte geführt. Und ich muss sagen, ... ich war mehr als beeindruckt. Vor allem von ihren Ergebnissen auf dem Gebiet der Verhaltensforschung.«

Schmeichelei unter Kollegen.

Huldigungen dieser Art waren ihm seit jeher nicht leicht gefallen. Doch in den nach wie vor so verstaubten Strukturen des Ärztekollegiums, in dem Zank und Hader ebenso an der Tagesordnung standen wie Neid und Missgunst, waren sie leider ein Muss. Eine simple Notwendigkeit, um zumindest Zeit seines Lebens den Hauch einer Chance zu haben, die Karriereleiter ein wenig nach oben zu klettern.

Auf der anderen Seite waren Snyders bisherige Erkenntnisse in der Tat beeindruckend. Wenngleich auch seine Methoden nicht bei allen seiner Artgenossen auf Zustimmung stießen - denn so manche von ihnen waren für sie einfach zu brutal, wenn nicht gar mittelalterlich - doch der Erfolg gab ihm letztendlich recht.

Die Entschlüsselung der synaptischen Krämpfe, wie er die Impulse, die Schwerverbrecher zu ihren Taten trieben, zu nennen pflegte, stand zwar erst an ihrem Beginn, doch erste Erfolge hatten sich bereits eingestellt.

Für die Ermittlungsbehörden war dies Grund genug gewesen, ihn mit einer enormen Erhöhung seines Forschungsetats zu belohnen, was unweigerlich zur Folge hatte, dass seine Abteilung in den ehrwürdigen Mauern des Black Hill Asylum unablässig wuchs und wuchs.

Alles, was auf diesem Gebiet Rang und Namen hatte, tummelte sich inzwischen in den Hunderten von Behandlungszimmern und den endlosen Korridoren und Laboren, mit denen das uralte Gebäude bestückt war.

Und auch er wollte, mehr als alles andere einer dieser Pioniere sein. Einer der Speichellecker, die im Kielwasser dieses Gottes in Weiß mitschwammen.

Ein Teil von etwas Besonderem.

Dafür des Öfteren auf die Knie fallen zu müssen, erschien ihm in diesem Moment als ein höchst geringer Preis.

»Natürlich hoffe ich inständig, dass ich durch meine Arbeit an ihrem Institut ebenfalls einen, wenngleich vermutlich auch nur bescheidenen  Beitrag, zu Ihrer so hoch angesehenen Forschungsarbeit leisten kann.«

Die Schleimerei hatte gesessen.

Snyder schürzte die Lippen und plusterte sich auf wie ein Pfau.

»Schön, schön«, sagte er dann, wobei er sichtbar darum bemüht war, nicht zu lächeln.

Während sie einige Meter nebeneinander wortlos entlangschritten, musterte Miller eine der Zellen, die sie passierten.

Sie nahm sich beinahe wie eine Gruft aus.

Die nackten, schmucklosen Wände, der kalt wirkende Boden darunter, auf dem lediglich eine bescheidene Liegestatt aus Aluminium und ein winziger am Boden festgeschraubter Tisch Platz fanden, hatte etwas Deprimierendes an sich. Die an der dahinterliegenden Wand befestigte Toilette vervollständigte einen Gesamteindruck, der dem Wort schlicht eine vollkommen neue Dimension gab.

Der Mann, der wortlos mit starr nach vorne gerichtetem Blick und mit auf dem Schoß gefalteten Händen in diesem Halbdunkel ausharrte, war nur mehr das sprichwörtliche Pünktchen auf dem I.

»Hallo Robert!«

Snyders Worte rissen ihn wieder aus seinen trüben Gedanken.

»Wie ist das werte Befinden heute?«

Die in eine schlecht sitzende, gestreifte Anstaltskluft gezwängte Gestalt gab ein verächtliches Grunzen von sich.

»Verpissen Sie sich Doc!«, fuhr es zwischen schrundigen Lippen samt schlecht zurechtgestutztem Bart hervor. »Ich hoffe, Sie und ihre verfickten Lakaien schmoren bald in der Hölle!«

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Snyder süffisant grinste.

»Ich gehe davon aus, dass Sie bereits von Mister Hewitt gehört haben, nicht wahr?«, wandte sich der Doc an ihn.

»Der Ripper«, antwortete Miller ohne Umschweife. »Hat sechzehn Menschen umgebracht, sie zerstückelt, ausgeweidet und mit den Leichenteilen das Wohnzimmer seiner Farm verschönert.«

»Ich habe niemanden umgebracht!«, ertönte es protestierend. »Ich hab Ihnen schon hundert Mal erklärt, dass das Jeff gewesen ist! Ich bin vollkommen unschuldig!«

»Jeff ist der Name seines Alter Ego«, nahm Snyder Millers Frage vorweg. »Die dunkle Seite seiner Persönlichkeit, wenn Sie so wollen«

Miller stutzte. »Er leidet also an einer Form der Schizophrenie?«

»Exakt! Es ist uns im Zuge seiner Behandlung auch bereits gelungen, Jeff hervorzulocken, wenn Sie es so nennen wollen«, sagte Snyder stolz. »Es hat sich gezeigt, dass es im Rahmen einer Elektroschocktherapie, durch gezielte ... Stimulation und der damit einhergehenden Überschreitung einer gewissen Schmerzgrenze möglich ist, der zweiten Persönlichkeit die Kontrolle über Mister Hewitts Körper aufzuzwingen. Durch das Hervortreten eben derselben haben wir so einen recht vielversprechenden Ansatz für eine erfolgreiche Heilung. Ziel ist es dabei, Jeff entweder ganz auszulöschen oder seine pathologischen Triebe soweit unter Kontrolle zu bringen, dass er keinen weiteren Schaden mehr anrichten kann.«

»Therapie!«, spottete Hewitt. »Jeder Mensch, mit ein wenig Mitgefühl würde es Folter nennen!«

Snyder blieb vollkommen unbeeindruckt. 

»Gewiss ist diese Form der Behandlung nicht immer angenehm, Jeff«, sagte er kühl. »Aber wir gehen davon aus, dass wir so die besten Resultate erzielen werden. Und ich bin der festen Überzeugung, dass das für alle Beteiligten der beste Weg ist. Oder wollen Sie etwa den Rest ihres Lebens im Schatten von Jeff verbringen?«

Die Antwort darauf blieb aus.

Hewitt krümmte sich zusammen wie ein Ungeborenes im Mutterleib und richtete seine ausdruckslosen Augen auf die Wand gegenüber.

»Ist ein langer Weg«, seufzte Snyder, als er die Reaktion seines Patienten sah. »Aber vielleicht gelingt es uns eines Tages tatsächlich, ihn als ein normal funktionierendes Mitglied der Gesellschaft wieder in Freiheit zu entlassen.«

Miller verbarg seine Skepsis darüber so gut wie er konnte.

Selbst wenn es den Ärzten dieser Einrichtung eines Tages möglich sein sollte, Monster wie Hewitt erfolgreich zu therapieren, würden sie nie wieder akzeptierte Mitglieder der sogenannten Gesellschaft werden. Sie hatten, sobald sie gefasst wurden, bereits eine längere Phase der Brandmarkung hinter sich, in deren Folge sie für den Rest ihres Daseins stigmatisiert bleiben würden. In Hewitts Fall war es alleine schon die Titulierung Ripper, die ihm vonseiten eines äußerst findigen Schreiberlings einer landesweiten Zeitung verliehen worden war.

Selbst die Annahme einer neuen Identität half bei einem erfolgreichen Neustart nur bedingt. Denn irgendwann, so hatte die Erfahrung bereits gezeigt, fand die Wahrheit über jede unselige Vergangenheit wieder ihren Weg ans Licht. 

»Wollen wir?«

Miller nickte geistesabwesend und folgte dem Direktor weiter den Flur hinab.

Zelle reihte sich Zelle, Halbdunkel an Halbdunkel, Tristesse an Tristesse.

Nur die unterschiedlichen Insassen brachten etwas Abwechslung in eine Szenerie, die sich am besten unter dem Begriff Monotonie vereinen ließ.

Doch am Ende des Flurs durchbrach etwas dieses so vollkommen scheinende Manifest trübseligen Gleichklangs.

Denn die letzte Zelle unterschied sich grundlegend von allen anderen.

Unmittelbar hinter den schweren Gitterstäben war eine dicke Scheibe aus Sicherheitsglas eingebracht worden, durch das der helle Schein unverhältnismäßig vieler Lampen, aufgefächert von der käfigartigen Konstruktion davor auf den Linoleumboden fiel.

Miller hielt interessiert inne und spähte gespannt in das Innere.

Man hätte zweifellos erwartet, dass man diese Sicherheitsvorkehrungen ergriffen hatte, um irgendein urgewaltiges Monster von Mensch darin in Zaum zu halten; doch was er in jenem Moment sah, stand in so vollkommenem Widerspruch zu dieser Annahme, das sich augenblicklich ungläubiges Staunen in seine Gesichtszüge stahl.

Eine zierliche, recht hübsche junge Frau mit glattem, dunklem Haar saß leicht über einen kleinen Tisch gebeugt und zeichnete. Ihre beinahe fragil wirkenden, schlanken Finger tanzten leicht und sanft über ein großes Blatt Papier, auf dem gerade das Konterfei eines kleinen Hundes Form annahm, der mit süßen, großen Augen hinaus in die reale Welt blickte.

Es war unübersehbar, dass sie eine wahre Schönheit war und in diese Einrichtung ebenso wenig zu passen schien wie eine Blume auf eine Müllhalde.

»Das ist der Fall, der uns bisher die meisten Rätsel aufgibt.«

Snyders Stimme klang nur mehr wie ein weit entferntes Echo zu ihm herüber.

Sein Blick war in diesem Moment nicht imstande, sich von diesem hübschen Gesicht und der so gewandt über das Papier huschenden Hand zu lösen.

»Hallo Alice!«, begrüßte Snyder die Insassin erstaunlich freundlich.

»Doktor Snyder!«, kam es sogleich aus einem wohlgeformten Mund zurück.

Alice´ Stimme klang, obwohl sie nur durch eine antik wirkende Lautsprecheranlage an der rechten Seite Durchlass fand, erstaunlich klar. Sie war weich und sanft und im wahrsten Sinne des Wortes ein Wohlklang für jeden Vertreter des männlichen Geschlechts.

Irgendwo dazwischen war das Summen einer Belüftungsanlage zu vernehmen, die scheinbar für Frischluft in der bescheidenen Zelle sorgte.

Sie wandte sich den beiden zu und richtete ihre strahlend blauen Augen, die unter perfekt zurechtgestutzten Augenbrauen wachsam hervorleuchteten auf die beiden Männer.  Snyder galt zuerst ihre Aufmerksamkeit. Doch dann richtete sie ihren Blick auf Miller, an dem er schließlich unnatürlich lange haften blieb.

Sie schickte ihm ein freundliches Lächeln herüber.

»Wie geht es dir heute?«

Sie seufzte kurz laut auf.

»Ich habe eigentlich keinen Grund zu klagen», hob sie schließlich an, »außer, dass ich sehr hungrig bin. Ich habe Bob schon um einen Nachschlag gebeten, ...  aber er ist immer so gemein. Ich finde es ...«

»Alice!«, unterbrach Snyder sie. »Sie wissen doch, dass jeder hier ausschließlich die ihm zugedachte Ration erhält, nicht wahr? Schließlich sind wir kein Hotel, sondern eine medizinische Einrichtung. Und davon abgesehen ...« Er wies kurz in Richtung einer silbernen Schüssel, die am unteren Ende ihres Bettes lag. »Haben sie noch gar nicht aufgegessen.«

Alice verzog die Lippen zu einem blassen Bogen. 

»Ich mag kein Schwein!», konstatierte sie schließlich. »Rindfleisch ist mir tausend Mal lieber. Auch das sagte ich bereits ... mehrmals! Aber mir hört in dieser Absteige nie jemand zu!«

Miller konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen, als er die schmollende Zierlichkeit eingehend musterte, die wie ein verärgertes Schulmädchen mit vor der Brust verschränkten Armen dasaß.

»Rindfleisch gibt es nur am Dienstag und Sonntag«, sagte Snyder. »Es ist einfach zu teuer! Und wie gesagt, Alice, ... wir sind kein Hotel!«

»Wir leben im Mutterland der Kühe, Sie Schwachkopf!«, widersprach sie energisch. »Das Zeug wächst hier quasi auf den Bäumen. Aber schon gut, schon gut. Ich bin schon still, ... muss mich fügen, sonst werde ich wieder bestraft.«

Während der Disput zwischen den beiden langsam an Fahrt aufnahm, sah Miller erneut in Richtung der kleinen Schüssel.

Er kniff irritiert die Augen zusammen.

Dort, wo er eigentlich so wie es in Einrichtungen wie diesen üblich war, Kartoffeln, Gemüse und gekochtes Fleisch vermutete, glaubte er einen dünnen, roten Film erkennen zu können, indem einzelne zerfetzte, zweifellos rohe Fleischstücke lagen.

War das etwa Blut?

»Gut, Alice!« Snyders zusehends zorniger werdende Stimme lenkte ihn wieder von seinen Beobachtungen ab. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich kann nichts versprechen. Sind Sie damit einverstanden?«

Sie nickte zustimmend, wenngleich auch ein wenig ungläubig.

»Was ist mit dem hübschen Kerl da?«, wollte sie schließlich wissen und warf Miller einen Blick zu, den dieser nicht so recht zu deuten vermochte. »Ist das ihr neues Spielzeug? Oder gar meines? Der ist ja zum Anbeißen!«

Sie zwinkerte dem Neuling frech zu.

»Doktor Miller wird sich ab sofort unserem Team anschließen«, erklärte der Anstaltsleiter kopfschüttelnd. »Über alles Weitere sollte es Ihre Person betreffen, wird man sie zu gegebener Zeit in Kenntnis setzen. Und nun entschuldigen Sie uns bitte, Verehrteste. Wir haben noch einiges zu tun.«

Eine Antwort darauf blieb aus.

Der bohrende Blick jedoch, mit dem sie Miller bedachte, blieb.

Ihm lief es heiß und kalt den Rücken runter.

Nicht weil er Angst empfand, sondern eher, weil diese alles durchdringenden, wunderschönen Augen etwas in ihm berührten.

»Wollen wir?«, sagte Snyder sehr zu seiner Erleichterung.

Er antworte mit einem nervösen Nicken, tat ein paar hastige Schritte und war froh, dass er sich dem Starren dieser seltsamen Person auf diesem Weg schnellstmöglich wieder entziehen konnte.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, sagte er, kurz bevor sie das Ende des Ganges erreicht hatten.

»Nun, in Anbetracht ihres derzeitigen Kenntnisstandes in Bezug auf unsere Arbeit hier sollten Sie mir so viele Fragen stellen, wie sie können«, sagte Snyder herablassend.

Miller ignorierte diese für ihn wie selbstverständlich scheinende Anmaßung und zog nachdenklich die Augenbrauen hoch.

»Warum ist sie hier?«, fragte er schließlich. »Sie wirkt in keiner Weise wie die anderen Insassen hier! Eher im Gegenteil. Sie ...«

»Sie meinen ... nicht gefährlich?«

»Zumindest macht sie auf mich nicht diesen Eindruck«

Snyder schürzte die Lippen und sah ihn eindringlich an.

»Wie sie wissen, Doktor Miller, kann der Schein oftmals trügen«, murmelte er. »Alice ist ein ganz spezieller Fall. Und wie ich wie bereits sagte: Ich würde sie sogar als unseren interessantesten und rätselhaftesten Fall betrachten.«

Miller räusperte sich. »Was hat sie getan?«

»Sie hat ihre Mutter und ihre beiden Kinder getötet!«, antwortete Snyder ohne Umschweife. »Und dann hat sie sie gegessen. Oder vielmehr sollte man es, in Anbetracht der Grausamkeit der Tat, als gefressen bezeichnen. Essen ist ein Begriff, dem wir einem etwas mehr zivilisierten Vorgang zu geben pflegen.«

Er schluckte.

»Gefressen?«

»Dies geht zumindest aus dem Polizeibericht hervor«, erklärte Snyder etwas zögerlich. »Alice leugnet diese Tat natürlich, so wie die meisten unserer Insassen hier. Aber als man sie in jener Nacht vor zwei Jahren festgenommen hat, fand man sowohl das Blut der Opfer, als auch eine nicht unbeträchtliche Menge an Geweberesten an ihrer Kleidung und  ...  in ihrem Mund. Und auch die Bissspuren an der Mutter und den armen Kindern stimmten zu einhundert Prozent mit ihren Zahnabdrücken überein.«

»Großer Gott!«, entfuhr es Miller.

»Wo Gott auch immer in dieser Nacht war«, sagte Snyder. »In diesem Haus war er mit Sicherheit nicht. Die Nachbarn, die kurz vor Mitternacht von bestialischen Schreien geweckt worden waren, haben die Polizei alarmiert. Sie können sich mit Sicherheit nur allzu gut ausmalen, welchem Schreckensszenario sich die Beamten dort gegenübersahen. Schlachtfest, lautete der einhellige Tenor, der sich wie ein roter Faden durch die Berichte zieht.«

»Wirklich erstaunlich! Wie hat man es überhaupt geschafft, sie festzunehmen?«, bohrte Miller weiter.

»Sie hat keinerlei Widerstand geleistet. Die Beamten fanden sie schmatzend und kauend auf der Couch in ihrem Wohnzimmer vor. Auf dem Tisch vor ihr lagen noch die Reste von ... ich denke alles Weitere bedarf keiner näheren Beschreibung. Das können Sie sich nur allzu gut selbst ausmalen. Ihre Verteidigung plädierte bei der darauf folgenden Gerichtsverhandlung mit Erfolg auf Unzurechnungsfähigkeit, wogegen die Staatsanwaltschaft selbstverständlich Berufung einlegte. Natürlich in Anbetracht der Schwere des Verbrechens und vor allem seiner monströsen Ausführung, ohne Erfolg. Und so wurde sie schließlich hier eingewiesen. Ihr Aufenthalt hier lief eigentlich ohne nennenswerte Zwischenfälle ab, bis ...«

Er blieb abrupt stehen und schlug sein Notizbuch auf.

»Bis zu jenem Tag vor beinahe exakt einem Jahr.«

Der Direktor durchblätterte einige der Seiten in seinen Aufzeichnungen, bis er schließlich auf eine Fotografie stieß, die er an eine seiner Notizen geklebt hatte.

»Wir führen an den weiblichen Insassen natürlich in regelmäßigen Abständen gynäkologische Untersuchungen durch. Das ist Vorschrift!«, sagte er dann. »Alice wurde zu diesem Zweck in eines der Untersuchungszimmer gebracht und gemäß unserer Sicherheitsbestimmungen entsprechend fixiert.«

Er löste die Aufnahme vorsichtig aus der Mappe heraus.

»Als der zuständige Arzt mitten in seiner Untersuchung war, schaffte sie es irgendwie, sich loszureißen. Und dann hat sie ihm das hier angetan!«

Er hielt ihm das Bild direkt vor die Augen.

Miller erstarrte augenblicklich.

»Wir gehen davon aus, dass sie ihm seine Augen mit bloßen Händen bis in den Schädel getrieben hat. Diese tiefen Verletzungen, die sie an seinen Wangen und an seinem Hals erkennen können, rühren von Bissen her, die sie ihm zugefügt hat. Alice hat ihm ganze Fleischstücke aus seinem Gesicht gerissen und noch an Ort und Stelle ... nun ja ... verspeist. Kurz gesagt, sie hat Teile seines Gesichtes gefressen! Und nicht zu vergessen: Seine Zunge ebenso.«

Miller räusperte sich und versuchte den soeben in seinem Hals entstandenen Kloß hinunterzuwürgen.

»Und zu guter Letzt«, fuhr Snyder nüchtern fort. »Hat sie sich noch am ... Penis und den Testikeln des Kollegen gütlich getan, ... wenn Sie es so nennen wollen. Davon existiert natürlich keine Aufnahme, höchstens in den Akten der Gerichtsmedizin. Wie dem auch sei ... der Mann starb letztendlich nur eine halbe Stunde später auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Er merkte, wie ihn sein neuer Vorgesetzter eindringlich zu mustern begann.

»Ich denke, sie verstehen nun, warum wir in ihrem Fall auf diese etwas außergewöhnlichen Sicherheitsmaßnahmen bestehen, nicht wahr?«

Miller nickte.

»Und das ... Fleisch?«, fragte er zögerlich. »Ich glaube Blut in ihrem Teller erkannt zu haben, oder irre ich mich etwa?«

»Sie verweigert strikt jede gekochte Nahrung«, bestätigte Snyder indirekt. »Sie verzehrt sich geradezu nach rohem Fleisch. Was in gewisser Weise vielleicht auch erklärt, warum sie ihre Taten auf diese Weise begeht. Wir haben ihren Fall daher dem bereits bekannten pathologischen Kannibalismus zugeordnet. So etwas kommt öfter vor, als man glauben könnte. Die Ursache dafür ist uns jedoch vollkommen unklar. Wir glauben auch nicht, dass diese Manie angeboren ist. Da sich Alice aber nach wie vor in Schweigen hüllt, sind wir der Lösung ihres Falles noch keinen Schritt näher gekommen. Sie beschäftigt uns eher auf andere Weise.«

Snyder hielt einen kurzen Moment inne und straffte sich.

»Wir hatten zu Beginn ihres Aufenthaltes Sorge, dass sie durch diese Form der ... Ernährung vielleicht erkranken könnte. Zum Beispiel an Muskeltrichinen, Spulwürmern oder was auch immer in rohem Fleisch zu finden ist. Doch sie scheint vollkommen unempfindlich dagegen zu sein.«

»Wirklich erstaunlich!«

»In der Tat!«

Er ließ die Fotografie wieder zwischen den Seiten verschwinden und klappte sein Notizbuch zu.

»Jedenfalls hat sie sich, nachdem wir uns geweigert hatten, sie auf diese Weise zu ernähren, in mehrere Hungerstreiks begeben«, hob er erneut an, während sie ihren Marsch wieder aufnahmen. »Und sie war dabei äußerst konsequent, das können Sie mir glauben. Also hat sich das Kollegium letztendlich dazu entschlossen, ihrem Drängen nachzugeben, um sie für künftige Studien am Leben zu erhalten. Wir halten diese Vorgehensweise natürlich unter Verschluss. Sie würde dort draußen nicht gerade auf Zustimmung stoßen.«

»Aus gutem Grund«, murmelte Miller fassungslos. »Und welche Art der Behandlung wird bei ihr angewandt?«

»Keine!«

»Keine?«

»Sie hat sich als vollkommen ungeeignet für jedwede Form von Therapie erwiesen«, erklärte er mit leicht frustriertem Unterton. »Ich habe es bisher noch nicht erwähnt, doch Miss Jenkins verfügt, ganz im Gegensatz zu den meisten Patienten hier über ein hohes Maß an Intelligenz, sowie einem recht beeindruckenden akademischen Hintergrund. Bis zu ihrer Einweisung unterrichtete sie Philosophie und alte Sprachen an einer der hiesigen Universitäten.«

Miller kam aus dem Staunen nicht heraus.

Es war für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt schlichtweg unmöglich, diese harmlos wirkende, beinahe kindlich naiv anmutende Frau mit Snyders Schilderungen in Einklang zu bringen.

»Ja, sie ist schlauer, als es den Anschein hat«, fuhr er fort. »Schon unsere bewährten Standardtests brachten bei ihr keinerlei verwertbare Ergebnisse hervor. Im Gegenteil. Unsere ersten Analysen zeigten recht deutlich, dass sie sich für das Beantworten der Fragen ein ausgeklügeltes Schema zurechtgelegt hatte, das eine Einordnung ihrer generellen psychischen Verfassung in ein bereits definiertes Profil schlichtweg unmöglich machte. Und was die mündlichen Befragungen von Seiten unserer Psychologen anbelangt … nun, ja ...«

Snyder gluckste vergnügt. »Zwei von ihnen haben vorzeitig gekündigt, weil Alice sie während einer Sitzung zum Weinen gebracht hatte.«

Miller konnte sich ein Lachen nur schwer verkneifen.

Doch sein Interesse an dieser rätselhaften Patientin war geweckt.

»Und was geschieht nun weiter mit ihr?«

»Nichts!« Snyder zuckte mit den Achseln. »Wir halten sie am Leben und sorgen dafür, dass sie niemandem mehr Schaden zufügen kann. Sie wird wohl den Rest ihres Lebens hier verbringen, was zugegebenermaßen noch eine lange Zeit sein wird. Sie ist ja gerade mal knapp über die Dreißig.«

Miller verfiel in tiefes Grübeln.

»So, nun werde ich Ihnen aber ihr Büro zeigen«, verkündete Snyder. »Es befindet sich natürlich nicht in diesem Geschoß, sondern oben im Bereich des Verwaltungstraktes. Ich denke, Sie werden sich dort ...«

»Soll ich es mal versuchen?«, platzte es urplötzlich aus ihm heraus.

»Wie meinen?«

Der Anstaltsleiter zog verwirrt die Augenbrauen hoch.

»Mit Alice ... mit Miss Jenkins zu arbeiten, meinte ich.« Der Vorschlag kam für ihn ebenso unerwartet wie für sein Gegenüber. Er wusste nicht genau, woran es lag, doch schon die wenigen Minuten mit Alice hatten dafür gesorgt, dass ihn diese Frau auf rätselhafte Art und Weise in ihren Bann gezogen hatte.

Vielleicht fand sich seine Motivation auch in purem Opportunismus. Einen Fall zu lösen, an dem so viele namhafte Kollegen bereits gescheitert waren, würde sich zweifellos hervorragend in seiner Personalakte machen.

Ein Moment vollkommenen Schweigens verstrich.

»Hmm, ... ich halte das für keine gute Idee«, sagte der Direktor schließlich. »Ich hatte eher vor, ihnen zu Beginn einen etwas leichteren Fall zuzuweisen. Ich dachte da eher an ...«

»Nennen Sie es Intuition, Sir«, unterbrach ihn Miller sogleich. »Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich vielleicht zu ihr durchdringen könnte.«

»Warum? Weil sie Sie hübscher Kerl genannte hat?«, grinste Snyder zynisch.

»Das eher nicht! Aber ich glaube eine Art von Verbindung gespürt zu haben. Vielleicht so etwas wie den Anflug von Vertrauen. Ich bin mir nicht sicher. Natürlich kann ich mich auch irren, aber ...«

»Verstehe!« Der Direktor winkte ab. »Sie müssen wissen, Doktor: Alice ist imstande, Menschen, vor allem Männer, auf geschickte Art und Weise zu manipulieren. Man muss in ihrer Gegenwart äußerst vorsichtig sein. Der Fehler, sich ihr allzu weit zu öffnen, kann fatal sein.«

Miller nickte resigniert. »Ich verstehe Sir!«

Dann gingen sie weiter.


Die Nacht war bereits angebrochen, als Miller zum ersten Mal seit Stunden von den unzähligen Notizen auf seinem Schreibtisch aufsah.

Das Studium von Fallakten hatte etwas Enervierendes an sich.

Er kam nicht darum herum, dass dieses Sammelsurium an abstrakten Verbrechen, das sich unmittelbar vor ihm auftat, schwächere Gemüter zweifellos am Fortbestand der menschlichen Rasse hätte zweifeln lassen.

Ihm hingegen hatte es lediglich rasende Kopfschmerzen in den Schädel getrieben.

Er rieb sich seine müden Augen und ließ sich erschöpft in die Lehne seines Stuhls fallen.

Hinter dem Schein seiner Schreibtischlampe zeichneten sich vage die Konturen seines neuen Büros ab.

Die in die Jahre gekommenen Regale, zwischen denen nackte Backsteinwände hervorlugten, waren noch immer verweist. Er hatte bisher weder die Zeit gefunden, die unzähligen Kisten, die sich unmittelbar neben der offen stehenden Eingangstür stapelten, darin zu verstauen, noch für seine wenigen Habseligkeiten, die zumeist aus Urkunden, Auszeichnungen oder Ähnlichem bestanden, einen entsprechend repräsentativen Platz zu finden.

Situationen wie diese waren ihm nicht neu.

Jede Versetzung fühlte sich an, als stünde man mit einem Bein in einem früheren Leben, während das andere vorsichtig tastend Halt in einem Neuen suchte.

Die einzige Konstante inmitten der Veränderung blieb stets das Chaos, das sich oft erst nach Wochen wieder lichtete.

Er gähnte laut auf. Das hörbare Warnsignal seines Körpers, der ihn nun unablässig zu ermahnen begann, diesem unseligen Treiben genannt Arbeit, endlich ein Ende zu setzen und sich schleunigst aufs Ohr zu hauen.

Er knipste die Lampe vor sich aus und blieb noch eine Weile regungslos sitzen.

»Störe ich?«

Miller fuhr panisch hoch.

Unmittelbar vor ihm zeichnete sich schemenhaft die Gestalt von Snyder in der Tür ab.

Die Gangbeleuchtung hinter ihm zauberte tiefe Schatten in sein Gesicht.

»Nein, natürlich nicht!«, antwortete er sofort und rappelte sich auf.

»Schön, schön!«

Snyder trat einen Schritt in das Innere und knipste das Licht an.

Der grelle Schein der viel zu hellen Lampen über ihm ließ ihn augenblicklich die Augen zusammenkneifen. 

Als sie sich schließlich wieder an die neuen Verhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er, dass der Direktor bereits an seinen Schreibtisch herangetreten war.

In seiner Hand hielt er eine einzige dünne Akte.

»Ich habe nun eingehend über Ihren Vorschlag nachgedacht«, sagte er. »Und ich denke, ... Sie haben vielleicht recht!«

»Womit?«

Miller war noch immer ein wenig verwirrt. Sein Kopf summte, als befände sich ein aufgescheuchter Bienenstock darin.

»Mit Ihren Vorschlag in Bezug auf Alice natürlich«, antwortete Snyder und schüttelte im Angesicht von Millers Schlaftrunkenheit mit Unverständnis den Kopf.

Er zweifelte keinen Moment daran, dass Begriffe wie Empathie oder Einfühlungsvermögen für sein Gegenüber lediglich hohle Phrasen waren. Sein gesamtes Gehabe, das war ihm bereits während ihrer ersten Unterredung aufgefallen, verriet es.

Schlagartig jedoch war er wieder im Vollbesitz seiner Konzentration.

»Ich verstehe Sir«, sagte er schließlich erfreut. »Ich sehe es natürlich als große Ehre an, dass mir bereits jetzt ...«

»Freuen Sie sich nicht zu früh!«, unterbrach ihn Snyder scharf. »Ich werde Ihnen diesen Fall nicht offiziell übergeben. Noch nicht!«

»Ich verstehe nicht ganz ...«

Die Akte landete direkt vor ihm auf dem Tisch.

»Nun, bevor ich das Ganze mit dem Kollegium bespreche«, erklärte er, »dachte ich zunächst an eine Art Vorabgespräch mit der Patientin.«

»Also ein Art Test?«

»Wenn Sie es so nennen wollen?«, grinste er ihm unverhohlen entgegen. »Einen Fall wie diesen zu übergeben, ist eine Entscheidung, die ich nicht auf Basis überhöhter Selbsteinschätzung treffen will. Nichts für ungut! Aber ich denke, Sie werden mir in Bezug auf diese Vorgehensweise gewiss zustimmen.«

»Natürlich, Sir!«

»Schön, schön!« Er klang zufrieden. »Ich habe Ihnen vorab schon mal Alice´ Akte gebracht. Wie Sie sehen, ist sie aus den bereits genannten Gründen nicht besonders umfangreich. Ich würde Ihnen aber dennoch eindringlich empfehlen, sie vorab eingehend zu studieren. Vor allem die Kopien der Polizeiberichte. Ich habe mir auch die Mühe gemacht, einige Hinweise in Bezug auf die bevorstehende Befragung zu vermerken. Diese sind besonders wichtig! Sie finden Sie als Beilage am Ende.«

Miller lächelte mit sichtbarer Genugtuung.

»Danke, Sir!«, sagte er. »Und wann soll ich mit der Arbeit ...«

»Heute Nacht!«, konstatierte Snyder. »Am besten sofort! Von den Kollegen ist heute keiner mehr anwesend, sodass unser ... kleines Experiment entsprechend diskret ablaufen kann. Ich habe bereits alles veranlasst. Die Stationsschwester ist über den Sachverhalt ebenso bereits in Kenntnis gesetzt worden wie das Sicherheitspersonal der untersten Ebene. Ich habe des Weiteren dafür gesorgt, dass Sie vollkommen ungestört sein werden. Alice zeigt sich nämlich nie besonders kooperativ, wenn ihr mehr als eine Person gegenüber steht.«

»Das ist mir nicht entgangen.«

»Gut!« Der Direktor klopfte kurz mit den Knöcheln seiner Faust vor ihm auf den Tisch und gab ein zufriedenes Grinsen zum Besten. »Nun, denn Kollege! Dann wünsche ich Ihnen viel Glück! Sie werden es brauchen! Aber wer weiß, vielleicht gelingt Ihnen jener entscheidende Durchbruch, der mir bisher versagt geblieben ist.«

Es war unüberhörbar für Miller, dass er log. Es war auch nicht schwer für ihn zu erahnen, dass Snyder seinen vorangegangen Vorstoß zweifellos als anmaßend empfunden hatte und ihm auf diese Weise eine erste, ernüchternde Lektion erteilen wollte. Ihm sollte zweifellos bereits an seinem ersten Tag vor Augen geführt werden, wo hier sein Platz war.

Nämlich am unteren Ende der Nahrungskette.

Dennoch widersprach er nicht.

Er erhob sich und nahm die am meisten demutsvolle Geste ein, die er sich in diesem Moment abzuringen im Stande war.

»Ich danke Ihnen, Sir. Und ich hoffe, ich werde Sie nicht enttäuschen!«

Der Direktor wandte sich wortlos um und ging.


»Siehe da, es kommt ein Gott in Weiß, auf leisen Sohlen durch die Nacht getapst. Mit unzähligen quälenden Fragen im Gepäck, denen es nach Antworten verlangt. Und das zu so später Stunde? Wie aufregend!«

Alice´ Stimme hatte, der akustischen Verzerrung zum Trotz, etwas hexenhaft Listiges an sich.

Er musste ihr gar nicht gegenüberstehen, um sich ausmalen zu können, mit welcher Grimasse in ihrem Gesicht sie diesen Worten Ausdruck verlieh.

Als er den langen Gang unter den dunklen Gewölben betrat, erkannte er, dass nur ein einziges Licht darin brannte.

Jenes unmittelbar vor ihrer Zelle.

Das Stationspersonal hatte davor einen kleinen Tisch samt Stuhl platziert, was er in diesem Moment mit enormer Dankbarkeit zur Kenntnis nahm.

Er war todmüde.

Diese Befragung im Stehen durchführen zu müssen hätte seine Konzentrationsfähigkeit mit Sicherheit in hohem Maße beeinträchtigt.

»Hat Doktor Snyder Sie geschickt hübscher Kerl?«, rief sie ihm von Weiten entgegen. »Ein unangenehmer Zeitgenosse, nicht wahr? Ein Opportunist, wie er im Buche steht. Und so ganz und gar ohne jedwede Ausstrahlung. Ich kann Ihnen ganz im Vertrauen sagen: Ich finde solche Männer ... nicht gerade sexy! Glauben Sie, dass er überhaupt einen Schwanz hat?«

Er antwortete nicht darauf, sondern lauschte dem Klang seiner eigenen Schritte. Dem scharfen Geklapper, das unterbrochen von gelegentlichem Quietschen, von den umliegenden Wänden zurückgeworfen wurde.

»Sie hingegen hübscher Kerl,... stehen natürlich auf einem anderen Blatt!«, empfing sie ihn schließlich, als er auf Höhe ihrer Zelle zum Stehen kam.

»Guten Abend, Alice!«

Er bemühte sich, so nüchtern wie möglich zu wirken.

»Gleichfalls«, hauchte sie ihm entgegen.

Miller musterte sie eingehend.

Sie war in der Tat eine Schönheit. Ihr gesamtes Äußeres wirkte, als hätte sie erst unmittelbar vor diesem Treffen einem dieser Schönheitssalons einen Besuch abgestattet. Ihr Haar fiel in makellos glatten Strähnen von ihren Schultern hinab, das Weiß Ihrer Augen stach inmitten der natürlichen schwarzen Umrandung ihrer Wimpern deutlich hervor, und ihre Nägel hatten jene perfekte Form, wie man sie ansonsten nur von Damen der höheren Gesellschaft kannte.

Nur Make-up fehlte, was jedoch dem vollkommenen Gesamtbild in keiner Weise Abbruch tat. Im Gegenteil. Diese samtig weiche Haut wirkte von sich aus unnatürlich glatt, vollkommen poren- und faltenlos.

Ihre gesamte Erscheinung hatte etwas Fremdartiges an sich.

Wäre da nicht diese schmuddelige Anstaltskluft gewesen, man hätte ihr Konterfei zweifelsohne auf die Titelseite eines Schönheitsmagazins verfrachten können.

»Also?«, hob sie erneut an. Ihre Stimme klang nun rau und verführerisch. »Was nun will so ein hübscher Kerl zu dieser nächtlichen Stunde von mir?«

Miller setzte sich auf den Stuhl, legte einen Stapel unbeschriebener Blätter und Alice Akte vor sich auf den Tisch.

»Ich will eigentlich nur ein wenig mit Ihnen plaudern, Alice«, sagte er, während er mit vorgetäuschter Geschäftigkeit die Seiten zu ordnen begann. »Ähm, ... ich darf Sie doch Alice nennen, nicht wahr?«

»Was immer sie wollen, hübscher Doktor«, antwortete sie.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie sie sich auf ihre schmucklose Bettstatt niederließ und schwungvoll die Beine übereinanderschlug.

»Keiner von Doktor Snyders Fragebögen?«, drang es hinter der Scheibe hervor.

»Nein! Wie gesagt, ich will nur ein wenig mit Ihnen plaudern. Das hier soll keine Psychoanalyse oder Ähnliches werden.«

Alice begann zu kichern.

»Wissen Sie Doc. Ich habe insgeheim gehofft, dass sie mich irgendwann besuchen kommen. Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass das bereits an Ihrem ersten Tag hier der Fall sein würde. Sieht beinahe so aus, als hätten Sie es nicht erwarten können.«

Miller lächelte kühl. »Wissen Sie, Alice, ich finde Ihren Fall in höchstem Maße faszinierend. Und ich ging einfach davon aus, ... oder vielmehr war es seit jeher mein Ansatz, dass im Zentrum eines derartig faszinierenden Falles nur eine ebenso faszinierende Person stehen kann. Verstehen Sie?«

Dieser Versuch einer Schmeichelei war ebenso plump wie unangebracht gewesen. Alice´ nächste Worte verrieten es.

»Ach, kommen Sie, Doc. Das können Sie doch besser«, lachte sie und klatschte dabei begeistert in die Hände. »Aber immerhin haben Sie es versucht. Was man von Snyder nicht gerade behaupten kann.«

»Sie scheinen ihn nicht besonders zu mögen«, sprach er das nur allzu Offensichtliche laut aus.

»Welcher vernünftige Mensch könnte einen aalglatten Trottel wie ihn mögen?«, spottete sie sogleich los. »Ich bin der Ansicht, dass Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten - und dies ist bei Ärzten ja in der Regel der Fall - über ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen verfügen sollten. Oder sind sie etwa anderer Meinung?«

»Nein, das kann durchaus hilfreich sein. Da gebe ich Ihnen natürlich recht.«

»Es ist nicht nur hilfreich, sondern unabdinglich«, widersprach sie energisch. »Und da dieser Hirnpfuscher aber auch nicht über das geringste Maß an Empathie verfügt, verlässt er sich bei seinen sogenannten Behandlungen auf Methoden, die ich in hohem Maße als unangenehm bezeichnen würde. Wenn Sie erst lange genug hier gewesen sind, werden Sie sicher verstehen, was ich damit meine.«

»Sie sprechen dabei von Elektroschocktherapie?«

»Unter anderem!«

Miller blickte sie interessiert an. »Was noch?«

»Eines seiner liebsten Spielzeuge ist eine Wanne voll eiskaltem Wasser«, behauptete sie vorwurfsvoll. »Wenn man sich die Frechheit herausnimmt, eine der schwachsinnigen Regeln dieser sogenannten Heilanstalt zu brechen, macht man schnell Bekanntschaft damit. Nicht gerade sehr angenehm, wie Sie sich sicher vorstellen können. Und da gibt es natürlich auch noch den Stuhl. Ekelhaftes Ding!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132496
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Horror Serienmörder Okkult Splatter

Autor

  • W. H. Sarau (Autor:in)

Walter H. Sarau wurde 1972 in Wien geboren. Neben seiner Tätigkeit als Autor arbeitet er hauptberuflich als konzeptioneller Designer und Matte Painting Artist für Film und Werbung. Sein Erstlingswerk, »Die Legenden von Carthan«, wurde bereits ausgezeichnet. Im Jahr 2019 & 2020 veröffentlichte er bereits »Konstrukt«, Teil 1 & 2«, den Cyber-Thriller »Der Staat«, sowie die Kurzgeschichtensammlungen »Mördersommer« und »Leichenwinter«. W. H. Sarau lebt und arbeitet im Kurort Semmering in Österreich.
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Titel: Todesherbst