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Alpakas haben keine Geheimnisse

von Anna Ehrich (Autor:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

Viola muss Sozialstunden ableisten - ausgerechnet auf einem Bauernhof. Schlimmer kann es nicht werden, Umso erstaunter ist sie, als sie herausfindet, dass es sich um einen Alpakahof handelt. Doch die Idylle ist gefährdet, denn die Alpakas stehen einem großen Bauvorhaben im Weg. Schnell erwärmt sich Violas Herz für die knuffigen Andenbewohner und auch für deren Besitzer. Doch Titus umgibt ein Geheimnis. Woher stammen die monatlichen Einzahlungen auf seinem Bankkonto und warum hasst er jegliche Art von Musik? Nach und nach erfährt Viola den Grund, warum Titus sich in diese Abgeschiedenheit geflüchtet hat und den Alpakahof betreibt. Wird er sein einsames Leben aufgeben und sein Herz für sie öffnen? Dann überschlagen sich die Ereignisse und Viola muss erkennen, dass sie belogen wurde.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Widmung

Für meine Hörsties, die im Himmel und auf Erden grasen

Kapitel 1

Lautlos zog die Landschaft an ihr vorbei. Häuser wechselten sich mit Alleen und bewirtschafteten Feldern ab. Sie senkte den Kopf und starrte auf die Anfahrtsskizze, die ihr Psychologe für sie ausgedruckt hatte.

Ihr Blick fiel auf den Haltanzeiger des Busses. Noch zwei Stationen und sie würde aussteigen müssen. Ihr Ziel hatte sie damit noch lange nicht erreicht. Es stand noch ein drei Kilometer langer Fußmarsch über einen Feldweg an, der sie dort hinbrachte, wo man ihre Hilfe brauchte.

Ein Bauernhof! Wie konnte man sie zwingen auf einem Bauernhof zu helfen? Überall stinkende Tiere und dann deren Mist, den sie wegkarren musste. Nein, das war überhaupt nichts für sie. Warum musste der Bauer auf einem Kuhfladen ausrutschen und sich Arm und Fuß brechen, dass er nun auf fremde Hilfe angewiesen war? Ihre Hilfe, weil ihr blöder Psychologe ihn kannte. Angeblich ein Schulfreund von Dr. Schneggenburg. Wer's glaubt... Wahrscheinlich war das einer seiner Patienten, dem die Arbeit auf dem Hof zu viel geworden war, nun an einem Burn-out laborierte und eine billige Arbeitskraft suchte, die ihm die ganze Arbeit abnahm.

Sie hasste Kühe, Schweine und was es sonst noch an stinkenden Viechern gab. Sie sah lieber deren Fleisch auf dem Teller als wenn es lebendig herumlief. Darum sollten sich Leute kümmern, die für so was geboren waren, aber nicht sie.

An zwei anderen Stellen war sie bereits gescheitert, weil sie mit dem Geruch oder mit dem Krach nicht zurechtgekommen war. Dies war praktisch ihre letzte Chance, bevor man sie als schweren Fall einstufte und einwies.

Diese bekloppte Richterin hatte keine Ahnung. Die verschanzte sich hinter Paragraphen, aber wie sie wirklich tickte, das verstand die nicht. Wegen dieser Paragraphenreiterin hatte sie zum Psychologen müssen, damit der bescheinigte, dass sie normal war.

Sie war genauso normal wieder jeder andere Mensch, nur ihr Gehör war etwas empfindlicher als bei anderen und Geduld war ein Fremdwort für sie. Normalerweise hatte sie keine Probleme damit, nur wenn sie sowieso genervt war, konnte sie explodieren. Manchmal passierte es, wenn sie besser stillgehalten hätte. Dafür konnte sie nichts. Warum ließ man sie nicht in Ruhe?

Jetzt saß sie hier im Bus und musste sich in den nächsten acht Wochen mit stinkenden Viechern auseinandersetzen. Dieses Mal konnte sie nicht einfach wieder gehen, weil sie selbst durch die Gerüche am meisten litt. Das hatte sie bereits bei ihrer ersten Stelle gehabt und man hatte es ihr nicht abnehmen wollen. Am Ende war man doch überzeugt gewesen, dass sie dafür nicht taugte. Bei ihrer zweiten Stelle hatte sie nicht einmal drei Stunden durchgehalten und hatte froh sein können, dass Dr. Schneggenburg sie da rausgehauen hatte.

Deshalb war sie ihm einen Gefallen schuldig. Wie sie das hasste. Andere hatten in ihrer Schuld zu stehen, aber nicht sie bei anderen. Sie hatte ihm versprechen müssen, nicht gleich wieder abzuhauen, so schlimm es für sie auch sein mochte. Wenn sie wenigstens eine Woche, besser zwei Wochen, durchhielt, würde er was für sie tun können, dass sie danach eine Aufgabe zugewiesen bekam, bei der sie nicht schreiend davonlaufen wollte.

Mindestens eine Woche! Das waren sieben Tage, 168 Stunden und wer weiß wie viele Minuten und Stunden. Wie sollte sie das durchstehen? Bestimmt nicht mit autogenem Training, wie Dr. Schneggenburg es ihr gezeigt hatte. Das mochte bei ihm funktionieren, aber sie würde sich nicht ins Koma atmen oder denken. Er hätte ihr lieber ein paar Pillen verschreiben sollen, aber da war er auf beiden Ohren taub.

Oh, gleich musste sie raus. Natürlich war sie ganz allein unterwegs. Wer fuhr schon freiwillig an einem Vormittag in die Pampa? Auf dem Land hielt sich niemand freiwillig auf, außer er oder sie hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Na, dann war sie hier genau richtig. Bei ihr glaubte man auch, dass sie nicht normal wäre. Sie war manchmal nur ein klein wenig aufbrausend. Völlig harmlos, eigentlich...

Der Bus hielt und sie stieg schwerfällig mit ihrem Gepäck aus. Der Rollkoffer war unhandlich, aber wenn man acht Wochen im Nirgendwo zubringen musste, mit kaum einer Gelegenheit nach Hause zu kommen, musste man so viel einpacken wie es nur ging. Man musste auf jedes Wetter gefasst sein. Im April konnte es noch schneien und wenn sie dann nur mit frühlingshafter Kleidung aufwarten konnte, würde man ihr eine Erkältung garantiert als Absicht unterstellen. Da hatte sie lieber von allem etwas dabei und schleppte sich mit ihrem Rollkoffer ab.

An der Haltestelle sah sie dem Bus hinterher, wie er die einsame Straße weiterfuhr. Wann kam denn der nächste? Nur für den Fall, dass sie mal in das nächstgrößere Dorf musste, um etwas einzukaufen.

Sie vertiefte sich in den Fahrplan, der vom Regenwasser so gewellt und die Tinte zerflossen war, dass sie nur mit Mühe etwas entziffern konnte. Wenn es kein Bushäuschen gab, wieso konnte man nicht den Fahrplan richtig in den Rahmen setzen, dass er nicht nass wurde? Weil sowieso an dieser Stelle nie jemand einstieg? Mit ihr schien niemand gerechnet zu haben.

"Ich glaub's nicht!", sagte sie laut und unterdrückte den Zwang, mit dem Fuß aufzustampfen. Alle zwei Stunden fuhr nur ein Bus und das auch nur am Vormittag und in den frühen Abendstunden. Ansonsten gab es noch einen Frühbus, der um sechs Uhr fuhr und um 20 Uhr wurde der Dienst einfach eingestellt. Hallo! Wie sollte sie von hier wegkommen? Mit dem Rad fahren? Sie hatte das letzte Mal zu Schulzeiten auf einem Drahtesel gesessen.

Wohl oder übel musste sie der Tatsache ins Auge blicken, dass sie eine Gefangene war, obwohl sie sich frei bewegen durfte. Nur wenn man nicht vom Fleck kam, was nützte das einem?

Wo war jetzt dieser Feldweg, der sie zu dem Bauernhof mit seinen stinkenden Viechern bringen sollte?

Sie sah sich um und entdeckte eine ausgefahrene Straße, auf der maximal ein Auto Platz hatte. Der Untergrund war nicht geteert, sondern bestand nur aus kleinen Steinen. Das hätte sie sich denken können. Diesen Weg musste sie nun mit ihrem Rollkoffer benutzen. Na, Halleluja! Wieso hatte man sie nicht abholen können? Ach so, der Bauer hatte Fuß und Arm in Gips, da konnte er keinen Trecker fahren, sondern konnte froh sein, wenn er sich halbwegs zu Fuß fortbewegen konnte. Ganz toll! Jetzt musste sie diesen staubigen Weg, der sich Straße schimpfte, entlanggehen. Wie viele Kilometer sollten das noch einmal sein? Drei? Das durfte nicht wahr sein!

Es half alles nichts. So sehr es ihr missfiel, musste sie diesen Feldweg gehen, um an ihr Ziel zu gelangen. Das nächste Mal bestellte sie sich ein Taxi und ließ sich die Kosten erstatten. Irgendjemanden würde sie schon finden, der die Rechnung begleichen würde.

Die Räder ihres Rollkoffers blockierten sobald sie auf die vogeleiergroßen Steine trafen und ließen sie nur langsam vorankommen. Genau so hatte sie sich das vorgestellt. Irgendwo allein unterwegs in der Pampa auf kaum erschlossenen Wegen. Sie konnte ihren Rollkoffer nicht den ganzen Weg tragen, dafür war er zu schwer. Wieso hatte sie so viel mitnehmen müssen? Um auf alle Wettereventualitäten eingerichtet zu sein. Anstelle sich damit abzuschleppen, hätte sie ein Paket hierhin schicken sollen. Aber wer weiß, wann das angekommen wäre, falls man es nicht an den Absender zurückgeschickt hätte, weil der Empfänger nicht erreichbar gewesen war. Wurde in diese Einöde überhaupt die Post geliefert oder musste die im nächstgelegenen Ort abgeholt werden? Hoffentlich funktionierte das Internet. Solange das lief, nahm sie auch ein Haus ohne fließendes Wasser in Kauf. Gab es das überhaupt noch? Das konnte unmöglich heutzutage noch erlaubt sein.

Wie weit war das noch? Es kam ihr vor, als wäre sie bereits Stunden unterwegs. Die Sonne brannte vom Himmel und der Schweiß lief ihr übers Gesicht. Wenn sie bei diesem vertrottelten Bauern angekommen war, der über seine eigenen Beine stolperte, wäre sie staubbedeckt. Konnte ihr egal sein, was der von ihr dachte, aber ihr selbst war es nicht egal. An ihrer Kleidung heftete normalerweise nicht ein Flusen und jetzt? Wie sie an sich heruntersah, waren ihre schönen Wildlederschuhe verstaubt und ihre dunkle Hose sah nicht besser aus. Wie sollte sie das jemals rauskriegen? Ihre Schuhe konnte sie wegwerfen. Hätte sie bloß andere angezogen, aber das waren die einzigen bequemen gewesen, die sie hatte. Normalerweise lief sie nicht durch die Pampa und schleppte sich an einem Koffer ab, dessen Räder blockierten.

Wann war sie endlich da? Genervt griff sie nach ihrem Smartphone und wollte sich den mobilen Streckenplan ansehen. Stattdessen bekam sie die Meldung, dass keine Internetverbindung vorhanden wäre. Toll! Dann gab's in dem Haus sicherlich auch keine. Genau so hatte sie sich das vorgestellt.

Wütend zog sie ihren Rollkoffer hinter sich her. Der Weg war keinen Deut besser geworden. Immer noch behinderten sie vogeleiergroße Steine und Kiesel. Wenigstens brauchte sie keine Angst haben sich zu verlaufen. Außer dieser sogenannten Straße gab es nichts, das sie vom richtigen Weg hätte abbringen können.

Nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch sah sie endlich ein Haus vor sich auftauchen. Drum herum schienen einige Weiden abgezäunt zu sein. Kühe, Pferde, Schafe oder Schweine konnte sie nicht entdecken. Was vermochte sich in diesen windschiefen Hütten verbergen, die dicht an den Zäunen standen? Waren das Hühnerställe? Oh nee, sie wollte nicht jeden Tag zwischen diesen gackernden und pickenden Viechern herumlaufen und denen die Eier wegnehmen. Wahrscheinlich hackten die ihr aus lauter Dankbarkeit in Arme und Hände. Das war...

Ein wildes Hupen unterbrach ihre Gedanken und sie sah ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf sich zukommen. In letzter Sekunde konnte sie ausweichen und landete in einem Haufen Brennnesseln.

"Arschloch!", schrie sie dem Wagen wutentbrannt hinterher von dem nicht mehr als eine Staubwolke zu sehen war.

Mühsam erhob sie sich. Ihre Arme wiesen bereits Quaddeln auf, als wären Mücken über sie hergefallen. Es brannte fürchterlich. Das würde es die nächsten Tage auch noch, vor allem wenn Wasser über die Stellen laufen würde. Die einzigen Brennnesseln weit und breit und sie musste natürlich dort reinfallen. Besser konnte dieser Tag wirklich nicht mehr werden.

Sie nahm ihren Koffer und ging weiter. Eine leichte Schwäche machte sich durch den Kontakt mit den Brennhaaren auf ihrer Haut bemerkbar. Hoffentlich würde ihr Kreislauf nicht zusammenbrechen. Das würde bestimmt nicht gut ankommen, wenn sie dem Bauern gegenüberstand und statt ihn zu begrüßen in Ohnmacht fiel.

Welche Tiere waren auf den Weiden? Sie sah immer noch nichts. Es konnte nicht sein, dass sich alle Tiere im Stall befanden. So warm war es auch wieder nicht, obwohl die Sonne schien und sie schwitzte, aber sie musste auch einen anstrengenden Fußweg zurücklegen.

Als sie an der ersten umzäunten Wiese ankam, ließ sie ihren Koffer stehen und stellte sich an den Zaun. Da hinten stand etwas. Aber was war das? Wie blöd, dass die Sonne ihr mitten ins Gesicht schien. Sie beschattete ihre Augen, sah aber immer noch nicht besser. Dem würde sie schon auf den Grund gehen, um welche Tiere sie sich kümmern musste.

Kurzentschlossen kletterte sie zwischen den Hölzern hindurch und ging langsam auf die Tiere zu. Auf einmal hörte sie ein leises Summen neben sich. Verwundert über dieses Geräusch drehte sie sich um und erschrak, als sie einem rotbraunen Tier mit Ohren und Schnauze gegenüberstand.

"Ein Lama!", schrie sie und machte, dass sie davonkam. Anspucken ließ sie sich nicht.

Ein Blick über ihre Schulter verriet, dass das Lama sie verfolgte. Waren das Raubtiere? Sie hatte gedacht, die würden sich von Pflanzlichem ernähren, aber nicht von Fleisch oder, schlimmer noch, Menschenfleisch.

Wo war das Ende der Weide? Sie musste sich in Sicherheit bringen, durch den Zaun, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Lama bringen. Schnell weg!

Der Zaun war nur noch wenige Meter entfernt, als sie auf etwas trat und ausrutschte. Zwar versuchte sie noch, sich irgendwie auf den Beinen zu halten, aber sie geriet nur mehr ins Rutschen und landete schließlich mit dem Gesicht im Dreck.

Igitt! Das stank schrecklich. War das etwa der Scheißplatz der Lamas? Mühsam stand sie auf und sah sich ihre Kleidung an. An dieser hingen zerdrückte Köttel. Nee! Sie war wirklich in Lamascheiße gefallen. Das ging gut los.

"Hey!", wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann gelenkt, der am Zaun stand. "Was machen Sie da?", fragte er barsch. "Kommen Sie da sofort raus, das ist Privateigentum. Ich hole die Polizei!"

"Ja, ja, jetzt beruhigen Sie sich, ich komme schon."

Das ging gut los. Sie landete in einem Scheißhaufen und der Bauer hielt sie für einen Eindringling. War der überhaupt Bauer, wenn er Lamas hielt? Was war er dann? Ein Inka? Quatsch, so hieß ein Volksstamm zu Zeiten der spanischen Eroberung Südamerikas. Lamazüchter! Genau, so nannte sich das. Konnte man davon überhaupt leben? Wer wollte Lamas haben? Als Haustiere eigneten die sich nicht und ungezogen waren sie auch, spuckten einen immer an.

Wieder hörte sie das Summen an ihrem Ohr. Dieses Mal klang es fragend. Lieber nicht umdrehen, dann würde sie einer Spuckattacke gewiss entgehen.

"Jetzt kommen Sie. Ich habe noch anderes zu tun, als mich mit irgendwelchen verrückten Alpakafans herumzuschlagen", sagte der Lamazüchter ungeduldig.

Sie kletterte durch den Zaun und stand dem Mann nun gegenüber, dass sie sein Gesicht besser sehen konnte. Er hatte dunkelblonde Haare, die ein wenig zu lang waren, und trug einen Dreitagebart. Der Mann war um die Vierzig, etwas älter als sie, trug eine ausgebeulte und ausgeblichene Jeans, dazu ein Holzfällerhemd mit einem aufgekrempelten Ärmel. Die eine Hand war eingegipst, aber er hatte den Hemdsärmel an der Naht aufgerissen, sodass er den Gips verdeckte. Seinen Namen hatte sie in der Aufregung natürlich vergessen. Hatte ihr Dr. Schneggenburg überhaupt einen gesagt? Sie erinnerte sich nicht mehr. Wenn ihr Psychologe mal zu reden anfing, hörte er die nächste halbe Stunde nicht mehr auf. So waren die Stunden bei ihm meist abgelaufen. Er hatte geredet und sie hatte dabei gesessen und so getan, als würde sie zuhören. Wenigstens musste sie dafür kein Geld bezahlen, das übernahm Vater Staat für sie. Wäre noch schöner gewesen, wenn sie jemanden bezahlen musste, den sie gar nicht brauchte.

"Also, was wollen Sie?", fragte der Mann und musterte sie. Er schien die Lamascheiße auf ihrer Kleidung zu bemerken, denn kurz stutzte er, dann bildete sich ein Grinsen um seine Mundwinkel, verschwand aber so schnell wie es gekommen war. Das hätte ihr noch gefehlt, wenn er sie ausgelacht hätte. Sie war froh, dass das Lama sie nicht angespuckt hatte, aber ihre Wäsche konnte in die Maschine. Glücklicherweise hatte sie keine weißen Sachen angezogen. Die hätte sie wegschmeißen können, weil die Flecken nie mehr rausgegangen wären.

"Nur mal die Tiere aus der Nähe betrachten?"

"Ich interessiere mich nicht für Tiere, die sich in ihrem Fell Flöhe, Milben und anderes Getier heranzüchten. Lamas zählen ganz besonders nicht zu meinen Favoriten."

"Da können Sie ganz beruhigt sein, das Fell meiner Alpakas ist höchstens staubig, aber keine Brutstätte für kleine unangenehme Tierchen."

"Mir egal, ich mag sie dennoch nicht. Lamas spucken."

"Wenn man sie ärgert, aber das sind Alpakas. Lamas habe ich keine."

"Alpakas? Das gibt noch mehr Spucktiere?", sagte sie verwundert. Für sie hatte das rotbraune Vieh nach einem Lama ausgesehen.

"Es gibt zahlreiche Arten von Neuweltkamelen. Neben Lamas und Alpakas gibt es noch Vikunjas und Guanakos", zählte der Mann geduldig auf.

"Neuweltkamele? Weil sie aus Südamerika stammen? Heißen Dromedare dann Altweltkamele?"

Der Mann lachte. Es war nur kurz, aber ein warmes und sympathisches Lachen.

"Das weiß ich nicht, vielleicht." Er wurde wieder ernst. "Was machen Sie hier?"

"Ich bin ihre Hilfskraft, solange Sie Gips tragen. Viola Mertens", sagte sie und hielt ihm die Hand hin. Als sie merkte, dass sein rechter Arm in Gips war, ließ sie ihre Hand schnell wieder sinken und verbarg sie hinter dem Rücken.

Sein rechtes Bein war in Ordnung, wie sie bemerkte, dafür steckte sein linkes in diesem Plastikschuh, wie sie das Gestell immer nannte, wenn sich jemand das Bein gebrochen hatte und kein Gips mehr verwendet wurde. Leute mit Gips am Fuß hatte sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen.

Wie konnte man sich den rechten Arm und das linke Bein brechen? Das war schon seltsam.

"Ich habe niemanden angefordert", sagte er barsch und wollte die Arme vor der Brust verschränken. Mit dem Gips war ihm das nicht möglich, wie er selbst schnell merkte.

"Dr. Schneggenburg hat mir versichert, dass er mit ihnen gesprochen hat. Ich kann natürlich auch wieder gehen, aber dann kriege ich Ärger."

"Ach, Schnecke, richtig."

"Was?", sagte Viola empört. "Wie haben Sie mich genannt?"

"Schneggenburg ist Schnecke, so haben wir ihn immer in der Schule genannt, weil er kaum von der Stelle gekommen ist. Hatte immer ein Buch vor dem Gesicht. Schnecke hat mit mir gesprochen, richtig angefleht hat er mich, dass ich Sie nehmen soll. Das ist irgend so ein Resozialisierungsprogramm, habe ich das richtig verstanden? Was haben Sie denn ausgefressen? Schnecke hat gesagt, sie hätten niemanden umgebracht. Was war's dann?"

"Eine Verkettung unglücklicher Umstände", sagte sie zwischen zusammengepressten Lippen hindurch.

"Das ist auch eine Erklärung. Wenn Sie nicht darüber sprechen wollen, mir soll's recht sein. Solange ich morgens nicht mit einem Messer im Rücken aufwache."

Er sah sie belustigt an, aber seine Augen blieben teilnahmslos.

"Titus Behrens."

"Titus?", sagte Viola und musste sich zurückhalten nicht laut loszulachen. "Sind Ihre Eltern Fan des alten Roms gewesen? Heißen Sie mit zweitem Namen Claudius oder Caesar?"

"Claudius heißt mein Bruder und mein Zweitname tut nichts zur Sache."

Er wirkte eingeschnappt.

"So schlecht klingt Titus auch wieder nicht. Der Name kommt bestimmt nicht häufig vor. In meiner Klasse gab es noch eine andere Viola. Wir waren deshalb Viola M. und Viola D. Das fand ich nicht besonders toll. Ich wollte sogar meinen Namen ändern, aber eine Heike gab es auch schon in der Klasse und der Nachname begann ebenfalls mit einem M."

"Sie sind ganz ohne Gepäck gekommen oder liegt das noch im Auto?"

Er sah sich um, konnte aber keinen Wagen entdecken.

"Ich habe kein Auto. Mein Koffer steht irgendwo da vorn. Den hätte mir beinahe jemand über den Haufen gefahren. Ich bin deshalb in den Brennnesseln gelandet."

"Brennnesseln sind gut für die Durchblutung."

"Nicht bei mir, ich reagiere empfindlich darauf. Wer war das, der die Straße mit einer Rennstrecke verwechselt hat?"

"Ein Arschloch!", waren seine einzigen Worte.

"Genau!", stimmte Viola ihm zu.

"Dann holen Sie ihren Koffer und ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Sie wollen sich bestimmt umziehen."

Kapitel 2

Das Zimmer war geräumig, hatte ein Fenster, das auf den Garten hinter dem Haus rausging. Dort standen verschiedene Bäume. Wahrscheinlich Apfelbäume, das konnte sie nicht genau sagen, erst wenn sie diese aus nächster Nähe betrachtet hatte, konnte sie sagen, ob Apfel- oder Birnbaum. In der Nähe stand ein riesiger Haselnussbaum oder besser eine Ansammlung davon. Einzelne Stämme waren mindestens vier bis fünf Meter hoch.

Violas Zimmer war mit einem Bad verbunden, das über Dusche und Badewanne verfügte. Alles wirkte neu, als sei es erst vor wenigen Jahren eingebaut worden. Sie hatte Angst gehabt, auf ein Häuschen im Garten gehen zu müssen, das als Toilette diente. Von diesem Alptraum war sie verschont geblieben.

Das Bett sah sauber aus, aber sie hatte dennoch nicht vor darin zu liegen. Der erste Schein konnte trügen und morgen früh würde sie mit zerbissenen Armen und Beinen aufwachen. Wanzen waren das letzte, was sie gebrauchen konnte. Deshalb legte sie ihre Kleidung auch nur in Plastikbeuteln in den Schrank und packte sie nicht aus. Eine einzige Wanze oder Hausstaubmilbe, die sie nach Hause brachte und ihre ganze Wohnung wäre verseucht. Bisher war sie davon verschont geblieben, auch wegen ihrer Vorsichtsmaßnahmen.

Viola hatte sich ihrer schmutzigen Kleidung entledigt und saubere Sachen angezogen. Die Waschmaschine würde zu ihrer freien Verfügung stehen, hatte Titus ihr zugesichert. Hoffentlich war die sauber und nicht voller Wollflusen.

Titus, wenn sie an diesen Namen nur dachte, musste sie bereits grinsen. Da konnte sie nichts gegen machen, es war so. Seinen Zweitnamen wollte er ihr gar nicht erst verraten, weil dieser bestimmt noch schlimmer als Titus war. Wahrscheinlich hieß er Rüdiger.

Er wollte ihr jetzt das restliche Haus zeigen und ihr dann seine Alpakas vorstellen. Alpakas! Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht, dass sie sich um falsche Lamas würde kümmern müssen. Warum war sie eigentlich hier? Titus wirkte trotz Gips an Arm und Bein nicht, als ob er nur im Bett läge und sich nicht fortbewegen könne. Wahrscheinlich hatte Schnecke, also Dr. Schneggenburg, ihn angefleht, sie zu nehmen. Musste sie ihrem Psychologen dankbar sein? Wenn er ein Dankeschön erwartete, würde er das nicht von ihr zu hören bekommen. Nachdem, was ihr widerfahren war, konnte sie erwarten, dass er sich für sie einsetzte und eine Aufgabe fand, die sie nicht nach fünf Minuten beenden musste, weil sie geruchs- und geräuschempfindlich war.

Deshalb war sie auf der Lama-, nein, Alpaka-Farm gelandet. Woran unterschied man nun die eine von der anderen Art? Die sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Das würde sie fragen müssen.

Noch rasch ein Blick in den Spiegel. Ihr Gesicht war wieder köttelfrei. Sie hatte tatsächlich eines davon an der Wange kleben gehabt und es nicht gemerkt. Titus musste man es hoch anrechnen, dass er sich nicht schlapp gelacht hatte. Sie wusste nicht, wie sie reagiert hätte, wenn er ihr so derangiert gegenüber gestanden hätte.

"Alles zu Ihrer Zufriedenheit oder brauchen Sie noch etwas?", fragte er, als Viola die Treppe herunterkam.

"Ich hab alles, danke."

"Gut, kommen Sie."

Titus führte sie in die Küche, die größer als ihr Wohnzimmer war.

"Unschwer zu erkennen, was es ist", sagte er. "Das ist das eigentliche Wohnzimmer. Hier halte ich mich fast immer auf, wenn ich nicht draußen bin oder im Büro Dinge erledigen muss."

Viola ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Es wirkte gemütlich. Die Eckbank und der große Tisch luden zum Verweilen ein. Es gab einen großen Elektroherd und einen alten aus Gusseisen.

"Funktioniert der noch?", fragte sie und deutete auf den uralten Herd.

"Ja, aber ich benutze ihn nicht. Im Winter ist er eine natürliche Wärmequelle, aber das ganze Holz in kleine Spalten hacken. Ich habe besseres zu tun."

Aha, Titus war bequem oder sollte sie ihn gleich als faul bezeichnen? Hoffentlich ging er mit seinen Tieren besser um.

"Im Kühlschrank ist viel und reichlich. Der nächste Supermarkt ist erst in zwanzig Kilometern zu finden. Bedien dich, wenn du was brauchst, ich mache keine Liste, was du nimmst oder ich entnehme. Wenn du willst, kannst du auch ein eigenes Fach haben, in das du alles stellst, was du brauchst. Ach so, isst du alles oder bist du ein Gemüsefreak?"

"Allesfresser, bis auf Leber, Magen und Niere", sagte sie amüsiert. Mit Gemüsefreak meinte er wohl Veganer. Mit denen konnte sie auch wenig anfangen. Ihr jüngerer Bruder war so ein Gemüsefreak. Für ihn musste man jedes Mal eine Extrawurst, natürlich ohne Fleisch, zubereiten, weil er sonst beleidigt am Tisch saß und kein Wort mehr mit einem redete.

"Sehr schön. Dann muss ich keine zwei Gerichte kochen. Es kommt zwar nicht viel Fleisch auf den Tisch, aber eben Milchprodukte. Der Supermarkt hat zwar eine gute Auswahl an Milchersatzprodukten, aber ich mag Soja nicht."

"Ich auch nicht. Hafer ist besser."

Er nickte zustimmend und führte sie ins Wohnzimmer, das durch einen großen Fernseher neben der Tür dominiert wurde.

"Der Fernsehraum, ansonsten nutze ich dieses Zimmer fast gar nicht. Wenn du deine Ruhe haben willst und dir auf deinem Zimmer die Decke auf den Kopf fällt, kannst du dich hier aufhalten. Ich gehe hier nur sehr selten rein. Das Fernsehprogramm ist trotz Kabelfernsehen nicht besonders."

Er hielt inne und sah sie an.

"Oh Mann, jetzt habe ich Sie geduzt, das wollte ich nicht."

"Kein Problem, wir können auch beim Du bleiben. Mich stört das nicht."

"Gut, wie ich heiße, weißt du."

"Nicht zu vergessen."

Beide lachten.

Viola sah sich noch einmal um und entdeckte ein Klavier.

"Du kannst spielen?", fragte sie und ging zu dem Instrument.

Sie zog den Hocker zurück und setzte sich. Vorsichtig öffnete sie den Deckel und drückte eine Taste hinunter. Kein Ton erklang. Verwirrt sah sie das Instrument an und erkannte ihren Irrtum. Es handelte sich um ein E-Piano. Sie suchte den Einschaltknopf, doch als sie ihn drückte, geschah nichts.

"Gib dir keine Mühe, es funktioniert nicht", sagte Titus und schloss mit einem Ruck den Deckel, dass sie ihre Finger eilig zurückziehen musste, damit diese nicht eingeklemmt wurden. "Ohne Kabel ist es nur ein Dekostück."

"Wieso? Kannst du nicht spielen?"

"Steh auf! Ich will dich nie an diesem Klavier sitzen, geschweige denn spielen hören. Haben wir uns verstanden?"

Eingeschüchtert nickte sie. Seine böse blickenden Augen machten ihr Angst.

Schnell stand sie auf und schob den Hocker unter das E-Piano. Die heitere Stimmung war wie weggeblasen.

Schweigend führte Titus sie nach draußen zur Alpakaweide. An der Stelle, auf der Viola vorhin ausgerutscht war, stand ein Alpaka und köttelte.

"Die Toilette musst du täglich reinigen, darfst aber nicht alles entfernen. Du wirst es bei dem unebenen Boden ohnehin nicht schaffen, außer du reißt das ganze Gras aus."

Ihm war nicht mehr anzumerken, dass er eben noch voller Wut gewesen war, weil sie sich an das E-Piano gesetzt hatte. Ob er es vergessen hatte? Überspielte er seine Wut? Wollte er ihr keine Möglichkeit geben, zu fragen, warum er so drastisch reagiert hatte?

"Die haben nur eine Toilette?", hakte sie noch einmal nach. Unvorstellbar, dass sie genau da ausrutschen und reinfallen musste.

"Kostet dich nicht viel Zeit, weil du nicht über die gesamte Weide musst und vor allem können sie sich so keine Würmer holen. Wo ihre Toilette ist, fressen sie nichts. Deshalb sieht diese Stelle auch relativ unberührt aus. Es gibt allerdings ein Alpaka, das gerne irgendwo eine neue Toilette aufmacht und die anderen folgen. Dahinten sitzt sie, die schwarze mit dem weißen Pony und der weißen schmalen Schnauze. Das ist Esmeralda. Nicht zu verwechseln mit Harryne, die ein breiteres Gesicht hat und düsterer wirkt. Esmeralda hat etwas Aufgewecktes und Lustiges an sich. Du wirst es schon sehen, wenn du sie näher kennst", sagte er, nachdem Viola ihn ratlos angesehen hatte. Für sie unterschieden sich die Alpakas nur in der Farbe. Wenn zwei sich noch ähnlich sahen, würde sie die nie auseinanderhalten können. Wer hatte ihr gesagt, dass sie die Alpakas unterscheiden müsse? Sie machte deren Dreck weg und fertig. Das dürfte nicht so schwer sein, vor allem stank er nicht übermäßig bestialisch, solange man sich nicht hineinlegte. Schien eine angenehme Arbeit zu sein, wenn man davon absah, dass es eben die Hinterlassenschaften von Tieren waren.

"Sieh mal, wer da kommt. Das ist die neugierigste der Herde. Ihr Name ist Notte, obwohl ihr Fell nicht ganz so schwarz ist wie das ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Siehst du die braunen Spitzen? Da kommt ihr Vater durch. Der lebt hier auch. Steht allerdings nicht mehr hier auf der Weide, weil er sich nicht mit dem neuen Zuchthengst versteht. Gringo war bis vor drei Jahren der Chef der Herde und hat dann seinen Posten abgeben müssen. Jetzt kann er zwar nicht mehr für Nachkommen sorgen, aber seinem Nachfolger macht er das Leben schwer. Deshalb steht er mit ein paar anderen Kastraten auf einer Weide hinter dem Haus. Obwohl er nicht besonders groß ist, weiß er sich durchzusetzen. Du wirst es sehen, wenn du ihn ein wenig beobachtest. Er steht in nichts zurück, obwohl die anderen alle größer sind als er."

Viola merkte, dass er mit Freude bei der Sache war und gerne noch mehr über die einzelnen Persönlichkeiten seiner Herde erzählt hätte. Vermutlich hielt er sich zurück, um sie nicht zu langweilen. Sie hätte gern zugehört, allein schon deshalb, weil es sie von der Arbeit abhielt.

"Wie kommt jemand wie du darauf, Alpakas zu züchten? Du züchtest sie doch?"

"Ja, die Wolle allein reicht nicht zum Überleben, obwohl sie seit einiger Zeit stark im Kommen ist."

"Ich sehe überall Alpakasocken zu kaufen, aber wenn ich dann lese, dass nur zwanzig Prozent drin sind, frage ich mich, warum man die so preist."

"Du kennst keine Alpakawolle. Die hält richtig warm, deshalb muss sie mit Schafswolle gestreckt werden, damit man sich nicht zu Tode schwitzt. Du kannst das im Winter sehen, wenn es schneit. Der Schnee schmilzt nicht auf dem Fell und die Alpakas frieren nicht. Ihre Wolle ist gut wärmeisolierend."

"Und warum züchtest du Alpakas?"

"Warum nicht?", sagte er und es schien, als wich er einer direkten Antwort aus.

"Es muss doch einen Grund gegeben haben, warum du damit angefangen hast. Da kommt man nicht einfach so drauf."

"Alpakas sind liebenswürdige, kluge Tiere."

"Ich schaffe mir keine Elefanten an, nur weil ich die gut finde. Warum ausgerechnet Alpakas?"

Titus schien vor seinen Augen einen inneren Rollladen hinuntergelassen zu haben. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos. Er schien nicht gewillt, ihr eine Antwort zu geben.

"Die Herde stand samt Bauernhof und umliegenden Land zum Verkauf und ich habe den Zuschlag bekommen. Das hat einigen nicht gefallen, aber die anderen haben mich ermutigt, nicht gleich aufzugeben, egal wie schwer es werden würde. Ich hab's geschafft. Die Zucht läuft gut und auch das Fell hat seinen Abnehmer gefunden. Wusstest du, dass schwarzes Fell die beste Qualität hat? Baby-Alpakawolle ist das allerbeste, was es gibt, aber das mache ich nicht. Die Jungtiere sollen eine unbeschwerte Kindheit haben."

Das klang vernünftig, aber warum Titus angefangen hatte, Alpaka zu züchten, hatte er ihr immer noch nicht erzählt. Ob er das gar nicht wollte? Er wich ihr aus. Warum? Weshalb wollte er ihr nicht erzählen, warum er eine Alpakazucht begonnen hatte? Wie es schien, war er nicht einmal aus der Nähe, sondern aus einer Großstadt hierher gezogen. Wer machte so etwas freiwillig? Sie würde nie auf die Idee kommen, ihr Leben in der Stadt gegen eines auf dem platten Land zu tauschen, wo man von der Welt abgeschnitten war. Vielleicht wollte Titus genau das.

Seltsam, dass er ihr nicht sagte, warum es ihn aufs Land zu den Alpakas verschlagen hatte. Warum gerade diese Tiere? Hätten es nicht auch Schafe oder Ziegen sein können? Den Grund würde sie zu gerne wissen. War es ihm peinlich oder warum machte er so ein Geheimnis daraus? Was versuchte er zu verbergen?

Verbergen, das war genau das richtige Wort. Titus verbarg etwas vor ihr. Hatte er Schlimmes angestellt und war in diese Einöde geflüchtet, um seine Ruhe zu haben? Damit er von der Öffentlichkeit nicht mehr belästigt wurde? Dazu würde passen, dass er sich nicht sonderlich dafür interessiert hatte, warum sie ihm aufs Auge gedrückt worden war, wie er sich ausgedrückt hatte. Hatte er etwas viel Schlimmeres getan als sie? Dr. Schneggenburg mochte Titus kennen, aber was hieß das schon? Kannte ihr Psychologe sie wirklich? Er wusste vieles nicht von ihr und glaubte sie dennoch zu kennen, obwohl er auf die hirnrissigsten Dinge kam, die ihr nie im Traum einfallen würden, was ihr gefallen könnte oder was sie nicht mochte. Sie hatte keine Lust ihn zu korrigieren, weil sie von Psychologen im Allgemeinen nicht viel hielt. Die waren alle selbst verrückt.

Was war mit Titus? War er ein Mörder? Nein, seine Augen waren nicht die eines Mörders, sondern blickten freundlich in die Welt. Was hatte er getan?

"Kommst du?", riss er Viola aus ihren Gedanken. "Ich will dir noch die restlichen Alpakas zeigen, die auf einer anderen Weide stehen."

Mit einem Nicken folgte sie ihm. Während sie hinter Titus herlief, beobachtete sie ihn. Er lief etwas schwerfällig, was dem Plastikgestell um sein Bein geschuldet war, aber wirklich beeinträchtigen schien es ihn nicht. Vielleicht mochte er langsamer als gewöhnlich gehen, aber er schien an seinen falschen Gips gewöhnt zu sein, konnte ohne Krücken gehen. Nee, er hätte nur eine Krücke benutzen können, weil ein Arm in Gips war. Wie das passiert war? Ob er auch nicht darüber sprechen wollte? Über seine eigenen Füße dürfte er kaum gefallen sein. Ein Alkoholiker mochte über seine Beine stolpern, aber so sah Titus nicht aus.

"Hier haben wir unsere Junggesellengruppe. Wenn es funktionieren würde, wären sie alle in der Herde, aber dagegen hat der Zuchthengst etwas, sieht sie immer noch als Konkurrenten. Eigentlich ist Schmuhdel ein ganz Netter, aber sobald er Konkurrenz wittert, kennt wer weder Freund noch Feind, nur Rivalen."

"Unter den Menschen ist das nicht anders", meinte Viola und zeigte auf ein braunes Neuweltkamel, das sich deutlich von den anderen unterschied. "Das ist jetzt ein Lama. Der ist viel größer als die anderen."

"Nein, leider ist Pablo kein Lama, auch wenn er so groß wie diese ist. Er mag ein wenig aus der Art geschlagen sein, besonders wenn er neben Gringo steht, der relativ kurzbeinig ist. Pablo ist genauso ein Alpaka wie die anderen und ein Schisser. Der fängt schon zu zittern an, wenn er Schmuhdel nur sieht. Mag man nicht glauben, ist aber so. Anfangs war das noch anders, da hat er Schmuhdel sogar das Futter geklaut. Heute würde er sich das nicht mehr trauen, denn Schmuhdy hat ein paar treffende Argumente, die klarstellen, dass er der Chef ist. Pablo war einige Zeit Dauerpatient bei der Tierärztin. Angebissene Ohren, Bissstellen überall am Körper, eine Risswunde im Gesicht. Ich musste ihn und die anderen ehemaligen Herren hier unterbringen. Gringo verstand sich ohnehin nicht mit seinem Nachfolger, da war das hier das Beste, was ich machen konnte."

"Eine reine Junggesellengruppe", stellte Viola fest.

"So ähnlich. Diese sechs Herren können Schmuhdel wenig Konkurrenz machen. Sie sind keine Hengste mehr, sondern Wallache."

"Oh."

Titus grinste, als er Violas betroffene Miene sah. Wieso reagierten alle Frauen gleich, wenn sie hörten, dass diese Alpakas nicht mehr züchten konnten? Männer machten ihre Witze darüber, um die unangenehme Situation zu überspielen, aber Frauen wirkten immer betroffen oder hatten Mitleid mit Gringo und den anderen.

"Sie haben keinen Schaden davon, sind sogar umgänglicher als früher. Bis auf Pablo. So sehr er Schmuhdel fürchtet, gebärdet er sich wie ein Halbstarker, der seine Kräfte testet, wenn er am Halfter geführt wird. Selbst ich habe Probleme, dass er mir nicht durchgeht. Was passiert, wenn man nicht richtig aufpasst, kann man an mir sehen", sagte er und hob seinen Gipsarm.

"Das ist dir passiert, als du mit den Alpakas unterwegs warst?"

"Nein, das ist später passiert. Aber ich war einmal mit Pablo unterwegs. Er sollte nur bis zum Haus, muss aber Schmuhdel gewittert haben und ist mir durchgegangen. Habe mir ein paar Schrammen geholt, aber mehr ist nicht passiert. Bei anderen hätte es schlimmer ausgehen können. Deshalb nehme ich Pablo nie für Wanderungen, selbst erfahrene Alpaka- oder Lama-Wanderer könnten mit ihm und seiner Art nicht zurechtkommen."

"Wanderungen? Du bietest Wanderungen mit deinen Alpakas an?"

"Ja, aber nur mit diesen hier. Momentan nicht, weil es nicht geht, wie du siehst."

"Muss ich das auch machen?", wollte sie wissen. Mit irgendwelchen Möchtegern-Wanderern unterwegs zu sein war das letzte, was sie sich vorstellen wollte. Dass sie mit diesen Tieren arbeiten musste, schön und gut, mehr auch nicht.

"Nein, vielleicht später, wenn du mit den Tieren und den einzelnen Persönlichkeiten vertrauter geworden bist. Als erstes wirst du dich nur um die Reinigung der Toilettenplätze und das Futter kümmern. Danach sehen wir weiter."

"Du willst wissen, wie ich mich anstelle?"

"Könnte sein, dass du nicht mit ihnen zurechtkommst oder sie dich nicht mögen. Letzteres dürfte eigentlich nicht passieren. Solange du dich nicht wie die Axt im Walde benimmst, werden sie dich respektieren und wenn du ab und zu ein paar Möhren oder Pellets für jeden dabei hast, werden sie dich toll finden. Lass uns mal testen, wie du mit ihnen zurechtkommst."

Titus ging näher an die Holzabsperrung heran und schnalzte mit der Zunge. Die sechs Alpakas auf der Weide hielten inne, sahen zu ihm und beobachteten ihn. Er holte einen kleinen Frühstücksbeutel aus der Hosentasche. Als die Neuweltkamele das Knistern hörten, kamen sie sofort angelaufen und scharrten sich an der Absperrung um Titus.

"Komm her, jetzt kannst du zeigen, dass du keine Angst vor ihnen hast", sagte er, nahm etwas aus dem Beutel und wartete.

Zögernd trat Viola an ihn heran. Direkt Angst verspürte sie nicht, aber ganz geheuer war ihr auch nicht. Besonders Pablo, dieses Riesenbiest, das angeblich kein Lama war, aber genauso wie eins aussah, flößte ihr Respekt ein. Witzig fand sie Gringo, der nicht über den zweiten Querbalken sehen konnte und neben zwei anderen stand, die viel größer waren als er. Angst hatte er nicht vor ihnen, sondern drehte sich drohend von einer zur anderen Seite. Jedenfalls kam es ihr vor, als würde er die anderen beiden bedrohen. Die Töne, die er von sich gab, klangen alles andere als freundlich.

"Streck deine Hand aus", forderte Titus sie auf und legte ihre mehrere kleine dünne Stäbchen hinein, die aussahen wie abgebrochene Düngestangen, die man in Topfpflanzen steckte. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendwelche Futterpellets. "Lass deine Hand so und halt sie Pablo hin. Er wird sich nehmen, was du ihm anbietest. Dann machen wir mit den anderen weiter, sonst gibt es Spuckopfer."

"Spuckopfer?", sagte Viola und im nächsten Moment hörte sie eines der Alpakas gurgeln und etwas Feuchtes landete in ihrem Gesicht. Es roch widerlich.

Titus lachte und im nächsten Augenblick wurde ihr gewahr, dass er sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht und deshalb sie die Ladung abbekommen hatte. Ganz toll!

Viola versuchte sich zusammenzureißen und Titus nicht die Pellets ins Gesicht zu schleudern und wutentbrannt zu gehen. Er hatte sie gelinkt!

"Das war eine ganz miese Tour", fauchte sie, fummelte mit der freien Hand ein Taschentuch aus ihrer Hose und wischte sich angeekelt die Alpakaspucke von der Wange.

"Dass Alpakas spucken, dürfte bekannt sein."

"Lama spucken. Von Alpakas war nie die Rede."

Sie hatte Mühe ihre Stimme ruhigzuhalten. Dieser Arsch hatte sie in die Falle tappen lassen und sie war wie ein blindes Schaf hineingelaufen. Auch wenn er nicht lauthals lachte, stand er bestimmt grinsend da und amüsierte sich über ihre Dummheit. Sie wollte ihn nicht ansehen, sonst wäre sie ihm an die Gurgel gegangen, wenn sie nur ein Zucken seiner Mundwinkel wahrgenommen hätte.

Dr. Schneggenburg hatte recht, wenn er ihr sagte, dass zu aufbrausend war. Im Alltag hatte ihr das bisher nur Nachteile gebracht. Ihre Geduld lag gegen Null, genau wie ihre Toleranz. War es nicht ein Erfolg, dass sie immer noch hier stand und noch nicht gegangen war?

"Alpakas spucken auch, genauso wie Vikunjas und Guanakos. Kamele tun es ebenfalls, aber das wissen die meisten nicht. Lamas sind als Spucker der Welt verschrien, dabei spucken sie nur ihre Konkurrenten an. Wenn wir allerdings im Weg stehen, dann haben wir Pech gehabt. Bei Alpakas ist das genauso. Pablo wollte nur seinen Futterkonkurrenten klar machen, wer von ihnen der Chef ist. Du hast leider in seiner Zielrichtung gestanden. Merk es dir für später, damit du nicht deren Spuckopfer wirst: Geh auf Abstand, sobald du ein Alpaka gurgeln hörst. Wenn sie dich treffen, ist es ein Versehen. Es gibt nur ein einziges Alpaka, das dich bewusst anspuckt, wenn es etwas haben will und du ihm nichts gibt: Esmeralda. Alle anderen wollen ihre Konkurrenten treffen, haben meist nicht genug Zielwasser getrunken, dass es danebengeht."

"Das stinkt widerlich", meinte Viola und war versucht, das Taschentuch einfach weit wegzuwerfen, anstatt es gut zusammengeknüllt in die Hosentasche zurückzustecken.

"Dann hast du noch nichts abbekommen, was richtig aus dem Magen kommt. Das hier ist harmlos gegen das, was schon vorverdaut ist. Wenn du so etwas abbekommen solltest, kannst du sagen, es stinkt. Den Geruch wirst du erst einmal nicht aus der Nase bekommen, selbst wenn du dich wäscht."

"Toll. Am besten geht man nur in Schutzkleidung inklusive Gasmaske zu den Spuckern."

"So werden dir alle auf den Pelz rücken, weil sie das seltsame Wesen aus der Nähe betrachten wollen. Alpakas sind sehr neugierig."

"Danke, sie werden mir immer sympathischer."

"Lerne mit ihnen umzugehen und du wirst keine Probleme mit ihnen haben. Ich sag dir, wenn du wieder gehst, willst du gar nicht mehr fort, weil du sie alle in dein Herz geschlossen hast."

"Bestimmt nicht!", wehrte Viola ab. Soweit kam das noch, dass sie stinkende und verlauste Viecher toll finden würde. "Tiere sind nicht das, was ich als meine Favoriten bezeichne."

Titus zuckte mit den Schultern. Offensichtlich wusste er darauf nicht zu antworten oder wollte es nicht. Konnte ihr egal sein. Gut, dass er nicht genauer nachfragte, sondern es so hinnahm, wie sie es gesagt hatte. Vielleicht war er auch einfach nur überzeugt davon, dass sie ihre Meinung irgendwann ändern würde. Darauf konnte er lange warten, das hatte sie noch nie getan.

"Jetzt gib Pablo die Pellets, aber pass auf die anderen auf, besonders auf Gringo, sonst bekommst du wieder eine Ladung ab und das willst du nicht."

Er konnte Befehle austeilen, wenn er wollte, wie sie gerade feststellte. Damit war er kein Waschlappen, dem man einfach seine Meinung aufs Auge drücken konnte, sei sie richtig oder falsch. Das gefiel ihr. Mit jemandem, der wusste, was er wollte, würde sie gut klarkommen.

Warme, weiche Lippen fuhren über ihre Handfläche.

"Hey, das kitzelt", sagte Viola zu Riesenbiest Pablo. "Schmeckt dir das? Ich glaube, deine Kollegen wollen auch noch was haben."

Sie drehte sich zu Titus, der ihr stumm die Handfläche auffüllte.

"Wer will jetzt?", fragte sie in die Runde. Alle sechs Alpakas reckten ihre Hälse, was bei Gringo besonders lustig aussah, weil er vergebens versuchte, über den zweiten Querbalken zu schauen. Das gab für sie den Ausschlag, ihm die Pellets zu geben.

Zuvor machte Gringo den anderen noch einmal klar, wer der Chef im Gehege war und spuckte links und rechts seine Futterkonkurrenten voll. Dieses Mal war Viola gewarnt gewesen, als sie das schrille Gurgeln hörte, und rechtzeitig zurückgewichen.

"Das reicht für heute", sagte er, als sie Gringo die Pellets gegeben hatte. "Gehen wir ins Haus. Du hast Glück, dass die Alpakas heute bereits ihr Futter bekommen haben, sonst müsstest du jetzt ins kalte Wasser springen. So hast du bis morgen Vormittag Zeit. Ich werde dir zeigen, wie du das zu machen hast, aber danach wirst du die Aufgabe allein übernehmen, schließlich bin ich eingegipst und kann so etwas nicht machen."

Viola fand immer noch, dass Titus für jemanden, der jeweils einen Arm und ein Bein in Gips hatte, erstaunlich gut laufen konnte. Sein Gang war holprig, aber er kam ohne Krücken voran. Sicherlich war das bei diesem Plastikgips nicht weiter schwer, aber dieses Gelände war uneben. Da musste man sicherlich aufpassen, wo man hintrat und durfte nicht abgelenkt sein.

Kapitel 3

Viola fand, dass der erste Tag gar nicht schlecht verlaufen war. Er war erheblich besser gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. Von Schweinen, Kühen oder anderen stinkenden Viechern keine Spur. Besser hätte sie es nicht treffen können.

Nur das erste Aufeinandertreffen mit den Alpakas hätte besser verlaufen können. Ausgerechnet auf der einzigen Toilette auszurutschen und sich dort auch noch lang hinzulegen... Das konnte nur ihr passieren. Wenigstens hatte Titus es mit Humor genommen. Im Rückblick konnte sie sogar selbst darüber lachen. Seltsame Missgeschicke passierten ihr immer. Dieses hatte keine Konsequenzen gehabt, im Gegensatz zu anderen, weshalb sie hier ihre Strafe abbrummen musste. Wahrscheinlich musste sie Dr. Schneggenburg dankbar sein, dass er sie hierhin vermittelt hatte. Bei den anderen zwei Stellen zuvor hatte sie sofort gehen müssen. Als es das erste Mal passierte, hatte man darüber hinweggesehen, angenommen, sie würde schauspielern, um dem zu entkommen. Beim zweiten Mal hatte man ihr ernsthaft mit Konsequenzen gedroht, aber es war einfach nicht gegangen. Besonders empfindliche Menschen hatten es schwer. Deshalb durfte jetzt nichts mehr schiefgehen.

Stinken taten die Alpakas nicht, jedenfalls hatte sie nichts riechen können, was ihre Geruchsnerven beleidigt hätte. Von der Rotzerei einmal abgesehen, die unappetitlich stank, schienen die falschen Lamas relativ wohlriechend zu sein. Auch ihre Toilette hatte nicht übermäßig gestunken. Das sollte morgen zu schaffen sein, diese zu säubern.

Im Übrigen schienen Alpakas unkompliziert. Sie standen auf einer Weide, mussten nicht jeden Abend in den Stall gescheucht und morgens wieder retour geführt werden. Bei Wind und Wetter waren sie draußen. Ihr dichtes Fell schien sie wetterunabhängig zu machen.

Mal sehen, wie sie sich machen würden, wenn sie mit ihnen morgen in Berührung kam. Titus hatte sie vorhin gewarnt, dass sie nicht erschrecken solle, wenn alle auf sie zugelaufen kämen. Neugierde solle das sein, hatte er gesagt. Vielleicht war deshalb das eine Alpaka auf sie zugelaufen gekommen, als sie sich auf dessen Weide befunden hatte. Und sie hatte gedacht, es wolle sie anspucken. Was man eben dachte, wenn man ein Lama sah, auch wenn es sich um etwas anderes handelte.

Bei Pablo war sie immer noch überzeugt, dass er ein Lama war. Er war viel zu groß für ein Alpaka, aber Titus hatte ihr eben beim Abendessen noch einmal versichert, dass Pablo ein waschechtes Alpaka sei, nur etwas groß geraten. Ja, ja, nur etwas groß geraten. Pablo war ein Riesenbiest!

Viola setzte sich an den Schreibtisch und startete ihren Laptop. Es gab einen Internetanschluss, sogar Breitband, wie ihr Titus versichert hatte. Wie das gerade hier in der Einsamkeit möglich war? Hatte er gute Kontakte, dass ihm die nötigen Kabel gelegt worden waren? Allerdings schien er selbst an der Internetverbindung kein besonderes Interesse zu haben. Höchstens für Bankgeschäfte oder für Futterbestellungen nutze er es, hatte er ihr gesagt. Er hatte noch etwas sagen wollen, es dann aber vorgezogen zu schweigen.

Er schien vieles lieber für sich zu behalten, wie sie festgestellt hatte. Warum er diesen Bauernhof gekauft und angefangen hatte, Alpakas zu halten, hatte er ihr immer noch nicht gesagt. Dafür wusste sie nun, was er früher einmal gewesen war: Bankkaufmann. Das hatte sie ihm auch erst aus der Nase ziehen müssen. Wo er gearbeitet hatte, womit er sich beschäftigt hatte, was sein Spezialgebiet war, dazu hatte er wieder geschwiegen. Schweigen schien sein großes Hobby zu sein, aber das würde ihm nicht viel nutzen. Wozu gab es Google? Da würde sie jetzt ein wenig recherchieren und am Ende hoffentlich mehr über Titus wissen, als er ihr gesagt hatte.

Die Suche war ernüchternd. Ein gänzlich unbeschriebenes Blatt war der große Alpakazüchter. Es gab eine Internetseite über die Alpakawanderungen, mehr auch nicht.

"Nicht zu fassen!", murmelte Viola erstaunt. Wie konnte jemand so durch das System rauschen? In der heutigen Zeit tauchte doch jeder im Internet auf, ob er wollte oder nicht. Hatte er sämtliche seiner Daten bei der größten Suchmaschine der Welt löschen lassen? Sie probierte es mit einer anderen, stieß wieder auf die Alpakaseite, aber auch auf einen Zeitungsartikel. Glücklicherweise war er frei zugänglich und sie musste sich nicht erst umständlich anmelden, damit sie mindestens einen Monat Zugang zum Zeitungsarchiv hatte, obwohl sie nur diesen einen Artikel lesen wollte. Als man noch kostenlos alles hatte lesen können, war es einfacher gewesen, die benötigten Informationen zu bekommen. Allerdings musste sie Abstriche machen. Es handelte sich nur um den geschriebenen Artikel. Fotos fehlten gänzlich. Das war nicht zu ändern, aber sie hätte zu gern gewusst, wie der große Alpakazüchter damals ausgesehen hatte.

Der Artikel war zwanzig Jahre alt und berichtete über den erfolgreichsten Lehrling des Jahres. Titus hatte diese Auszeichnung erhalten. Er hatte sie nicht angelogen, als er davon gesprochen hatte, Bankkaufmann zu sein. Eine Lehre hatte er zumindest absolviert, aber ob er in diesem Beruf auch gearbeitet hatte, war etwas anderes. Dass er es getan hatte, dafür fand sie keinerlei Informationen. Es gab einzig diesen Artikel, der ihn in Zusammenhang mit einer Bank brachte. Vielleicht hatte er die Ausbildung gemacht und hatte sich dann der brotlosen Kunst gewidmet. Sie kannte zwei Leute, die eine Ausbildung gemacht hatten, weil ihre Eltern es wollten, damit sie etwas Solides in der Hand hatten, falls sie in ihrem Künstlerberuf auf die Nase fallen sollten.

Ob sie mal bei der Bank anrufen sollte, um zu erfahren, ob er dort noch bekannt war? Was sollte das bringen? Sie wusste nicht, wie lange er seine Stelle bereits aufgegeben hatte. Ob sie überhaupt Auskunft bekäme? Heutzutage waren die Leute misstrauisch geworden. Na gut, so war sie auch. Persönliche Daten von ihr gab es im Internet nicht, nur Berufliches. Bei ihr war es auch wichtig. Man würde ihr nicht vertrauen, wenn man irgendwelche Partybilder von ihr fand, auf denen sie total besoffen irgendwelche Faxen oder Schlimmeres machte. Sie musste seriös wirken und das würde sie sich mit Bildern jeglicher Art, die keine Bewerbungsfotos waren, kaputt machen.

Dann war Titus Angestellter einer Bank gewesen. Wahrscheinlich hatte man ihn entlassen oder war er selbst gegangen? Möglicherweise wegen eines Burn-outs? Wirkte er gestresst? Eigentlich nicht, aber da war etwas, das ihn bestimmte. Sie konnte nicht sagen, um was es sich handelte, aber mit ihm stimmte etwas nicht. Wenn er lächelte, erreichte dieses nicht seine Augen. Diese blieben... ja, wie blieben sie? Stumpf war nicht die richtige Bezeichnung, aber die Augen wirkten nicht lebendig. Dann seine seltsame Reaktion, als sie sich an das elektrische Klavier gesetzt hatte und spielen wollte. Da hatte er die Beherrschung verloren. Wenn er es nicht mochte, dass Fremde bestimmte Dinge von ihm benutzen, die überall herumstanden, dann sollte er sie zuvor darauf hinweisen. Wieso stand im Wohnzimmer ein E-Piano, wenn der Stecker fehlte? Von der Reaktion aus zu schließen, war er ziemlich empfindlich. Züchtete er deshalb Alpakas? Weil diese später nicht geschlachtet wurden? Als derart sensibel schätzte sie Titus nicht ein. Dem war wahrscheinlich egal, ob er das Tier kannte, das auf seinem Teller lag. Das könnte sie nicht. Er blieb seltsam.

Ein Mörder, Tierquäler oder Sadist war er nicht. Die Alpakas würden ihn nicht mögen, wenn er irgendetwas davon wäre. Viola war überzeugt, dass Tiere erkennen konnten, ob jemand Gut oder Böse war. Klang verrückt und eigentlich war sie Realistin, hatte nie geglaubt, dass Jesus Gottes Sohn war, was ihr einigen Ärger im Konfirmandenunterricht gemacht hatte. Dennoch glaubte sie, Tiere könnten erkennen, ob Menschen Gut oder Böse waren.

Wenigstens brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, Titus sei ein Serienmörder und hätte diesen Hof gekauft, um seelenruhig tun und lassen zu können, was er wollte. Sie musste nicht ihre Zimmertür absperren, damit sie sicher war.

Morgen würde es losgehen. Die Weide ausmisten, Alpakas füttern und was sonst noch so anstand. Wie schliefen die eigentlich? Blieben sie auf der Weide und legten sich dort einfach hin? Die Nächte waren noch kühl. Schützte sie das dicke Fell? Wie war das im Winter? Schnee mochten sie aushalten, für wie lange? Brauchten sie keinen Stall? Wenigstens irgendetwas, um sich unterstellen zu können?

Sie würde morgen nachfragen. Morgen würde sie auch versuchen, noch ein wenig über Titus zu erfahren. Wenn er wieder nichts sagte, würde sie sich eine Strategie überlegen, wie er irgendwann etwas erzählte. Sie würde ihn zum Sprechen bringen.

Viola wurde mitten aus tiefstem Schlaf gerissen, als der Wecker erbarmungslos ein schrilles Piepen von sich gab. Mit noch geschlossenen Augen versuchte sie, den Wecker auszuschalten und griff ins Leere. Wo war denn der Nachtschrank? Sie hatte nichts umgestellt. Der musste da sein, dieses unerträgliche Piepsen bewies es.

Sie öffnete die Augen und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Das war nicht ihr Schlafzimmer, sie war woanders. Richtig, langsam setzte die Erinnerung ein, ihr Hirn wachte auf. Sie hatte sich gestern auf dem Alpakahof eingefunden, um ihre Stunden abzuleisten zu denen sie verdonnert worden war. Das war das Zimmer, das ihr für die Zeit zur Verfügung stand.

Dieser Wecker! Das schrille Piepsen tat ihr in den Ohren weh. Endlich hatte sie den Platz gefunden und schaltete den Alarm aus. Das Piepsen erstarb und schlagartig erfüllte Stille den Raum. Erleichtert sank Viola ins Kissen zurück. Ab heute würde sie sich um die Alpakas kümmern müssen. Acht Wochen lang. War das nun gut oder schlecht? Stinken taten die Viecher schon mal nicht, wie sie festgestellt hatte, aber die Toilette konnte durchaus an warmen Tagen einen Geruch entwickeln, der ihrer Nase nicht zusagte. Noch waren die Temperaturen nicht sehr hoch. Zwar war es Frühling und es gab ab und an ein paar Tage, die einem erlaubten, mit kurzen Ärmeln vor die Tür zu gehen, aber richtig heiß war es nicht.

Alpakas. An sich sahen die Tiere ganz niedlich aus. Große dunkle Augen, ein wacher Blick. Sie sahen liebenswert aus, wenn sie nur nicht spucken würden. Wie unterschieden sich Lamas von Alpakas? Für sie sahen die gleich aus. Die Unterschiede hätte sie gestern im Internet nachlesen können, hatte es vergessen, als sie nach Titus gesucht hatte. Dann würde sie ihn nachher fragen. So könnte sie auch so tun, als wäre sie an den Viechern wirklich interessiert. Solange die sie in Ruhe ließen und nicht anspuckten, konnten sie ihr egal sein. Sie hatte nichts gegen die flauschigen Andenbewohner, wenn die sich zu benehmen wussten.

Das Frühstück eine halbe Stunde später verlief schweigend, was Viola ganz recht war, denn morgens redete sie nicht gern, konnte noch nicht so viel in ihren Kopf aufnehmen. Ihr Hirn brauchte immer ein wenig länger bis es wach war und zu hundert Prozent alles aufnehmen und verarbeiten konnte. Sie mochte es nicht, wenn jemand sie in der Zeit vollquatschte, ob es nun wichtig war oder nicht, was sie zu hören bekam. Ruhe war das einzige, was sie am Morgen wollte und hier bekam sie es. Titus nahm sie kaum wahr, starrte stattdessen fast unentwegt auf sein Tablet, wischte oder drückte auf dem Bildschirm herum. Ob er Zeitung las? Jedenfalls nahm er keine Notiz von ihr, als würde sie nicht existieren. Wenn der morgens immer so war, war es bestimmt kein Wunder, dass er hier allein lebte. Wer hielt das mit jemandem aus, für den man morgens Luft war? Sie registrierte wenigstens eine andere Person im Raum, wollte nur nicht vollgelabert werden.

Irgendwann schien Titus die Lektüre auf seinem Tablet beendet zu haben, denn er schaltete es aus und sah zu ihr. Überrascht, sie zu sehen, war er jedenfalls nicht. Ob er mitbekommen hatte, wann sie gekommen war? Er hatte für sie gedeckt, dann musste er sie erwartet haben.

"Schon da", stellte er überrascht fest. "Wenn du fertig mit Frühstück bist, können wir anfangen das Futter für die Alpakas vorzubereiten."

"Fangen wir an."

Vorbereiten musste sie das Futter auch noch? Sie hatte gedacht, man nahm eine Ladung Gras und warf diese in eine Raufe, wo sich alle Alpakas bedienen konnten, wenn sie Hunger hatten. Da musste man nicht viel tun. Anscheinend hatte sie sich wieder mal alles anders vorgestellt als es eigentlich ausgeführt wurde. Dann war das eben so. Sie hatte sich bisher nur wenig Gedanken darüber gemacht, wie solche Tiere versorgt wurden. Wenn sie die acht Wochen hinter sich gebracht hatte, falls sie so lange durchhalten würde, wäre sie eine Expertin und könnte selbst in die Alpakazucht einsteigen. Erst einmal musste sie lernen. Das konnte sie, man durfte sie nur nicht herumkommandieren, das mochte sie nicht.

"Als erstes werden wir Gras mähen. Kannst du mit einer Sense umgehen?"

"Dieses lange Messer, mit dem man sich den Fuß abschneiden kann?"

"Einen Fuß kannst du dir damit nicht abhacken, aber dir böse Verletzungen zuziehen, wenn du die Sense nicht richtig benutzt. Ich schließe daraus, dass du bisher noch keine in der Hand hattest."

"Nee, davon lasse ich die Finger, die ich gern behalten würde. Ich brauche die bei meiner Arbeit."

"Du sollst nicht in die Klinge fassen. Mit dem Stock führst du die Sense und schneidest das Gras. Ich zeige dir, wie man es macht und dann versuchst du es."

Oje, das konnte heiter werden. Scharfe Klingen konnte sie nicht leiden, weil sie bei denen immer etwas ungeschickt war und sich verletzte. Ihre Küchenmesser waren nicht richtig scharf bis auf zwei Stück, die sie jedoch selten benutzte. Wie oft hatte sie sich schon geschnitten? Dann sollte sie mit einer Sense Gras mähen. Wozu gab es Rasenmäher? Die konnten das viel besser. Da musste man auch nicht höllisch aufpassen, dass man sich verletzte. Solange man sich nicht über den Fuß fuhr, war alles in Ordnung. Aber wer machte so was? Meist Leute, die von der Versicherung Geld kassieren wollten.

"Kommst du?", riss Titus sie aus ihren Gedanken. "Wir müssen das Gras jetzt mähen, bevor die Sonne zu hoch am Himmel steht."

Hieß das, sie musste immer früher aufstehen, je mehr sich der Sommer näherte? So hatte sie sich das nicht vorgestellt. War es nicht schlimm genug, dass sie die Toilette der Alpakas säubern und sich mitten in die Herde dieser spuckwütigen Biester begeben musste? Jetzt musste sie sich in Lebensgefahr begeben, weil sie das Gras selbst schneiden musste. Blieb ihr denn nichts erspart?

Nein, sie musste wirklich das Gras sensen oder wie man das auch immer nannte. Das Holz des Stiels und des Griffs lag gut in ihrer Hand, aber sie hatte Angst vor der riesigen Klinge. Einmal falsch ausgeholt oder der Schwung war zu viel und sie hätte sich das riesige Messer ins Bein geschlagen. Das würde böse werden und eine furchtbare Narbe geben, wenn sie Glück hatte. Nur nicht darüber nachdenken. Das würde es nicht besser machen, aber sie hätte die schrecklichen Bilder aus ihrem Kopf verbannt, die sie immer sah.

"Das geht ganz leicht. Versuch's mal", forderte Titus sie auf. "Konzentrier dich auf das Gras vor dir und dann führst du die Bewegung aus. Die Sense schneidet wie Butter. Du wirst kaum einen Widerstand spüren, wenn die Schneide auf die Grashalme trifft. Fang an!"

Wie Butter. Toll! Das hatte sie nicht hören wollen. Wie sollte sie wissen, wann sie aufhören sollte Schwung zu holen? Musste man sich mitdrehen, um der Sense zu entgehen? Die Trockenübung, die Titus mit seinem Gips vorgemacht hatte, hatte nicht besonders schwer ausgesehen, aber in der Realität war so etwas immer anders. Und sie fürchtete sich vor scharfen Klingen, an denen man sich verletzen konnte. Eine Angst, die sie nie zugeben würde, denn wenn sie in ihrem Beruf eines gelernt hatte, war es keine Angst zu zeigen, auch wenn man welche hatte. Also würde sie jetzt die verdammte Sense schwingen und entweder Gras schneiden oder gleich blutend und schreiend am Boden liegen. Eine fünfzigprozentige Chance blieb ihr, dass es schlecht für das Gras ausgehen würde und sie es heil überstand.

Ihre Hände waren schweißnass, als sie mit der Sense ausholte und die Bewegung dann umgekehrt ausführte. Das Gras fiel vor ihren Augen und ihre Beine waren noch in Ordnung. Sie hatte es geschafft.

"Gut gemacht!", lobte er sie. "War doch gar nicht so schwer. Das machst du jetzt noch ein halbes Dutzend Mal und dann kannst du das Gras auf die Schubkarre laden. Momentan bekommen die Alpakas noch eine Mischung aus Heu und Gras. Sie müssen sich erst einmal wieder an das frische Gras gewöhnen, nachdem sie den Winter über nur Heu zu fressen bekommen haben. Wenn sie dann nur Gras bekommen, wirst du ein gutes Stück mehr sensen müssen."

Das wurde immer besser. Jetzt sollte sie sich offensichtlich an das Schneiden des Grases mit der Sense gewöhnen, um später das halbe Feld zu sensen. Das konnte heiter werden. Wie lange würde Titus seinen Gips noch tragen müssen? Hatte er diesen in acht Wochen immer noch an Arm und Bein? Sie fand, dass er trotz dieses Handicaps ganz gut unterwegs war. Weder schien ihn die Schiene am Bein noch der Gips am Arm zu stören. Er konnte sich fortbewegen, sich mit Essen versorgen und die Alpakas schien er bis gestern auch allein versorgt zu haben. Warum war sie hier? Weil er Hilfe brauchte jedenfalls nicht. Hatte Dr. Schneggenburg sie seinem alten Schulfreund aufs Auge gedrückt, damit sie keine größeren Probleme bekam, weil sie die ersten beiden Stellen, die man ihr zugewiesen hatte, bereits nach wenigen Stunden fluchtartig verlassen hatte? Hier schien ihr Psychologe irgendetwas deichseln zu können, weshalb er gesagt hatte, sie müsse wenigstens eine Woche durchhalten. Momentan schien es, als würde sie das schaffen, aber bisher hatte sie auch bis auf das Sensen nicht wirklich etwas tun müssen, was ihr widerstrebte. Das konnte sich noch anders entwickeln.

Eine Woche, von der bereits ein Tag um war. Sechs Tage waren es noch, die sie bleiben musste und wenn es wirklich nicht gehen sollte, könnte sie ohne weitere Probleme gehen. Die Zeit würde sie schaffen.

"Wenn du fertig bist, kommt das alles auf die Schubkarre. Das machst du am besten mit der Forke, die ich mitgebracht habe. Danach kommst du einfach damit zur Scheune, die neben dem Haus steht. Dort sind Heu und Futterpellets gelagert. Keine Angst, ich gehe erst, wenn du die Sense nicht mehr brauchst. Später kannst du die mit auf die Schubkarre legen, aber jetzt werde ich sie lieber nehmen."

Beruhigend, fand Viola. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie die Sense hätte transportieren sollen, wenn sie die Schubkarre zur Futterhütte schieben musste. Die konnte nur verrutschen, von der Schubkarre fallen und sie trat drauf oder das Messer fuhr ihr gleich in den Oberschenkel. Sicherheit ging vor, besonders bei scharfen Gegenständen. Wie sie Messer, Sensen und alles Mögliche hasste, an dem man sich schneiden und schwer verletzen konnte.

Sie holte mit der Sense wieder aus, schnitt das Gras, ging einen Schritt weiter und wiederholte die Bewegungen. Es ging langsam voran, aber sie kam vorwärts.

Der Schweiß lief ihr von der Stirn, als sie die Schubkarre vor der Futterhütte, wie sie den ehemaligen Stall und jetzige Scheune nannte, der nun zum Lagern des Heus und der Futterpellets diente. Das war anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte. Warm war es noch nicht, aber sie schwitzte, als hätte sie in der größten Mittagshitze draußen gestanden und wäre drei Schritte gegangen. Sport am Morgen lehnte sie ab. Das war nichts für sie.

Das Gras wurde mit Heu gemischt und blieb im Schatten des Holzgebäudes stehen.

"Bevor sie ihr Futter kriegen, wird erst die Toilette gesäubert. Vergiss das nicht."

"Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", meinte Viola.

"Wenn du es dir so besser merken kannst. Du kannst ihnen schon eine Kleinigkeit mitbringen, aber sie sollen immer den gleichen Ablauf haben, deshalb wird zuerst die Toilette gereinigt und erst dann gibt es ihr Futter."

Titus drückte ihr eine Harke, eine Schaufel und einen Eimer in die Hand.

"Soll ich Laub harken, weil die Alpakas das auch fressen?", fragte sie und sah sich um. Von Laubhaufen war nirgendwo etwas zu sehen.

"Nein, damit säuberst du die Toilette. Mit der Harke fegst du die Köttel zusammen, die anschließend in den Eimer kommen. Wenn du fertig bist, kannst du das Futter in die Raufe packen. Pass auf, dass sie dir nicht den Weg versperren. Lass dich nicht von ihnen aufhalten. Auch nicht, wenn du ihre Toilette sauber machst. Wenn ein Alpaka in der Zeit kommt, weil es muss, mach eine Pause. Und los!"

Ihr gefiel der Befehlston nicht, den Titus draufhatte. Wahrscheinlich hatte er als Banker eine Filiale geführt und hatte seine Untergebenen ordentlich herumkommandiert. Das konnte er jetzt mit seinen Alpakas machen, aber nicht mit ihr. Noch ließ sie ihm das durchgehen, aber wenn das so weiter ging... Sie konnte für nichts garantieren und wenn sie deshalb vom Hof fliegen würde und die Woche nicht durchhielt. Egal, aber sie ließ sich nicht in diesem Ton sagen, was sie zu tun hatte. Das ging auch anders.

Schweigend ging sie auf die Weide und auf die Toilette zu. An den Platz konnte sie sich noch gut erinnern, mit dem sie gestern bereits Bekanntschaft geschlossen hatte.

Sie hatte gerade mit der Arbeit angefangen, als zwei Alpakas angelaufen kamen und sich vorsichtig an sie herantrauten. Viola war so in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie diese erst nicht bemerkt hatte und sich gehörig erschreckte, als sie von einem angestupst wurde.

"Hey!", sagte sie und fuhr zurück. "Hast du mich erschreckt. Ich habe kein Futter für dich. Das kommt gleich."

"Notte will dich nur beschnuppern, weil sie dich nicht kennt. Sie ist neben Doesi die neugierigste von allen, wenn du dich erinnerst, was ich gestern gesagt habe."

"Notte heißt du, weil du schwarz wie die Nacht bist. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Und du bist Doesi?", sagte sie zu einem etwas kleineren Alpaka, das hellbraun war, einen weißen Pony und eine fast weiße Schnauze hatte. "Jetzt lasst mich arbeiten, sonst dauert das noch bis ihr was zu fressen bekommt. Also Abmarsch ihr beiden oder wollt ihr mir helfen? Wohl kaum."

Viola kümmerte sich um die beiden nicht mehr und fuhr in ihrer Arbeit fort. Leicht war es nicht, denn immer standen Notte und Doesi ihr im Weg, aber irgendwann hatte sie den Dreh raus, einfach um deren Füße herum zu arbeiten, sodass sich die beiden selbst ein paar Schritte entfernten, ohne dass sie diese verjagen musste.

Nachdem die unangenehme Arbeit erledigt war, kam nun der angenehmere Teil, die Fütterung der Neuweltkamele.

Viola schob die Schubkarre durch das geöffnete Gatter, das gleich hinter ihr geschlossen wurde. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, als die Alpakas auf sie aufmerksam wurden und auf sie zugerannt kamen. Angesichts der Masse an Fellträgern bekam sie ein mulmiges Gefühl und hätte am liebsten kehrt gemacht. Um sich keine Blöße vor Titus zu geben, der sie bestimmt ausgelacht hätte, wenn sie geflohen wäre, ging sie tapfer weiter.

Schon wurde sie von mehr als einem Dutzend Neuweltkamele umringt. Die interessierten sich für und nicht für das Heu-Gras-Gemisch auf der Schublade. Viola blieb stehen, unschlüssig, was sie machen sollte, um die Andenbewohner zu vertreiben.

"Nicht stehen bleiben!", rief Titus in ihrem Rücken.

"Ja, doch!", murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte weiterzugehen. Die Alpakas machten allerdings keinen Platz. Es war zum aus der Haut fahren. Die einen versperrten ihr den Weg und von hinten kamen kluge Ratschläge. Wieso hielt Titus nicht einfach den Mund? Sah er nicht, dass sie von seinen Lieblingen völlig eingekesselt war? Es ging nicht weiter!

"Geh weiter! Los! Ab mit dir!"

"Arschloch!", zischte sie und musste an sich halten, um nicht das Futter an Ort und Stelle stehen zu lassen und Titus die Meinung zu sagen.

Die letzte Aufforderung war eine gewesen, die das Fass zum Überlaufen brachte. Viola umfasste die Griffe der Schubkarre fester, versuchte sich zu beruhigen. Langsam zählte sie bis fünf, wie Dr. Schneggenburg es ihr gesagt hatte. Bringen tat es ihr nichts, sie war noch genauso wütend wie zuvor. Wenn sie die Wut nicht an ihm auslassen konnte, mussten eben andere herhalten.

"Macht Platz, ihr Stinker", sagte sie laut und klatschte in die Hände. Die Alpakas sahen auf, was sie nutzte, um die Schubkarre schnellen Schrittes bis zur Futterraufe zu schieben. Dort warf sie das Heu-Gras-Gemisch in das Gestell, immer umringt von den Fellträgern, die nicht warten konnten bis alles fertig war. Zu allem Ärger wurde sie mehrfach angerotzt, weil ein kleines gedrungenes, braunes Alpaka keinen Artgenossen neben sich duldete. Angewidert wischte sie sich das Futter von Kleidung und Gesicht.

"Dich merk ich mir", sagte sie und machte, dass sie davonkam.

Genauso hatte sie sich das vorgestellt, als Zielscheibe für Futterkonkurrenten zu dienen. Hier konnte man nur reingehen, wenn man einen Ganzkörperschutzanzug trug. Den konnte man danach mit einem Gartenschlauch abbrausen, jetzt musste sie mühsam jede einzelne Stelle mit Seife säubern. Was für ein Mist. Ob es ein Trost war, dass ihre Kleidung nicht so sehr stank, als wenn sie sich um Schweine oder Kühe hätte kümmern müssen? Die spuckten nicht, aber sie stanken. Mit den Alpakas würde sie das nicht versöhnen.

"Das war schon nicht schlecht, aber das nächste Mal wirfst du das Futter nicht so lieblos in die Raufe. Es geht nicht darum, wie schnell du fertig bist. Auch Alpakas sind sensibel", sagte Titus zur Begrüßung, als sie die Weide wieder verlassen hatte.

"Dann mach du das doch! Ich bin gespannt, wie du reagierst, wenn du alle fünf Sekunden angespuckt wirst."

"Ich hab dir gestern gesagt, du musst der Situation aus dem Weg gehen, dann passiert dir auch nichts."

"Toll!", sagte sie und lachte auf. Das wurde immer besser. Auf seine klugen Ratschläge konnte sie verzichten. Sollte er es ihr vormachen, anstatt hinterher kluge Sprüche von sich zu geben, was sie hätte besser machen können. Sie hatte noch nie Alpakas gefüttert, wusste bis gestern nicht einmal, dass diese Viecher überhaupt existierten. Dann wurde von ihr erwartet, dass sie sofort alles konnte. Fahrradfahren musste man auch erst lernen, bevor man sich in den Straßenverkehr trauen konnte. "Wieso machst du es nicht selbst, wenn dir nicht gefällt, wie ich es mache? Du brauchst meine Hilfe nicht, also mach es allein!"

Viola haute ihm die Schubkarre vor die Füße und marschierte aufs Haus zu. Von so einem Idioten ließ sie sich nicht sagen, was sie alles falsch gemacht hatte. Sollte er sehen, wie er ohne sie zurechtkam, schien ohne sie ganz gut funktioniert zu haben.

Mit voller Wuchte rannte sie gegen die Haustür und stieß sich unsanft Stirn und Nase, als sie die Tür öffnen wollte und diese verschlossen war.

"Scheiße!", schrie sie und trat gegen die massive Holztür, dass nun neben Nase und Stirn auch ihr Fuß schmerzte. Wieso hatte der Mistkerl die Haustür verschlossen? Fürchtete er, Hase und Igel könnten sich über seine Vorräte hermachen?

"Hast du dir wehgetan?", fragte Titus besorgt, als er wenig später neben ihr stand. Offensichtlich hatte er bereits vergessen, was sie ihm gesagt hatte oder es nicht für ernst genommen. Er verlor kein Wort darüber.

"Wieso schließt du die Haustür ab? Hast du Angst, ich könnte mir deine Wertsachen unter den Nagel reißen und abhauen?"

"Nein, soweit ich weiß, bist du nicht hier, weil du Mein und Dein nicht voneinander unterscheiden kannst. Dein Geduldsfaden reißt dir sehr schnell. Das ist dein Problem, oder?"

"Hat Schneggenburg doch geredet? Ich dachte, dass fällt unters Arztgeheimnis oder wie das bei Psychologen auch immer heißen mag."

"Er hat mir nur gesagt, dass ich ihm einen Gefallen tun müsse. Natürlich musste ich wissen, ob du nicht gemeingefährlich bist. Ich kann doch nicht einen Psycho auf meine Alpakas loslassen. Mich kannst du von mir aus anpöbeln, ich bin resistent geworden gegen solche Worte, aber zu meinen Neuweltkamelen bist du nett, auch wenn sie dich anspucken sollten. Du darfst das nicht persönlich nehmen. Mit der Zeit wirst du dich frühzeitig aus der Schusslinie bringen. Du hast dich auch gar nicht so schlecht angestellt, dafür, dass es dein erster Tag war. Trotzdem war es lieblos, wie du das Futter in die Raufe geworfen hast."

"Dieses kleine Alpaka hat rumgerotzt, als müsse es sein Futter verteidigen."

"Bea ist klein, aber sehr durchsetzungsstark. Die lässt sich nicht das Futter aus dem Maul klauen. Vor ihr haben die anderen Respekt, sogar Schmuhdel. So, und jetzt komm, die Junggesellengruppe will auch etwas zum Frühstück haben."

"Ja, ja, zuerst ist die Toilette dran. Habe ich nicht vergessen."

"Genau, und wenn du fertig bist, erzählst du mir, warum ich dich unbedingt als Hilfskraft aufnehmen musste. Schnecke ist nicht jemand, der einen um einen Gefallen bittet, vor allem wenn es um seine Patienten geht."

Das war das letzte, was Viola erzählen wollte. Wahrscheinlich würde ihr Titus genauso wenig glauben, dass es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände handelte. Die Richterin hatte ihr nicht geglaubt. Wäre es ein Mann gewesen, würde sie hier bestimmt nicht stehen mit Alpakaspucke an der Kleidung. Frauen richteten immer strenger über andere Frauen und wenn dann noch Kinder beteiligt waren, hatte man gleich ganz verloren.

Kapitel 4

Nachdem die Gruppe männlicher Alpakas versorgt war, hatte Viola sich frisch gemacht und war anschließend in die Küche gegangen, wo sie nun saß und auf ein halbleeres Glas Wasser starrte. Titus hatte ihr gesagt, dass er wissen wolle, was sie angestellt habe. Sie hatte hin und her überlegt, ob sie ihm nicht irgendeine Lüge auftischen sollte. Wusste sie, ob Dr. Schneggenburg ihm nicht alles erzählt hatte? Wie würde Titus reagieren, wenn sie ihn anlog? Oder er wusste tatsächlich nicht die Wahrheit, würde später durch Zufall erfahren, was ihr zum Verhängnis geworden war und gewiss entsprechend wütend und enttäuscht reagieren, dass sie ihm nicht vertraut und ihn angelogen hatte. Ja, sie glaubte, dass es ihm wichtig war, einander vertrauen zu können. Ob er ihr endlich erzählen würde, warum er in diese Einöde gezogen war und Alpakas züchtete?

Ihr fiel ein, dass er die Haustür immer verschloss, wenn er sich draußen aufhielt. Gestern war ihr das nicht aufgefallen und wäre es heute wahrscheinlich auch nicht, wenn sie nicht kopflos ins Haus hätte stürmen wollen und sich die Nase an der verschlossenen Tür gestoßen hätte. Wen oder was fürchtete er? Einbrecher würden sich nie die Mühe machen, in dieser Einsamkeit in Haus zu wollen, wenn der Besitzer anwesend war und es nur einen Fluchtweg gab. Sie würden nachts kommen oder niemand da war. Wenn Titus sich nicht vor Einbrechern fürchtete, wer könnte stattdessen ins Haus wollen? Eine stalkende Ex-Freundin, die das Ende der Beziehung nicht erkennen wollte? Zog man deshalb die Einsamkeit der Großstadt vor? Man flüchtete sich nicht aufs Land, um jemandem zu entkommen. Doch, aber das konnte nicht sein. Titus war bestimmt keiner, der in einem Zeugenschutzprogramm war, weil er gegen jemanden ausgesagt hatte. Es könnte erklären, warum er nicht über sein früheres Leben sprechen wollte und es auch fast nichts über ihn im Internet zu finden war. Der jahrgangsbeste Lehrling gewesen zu sein, konnte man absichtlich ins Netz gestellt haben. Würde man so wenig in einer Suchmaschine platzieren?

Dann der Name Titus. Dieser war viel zu auffällig für jemanden, der sich im Zeugenschutzprogramm befand. Handelte es sich um Absicht? Sollten solche Gedanken wie die ihren damit zerstreut werden?

Titus war merkwürdig. Über seine Alpakas konnte er stundenlang erzählen, aber über sich selbst schwieg er sich aus. Na gut, sie erzählte auch nicht jedem, was sie mochte oder verabscheute und was sie während ihrer Kindheit erlebt hatte, aber Titus und sie würden acht Wochen aufeinander hocken, da konnte sie erwarten, dass er sich ein wenig mehr öffnete und nicht wie eine verschlossene Auster agierte. Ihm schien es wichtig, jemandem vertrauen zu können. Er selbst wirkte immer noch misstrauisch. Bei ihr brauchte er sich keine Sorgen machen. Sie würde sich nicht über ihn lustig machen oder ihn verspotten, weil er einen gut gehenden Job zugunsten dieser Flohkuhlen aufgegeben hatte. Was er an den Neuweltkamelen finden mochte, er schien sie alle zu mögen.

"Wie oft muss ich mich noch wiederholen? Lassen Sie mich in Ruhe! Hören Sie auf mich zu belästigen!", wurde Viola durch die scharfen Worte aus den Gedanken gerissen, die Titus mit jemandem am Telefon wechselte.

Er haute den Hörer auf die Gabel und fluchte etwas Unverständliches. Ob der Anruf etwas mit dem Auto zu tun hatte, dass sie gestern beinahe über den Haufen gefahren hätte und wegen dem sie in den Brennnesseln gelandet war?

"Alles in Ordnung?", fragte sie, als Titus in die Küche kam.

Er winkte ab.

"Nicht der Rede wert. Nur ein Arschloch, das kein Nein akzeptiert. Irgendwann wird er es begreifen", sagte er und setzte sich. "Hier, der Schlüssel ist für dich, damit du jederzeit ins Haus kannst, wenn du mal wieder wütend bist."

Er legte einen Schlüssel, der eine Note als Anhänger besaß, auf den Tisch und schob ihn ihr zu.

"Danke", sagte sie und steckte ihn in ihre Hosentasche.

Die Note als Schlüsselanhänger fand sie seltsam. Ein Klavier, das nicht zu funktionieren schien, und dann so was. Irgendwie passte das nicht zusammen. Sie wurde nicht schlau aus Titus.

"Verlier ihn nicht und schließ ab, wenn du das Haus verlässt oder nachdem du eingetreten bist. Wir brauchen keine unliebsamen Gäste, die hier nichts zu suchen haben."

"So jemanden wie der Typ am Telefon?"

"Ja, und andere Schmeißfliegen. Denk einfach, du wärst in der Stadt und willst nicht, dass jemand Ungebetenes dein Haus betritt. So wirst du dir am besten merken können, dass du abschließen musst."

"Sind welche im Haus gewesen?"

"Nein, aber ich will es auch nicht darauf ankommen lassen. Schließ einfach ab und fertig."

Das war also seine Art, einfach ein Thema zu beenden. Er befahl es und sie sollte es umsetzen. Diese Art und Weise gefiel ihr ganz und gar nicht. Viola merkte, dass sie sich wieder aufregte und begann ganz nach Anweisung Dr. Schneggenburgs langsam bis zehn zu zählen.

"Es wäre schön, wenn du dich dranhalten könntest und es nicht vergisst", hörte sie Titus sagen, als sie gerade bei vier angekommen war. "Ich weiß, dass ich einen befehlenden Ton habe, aber daran kann ich nichts ändern. Wenn Leute Alpakatouren buchen, kann ich mich so durchsetzen und denen klarmachen, was sie zu tun und zu lassen haben. Bei den Alpakas selbst braucht man diesen Ton auch ab und zu, wenn sie einem zu sehr auf der Nase rumtanzen."

"Ich bin weder ein Alpaka noch eine von denen, die eine Tour mit den Tieren gebucht haben."

"Ich werd's mir merken, aber versprechen kann ich nichts. Könntest du mir garantieren, nicht gleich aus der Haut zu fahren, wenn dir etwas nicht passt? Sag einfach, wenn dir nicht gefällt, wie ich mit dir umspringe, aber hör auf zu wüten. Das bringt nichts und sorgt nur für böses Blut."

"Ja, ich werde mir Mühe geben, deshalb bin ich schließlich hier, weil ich so leicht die Geduld verliere."

"Hat man dich deshalb zu diesen Sozialstunden verdonnert?"

Titus wusste, dass man sie verurteilt hatte. Das war zu erwarten gewesen, dass ihr Psychologe geredet hatte. Also würde sie die Wahrheit erzählen müssen, wie es dazu gekommen war, denn sie konnte nicht sicher sein, dass Dr. Schneggenburg nicht auch gesagt hatte, wie es dazu gekommen war.

"Gut", seufzte sie, "ich erzähle es dir, aber es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, so bizarr sich das anhören mag, was ich dir jetzt sage."

Er nickte ihr aufmunternd zu.

"Ich war einkaufen und war gerade an der Selbstbedienungskasse, als ein Mädchen hinter mir herumwuselte. Das hatte ich nicht mitbekommen und als ich mich mit dem Einkaufskorb umdrehte, traf ich das Mädchen genau am Kopf."

"Pech."

"So könnte man es nennen, aber die Mutter machte einen Terz daraus, ich hätte es absichtlich gemacht, weil ich ihre Tochter eine halbe Stunde vorher angepflaumt hatte, sie dürfe in dem Supermarkt nicht mit ihrem Roller umherfahren. Ich hatte ihr nur gesagt, sie müsse schieben, damit sie niemanden umfahre. Das habe ich in einem sehr freundlichen bestimmten Ton gesagt. Eine Supermarktmitarbeiterin hat das kurz danach auch gesagt, aber das hatte die Mutter vergessen. Stattdessen war ich die böse Frau, die Kinder hasst. Das habe ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen und ein Wort ergab das andere. Inzwischen war auch die Polizei gekommen und die Mutter heulte Rotz und Wasser, ich hätte sie beschimpft und bedroht, man solle ihr die Tochter wegnehmen, weil sie diese nicht erzogen habe. Das hatte ich gar nicht gesagt, sondern nur gemeint, es sei kein Wunder, dass die Tochter sich nicht benehmen könne bei der Mutter. Na ja, es wurden die Personalien aufgenommen und weiter wäre wohl nichts passiert, wenn es nicht einen ähnlichen Eintrag von mir schon gegeben hätte. Damals war ein Kind mir entgegengekommen und hatte direkt vor mir den Weg zu seiner Mutter einschlagen wollen. Ich konnte nicht mehr stoppen und habe es mit meiner schweren Tasche am Kopf getroffen. Hat auch Ärger gegeben, weil sich sofort alle auf die Seite des Kindes stellten. Was kann ich dafür, dass es mir in den Weg läuft? Aufgrund dieses ganzen Krams ist es tatsächlich zu einer Gerichtsverhandlung gekommen.

Da müssen Angeklagte wieder freigelassen werden, weil die zuständigen Richter überlastet sind und es nicht rechtzeitig zum Prozess kommt, aber wegen so einem Blödsinn wie er mir passiert ist, setzt man eine Verhandlung an. Mein Anwalt, eine Flasche, war zuversichtlich den Prozess zu gewinnen. Hätte er vielleicht auch, aber ich wollte mich bei dem blöden Gör nicht entschuldigen. Ich habe nichts gemacht. Die ist mir in den Einkaufskorb gerauscht. Und die Richterin war wohl selbst Mutter, jedenfalls stand für sie von vornherein fest, dass ich büßen müsse. Wenn ich zu einer Geldstrafe verurteilt worden wäre, hätte ich gezahlt, wenn auch mit Murren, stattdessen verdonnert mich die Schnepfe zu Sozialstunden und einer Verhaltenstherapie, weil ich mich nicht unter Kontrolle hätte. Der hätte ich an die Gurgel springen können, was ich natürlich nicht gemacht habe, aber mein Gesicht hat Bände gesprochen.

Meine erste Stelle war in einem Altenheim. Diese Gerüche! Ich musste jemandem auf einen Toilettenstuhl helfen. Der hatten sie ein Abführmittel gegeben. Mich umwaberten Gerüche, dass ich fluchtartig das Zimmer verließ, um mich nicht übergeben zu müssen. Ich habe mich geweigert, in das Zimmer zurückzukehren und den Eimer zu leeren und zu säubern. Ich hielt diesen Gestank nicht aus. Dann hatte sich jemand übergeben. Mich schickte man, um die Bescherung vom Boden zu wischen. Ich habe es wirklich versucht, aber es war mir unmöglich. Bei dem säuerlichen Geruch kam mir mein eigener Mageninhalt hoch und ich habe mich gleich daneben übergeben. So endete mein erster und letzter Tag in einem Altenheim. Danach schickte man mich in eine Kindertagesstätte. Der Lärm raubte mir den letzten Nerv. Ich war ziemlich ungehalten gegenüber den Kindern. In dem Alter bin ich nicht so ein lärmendes Ding gewesen. Ich habe wirklich versucht, mich zusammenzureißen, aber man hat mir nicht gestattet, einen Schallschutz aufzusetzen. Man hat das für eine faule Ausrede gehalten, weil ich meine Stunden nicht ableisten wolle. Natürlich will ich das nicht, aber deshalb denke ich mir nicht so einen Blödsinn aus. Ich war schon immer stark geruchs- und geräuschempfindlich, aber das hat mir niemand geglaubt. Man wollte mich schon in die Geschlossene stecken, weil ich unwillig und eine Gefahr für die Allgemeinheit sei. Dr. Schneggenburg hat mir noch eine letzte Chance gegeben und deshalb bin ich jetzt hier. Ich bin weder gemeingefährlich noch faul. Das war alles eine Verkettung unglücklicher Umstände für die ich nichts kann", stellte Viola klar.

"Unglaublich. Das klingt so seltsam, dass es schon wieder wahr ist. Was wirst du machen, wenn du selbst Kinder hast? Ich nehme mal an, du hast keine. Willst du es dem Vater überlassen die Windeln zu wechseln und bei Erbrechen und Brechdurchfall ziehst du ins Hotel?"

"So weit habe ich noch nicht gedacht. Keine Ahnung. Vielleicht klemme ich mir eine Wäscheklammer auf die Nase oder ich stecke mir parfümierte Taschentuchfetzen in die Nasenlöcher. Vielleicht nehme ich es auch gar nicht wahr, weil man beim eigenen Kind in einer Art Glücksrausch sein soll."

"Das nächtliche Schreien kann nach einigen Wochen ganz schön ermüdend sein, besonders wenn das Kind nicht durchschläft oder ein Schreikind ist. In solchen Fällen verzweifelt selbst der hartgesottenste. Da wünscht man sich das eigene Kind zum Mond. Man ist unausgeschlafen, gereizt, macht seine Arbeit nicht richtig. Doch das vergisst man in dem Augenblick, wo man sein kleines Wunder in Armen hält und es einen anlächelt."

Fasziniert hörte Viola Titus zu, der so bildhaft sprach, als wüsste er, wovon er redete. Seine Augen hatten zu leuchten begonnen und sie entdeckte etwas Verschmitztes in seinem Gesicht, dass ihr zuvor an ihm nicht aufgefallen war. Hatte er ein Kind? Wo waren Bilder von seinem Sohn oder seiner Tochter? Im Teil des Hauses, den sie kannte, hatten keine Fotos gehangen. Überhaupt gab es nur wenig Persönliches, als würde er hier leben, aber auf dem Sprung sein. Lebte sein Kind nicht bei ihm? Hatte sich die Mutter von ihm getrennt und das Kind mitgenommen? Waren beide bei einem Verkehrsunfall umgekommen? Hatte er deshalb sein Leben völlig umgekrempelt und angefangen Alpakas zu züchten? Wollte er deshalb nicht darüber sprechen, wie er dazu gekommen war?

"Hast du...", fragte sie vorsichtig und wurde barsch von ihm unterbrochen.

"Nein, habe ich nicht. Ich bin genauso kinderlos wie du."

Seine Augen glänzten nicht mehr, sein Blick war hart und unnachgiebig geworden. Dies schien ein Thema zu sein, dass etwas in ihm auslöste. Besser, sie sprach ihn nicht noch einmal darauf an, dabei hatte nichts darauf hingedeutet, dass er so reagieren könnte.

Eine unangenehme Stille machte sich breit. Keiner von beiden sprach ein Wort. Viola wusste nicht, was sie sagen sollte und Titus hatte sich in sich selbst zurückgezogen und hing seinen Gedanken nach. Warum reagierte jemand empfindlich auf dieses Thema? Hatte seine Frau oder Freundin abgetrieben, weil sie kein Kind wollte und er war daraufhin in ein tiefes Loch gefallen? Merkwürdig, aber es passte, dass er sich nicht darüber ausließ, warum er nun Alpakas in der Einöde züchtete.

"Ich habe genug über mich erzählt, aber von dir weiß ich immer noch nicht mehr, als was du mir gestern gesagt hast", sagte sie irgendwann und durchbrach das Schweigen. "Viele Möglichkeiten gibt es nicht, um etwas mehr über dich zu erfahren."

"Du hast nach mir im Internet gesucht", stellte er fest.

"Natürlich, ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe. Dir musste man jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und am Ende war ich nicht schlauer als vorher."

"Das bist du jetzt? Bist du fündig geworden?", wollte er wissen. Auf einmal wirkte er angespannt und als Violas Blick auf seine Hände fiel, sah sie, dass er diese so stark zu Fäusten ballte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

"Ja, ich weiß jetzt, dass du nicht gelogen hast. Du hast eine Lehre zum Bankkaufmann gemacht. Mehr hat das Netz allerdings nicht hergegeben. Du scheinst unter dem Radar gelebt zu haben."

"Ja, das Internet ist meine Sache nicht", gab er lachend zu. Die Anspannung war von ihm abgefallen.

Er lacht und ist doch bedrückt, stellte Viola fest, der nicht entgangen war, dass das Lachen seine Augen wieder nicht erreicht hatte. Das war es, was sie gestern bemerkt hatte, aber nicht hatte deuten können. Titus bedrückte etwas, machte ihn schwermütig. Zwar lachte er, aber es kam nicht von Herzen, sondern es war in ihm drin, dass er lachen musste. Wie eine Maschine, die man programmiert hatte, damit sie richtig funktionierte. Ihr fielen wieder seine Worte ein, dass er resistent geworden sei gegen Beleidigungen. Hatte es etwas damit zu tun, dass er nicht mehr als Banker arbeitete, sondern sich hierher zurückgezogen hatte? War er von den Kollegen gemobbt worden? Hatte jemand seine Stelle haben wollen und ihn angeschwärzt? Hatte eine Kollegin ihn angezeigt, weil er sie angeblich sexuell genötigt habe? Hatte daraufhin ein Spießrutenlauf begonnen, der zwar damit geendet hatte, dass seine Unschuld bewiesen worden war, aber seinen Ruf nachhaltig geschädigt hatte? War er freiwillig gegangen oder hatte man ihn gezwungen zu gehen? Wenn das zutraf, konnte sie verstehen, dass Titus nicht darüber sprechen wollte, wie er dazu gekommen war, Alpakas zu züchten. Die Schmach oder Wut saß zu tief.

Ob er sich ihr öffnen würde, wenn sie sich besser kannten? Sie hatte ihm auch gesagt, warum sie die Stunden ableisten musste, obwohl sie es lieber für sich behalten hätte. Dass er im Gegenzug mit der Sprache rausrückte, konnte sie nicht erwarten. Also würde sie warten. Manchmal konnte sie sehr geduldig sein.

Kapitel 5

Die Woche verging wie im Flug und Viola war überrascht, dass sie immer noch da war und nicht den Wunsch verspürte, gehen zu wollen. An die Alpakas und deren neugierige Art hatte sie sich gewöhnt, konnte inzwischen die einzelnen Individuen voneinander unterscheiden. Am meisten mochte sie Notte, die einen schrillen Ton von sich gab, um auf sich aufmerksam zu machen, wenn die anderen mit Pellets gefüttert wurden. Stand man direkt neben ihr konnte das sehr in den Ohren wehtun. Das Ziel verirrter Futterkonkurrenten wurde sie zwar immer noch, aber inzwischen merkte sie, wenn sich eine Spuckattacke ankündigte. Rechtzeitig zu flüchten war manchmal nicht möglich und Esmeralda spuckte sie bewusst an, weshalb Viola darauf achtete, dass dieses Neuweltkamel immer etwas bekam.

Sie hatten alle ihre Eigenheiten. Die eine mümmelte so langsam, dass die anderen ihr das Futter auch dem Maul klauten, ein anderer fraß alles, was ihm vor die Schnauze kam und noch ein anderer berauschte sich gern am giftigen Rhododendron, der an seinem Gehege wuchs. Titus hatte das Gewächs an anderen Stellen bereits entfernt, nur bei der Junggesellengruppe stand noch ein Busch. Der sollte demnächst ebenfalls verschwinden. Stattdessen sollten im Herbst Haselnusssträucher gepflanzt werden. Die Blätter konnten sie fressen, ohne davon krank zu werden.

"Du machst dich gut", wurde sie von Titus am Ende der ersten Woche gelobt. Vor zwei Tagen hatte er angefangen, übertrieb es nicht. Dennoch wurde es deutlich, dass er durch permanentes Loben versuchte, dass sie nicht nach einer Woche die Koffer packte und wieder ging. "Das habe ich gleich gesehen, als du den Alpakas das erste Mal ihr Futter gegeben hast."

"Das war eine Katastrophe", wandte Viola ein, die sich nur ungern daran erinnerte, wie sie sich von ihm bevormundet gefühlt hatte und auf der Stelle hatte gehen wollen.

"Ach was! Du hättest mich sehen sollen, als ich das erste Mal zu denen rein bin. Mit dem Futter bin ich nicht weiter als bis durchs Gatter gekommen. Schließen konnte ich es nicht, sodass mir ein paar Alpakas abgehauen sind. Ich musste hinter denen her und sie mühsam einfangen. Als alle wieder auf der Weide waren, habe ich allen Pellets zur Ablenkung hingeworfen, um in aller Ruhe das Futter zu verteilen. Oder was davon noch übrig war. Später habe ich gelernt mich durchzusetzen und jetzt bekommen sie nur noch Pellets, wenn sie eine kleine Nascherei verdient haben."

"Deshalb streiten sie sich immer darum. Notte macht mich halbtaub, weil sie Angst hat, ich würde sie vergessen."

"Sei froh, dass sie nicht an deiner Kleidung zieht. Das macht sie bei mir immer."

"Ich wusste, dass sie klug ist. Doesi hingegen ist etwas schwer von Begriff. Wenn ich ihr etwas hinhalte, schnuppert sie so lange daran bis Bea ihr das wegschnappt. Man könnte meinen, sie weiß nicht, was das ist."

"Ihren Namen trägt sie nicht umsonst. Doesi kommt von dösig."

"Woher hat Hawking seinen Namen? Der müsste Ecstasy oder LSD heißen. Ich habe den Rhododendron so weit abgeschnitten, dass er gar nicht mehr drankommen kann und es gelingt ihm jedes Mal ein Blatt zu erhaschen."

"Das Ding muss endlich weg. Ich hätte sofort alle rausreißen müssen. In jedem Alpaka-Ratgeber steht, dass Giftpflanzen an den Weiden der Tiere nichts zu suchen haben, weil Kinder alles Grün nehmen, um sie damit zu füttern. Glücklicherweise hat es nur einen Fall gegeben, bei dem ein Alpaka Vergiftungserscheinungen zeigte. Die Tierärztin hat mich dann aufgeklärt, woher das gekommen ist."

"Ach, ich dachte, das steht in jedem Alpaka-Ratgeber."

"Ich bin ziemlich blauäugig an die Sache herangegangen."

"Sonst wären sie dir auch nicht abgehauen."

"Ich bin froh, dass mich damals niemand gesehen hat, wie ich hinter denen hergerannt bin. Man würde mich heute noch damit aufziehen. Alpakas auf der Flucht - Wenn ein Stadtmensch aufs Land zieht", zitierte Titus eine imaginäre Schlagzeile. "Als er die Menschen um sich herum satt hatte, zog es den bekannten T..."

Er brach ab und starrte in die Ferne. Viola hatte das Gefühl, dass er gerade etwas über sein Vorleben gesagt hatte. Er hatte die Menschen satt gehabt? Hatte man ihn hintergangen? Konnte ein Banker berühmt sein? Dieses Wort hatte er vor seinen Namen gesetzt und sich rechtzeitig unterbrochen, bevor er mehr verraten konnte. War er kein Banker gewesen? Wäre er berühmt, müsste es nicht mindestens hundert Einträge zu seinem Namen geben? Da war nichts außer den zwei Einträgen, die sie in der zweiten Suchmaschine gefunden hatte. War er nur unter seinem Vornamen bekannt? Möglich, aber er kam ihr nicht bekannt vor. Klatschzeitschriften las sie nicht und im Fernsehen sah sie sich höchstens mal einen Film an. Dort hatte sie ihn auch nicht gesehen. Ob er Regisseur war? Die meisten Regisseure kannte man mit Namen, richtige Berühmtheiten waren kaum darunter, außer sie gewannen einen bedeutenden Preis wie den Oscar. Selbst dann hätte Titus‘ Name mehr als zweimal im Internet vertreten sein müssen und unter Pseudonym drehte niemand als Regisseur Filme, außer man hieß Fatty Arbuckle und war wegen eines Skandals unmöglich für die Gesellschaft geworden. Ein Skandal… Das konnte Viola sich durchaus vorstellen. Dann wäre sein jetziger Name ein Pseudonym, damit er in Ruhe gelassen wurde. Doch etwas Ähnliches wie das Zeugenschutzprogramm, an das sie als erstes gedacht hatte. Nur wie mochte Titus in Wirklichkeit heißen? Vielleicht Thomas? Sie konnte doch nicht jeden Vornamen, der mit dem Buchstaben t begann, in die Suchmaschine geben und zusammen mit dem Wort Skandal suchen. Sie würde viel zu viele Informationen bekommen und am Ende gewiss so schlau sein wie zuvor. Wenn es ein Pseudonym war, wieso gab es den Namen Titus Behrens tatsächlich?

Am besten strich sie das Wort berühmt. Titus könnte es einfach so gesagt haben, aber der andere Punkt konnte stimmen. Es wäre ein Ansatzpunkt zu seinem Vorleben Viel war es nicht, aber er würde unbewusst weitere Informationen von sich preisgeben mit denen sich nach und nach ein Bild ergeben würde, was er früher getan hatte und warum er sich ein Haus in der Einöde gekauft und eine Alpakazucht begonnen hatte. Sie musste geduldig sein und abwarten.

Um die Wahrheit herauszubekommen, konnte sie heute nicht einfach ihre Sachen packen. Selbst wenn sie nicht sein Geheimnis ergründen müsste, würde sie bleiben. Die Alpakas begeisterten sie. Das waren die ersten Fellträger, die ihr gefielen, obwohl sie Dreck machten, müffelten und Floh- und Milbenträger waren. Es waren sympathische Tiere, die sie zum Lachen bringen konnten, weil sie manchmal urkomisch waren. Gestern hatten sie vom Haselnussbaum einen größeren Ast absägen müssen und diesen ins Gehege der Neuweltkamele gebracht. Voller Staunen hatte sie beobachtet, wie die Alpakas hin und her hüpften und über die Äste sprangen, bevor sie anfingen, die Blätter abzufressen. Manche standen, andere wie Esmeralda oder Maunzer setzten sich hin.

Das Schauspiel würden sie jedes Mal vollführen, wenn sie einen frischen Zweig bekamen, hatte ihr Titus gesagt. Warum sie das taten, hatte er ihr nicht sagen können.

"Gehst du heute oder sitzt du deine Zeit aus?", fragte er betont beiläufig.

"Du willst nur wissen, ob du mich weiter ausbeuten kannst oder wieder selbst alles machen musst. Gib's zu! Dein Gips ist nur Schein, damit du eine Ausrede hast, warum ich mich abrackern muss und du seelenruhig danebenstehen kannst", neckte sie Titus und knuffte ihn in die Seite.

"Na klar, wann komme ich an eine so billige Arbeitskraft? Das muss ich ausnutzen."

"Du...!", sagte sie und haute ihm vor die Brust.

Mit seinem gesunden Arm griff er nach ihrer Hand und zog sie an sich.

"Es sieht fast so aus, als wärst du immer noch ziemlich unbeherrscht. Du sollst lernen ruhigzubleiben und dich nicht wie eine Furie gebärden. Ich werde mit Schnecke reden, dass du eine Gefahr für die Allgemeinheit bist."

"Du Schuft!", sagte sie empört, aber ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. "Du nutzt mich schamlos aus und wenn ich mich beschweren will, behauptest du, ich sei eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ich bin dir hilflos ausgeliefert."

"Jawohl", sagte er und zog sie noch näher an sich, dass jeder den Atem des anderen im Gesicht spürte.

Ein Auto hupte und Titus ließ Viola augenblicklich los. Ohne sie noch einmal anzusehen drehte er sich zu dem Wagen um, dass in kurzem Abstand zu ihnen hielt.

Viola stand da wie benommen und wusste nicht, was eben geschehen war. Hätte Titus sie geküsst, wenn der Wagen nicht gekommen wäre? Hätte sie sich von ihm küssen lassen? Sie wusste es nicht. Fühlte sie etwas für ihn? Auch das wusste sie nicht. Sie verliebte sich nicht schnell und seit ihrer Scheidung vor zwei Jahren hatte sie nur eine kurze Beziehung gehabt, die nicht länger als drei Monate gedauert hatte. Danach hatte sich nie wieder was ergeben und der Typ für einen One-Night-Stand war sie nicht. Sie hatte ihre Arbeit, das reichte ihr und füllte sie aus. Ihre Kollegen waren alle in einer Beziehung und sahen sie mitleidig an, weil sie niemanden hatte. Sie war gerne allein, da brauchte sie keine Rücksicht nehmen. Ihre Ehe war auch daran zerbrochen, weil Philipp nicht hatte akzeptieren können, dass sie ab und zu ihre Freiräume brauchte. Er hatte zu sehr geklammert und das war ihr auf die Nerven gegangen. Vielleicht lag es daran, dass sie mit zwei Brüdern aufgewachsen war, der eine älter und der andere jünger als sie. Immer hatte sie einen der beiden um sich gehabt.

Dass Titus und sie sich beinahe geküsst hätten, musste eine Übersprunghandlung sein. Sie hatten herumgealbert und dann hatte eine Bewegung die andere ergeben. Zum Glück war das Auto gekommen. Nicht auszudenken, was noch hätte passieren können. Wie hätte sie danach die restlichen sieben Wochen rumbringen sollen?

"Na, stör ich?', fragte eine dunkelhaarige Frau Ende dreißig, nachdem sie aus dem Auto gestiegen war. Während sie sich ihre schulterlangen Haare zu einem Zopf band, beobachtete sie Viola und Titus.

"Nein, wir haben schon auf dich gewartet", beeilte sich Titus zu sagen. "Schön, dass du so schnell kommen konntest, Sabine."

"Wenn du rufst, eile ich", sagte die Frau und deutete auf Viola. "Und wer ist das? Deine neue Freundin?"

In den Tonfall, wie sie es sagte, merkte Viola, dass sie beide keine Freundinnen werden würden. Die andere betrachtete sie als Konkurrentin. Wenn sie die Szene gerade mitbekommen hatte, was möglich war, weil sie sonst gewiss nicht gehupt hätte, konnte sie zu keinem anderen Schluss kommen.

"Nein, Viola hilft mir die nächsten Wochen, solange ich den Gips trage."

"Der ist bald ab. Sie kennen sich mit Alpakas aus?", wandte sie sich an Viola und betrachtete sie abschätzig. Offensichtlich glaubte sie Titus kein Wort. Wenn er bisher mit Gipsarm und -fuß allein zurechtgekommen war, musste es wie eine Ausrede klingen, dass ihm nun geholfen wurde. Aber die Wahrheit zu erzählen, wäre blamabel für sie geworden. Da zog sie lieber die Feindschaft der Frau auf sich. Damit konnte sie leben.

"Man nennt sie auch die Alpakaflüsterin", kam Titus ihr zuvor. "Du solltest sehen, wie gut sie mit Schmuhdel umgehen kann und du weißt, was für ein schwieriger Fall er ist."

"Wegen ihm bin ich hier. Du hast mir gesagt, seine Zähne wären zu lang."

"Ja, sein Gesicht scheint nur noch aus Zähnen zu bestehen. Esmeralda, Bea und Grey solltest du dir auch ansehen."

"Fangen wir mit dem schwierigsten Patienten an. Ich hol die Flex aus dem Wagen und ihr beide bringt mir den Patienten. Hast du eine Kabeltrommel?"

"Steht an der Scheune. Wir bringen dir Schmuhdel."

"Da kann deine Freundin zeigen, dass sie wirklich eine Alpakaflüsterin ist", meinte Sabine spöttisch und ging zu ihrem Auto zurück.

Titus nahm ein Halfter vom Gatter, das er vorhin dort befestigt hatte und ging mit Viola auf die Weide.

"Du willst mit einer Flex die Zähne kürzen?"

"Ich nicht, sondern Sabine. Sie ist Tierärztin."

"Ich dachte, die kriegen das Holz, damit sie sich ihre Zähne abwetzen."

"Manchmal reicht das leider nicht aus und dann muss Sabine kommen."

Titus holte aus seiner Hosentasche eine Handvoll Pellets.

"Wir versuchen, Schmuhdel damit zu locken. Ich werde ihn fixieren, dass du ihm das Halfter anlegen kannst." Er drückte ihr das Halfter in die Hand. "Du musst es über seine Schnauze stülpen und erst dann über seinen Kopf. Er wird sich mit aller Kraft wehren, aber du darfst dich davon nicht abhalten lassen."

"Auch wenn er spuckt?"

"Auch dann nicht. Er wird dich anspucken und um sich treten. Alpakas können rund austreten, nicht nur wie ein Pferd."

"Dann bekommst du das meiste ab. Du hast schon einen Arm und ein Bein in Gips, soll der Rest folgen?"

"Das wird nicht passieren. Es wird wehtun, mehr nicht."

Titus warf ein paar Pellets ins Gras und sofort kamen alle Alpakas angerannt. Langsam ging er auf den Zuchthengst zu, Viola folgte ihm. Sie merkte, wie sich ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend ausbreitete. Wie man ein Halfter benutzte, wusste sie nicht. Davon hatte sie keine Ahnung. Was, wenn sie das falsche Ende über Schmuhdels Kopf stülpte? Sie würde Titus in Bedrängnis bringen und sich vor der Tierärztin lächerlich machen. Letzteres störte sie am meisten. Dieser Sabine wollte sie keine Genugtuung geben, indem sie beim Halfter anlegen scheiterte. Das würde nur deren Vermutung bestätigen, dass sie keine Ahnung von Alpakas hatte. Das gönnte sie ihr nicht, allein schon, um Titus nicht in die Pfanne zu hauen.

Inzwischen fraß der schwarze Hengst mit den weißen Puschen und dem weißen Pony gierig aus Titus' Hand. Dieser ließ sich nicht anmerken, dass er einen Überfall auf Schmuhdel vorhatte. Auf einmal umfasste er mit dem gesunden Arm Schmuhdels Hals und zog ihn an sich. So fixiert konnte der Hengst nicht mehr viel machen, außer zu treten und um sich zu spucken. Er gab wütende Töne von sich, fing zu gurgeln an und traf Viola mitten ins Gesicht. Es roch nach den Pellets, die er gerade gefressen hatte. Angenehm war es nicht, aber es stank nicht so bestialisch als wenn er Mageninhalt heraufgewürgt hätte. Sie verzog keine Miene und konzentrierte sich darauf, ihm das Halfter anzulegen. Beim ersten Mal erwischte sie die falsche Seite, erkannte schnell ihren Irrtum und legte ihm danach das Halfter an, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Es war nicht leicht, denn Schmuhdel gebärdete sich wie der Teufel, versuchte hin und her zu springen, gab wütende Töne von sich und spuckte um sein Leben. Titus hatte Mühe ihn zu halten, aber es gelang ihm, den wütenden Hengst weiter zu fixieren bis Viola ihre Aufgabe erledigt hatte.

Als sie das Führungsseil in der Hand hielt, sah sie Titus ratlos an. Ihr Gesicht war mit grünen Sprenkeln verziert, doch sie schien es nicht zu merken.

"Du musst Schmuhdel kurz halten, während ich weiter den Arm um seinen Hals gelegt habe und ihn vorwärts schiebe. Er ist leider nicht halfterführig. Was glaubst du, warum ich Gips trage? Ich bin nicht auf deren Toilette ausgerutscht, das ist Schmuhdys Verdienst gewesen."

Viola versuchte ernst zu bleiben, als sie sich vorstellte, wie Titus den Alpakahengst am Halfter hatte und dieser Bocksprünge vollführte, um das Halfter loszuwerden. Es gelang ihr nur für einige Sekunden. Schließlich begannen ihre Mundwinkel zu zucken und sie brach in Gelächter aus. Dabei hielt sie das Führungsseil weiter in der Hand.

"Du hast dich von einem Alpaka besiegen lassen?"

"Was ist daran witzig? Das hat höllisch wehgetan. Ich habe wie ein Käfer auf dem Rücken gelegen und bin nicht wieder hochgekommen. Wäre die Tierärztin nicht gekommen, hätte ich am nächsten Tag noch auf der Weide gelegen."

Viola biss sich auf die Lippen und versuchte sich zu beruhigen, konnte aber nicht verhindern, dass sie immer wieder losprusten musste.

"Entschuldige, ich..., du hast recht, das ist nicht lustig." Sie unterdrückte einen Lacher. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Schmuhdel so eine Kraft innehat, um jemanden zum Fliegen zu bringen."

"Der könnte auch über den Zaun springen, wenn er wollte. Glücklicherweise weiß er nicht, dass er das kann, sonst hätten die Kastraten keine ruhige Minute mehr."

Er stemmte sich gegen den Hengst, der versuchte ihn abzudrängen.

"Das nennst du kraftlos? Ich fall gleich um. Halt ihn kurz und Abmarsch!"

Nicht in diesem Ton, dachte sie, aber es regte sie schon nicht mehr so auf, wie noch vor einer Woche. Anscheinend war sie tatsächlich etwas ruhiger geworden.

Langsam bewegten Titus und sie sich vorwärts, mussten immer wieder innehalten, wenn Schmuhdel sich zu arg gebärdete. Nach einiger Zeit, die beiden wie eine Ewigkeit vorgekommen war, kamen sie am Gatter an. Sabine öffnete ihnen und ließ sie hindurch.

"Ein wahrer Teufel", stellte sie fest.

"Er mag nur keinen allzu innigen Kontakt", keuchte Titus, der den Hengst kaum noch halten konnte. Sein gesunder Arm schmerzte und sein Schienbein fühlte sich an, als habe jemand mit dem Gummihammer darauf geschlagen.

"Ich gebe ihm erst mal eine Spritze. So wird das nichts mit seinen Zähnen", meinte die Tierärztin und ging zurück zu ihrem Wagen, wo sie eine Spritze fertigmachte, die sie dem Zuchthengst kurz darauf verabreichte.

Schmuhdel bäumte sich noch einmal auf, aber wenige Minuten später wurde er ruhig.

"Jetzt kann es losgehen. Einmal das Halfter ab und dann gut festhalten, denn es wird laut."

Diese undankbare Aufgabe musste Viola übernehmen, aber Titus hatte nicht vergessen, dass sie geräuschempfindlich war und holte ihr einen Schallschutz, den sie dankend entgegennahm.

"Kriege ich auch einen?", sagte Sabine säuerlich.

"Ich habe nur den einen", meinte Titus und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

"Es geht auch so" hörte Viola sie sagen, bevor sie ihre Umgebung nur noch gedämpft wahrnahm.

Schmuhdel war sanft wie ein Lamm und ließ die Kürzung seiner Zähne über sich ergehen, als bekäme er ein paar Möhren gereicht. Nach ihm waren noch die drei anderen Alpakas dran, Sie bekamen auch eine leichte Betäubung, hatten sich aber willig führen lassen.

"Das ging fix" bemerkte Sabine, nachdem alle behandelten Neuweltkamele wieder wach und zurück auf die Weide gebracht worden waren. "Wenn man eine Alpakaflüsterin zur Seite hat, geht es schneller."

Viola bemerkte, worauf die Stichelei abzielen sollte, ließ die Worte an sich abprallen und setzte ein falsches Lächeln auf. Über solchen Dingen stand sie, da konnte kommen, wer wollte, sie reagierte darauf nicht. Nur wenn man ihr in einem Befehlston kam oder etwas über sie sagte, dass nicht stimmte, konnte sie aus der Haut fahren. Alles andere war ihr egal.

Die Tierärztin verabschiedete sich und warf Viola noch einen letzten abschätzigen Blick zu, bevor sie ins Auto stieg, wendete und davonfuhr.

"Die steht auf dich", stellte Viola fest, als sie auf die Weide starrten, auf der Schmuhdel sich einen Schattenplatz gesucht und sich hingesetzt hatte.

"Wer? Sabine? Wie kommst du darauf?", fragte er verwundert.

"Hast du nicht gemerkt, wie sie sich mir gegenüber verhalten hat? Sie sieht in mir eine Konkurrentin?"

"Frauen!", meinte er kopfschüttelnd und vertiefte das Thema nicht weiter. Auch Viola legte keinen Wert darauf, darüber noch weiter zu sprechen.

Ihr ging nicht aus dem Kopf wie sie beide herumgealbert hatten und es beinahe zu einem Kuss gekommen wäre. Titus schien das längst vergessen zu haben. Hatte er nicht gemerkt, wie die Situation hätte ausgehen können, wenn sie nicht unterbrochen worden wären? Am besten vergaß auch sie, was gewesen oder nicht gewesen war. Sie musste noch sieben Wochen mit ihm auskommen, da konnte sie sich nicht irgendwelche Gefühle einbilden.

Der nächste Tag gab Viola wieder Anlass sich zu fragen, warum Titus sich so seltsam benahm.

Während sie das Futter für die Alpakas vorbereitete, summte sie eine Melodie vor sich hin. Den Refrain pfiff sie sogar. Es klang etwas schräg, aber man konnte Penny Lane von den Beatles wiedererkennen. Titus war zwischendrin weggegangen und tauchte nicht mehr auf bis sie die Schubkarre ans Gatter fuhr, um den Alpakas ihr Futter zu bringen.

Wortlos ließ er sie auf die Weide. Seine Lippen waren nur schmale Striche und er sah aus, als ob er innerlich mit sich kämpfte. Viola bemerkte es, maß seinem Aussehen keine größere Bedeutung zu und packte das Futter in der Raufe. Bea verteilte wieder großzügig ihren Mageninhalt, um sich vor den anderen zu behaupten. Viola war inzwischen ans Ausweichen gewöhnt, dass sie es automatisch machte, wenn sie ein wütendes Gurgeln hörte. Für Doesi hatte sie eine Handvoll Pellets mitgebracht, die sie der jungen Stute gab, die ihr aus der Hand fraß, ohne lange daran zu riechen.

"So ist es schön, meine Kleine. Langsam lernst du, dass du schnell sein musst, wenn du nicht leer ausgehen willst."

Sie strich ihr über den Hals und wunderte sich wieder einmal, wie weich das Fell war.

"Hör auf, Doesi eine Extrawurst zukommen zu lassen. Das braucht sie nicht. Damit prägst du sie zu stark auf dich", sagte Titus gereizt, als sie mit der leeren Schubkarre die Weide verließ.

"Bist du eifersüchtig?"

Ihr Ton hatte schärfer geklungen, als sie es beabsichtigt hatte. Was störte ihn, ob Doesi ein paar Pellets bekam? Er brachte Pedro auch immer was mit, zog diesen den anderen Junggesellen vor. Dann durfte sie Doesi nichts geben? Seine Kritik war ungerechtfertigt.

"Eifersüchtig!", ereiferte er sich. "Ich will nur nicht, dass du sie verziehst. Doesi muss lernen sich durchzusetzen, wenn du ihr immer etwas gibst, wird sie es nie können."

Das leuchtete ihr ein. Trotzdem fand sie, dass Titus ihr das auch netter hätte sagen können. Juckte ihm der Arm unter dem Gips und er konnte sich nicht kratzen, dass er so unwirsch war? Seine Laune war nicht zu ertragen.

"Noch etwas", sagte er, als er sich zum Gehen wandte. "Unterlass es bitte in meiner Nähe zu Summen, zu Pfeifen oder gar zu singen. Ich mag das nicht."

"Okay", sagte Viola verwundert und sah ihm sprachlos hinterher. Wieso störte ihn, wenn sie ein Lied pfiff? Mochte er keine Musik? Wieso stand dieses E-Piano im Wohnzimmer? Ach ja, es diente nur zur Dekoration. Daran hatte sie nicht mehr gedacht. Wieso mochte jemand keine Musik? Hatte er irgendeinen Hörschaden, dass die Noten bei ihm verzerrt ankamen und eine liebliche Melodie für ihn scheppernd klang? Dazu passte, dass er den Fernseher grundsätzlich stumm laufen ließ und die Untertitelfunktion eingeschaltet hatte. Seine Erklärung war gewesen, er könne sich so besser auf die laufende Sendung konzentrieren. Sie hingegen fand, dass man die Hälfte des Gesagten nicht mitbekam, weil die Untertitel zu langsam waren, zu stark gekürzt wurden oder einfach mal ausfielen. In Wirklichkeit schien Titus die Musik nicht ertragen zu können, was er nicht zugab. Äußerst seltsam. Je länger sie Titus kannte, desto merkwürdiger kam er ihr vor. Kein Wunder, dass er nur seine Alpakas hatte und keinen sonstigen Anhang. Mit seinen Absonderlichkeiten würde es keine Frau lange mit ihm aushalten. Den Neuweltkamelen war es egal, solange sie ihr Futter und ihre Streicheleinheiten bekamen.

Sie hatte ihn beobachtet, wie liebevoll er mit den Alpakas umging, vor allem mit seinen Lieblingen Pedro und Esmeralda. Um letztere sorgte er sich, weil sie eine der ältesten in der Herde war und oft unkontrolliert zitterte. Esmeralda mümmelte gern ihr Futter, das man ihr hinhielt, weshalb Viola sie Mümmelralda getauft hatte. Eigentlich war diese nett, wenn sie nicht die Eigenheit hätte, jemanden anzuspucken, wenn sie etwas haben wollte. Ob Notte mit ihrem schrillen Schrei besser war, der einen taub machen konnte, darüber ließ sich streiten.

Viola stellte die Schubkarre in die Scheune und kam heraus, als sie hörte, wie ein Auto in den Hof gefahren kam. Das war der Wagen, der sie beinahe umgefahren hätte, wegen dem sie in den Brennnesseln gelandet war. Was wollte der hier? Unschlüssig blieb sie vor der Scheune stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ein Mann Mitte fünfzig, eine teure Sonnenbrille auf der Nase, obwohl der Himmel bedeckt war, dazu seltsames Haupthaar, das wie ein Toupet aussah, weil es an einen Wischmob erinnerte, stieg aus dem Wagen aus. In der Hand hatte er eine Aktentasche. Aus dieser holte er einen zusammengefalteten Plan, öffnete ihn und drehte ihn anschließend hin und her bis er wusste, wie er ihn halten musste. Kopfschüttelnd betrachtete Viola ihn. Was machte der da? Hatte er sich verfahren und suchte nun auf seinem Plan den richtigen Weg? Nein, das sah weniger nach einer Straßenkarte aus als nach einer Bauskizze. So genau kannte sie sich damit nicht aus, aber Philipp war Architekt gewesen und bei ihm hatte sie ähnliche Skizzen gesehen. Wollte Titus bauen? Davon hatte er gar nichts gesagt, aber was ging sie das an? Nun holte der Mann sein Smartphone hervor und fotografierte. Das ging ihr doch zu weit. Meldete man sich nicht erst an, bevor man eine Begehung des Baugrunds machte? Sie wischte die Hände an der Hose ab und schritt auf den Mann zu.

"Kann ich helfen?", fragte sie und setzte ein falsches Lächeln auf.

Der Mann zuckte zusammen und hätte beinahe sein Smartphone fallen lassen. In letzter Sekunde konnte er es verhindern, aber der aufgefaltete Plan fiel zu Boden. Schnell war Viola bei ihm und hob das Papier auf, bevor der Mann danach greifen konnte. Erst wollte sie es ihm zurückgeben. Als sie das Wort Schweinemast las, wurde sie neugierig drehte sich von ihm weg und faltete das Papier auseinander. Es war eine Bauskizze, aber es zeigte nicht den Hof und seine angrenzenden Weiden und Grasfelder, sondern eine riesige Schweinemastanlage.

"Geben Sie her, das gehört Ihnen nicht", sagte der Mann wütend und versuchte ihr den Plan aus der Hand zu reißen. Viola entwand sich ihm, faltete den Plan schnell zusammen und steckte ihn in ihren Ausschnitt, wo der Mann es hoffentlich nicht wagen würde hinzugreifen. So wie er fuhr, traute sie es ihm zu.

"Ich denke, es ist besser, wenn Sie auf der Stelle verschwinden", sagte sie bestimmt und stellte sich drohend vor ihm auf.

"Wer sind Sie? Behrens‘ Frau? Ich habe Sie hier noch nie gesehen."

"So? Ich Sie hingegen schon und es sind keine guten Erinnerungen. Wegen Ihnen habe ich unangenehme Bekanntschaft mit Brennnesseln gemacht. So, jetzt werde ich Bescheid geben, dass Sie hier unangemeldet Ihr Unwesen treiben."

"Danke, ich habe die Schmeißfliege gesehen", sagte Titus, der auf einmal neben ihr stand. Sie hatte gar nicht gehört, wie er gekommen war. "Der Herr Weber. Haben wir immer noch nicht begriffen, was das Wörtchen Nein bedeutet?"

"Über kurz oder lang werden Sie nicht mehr Nein sagen können. Ihre Gewinne sind erbärmlich. Was sie durch Wandertouren und den Verkauf der Lamas reinkriegen, geben Sie fürs Futter wieder aus. Verkaufen Sie rechtzeitig, bevor Ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Lange wird der Preis nicht mehr aufrecht nicht mehr erhalten bleiben. Machen Sie keinen Fehler, Behrens."

"Erstens haben Sie von meinen Finanzen keine Ahnung, Zweitens brauchen Sie sich um mich keine Sorgen zu machen und Drittens sollten Sie endlich erkennen, wann Sie verloren haben. Wäre schön, wenn Sie in Ihr Auto steigen und mir aus der Sonne gehen. Der Tag ist zu schön, um ihn mir mit Ihrer Anwesenheit verderben zu lassen. Sie wissen, wie Sie wieder hinausfinden und fahren Sie keine Leute um."

"Soll ich Mümmel holen, damit sie ihm Beine macht?", fragte Viola, als Herr Weber keine Anstalten machte in sein Auto zu steigen. "Sie müssen wissen, dass Mümmel das einzige Alpaka ist, dass auf Kommando spucken kann. Übrigens mag sie es gar nicht, wenn man sie beleidigt und Lama nennt. Nur eingebildete Idioten können kein Alpaka von einem Lama unterscheiden."

"Das muss ich mir nicht sagen lassen. Geben Sie mir den Plan", forderte er Viola auf.

"Welchen Plan? Ich sehe keinen. Du, Titus?"

Sie schob den Bauplan tiefer und knöpfte ihr Hemd zu.

"Ich habe keine Ahnung, wovon Weber redet. Der ordentlichste ist er noch nie gewesen. Immer lässt er irgendwo was liegen und beschuldigt andere es genommen zu haben."

"Das wird Konsequenzen haben, das verspreche ich Ihnen", sagte der Toupetträger wütend, stieg in sein Auto ein und schlug die Tür so heftig zu, dass Viola zusammenzuckte. Er startete den Motor und die Räder drehten durch, dass er Sand aufwirbelte.

"Arschloch!", sagte Titus, als er vom Wagen nur noch die Rücklichter sah, die eine Staubwolke hinter sich herzogen.

"Der will deinen Hof haben" stellte Viola fest und zog den Bauplan aus ihrem Hemd. "Eine Schweinemastanlage soll hier hingebaut werden."

"Das wusste ich nicht, nur dass irgendetwas Großes geplant ist. Deshalb hat der Vorbesitzer auch an mich verkauft und nicht an Weber und seinen Kunden, obwohl ich weniger geboten habe. Bei mir konnte er sicher sein, dass ich nicht umfallen und das Geld nehmen werde, damit alles dem Erdboden gleichgemacht würde. Eine Schweinemastanlage. Widerlich, auf so einem schönen Stück Land."

"Steht schön abseits, dass sich niemand über den Gestank beschweren kann."

"Seit zwei Jahren versucht er mich zu vom Verkauf überzeugen. In den letzten Wochen hat er sich zu einer richtigen Landplage entwickelt. Wahrscheinlich sitzen ihm seine Auftraggeber im Nacken oder er hat ihnen Versprechungen gemacht, die er nicht einhalten kann. Der arme Herr Weber."

"Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Ich habe tagelang Probleme gehabt, weil ich in die Brennnesseln gefallen bin." Sobald sie Wasser über die Hautstellen hatte laufen lassen, war das unangenehme Prickeln wieder da gewesen. "Stimmt das mit deinen Finanzen? Du verdienst nicht genug?"

"Quatsch!", winkte Titus ab, sah sie aber nicht an, was Viola verdächtig fand. Also stimmte, was dieser Weber gesagt hatte. "Natürlich könnte es besser sein, aber ich nage nicht am Hungertuch." Jetzt sah er sie wieder an.

"Schließt du wegen ihm die Tür ab, damit er nicht im Haus herumschnüffeln kann?"

"Auch, ja. Man darf nie jemandem die Gelegenheit bieten, seine Nase irgendwo hineinzustecken, wo sie nichts zu suchen hat."

"Glaubst du, dass er wiederkommen wird?"

"Weber ist eine Schmeißfliege. Die kehren immer dahin zurück, wo sie Scheiße finden. Er wird wiederkommen, weil er eine Niederlage nicht akzeptieren kann."

"Müssen wir uns Sorgen machen, dass er die Scheune abbrennen könnte oder etwas anderes anstellt?"

"Bisher hat er sich aufs Drohen verstanden und wie es so schön heißt: Hunde, die bellen, beißen nicht. Irgendwas wird er tun, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht. Ich weiß allerdings nicht, ob er tatsächlich so skrupellos ist und Tier- oder Menschenleben aufs Spiel setzt."

"Was ist mit einer Videoüberwachung?"

"Wurde gleich bei meinem Einzug installiert. Der Hof liegt etwas abgelegen."

"Etwas ist gut", meinte Viola kopfschüttelnd. "Ohne Auto ist man von der Außenwelt abgeschnitten."

"Du bist mit dem Bus gekommen", erinnerte sich Titus. "Hat man dir den Führerschein abgenommen?"

"Ich hatte nie einen."

"Wolltest du keinen machen?"

"Ich habe es versucht, bin jedes Mal durch die praktische Prüfung geflogen, weil ich angeblich einen Fehler gemacht hätte. Ich müsste jetzt erst mal den Idiotentest bestehen und dann wieder Fahrstunden nehmen, bevor ich die theoretische und die praktische Prüfung machen kann. Inzwischen dürfte der Saukerl in Rente sein, aber ich sehe nicht ein, warum ich zu dieser MPU soll und dann den ganzen Mist wiederholen muss, weil dieser Typ eine Rechnung mit mir offen hatte."

"Hast du ihn vor der Prüfung beleidigt?"

"Nein, er macht mich nur für den Selbstmord seines Sohnes verantwortlich, was absurd ist. Ja, wir waren Klassenkameraden und ja, wir haben später beide Wirtschaftswissenschaften studiert. Wir waren eine Lerngruppe und Simon hatte sich in mich verliebt. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn mag, aber nicht lieben würde. Das hat er akzeptiert. Danach ist er zwar auf Abstand gegangen, aber wir haben weiter zusammen gelernt. Ein Jahr später war er tot. In seinem Tagebuch stand wohl, ich hätte ihn abgewiesen und in seinem Abschiedsbrief stand etwas von einer Zurückweisung. Damit war ich nicht gemeint, sondern jemand anderes. Ich wusste, dass er unglücklich verliebt war, aber sich deshalb umbringen? Das habe ich nicht kommen sehen, dabei kannte ich ihn mein halbes Leben. Sein Vater hat mir geschworen, dass er mir das Leben zur Hölle machen wird. Ich habe es als Drohung eines verzweifelten Hinterbliebenen gesehen, der den Selbstmord seines Kindes nicht begreifen kann. Dann war er der Sachverständige bei meiner praktischen Prüfung. Ich fiel jedes Mal durch. Einmal hätte ich angeblich nicht drei Sekunden an einem Stoppschild gehalten, dann eine Bushaltestelle missachtet aus der ein Bus angeblich ausscheren wollte, dabei hatte ich angehalten. Es waren Lügen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe mich über ihn beschwert, es hat nichts genützt. Und wirklich jedes Mal war er mein Prüfer, obwohl ich auf einen anderen bestanden hatte. Beim letzten Mal dann hat er noch so einen süffisanten Spruch von sich gegeben. Ich weiß nicht mehr genau, was er sagte, aber ich habe ihn geohrfeigt. Danach war alles zu spät. Mein Fahrlehrer versuchte noch etwas für mich zu tun, ich hatte ihm die leidige Geschichte erzählt, aber es brachte nichts und dann war es mir auch egal. Was brauche ich in der Stadt ein Auto? Es gibt öffentliche Verkehrsmittel, Fahrräder und meine Füße. Ich konnte damals nicht ahnen, dass ich eines Tages in dieser Einöde landen würde."

"Ein Fahrrad habe ich, falls du mal wegwillst. Ist allerdings ein ganz normales und kein E-Bike."

"So was benutzen faule Säcke. Wer alt ist, für den ist der elektronische Antrieb vielleicht eine Erleichterung, aber sonst braucht man so was nicht."

"Ich würde wahrscheinlich froh sein, wenn ich so ein E-Bike hätte, nachdem der Gips wieder runter ist."

"Wann wird das gemacht?"

"In zwei Wochen. Ich bin froh, wenn ich das wieder los bin. Damit zu schlafen ist alles andere als angenehm, vor allem wenn man kein Rückenschläfer ist."

"Wenn Schmuhdel wieder an die Leine soll, musst du dir eine zweite Person holen, sonst wirst du wieder Gips tragen. Vielleicht zur Abwechslung die andere Hand und das andere Bein, damit es sich ausgleicht."

"Ich werden dich anrufen, damit du mit wehenden Fahnen hier auftauchst und mir hilfst. Du kannst gut mit den Alpakas umgehen, auch wenn du mit Zweibeinern deine Probleme zu haben scheinst. Du bist nicht mehr so aufbrausend wie zu Beginn", stellte Titus fest.

"Du kommandierst mich auch nicht mehr herum, als müsste ich alles wissen, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich tun muss."

"Mit Befehlen hast du so deine Probleme."

"Nur mit dem Ton. Ach, du hast recht, ich mag nicht herumkommandiert werden. Meist gebe ich die Befehle."

"Bist du eine strenge Chefin?"

"Nein, ich bin nur angestellt und leiste genau das, was auch die anderen tun."

"Was arbeitest du?"

Wir unterstützen Unternehmen, indem wir sie optimieren."

"Du bist eine Heuschrecke und sorgst für Gewinnmaximierung, indem du Leute entlässt."

"Nein, eben nicht. Na gut, manchmal geht es nicht anders, aber eigentlich werden wir schon geholt, bevor eine Schieflage entsteht. Wir prüfen die Finanzen, sehen uns an, wo die größten Kostenfaktoren sind und suchen nach Lösungen. Das Entlassen von Menschen mag Kosten einsparen, geht aber zulasten der anderen."

"Dann ist deine Firma die erste, die ihre Prioritäten anders setzt."

"Mag sein."

Wirklich zufrieden war Viola mit ihrem Job nicht, aber er wurde gut bezahlt und das wog vieles auf. Wenn sie könnte, würde sie sich nach etwas anderem umsehen. Nur wo konnte sie auch von Zuhause aus arbeiten? Für die acht Wochen hätte sie Urlaub nehmen müssen, so konnte sie abends und in ihrer freien Zeit an ihren Sachen arbeiten und dank des vorhandenen Internets an ihre Firma schicken.

Kapitel 6

Obwohl Viola zu vergessen versuchte, was der schmierige Brennesseltyp gesagt hatte, gingen ihr seine Worte nicht aus dem Kopf, Titus würde kaum Gewinn machen. Zwar hatte er es abgestritten, aber ihr war nicht entgangen, dass er ihr nicht hatte ins Gesicht sehen können, als er es sagte. Also war etwas dran. Das mit dem geringen Gewinn glaubte sie sofort. Neben den laufenden Kosten wie Strom, Wasser und Grundsteuer kamen noch die Pellets und die Lebensmittel für den eigenen Bedarf hinzu. Sie wusste nicht wie viel es war, aber an die 60.000 Euro übers Jahr würden es bestimmt sein. Wenn nun alle weiblichen Alpakas ein Jungtier bekamen, Doesi war noch zu jung, wären es elf Jungtiere. Viola hatte sich im Internet schlau gemacht, wie viel ein Alpaka durchschnittlich kostete. Dabei hatte sie herausgefunden, dass schwarze Alpakas höher gehandelt wurden als beispielsweise graue. Das hing mit der Feinheit der Wolle zusammen. Schwarze hatten eine feinere Wolle als weiße oder graue. Rechnete sie nun um die 3.000 Euro wären das 33.000. Nun bekam nicht jede Stute ein Jungtier, manchmal starb eines oder Titus behielt eines, so ging bares Geld verloren. Durch den Verkauf der Wolle konnte er es nicht reinholen. Daran verdiente er nur alle zwei Jahre, weil er seine Tiere nicht jedes Jahr scheren ließ. Den Schermeister musste er auch bezahlen. Da kamen weitere Kosten auf ihn zu. Wie viel mochte er mit seinen Wandertouren verdienen? Bisher war noch niemand da gewesen, obwohl das Wetter gut war.

Sie konnte es drehen und wenden wie sie wollte, aber der Gewinn war nicht nur minimal, sondern wahrscheinlich sogar negativ. Titus machte Verlust! Wie lange würde er seine Alpakazucht noch aufrecht erhalten können? Hatte die schmierige Brennnessel recht und Titus blieb nichts anderes übrig als zu verkaufen? Nur warum schien Titus das nicht zu interessieren? Hatte er genug Geld gemacht oder es gut angelegt, dass er sich keine Sorgen machen musste, ob er Gewinn oder Verlust mit seinen Neuweltkamelen machte? Dienten Zucht und Wandertouren nur als Tarnung für irgendetwas? War Titus in kriminelle Machenschaften verstrickt? Wurde hier Geld gewaschen? Schloss er deshalb das Haus immer ab?

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Titus kriminell war, aber welche Erklärung gab es, dass ihn trotz Verlust keine Geldsorgen plagten. Er konnte doch nicht immer mehr Schulden anhäufen bis nichts mehr ging. Also schien er finanziell so gut gestellt, dass ihn nicht zu kümmern brauchte, ob er Gewinn oder Verlust machte. Davon schien die schmierige Brennnessel nichts zu wissen. Anscheinend kannte der nur die Verluste, aber nicht die zweite Einnahmequelle, die alles aufwog.

Sie musste herausfinden, woher Titus sein Geld bekam. Nicht auszudenken, wenn er mit Verbrechern Geschäfte machte. Wieso wusste ihr Psychologe nichts davon? Waren sie nicht seit Schulzeiten befreundet? Vielleicht gab sie Titus unrecht und er hatte sein Geld gut investiert. Als Banker kannte er sich aus und wusste, was Gewinn einbrachte. War die Lösung so einfach?

Viola würde erst wieder eine ruhige Minute haben, wenn sie wusste, ob und wie viel Gewinn er machte und wenn nicht, woher das Geld kam, dass ihm dieses Leben ermöglichte.

Diese Daten würde er in seinem Arbeitszimmer liegen haben. Viola wusste, wo es lag, hatte es noch nie betreten. Wie sollte sie dort reinkommen? Titus ging nicht weg, hielt sich fast immer im Haus oder in der Nähe auf. Es würde ihr nie gelingen, einen Blick auf seine Unterlagen zu werfen.

Der Zufall wollte es, dass sich zwei Tage später eine Gruppe ansagte, um mit den Alpakas wandern zu gehen. Während der Einweisung wäre sie ungestört und könnte in Titus' Unterlagen stöbern.

"Du wirst die Gruppe begleiten müssen", sagte er ihr am Nachmittag.

"Ich?", sagte sie überrascht. "Traust du mir das zu?"

"Ich kann sie mit meinem Gips schlecht begleiten, auch wenn die Alpakas keine Rennläufer sind. Wenn ich es dir nicht zutrauen würde, hätte ich der Gruppe abgesagt. Du kommst mit den Junggesellen zurecht. Pass auf Miguel auf, dass er nicht alles frisst, was am Wegesrand steht. Er frisst alles, selbst giftige Kräuter. Du musst höllisch aufpassen. Am besten hältst du ihn kurz, dann kann nichts passieren."

Viola sah ihn an und fragte sich, ob das eine Art Bewährungsprobe für sie werden sollte. Wie konnte er sicher sein, dass sie das konnte? Sie hatte mit Miguel und den anderen Junggesellen wenig gearbeitet, ihnen eigentlich nur Futter gebracht und das Gehege gesäubert. Dann sollte sie eine Wandergruppe begleiten? Wenn er es ihr zutraute, dann war es so. Allerdings durchkreuzte das ihre Pläne nach seinen Unterlagen zu suchen. Das wäre die beste Gelegenheit gewesen, nun war es ihr nicht mehr möglich.

"Ich werde die Gruppe einweisen, danach wirst du übernehmen. Keine Angst, das kriegst du hin."

"Wo soll ich sie entlangführen? Ich kenne mich hier nicht aus."

"Ich zeige dir morgen den Weg. Den kannst du dir leicht merken. Wir nehmen auch Miguel mit, damit du dich an ihn gewöhnst."

Miguel war ihr bisher nicht unangenehm aufgefallen, aber das hieß nichts. Er könnte sich als Stinkstiefel erweisen oder als störrisch. Wenn er nun nicht mit ihr laufen wollte? Morgen würde er mit ihr laufen, aber wie sah es aus, wenn Titus nicht dabei war? Denn sie würde allein mit der Gruppe losziehen, sonst würde er ihr nicht den Weg zeigen. Dann könnte sich Miguel als störrisch erweisen. Schlimmstenfalls würde er sich von ihr losreißen oder sie würde ihn noch festhalten können, aber er würde dennoch loslaufen und sie hinterherschleifen. Eine peinliche Situation. Lieber in die Alpakatoilette fallen, als vor anderen von einem Alpaka von den Füßen geholt zu werden. Wer weiß, ob sie nicht wie Titus enden und Arm und Bein in Gips hätte. Dieses Missgeschick würde man ihr gewiss auch nicht abnehmen. Dabei waren die absurdesten Dinge tatsächlich geschehen.

"Am besten besuchen wir Miguel, damit ihr engere Freundschaft schließen könnt. Er wird dich mögen, verlass dich drauf."

Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, als man ein Auto hörte, dass sich schnell näherte.

"Der Brennnessel-Typ", sagte Viola. "Was will der schon wieder?"

"Seinen Bauplan? Wenn er so schnell wiederkommt, verheißt es nichts Gutes. Geh ins Haus. Der Aasgeier ist bald wieder verschwunden."

Ohne Titus zu widersprechen, weil sie sich bevormundet fühlte, zog Viola sich zurück, denn es war die perfekte Gelegenheit, um nach den Finanzen zu suchen. Etwas Besseres konnte ihr nicht passieren.

Das Büro befand sich am Ende des Ganges auf der linken Seite gegenüber dem Waschraum. Bisher hatte sie nur im Vorübergehen, auf dem Weg zur Waschmaschine, einen kurzen Blick hineingeworfen. Viel hatte sie nicht gesehen. Aktenordner in einem Regal und einen Wandkalender. Der Schreibtisch musste sich im anderen Teil des Raums befinden, der für sie nicht einsehbar war.

Durch das geöffnete Fenster hörte sie die Stimmen von Titus und dem Brennnesseltypen. Was sie sagten, konnte sie nicht verstehen. Die würden noch etwas beschäftigt sein, sodass sie in aller Ruhe nach den Finanzen des Alpakahofs suchen konnte. Wo sollte sie anfangen? Am besten bei den Aktenordnern im Regal, aber diese waren nicht beschriftet. Jetzt musste sie jeden einzelnen aufschlagen und durchblättern. Wieso konnten Männer keine Ordnung halten? Philipp war genauso gewesen. Wie der allein seine Versicherungen sortiert hatte, das System hatte sie bis heute nicht verstanden. Weder war es alphabetisch nach Versicherungsart geordnet, noch nach dem Namen der Versicherung. Manchmal hatte sie ihren Ex-Mann dabei ertappt, wie er selbst in seinem System etwas suchte. Zugegeben hatte er es nicht, weil sie ihn sonst damit aufgezogen hätte. Sie mochte pedantisch sein, was das Ordnen von Finanzen, Versicherungen und Ähnlichem anging, dafür fand sie alles in wenigen Minuten.

Wahllos zog Viola einen der Ordner aus dem Regal und öffnete ihn. Das waren Rechnungen, wie sie mit einem Blick feststellte. Pellets, Heu, Möhren und was sonst an Unkosten für die Alpakas zusammenkam. Einzelne Lieferungen im niedrigen dreistelligen Bereich, manchmal auch nur zweistellig, aber das summierte sich übers Jahr und schnell konnte das eine hohe vierstellige oder fünfstellige Summe werden wie sie beim Durchblättern der Rechnungen feststellte. Das waren nur die Ausgaben für die Alpakas. Wo befanden sich die Einnahmen? Sie stellte den Ordner zurück und nahm den daneben zur Hand. Dort waren die Einnahmen abgeheftet. Besonders dick war das nicht gerade. Ein paar Buchungen für eine Wanderung, dann der Verkauf eines Jungtiers oder vom geschorenen Fell. Nach richtig großen Summen sah das nicht aus, obwohl für manche Alpakas mehr als 3.000 Euro bezahlt worden waren. Mussten Neuweltkamele nicht bewacht werden, damit niemand auf die Idee kam, ein Tier zu stehlen? Hatte Titus nicht etwas von Videoüberwachung gesagt? Viel nützen würde die nicht, wenn die Diebe vermummt waren und gerade dann ein paar Alpakas mitgehen ließen, wenn niemand da war.

Viola klappte den Ordner zusammen und wollte den nächsten aus dem Regal nehmen, als das Telefon zu läuten begann. Vor Schreck zuckte sie zusammen, der Aktenordner fiel ihr aus den Händen und sie konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er auf dem Boden aufschlug. Verbogene Kanten waren das letzte, was sie gebrauchen konnte. Titus sollte nicht merken, dass sie in seinen Papieren geschnüffelt hatte.

Das Telefon klingelte weiter und Viola wollte es im ersten Moment ignorieren, dann dachte sie sich, dass es vielleicht potentielle Kunden für eine Alpakawanderung wären. Also stellte sie den Ordner zurück ins Regal, achtete dabei darauf, dass er nicht herausguckte und ging zum Schreibtisch.

"Alpakawanderungen Titus Behrens", meldete sie sich und wollte noch ihren Namen hinzufügen, doch in dem hatte schon jemand aufgelegt.

"Hallo?", sagte sie dennoch, obwohl das Freizeichen längst zu hören war.

Seltsam, hatte sich jemand verwählt oder war es Absicht gewesen? Diente der Brennnesseltyp draußen nur als Ablenkung und jemand anderes wollte wissen, ob sich noch jemand im Haus befand? Titus hatte so etwas angedeutet, als er ihr sagte, sie solle das Haus immer abschließen, wenn sie nach draußen ging. Oder war es jemand gewesen, der sich erschrocken hatte, weil nicht Titus, sondern sie ans Telefon gegangen war?

Sie wollte zurück zur Regalwand gehen, als ihr der Computer ins Auge fiel. Der Bildschirm war schwarz, aber ein leises Summen drang an ihr Ohr und sagte ihr, dass das Gerät angeschaltet war. Kurz tippte sie die Maus an und der Bildschirm erwachte zum Leben. Erfreut stellte sie fest, dass es kein Passwort gab, das die Dateien vor fremden Blicken schützte. Ziemlich leichtsinnig, wie sie fand. Einerseits schloss Titus jedes Mal das Haus ab, wenn er nach draußen ging, andererseits gab es kein Computer-Passwort, sodass wirklich jeder nach Dateien oder anderem herumschnüffeln konnte. Das passte nicht zusammen. Die Übervorsichtigkeit und dann kein Schutz vor fremden Blicken. Wahrscheinlich hatte er nicht gedacht, dass sie in seinem Computer nach seinen Finanzen herumschnüffeln würde. Sie würde nie einen Rechner ohne Passwort laufen lassen. Man konnte nie wissen, wer sich darin Einblick verschaffte, den das nichts anging.

Mal sehen, wo würde sie fündig werden?

Sie öffnete den Arbeitsplatz, klickte auf "Eigene Dokumente" und sah sich die verschiedenen Ordner an, die Titus erstellt hatte. Finanzen, da hatte sie, was sie suchte. Sie wollte gerade draufklicken, als ihr ein anderer Ordner ins Auge fiel. Nein, die Steuererklärungen würde sie sich später vornehmen. Jetzt interessierte sie sich erst einmal für die Einnahmen und woher diese stammen mochten.

Es gab zwei Exceldateien, die sich mit den Einnahmen und Ausgaben des letzten Jahres befassten.

War da gerade eine Autotür geknallt worden? Nein, sie musste sich getäuscht haben. Wahrscheinlich hatte ihr Gehirn ihr das Geräusch vorgemacht. Dennoch verharrte Viola für ein paar Sekunden. Als kein Motor gestartet wurde, atmete sie tief ein und aus, bevor sie sich die Exceldatei mit den Einnahmen ansah. Für jeden Monat hatte Titus eine Tabelle angelegt. Merkwürdig, der Januar enthielt eine hohe vierstellige Summe. Was verdiente man im Januar mit Alpakawanderungen? Spazieren gehen im Schnee? Kam das so gut an, dass er damit ein kleines Vermögen verdiente? Im Februar war es ähnlich. Die Summe war niedriger, aber wieder im hohen vierstelligen Bereich. Der März sah nicht anders aus. Dieses Mal war die Summe sogar fünfstellig. 12.000 Euro für Wanderungen mit Alpakas? Nein, das konnte nicht sein. Dieses Jahr war Ostern bereits Ende März gewesen, aber die Leute kamen nicht auf die Idee, mit Neuweltkamelen durch den Wald zu ziehen. Wurde so etwas von Firmen für ihre Mitarbeiter und deren Familien gebucht? Vielleicht für Zoobesuche, aber nicht für einen Alpakahof. Davon hatte sie noch nie gehört. Weihnachtfeiern fanden auf Bowlingbahnen oder Theatern mit Restaurantbesuch statt. Solche Feiern arteten oft in Alkohol aus und sie glaubte nicht, dass Titus gewillt war, solche Feste auf seinem Alpakahof abhalten zu lassen. Nachher glaubten irgendwelche betrunkenen Kerle, so ein Alpaka würde sich als Reittier eignen.

Woher kam das ganze Geld? Durch den Verkauf von Alpakafohlen? Dass diese Vermutung nicht stimmte, sah Viola in der Apriltabelle. Dort tauchte zum ersten Mal eine Erklärung für eine Geldsumme auf. Es handelte sich um den Verkauf eines Jungtieres. Daneben waren die ersten Wanderungen verzeichnet und wieder eine hohe vierstellige Summe, die nicht näher erläutert wurde. Dazu kamen Dividenden aus Aktien, die sage und schreibe an die 15.000 Euro betrugen. Welche Summe mochte Titus investiert haben, dass er so eine hohe Dividende kassierte? Aktien, die mindestens einen Gewinn von knapp vier Euro brachten hatten etwa einen Wert von fünfzig Euro und mehr. Titus musste vor Jahren gut investiert haben, als die Werte im Keller waren. Nur woher stammte dieses Geld? Erbschaft oder Lottogewinn? Bevor das Geld auf einem Sparbuch durch die Inflation langsam vernichtet wurde, musste er einen Teil in Aktien investiert haben. Zahlte er sich pro Monat aus seinem restlichen Vermögen etwas aus, um damit die laufenden Kosten zu decken? Nur wieso variierten die Summen und warum gab es keine Bezeichnung für dieses Geld?

Im Juni stieg die unbekannte Einnahme sogar an. Mehr als 12.000 Euro. Woher stammte das Geld? Schwarzgeldgeschäfte oder Drogenhandel? Hier draußen in der Einsamkeit fiel eine Drogenküche nicht weiter auf. Nur konnte sie sich Titus nicht als Chemiker vorstellen. Wo sollte er die Drogenküche verstecken? Es gab keinen Ort und keinen Raum, der nicht für sie zugänglich war. Na gut, in der ersten Etage hielt sie sich nicht auf, weil es Titus' Reich war, aber er hatte ihr nicht verboten, sich dort aufzuhalten. Gab es einen nicht einsehbaren Zugang zu einem Keller? Eigentlich dachte sie, sämtliche Räume des Untergeschosses zu kennen. Der Keller hatte mehrere große Räume, die unverputzte Wände hatten. Nirgendwo stand ein riesiges Regal oder ein Schrank hinter dem man einen weiteren Raum verstecken könnte. Dennoch war es Viola als hätte sie etwas übersehen. Hatten solche Häuser nicht immer einen Eiskeller gehabt, um dort leicht verderbliche Ware wie Schinken oder Würste zu lagern? Wenn es so etwas gab, wusste sie nicht, wo er sich befand. Aber auch wenn sie ihn nicht kannte, so hatte sich Titus dort bestimmt keine Drogenküche eingerichtet. Er hätte die Zutaten irgendwo lagern müssen, die Endprodukte müsste jemand abholen und würde von der Herstellung nicht ein übler oder stechender Geruch ausgehen?

Nein, Drogen stellte Titus nicht her, aber wie kam er an die monatlichen Einnahmen? Ob ihr die Steuererklärungen weiterhelfen würden? Oft waren solche Dokumente ganz aufschlussreich.

Viola schloss die beiden Exceldateien mit den Einnahmen und den Ausgaben und wollte den Ordner mit den Steuererklärungen öffnen, als erneut das Telefon läutete.

"Alpakahof Titus Behrens, was kann ich für Sie tun?", meldete sie sich.

Am anderen Ende der Leitung blieb es still, aber im Gegensatz zu vorhin, wurde dieses Mal nicht sofort aufgelegt. Ganz deutlich hörte sie jemanden atmen.

"Melden Sie sich. Was wollen Sie?"

Jetzt wurde aufgelegt. Viola starrte den Hörer an, bevor sie auflegte. Merkwürdig. Zwei Anrufe innerhalb kurzer Zeit und niemand meldete sich. Was mochte das zu bedeuten haben?

Als sie sich wieder dem Computer zuwandte, stellte sie fest, dass der Bildschirm wieder schwarz war. Titus musste die Einstellung auf ein oder zwei Minuten gestellt haben. Gerade als sie wieder die Maus anfassen wollte, kam Titus ins Zimmer.

"Was machst du hier?", wollte er wissen. Er klang misstrauisch.

Viola hatte ihn nicht kommen hören, zuckte zusammen und bewegte dabei die Maus. Der Bildschirm erwachte wieder zum Leben, sie sah, dass der Ordner noch geöffnet war und schloss ihn. Hoffentlich hatte Titus nichts davon gemerkt.

"Das Telefon hat geläutet und ich bin rangegangen."

"Wenn jemand eine Wanderung buchen will, musst du ihn auf später vertrösten. Die Termine mache ich."

"Ich weiß nicht, was der Anrufer wollte. Beim ersten Mal hat er gleich aufgelegt und beim zweiten Mal etwas später."

"Verdammt! Was ist jetzt wieder los?", sagte Titus verärgert und ballte die Hände zu Fäusten.

"Weiß ich nicht", sagte Viola vorsichtig und starrte ihn an. So kannte sie ihn nicht.

"Entschuldige, natürlich weißt du es nicht. Ich kenne den Anrufer. Dass du rangehst, damit wurde nicht gerechnet. Ist vielleicht ganz gut so. Mal sehen, was da noch kommen wird. So langsam reicht's mir!"

Sie wusste nicht, wovon er sprach. Über wen ärgerte er sich? Der Brennnesseltyp war es nicht. Mit diesem musste Titus sich noch unterhalten haben, als es Telefon das erste Mal geläutet hatte. Dr. Schneggenburg konnte es auch nicht sein. Dieser hätte sich gemeldet und nicht wortlos aufgelegt. Der Anrufer war jemand, den Titus kannte und der ihn nervte. Verwandtschaft? Die konnte sehr nervig sein, wenn sie an ihre eine Schwägerin dachte, von der sie mindestens alle zwei oder drei Tage angerufen wurde und die sie nicht unter zwei Stunden loswurde. Manchmal rief sie sich selbst an oder bat ihren Nachbarn an der Tür zu klingeln, um endlich wieder Ruhe zu haben. Das durfte sie nur nicht zu oft machen, sonst flog sie auf.

"Habe ich den Computer nicht abgeschaltet?", sagte Titus, nachdem er an den Schreibtisch herangetreten war und die Nummern der verpassten Anrufe überprüft hatte. Die Zahlenfolge, die er erwartet hatte, war dabei gewesen. Da würde noch was kommen, das wusste er jetzt schon. Dieses Mal würde er nicht mitspielen. Irgendwann war der Schlusspunkt erreicht.

"Ich bin eben gegen die Maus gekommen, weil du mich erschreckt hast", rechtfertigte sie sich.

Hoffentlich wurde er nicht misstrauisch. Sie hätte nur was Belangloses sagen brauchen.

Viola machte sich unnötig Gedanken, denn Titus hörte ihr gar nicht richtig zu.

"Ja, ja, ich vergesse öfters das Gerät auszuschalten, weil nach zwei Minuten der schwarze Bildschirm erscheint."

"Man hört doch, dass der Computer noch an ist. Entweder ist die Lüftung an oder die Festplatte arbeitet."

"Da höre ich gar nicht so hin."

"Das solltest du tun. Du willst doch nicht, dass die unerträgliche Brennnessel eines Tages ins Haus gelangt, weil du vergessen haben solltest abzuschließen, und sich die wichtigsten Infos deiner Festplatte auf einem Stick speichert. Wenn du alles wie Fort Knox sichern willst, solltest du es gründlich tun. Dazu gehört wenigstens ein Passwort."

"Das vergesse ich immer und den Merkzettel verlege ich."

"Deine Kollegen in der Bank hatten immer dein Passwort parat, wenn du es nicht wusstest? Die konnten sich bestimmt Besseres vorstellen, als ihrem Chef ein Buchstabenwirrwarr zu nennen, von dem sie wussten, dass du es bereits fünf Minuten später nicht mehr im Kopf hattest. Oder bist du nur ein Bankberater gewesen, der seine Kunden dazu zwingen wollte Aktienkäufe nur noch per Internet zu tätigen?"

"Banker?"

Titus sah sie ratlos an, dann änderte sich sein Gesichtsausdruck in Erkennen und er fing schallend zu lachen an. Ratlos sah Viola ihn an. Was war daran witzig gewesen?

"Natürlich, jetzt verstehe ich wovon du redest. Das Passwort klebte unter meiner Schreibtischunterlage. Dort habe ich es immer gefunden."

"Da konnten auch andere dran."

"Ja, das hat auch jemand gemacht. Auf dem Computer war noch ein Programm installiert, dass jeden Zugriff auf ein Programm oder eine Datei protokollierte. Ich habe nichts gesagt, aber das Passwort geändert. Es war nur ein Punkt. Ist niemand drauf gekommen und ich wusste immer, was es war. Nichtsdestotrotz hatte ich es mir notiert, doch wer bemerkt schon einen dünnen Punkt?"

Er hatte nicht bemerkt, wie Viola alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, als Titus von dem Programm erzählte, dass jeglichen Zugriff auf Dateien protokollierte. Hatte er das auch auf diesem Computer installiert? Würde er sich das Protokoll für den heutigen Tag ansehen und dadurch wissen, dass sie in seinen Daten geschnüffelt hatte? Was sollte sie tun? Das Programm suchen und die entsprechenden Einträge löschen? Wann sollte sie das tun? Sie könnte sich nachts herunterschleichen und nach dem Protokoll suchen. Bis dahin könnte Titus längst gelesen haben, was sie getan hatte.

Wenn er davon erfuhr und sie zur Rede stellte? Was sollte sie sagen? Der Brennnessel-Typ habe sie misstrauisch gemacht? Das stimmte, war aber noch lange kein Grund, tatsächlich in fremden Finanzen herumzuschnüffeln. Titus würde sie achtkantig rausschmeißen, da konnte sie noch so gut mit den Alpakas umgehen. Er würde nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, weil er ihr nicht mehr vertrauen konnte.

Das wollte sie nicht, wie sie überrascht feststellte. Sie wollte weiterhin hier sein, sich um die Alpakas kümmern, von denen eines verrückter als das andere war. Gab es noch einen anderen Grund? Klar, sie wollte ihre Sozialstunden endlich ableisten, damit Dr. Schneggenburg weitergeben konnte, dass sie dieses Mal keine Probleme mit ihrer Stelle hätte. Und sie wollte endlich wissen, warum Titus seine Bankstelle aufgegeben hatte und stattdessen Alpakas züchtete. So langsam begann er sich zu öffnen, auch wenn er ihr seine Beweggründe noch immer verschwieg. Ein paar Wochen war sie noch hier, da könnte sie sein Geheimnis herausgefunden haben. Falls sie noch da sein sollte, wenn er nicht dieses Überwachungsprogramm auf seinem Computer installiert hatte. Wegen ihrer Neugierde war sie noch nie erwischt und bestraft worden. Einmal war immer das erste Mal, aber sie wollte nicht, dass Titus erfuhr, was sie getan hatte.

"Wollte der Brennnessel-Typ seine Baupläne zurückhaben?", wollte Viola wissen.

"Wer? Ach so, du meinst Weber, die Schmeißfliege. Nee, er hatte wohl Ersatz. Der ist wegen dir zurückgekommen. Hat ihm wohl nicht gefallen, wie du ihn behandelt hast. Wie er an deinen Namen gekommen ist, kann ich dir nicht sagen, aber er hat hinter dir her geschnüffelt und musste mir brühwarm erzählen, dass du eine Psychopathin bist und ich mich vor dir hüten soll, wenn ich nicht eines Morgens mit einem Messer im Rücken aufwachen wolle."

"Hat er dir verraten, wie du aufwachen willst, wenn du tot bist? Ich bin noch nie handgreiflich geworden, wenn ich wütend war. Ich poltere herum, aber ich schlage niemanden und mit einem Messer oder ähnlichen füge ich keinem Verletzungen zu."

"Hattest du nicht deinen Fahrprüfer geohrfeigt?"

"Der hatte mich beleidigt. Das ist was anderes."

"So, so, dann muss ich mir keine Sorgen machen, eines Tages mit einem Beil im Schädel aufzuwachen?", sagte Titus und sah sie schelmisch an.

"Du willst ein Zombie sein? Ein lebender Toter? Ich glaube nicht, dass deine Alpakas dich noch mögen werden. Sie werden dich vollrotzen und Schmuhdy wird dir ein paar unschöne Tritte verpassen. Aber als Untoter sollte dich das wenig stören, wo du schon ein Beil im Kopf hast."

Herrje! Was redete sie für einen Blödsinn? Titus musste denken, dass sie bescheuert war. Wie es aussah, fand er amüsant, was sie gesagt hatte. Er hatte seinen Mund zu einem Grinsen verzogen und dieses Mal erreichte es auch seine Augen. War er nur fröhlich, wenn man so einen Quatsch erzählte? Wenn es so war, sollte es ihr recht sein. Sie konnte albern sein, wenn es sein musste. Nicht umsonst musste sie zu jeder Geburtstagsfeier der Kollegen eine Rede schreiben, die nur so von Witz und Blödsinn triefte. Sie selbst fand immer schwachsinnig, was sie schrieb, aber ihre Kollegen lachten sich halbtot.

"Erst werden Notte und Doesi kommen, mich aufgeregt beschnuppern, dann zu rotzen anfangen und schließlich mir nur noch ihren Hintern zeigen. Jetzt komm, Miguel und du habt noch etwas vor."

"Ach ja, gelangweilte Großstädter wollen sich mit einer Alpakawanderung entschleunigen und jede Menge Zecken holen. Ich ziehe mich ganz schnell um, damit ich von diesen Biestern verschont bleibe."

Titus hatte nicht übertrieben, als er sagte, Miguel fresse alles, was ihm vor die Schnauze kam. Sobald er etwas erblickte, dass grün war, versuchte er sich darauf zu stürzen, seinen Kopf da hinzuziehen oder lief auf einmal los, dass Viola ihn kaum halten konnte und erst einmal hinter ihm herlief, um nicht die Leine zu verlieren oder zu stolpern und mitgeschleift zu werden.

Lauffreudig war das Alpaka mit dem braunen Gesicht, das zwei Töne dunkler war als sein Fell, das mehr rotbraun wirkte. Nie musste man Miguel zwingen weiterzugehen, selbst wenn er etwas Fressbares entdeckt hatte und man ihn weiterzog, blieb er nicht einfach stehen, sondern ging willig mit. Vielleicht war er deshalb am besten geeignet, um die anderen Alpakas anzuführen. Nur manchmal wollte er in eine Richtung, in die er nicht sollte. Da musste Viola ihn kurzhalten.

"Mensch, Miguel, was willst du da? Dort sind nur Zecken, die dich aussaugen wollen. Komm weiter! Dort gibt es nichts", sagte sie und fasste die Führungsleine noch ein wenig kürzer. Dabei passierte es, dass sie an den Haken der Leine kam, die man am Halfter befestigte. Die Leine löste sich und Miguel machte sich auf und davon. Wie gelähmt sah Viola dem laufenden Alpaka hinterher.

"Bleib stehen, du verdammtes Biest!", rief sie und warf einen Seitenblick auf Titus, der mit Pedro neben ihr gelaufen war.

"Was stehst du hier noch rum?", fragte er. "Lauf hinterher!"

"Hinterher. Natürlich!", brummte sie widerwillig, tat aber, wie ihr geheißen wurde.

Miguel war bereits verschwunden, aber er würde nicht weit kommen. Irgendwo fand er bestimmt etwas Essbares und würde stehenbleiben. Diesen Moment würde sie nutzen, um ihn wieder einzufangen und die Leine am Halfter zu befestigen. Hörte sich leichter an, als es war. Denn Miguel dachte nicht daran, irgendwo stehenzubleiben, sondern sprang hin und her. Mal blieb er stehen und Viola freute sich, ihn zu kriegen, als er ihr im letzten Augenblick entwischte.

"Verdammtes Biest!", fluchte sie ein ums andere Mal.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137224
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Alpaka Geheimnis Gefahr Bedrohung Trauer Herz Romance Liebe Lama Musik

Autor

  • Anna Ehrich (Autor:in)

Anna Ehrich ist das Pseudonym von Helen Dalibor, die unter diesem Namen romantische Geschichten schreibt. Weitere Titel sind in Vorbereitung.
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Titel: Alpakas haben keine Geheimnisse