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Die Farbe der See

von Jan von der Bank (Autor:in)
281 Seiten

Zusammenfassung

EINE FAHRT IN DEN STURM – Dass die Offiziersausbildung auf der Gorch Fock hart würde, hatte Thies Hansen erwartet, nicht aber einen solchen Horrortrip! Nach einer Kutterregatta der „Kieler Woche“ wird ein Mädchen ermordet. Thies und die anderen Kuttersegler der Gorch Fock werden verdächtigt und tagelang von Polizei und den eigenen Offizieren verhört; die unmittelbar bevorstehende nächste Fahrt der Gorch Fock steht auf der Kippe. Schließlich darf das Schulschiff doch auslaufen. Aber der Fluch des toten Mädchens segelt mit. Im Nordatlantik kommt es zu mehreren unheimlichen Todesfällen. Thies weiß, dass es auf See kein Davonlaufen gibt. Doch erst als der aufziehende Sturm seine volle Stärke erreicht hat, erkennt er, worum es dem Mörder wirklich geht ... Die mitsegelnde Stabsärztin Vivian Berg wird zu seiner Verbündeten. Die Kapitel folgen den Windstärken – von Kapitel 1 Windstärke 1 Leiser Zug, ruhige See bis Windstärke 12 Voller Orkan, außergewöhnlich schwere See. Nach der FARBE DER SEE gelingt Jan von der Bank ein zweiter atemberaubender Thriller. Der Autor ist selbst auf der Gorch Fock gefahren und war Segelweltmeister. Als TV-Autor schreibt er für Küstenwache, Tatort und Der Alte. IN DEN STURM ist zuerst unter dem Titel HUNDEWACHE erschienen und wurde für diese Neuausgabe überarbeitet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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1. Kapitel GOLD

An diesem Morgen hatte die See die Farbe von purem Gold. Eine gleißende Fläche aus Abermillionen glitzernder und tanzender Lichtreflexe. Ole Storm hatte es schon von Weitem durch die Bäume leuchten gesehen, als er mit dem alten Damenrad von Tante Elfi die steile und holprige Abkürzung durchs Düsternbrooker Gehölz heruntergekommen war. Nun stand er unten am Uferweg der Kieler Förde und kniff die Augen gegen die noch niedrig stehende Sonne zusammen. Die Luft schmeckte frisch nach Salz und Fischernetz und dem Gewitter der vergangenen Nacht, und über ihm segelten ein paar kreischende Möwen im Wind. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Wind. Endlich wieder Wind!

An den vergangenen beiden Tagen war die See der graue, ölige Spiegel eines bleiernen, völlig unbewegten Himmels gewesen. Die Fahnen am Mast vor dem ehrwürdigen Kaiserlichen Yachtclub, der jetzt Yachtclub von Deutschland genannt werden musste, hatten schlaff in der Flaute gehangen, und die 21 Starboote, die hier in Kiel ihre Weltmeisterschaft aussegeln wollten, standen tatenlos auf ihrer »Bühne« an Land. Die Nadel des Barometers am Takelschuppen schien unverrückbar am oberen Ende der Skala festgenagelt und Vadder Preuß, der alte Hafenmeister, hatte düster angemerkt, die Luft sei ebenso erdrückend wie die politische Lage. Und ein reinigendes Gewitter ebenso unausweichlich wie der heraufziehende Krieg.

Tatsächlich hätte sich die Vereinigung der internationalen Starbootklasse kaum einen dramatischeren Zeitpunkt für ihre Weltmeisterschaft aussuchen können als diese letzte Woche im August des Jahres 1939.

Den ganzen Sommer über schon hatten sich die territorialen Spannungen zwischen Hitlers neuem Großdeutschland und Polen verschärft. England und der »Erbfeind« Frankreich hatten sich genötigt gesehen, den Polen militärischen Beistand zu garantieren, und im Osten stellte die unberechenbare Haltung Stalins eine zusätzliche Bedrohung dar. Hektische Diplomatie und lautes Säbelrasseln hüben wie drüben lösten einander in rascher Reihenfolge ab, und vieles erinnerte in fataler Weise an einen anderen schwülen Sommer vor nunmehr 25 Jahren, als Europa schon einmal auf den Abgrund zugetaumelt war.

Ole Storm war neunzehn. Krieg war für ihn ein fremdartiges Schreckgespenst, das er nur aus widersprüchlichen Erzählungen kannte. Die einen sehnten ihn so glühend herbei, als verspräche er ihnen die Erfüllung all ihrer Träume oder auch nur die Wiedergutmachung erlittener Schmach, während die anderen ihn als düstere Bedrohung empfanden. Das Ende der Welt. Wem sollte er glauben? Er hatte sich noch nicht entschieden. Vorerst.

»Politik geht uns nichts an!«

Das hatte Konteradmiral von Wellersdorff bei seiner Ansprache zur Eröffnung der Regatta als Rear-Commodore der Starbootvereinigung gesagt - in Anwesenheit des Reichssportführers und einiger anderer Größen der Nationalsozialistischen Partei, ein mutiger, wenn nicht gar törichter Ausspruch für einen so ranghohen deutschen Offizier. Aber von Wellersdorff war in erster Linie Segler und daher fest entschlossen, dem Segeln den Vorzug vor der Propaganda zu geben.

Auch der ausrichtende Club und die Wettfahrtleitung mühten sich redlich, eine entspannte und freundschaftliche Atmosphäre für die Wettkämpfe zu schaffen. Oberflächlich betrachtet war dies mit einem international stark besetzen Feld auch gelungen. Doch bei näherem Hinsehen lag auf allem bereits deutlich der Schatten des Kommenden.

Zu sehr hatten sich in den letzten Tagen die schlechten Nachrichten überschlagen und die Flaute, wegen der nicht gesegelt, dafür aber umso ausgiebiger debattiert werden konnte, tat ein Übriges. Kleine, resignierende Gesten und ein fatalistischer Unterton mischten sich in die Gespräche, und vielen wurde langsam bewusst, dass Segler unterschiedlicher Nationen, die seit Jahren eng befreundet waren, im Strudel der Ereignisse über Nacht auf verfeindete Seiten gerissen würden. Ein Hauch von Abschied war allgegenwärtig. Vor allem die zahlreich angetretenen deutschen und englischen Marineoffiziere waren sich im Klaren darüber, dass sie sich nur allzu bald als Feinde auf Leben und Tod gegenüberstehen würden.

Ole nahm diese Stimmung wahr, ließ sich aber nicht von ihr anstecken. Seine eigene, überschaubare Welt war noch in Ordnung. Die politischen und ideologischen Verwicklungen schienen ihm fern und unwirklich, besonders an einem strahlend klaren Morgen wie diesem. Graubärtige Gespenster, die verschwinden, wenn die erste Brise den dünnen Morgennebel von der Wasseroberfläche weht.

Gut gelaunt schwang er sich in den Sattel und trat in die Pedale.

Ole Storm war durchschnittlich groß, jedoch recht sportlich gebaut. Den vollen, dunklen Haarschopf, dessen widerspenstige Strähnen sich beharrlich in die Stirn mogelten, hatte er seiner Mutter zu danken. So sagte man. Sie war bei seiner Geburt gestorben. Die auffallend klaren blauen Augen waren die seines Vaters. Der war Fischer, drüben auf Amrum. Von ihm hatte er auch den friesischen Dickschädel geerbt, sowie die mangelnde Bereitschaft, mehr Worte zu machen als unbedingt notwendig. Das jedenfalls behauptete Vaters jüngere Schwester Elfi, bei der Ole in Kiel wohnen durfte.

Ole fand beides nicht weiter schlimm. Seine Wortkargheit wurde von Tante Elfis chronischem Mitteilungsbedürfnis mehr als aufgewogen. Zudem war er Segelmacher geworden und nicht Dichter. Oder gar Politiker. Und was den Dickschädel anging, so sorgte der immerhin dafür, dass er noch selber entscheiden konnte, was er wollte und was nicht. Die bereitwillige Selbstaufgabe zum Beispiel, mit der sich viele seiner Freunde aus der Yachtschule den neuen Riten und Regeln des Nationalsozialismus unterwarfen, widersprach zutiefst seinem für einen Friesen so typischen Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit. Die Rigorosität, mit der beinahe das gesamte öffentliche Leben, auch hier im Club, gleichgeschaltet und »auf Linie« gebracht worden war, erschreckte ihn. Und die glühende Verehrung des Führers, die bei vielen inzwischen fast religiöse Züge annahm, war ihm fremd und unbegreiflich. Es gab schließlich nur einen Gott. Und der hieß bestimmt nicht Adolf Hitler.

Dass Ole Storm seinen eigenen Kopf bewahrte, bedeutete aber nicht, dass er keine Helden kannte. Seine hießen Schlimbach und von Hütschler und waren die besten Segler ihrer Zeit.

Schlimbach hatte mit seiner »Störtebeker III« einhand den Nordatlantik bezwungen. Und dem Hamburger Walter »Pimm« von Hütschler sagte man nach, er steuere jedes Schiff zum Sieg, das man ihm unter den Hintern schiebe. Egal, ob Jolle oder Krupp'-scher 12er. Letztes Jahr hatte er in den USA souverän die Weltmeisterschaft der Starboote gewonnen. Und nun, nach seinem ersten Platz im Lauf vom Montag, schickte er sich an, vor Kiel seinen Titel zu verteidigen. Hätte Ole Geld zu verwetten gehabt, er hätte alles bis auf den letzten Pfennig auf von Hütschler gesetzt. Wenngleich mit dem amerikanischen Exweltmeister Wegeforth und dem amtierenden Europameister Straulino aus Italien härteste Konkurrenz zugegen war.

Zu gerne hätte Ole sich diesen Dreikampf aus der Nähe angesehen, aus dem Feld der Verfolger heraus. Aber dieser Wunsch war utopisch. Zwar hatte er sich durch die Teilnahme an diversen Clubregatten und einigen Langfahrten inzwischen selber zu einem ganz passablen Segler gemausert, aber die Teilnahme an einer so hochrangigen Serie wie einer Weltmeisterschaft im Star lag für ihn dennoch in unerreichbarer Ferne.

Ganz im Gegensatz zu Oles gleichaltrigem Clubkameraden Richard Korfmann. Mensch, was hatte der für einen unverschämten Dusel gehabt!

Als vor einigen Wochen bekannt geworden war, dass von Hütsch-lers regulärer Vorschoter Egon Beyn erkrankt war, hatte der wortgewandte, schwungvolle Blondschopf alles daran gesetzt, um sich in die Reihen der möglichen Ersatzvorschoter hineinzuschmuggeln. Die Tatsache, dass Richards Vater eng mit von Hütschlers Förderer, dem Hamburger Reeder Laeisz, befreundet war, mochte ein Übriges getan haben. Jedenfalls hatte von Hütschler Korfmann ausgewählt, bei dieser Veranstaltung mit ihm zu segeln.

Ole selber hingegen war, um überhaupt dabei sein zu können, nichts anderes übrig geblieben, als die weitaus bescheidenere Rolle eines Helfers in der Landorganisation der Regatta anzunehmen.

Richard Korfmann war nicht direkt das, was Ole einen Freund genannt hätte. Dafür waren der Fischersohn und der Spross aus einer der einflussreichsten Kieler Familien ihrer Herkunft nach einfach zu weit voneinander entfernt. Doch Ole war bisher ganz gut mit ihm ausgekommen. Bis jetzt, da von Hütschler Richard quasi seglerisch geadelt hatte und er Oles Sphäre endgültig entstiegen war. Seit Wochen hatten sie kein vernünftiges Wort mehr miteinander gewechselt, und Oles Segelmachermeister Heribert Rausch nannte Richard inzwischen nur noch den »Schnösel«.

Aber das alles war jetzt egal! Heute gab es eine gute Brise und es würde endlich wieder gesegelt werden. Das war das Wichtigste!

Zwei Minuten später war er beim Club. Der Schuppen mit der Segelmacherei lag hinter dem Clubhaus. Drei Satz Starbootsegel waren umzuändern. Von Hütschler, das Erfindergenie der Bootsklasse, hatte sich wieder einmal einen neuartigen, noch tieferen Segelschnitt ausgedacht, und in der Müßigkeit der beiden Flautentage hatten zwei englische und der algerische Teilnehmer kurzerhand beschlossen, ihre Ersatzsegel auf die neue Façon ändern zu lassen. Ole hielt nicht viel von dieser Idee.

Von Hütschlers Holzmast war viel dünner und biegsamer als die englischen. Wie aber sollte ein tieferes Segel an einem harten Mast flach getrimmt werden, wenn der Wind aufbriste? Ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Ole behielt seine Weisheit lieber für sich, um seinem Chef, dem Segelmacher Heribert Rausch, nicht die zahlende Kundschaft zu verprellen.

Es war immer noch sehr früh und Ole hatte noch ein bisschen Zeit, bevor er an die Arbeit musste. Weder Segler noch Landhelfer waren zu sehen, erst recht nicht die hohen Herren der Regattaleitung oder der Jury. Nur in der Küche unter den Clubsälen rumorte es bereits. Kurz fühlte er sich versucht, dem anheimelnden Geruch von frischem Brot und Kaffee nachzugehen, der ihm in die Nase stieg. Aber dann wandte er sich dem Hafen zu.

Wie jeden Tag vor der Arbeit hatte er einen Besuch abzustatten. Ole Storm hatte eine heimliche Geliebte. Lydia.

Auch an diesem Morgen setzte sein Herz einen Schlag lang aus, als er sie sah. Sie streckte ihm ihr knackiges kleines Hinterteil entgegen, und ihr schlanker, anmutiger Körper bewegte sich scheinbar federleicht auf und ab. In der Morgensonne schien sie von innen heraus zu leuchten. Lydia war aus spiegelklar lackiertem Mahagoni erbaut und ein schneidiger Seefahrtskreuzer der neuen, modernen 50-qm-Klasse. Im Frühjahr hatten Ole und Meister Rausch einen neuen Satz Segel für sie gefertigt und waren kurz darauf von ihrem Eigner eingeladen worden, eine Clubregatta mit ihm zu segeln. Weil Rausch und der Eigner sich mehr für den Trimm der neuen Tücher interessierten, war Ole die Arbeit an der Pinne zugefallen.

Sie hatten die Wettfahrt haushoch gewonnen, und seitdem war Ole der Lydia hoffnungslos verfallen.

Versonnen setzte er sich auf den Steg, ließ die Beine baumeln und betrachtete »sein Schiff«, wie er sie insgeheim nannte. Ein 50er war gute zwölf Meter lang und eine echte Yacht. Groß genug, um auch mit rauem Wetter zurecht zu kommen und um über eine bescheidene Kajüte mit vier Kojen, kleiner Kombüse und Navigationsecke zu verfügen. Jedoch nicht so groß und unhandlich wie ein 8er oder 12er oder einer dieser gewaltigen neuen 100er-Seefahrtskreuzer, bei denen ein lauschiger kleiner Segelschlag wegen der für diese Boote benötigten Besatzungsstärke leicht mit einem Truppentransport verwechselt werden konnte. Kurzum, in Oles Augen war ein 50er das ideale Schiff.

Ob Ole Storm jemals genug Reichtümer würde anhäufen können, um sich ein solches Prachtstück leisten zu können, stand auf einem ganz anderen Blatt. Die Lydia gehörte einem wohlhabenden Physiker namens Hülsmeyer, der angeblich mit einer geheimnisvollen Erfindung reich geworden war. Selbst für ihn waren die 18.000 Reichsmark, die er bei Abeking & Rasmussen in Lemwerder für die Lydia hatte hinblättern müssen, kein Pappenstiel gewesen. Für Ole jedoch war es ein Betrag, den er bei seinem gegenwärtigen Lohn in fünfzig Jahren nicht zusammensparen könnte.

Nichtsdestoweniger träumte er davon, ein solches Schiff zu besitzen und damit auf Fahrt zu gehen. Die Ostsee hinauf durchs Skagerrak, vielleicht nach England hinüber. Oder noch weiter, wie Schlimbach, allein über den Atlantik.

Ein lauter, lang anhaltender Schrei zerriss Oles Tagtraum. Dem Schrei folgte ein dumpfer Schlag und ein lästerlicher Fluch, in den sich schallendes Gelächter mischte.

Der Lärm war von dem Teil des Clubgebäudes gekommen, in dessen oberem Stockwerk sich einige Gästekammern für die ausländischen Regattateilnehmer befanden. Als Ole um die Ecke gelaufen kam, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick. Zwei Männer schütteten sich schier aus vor Lachen. Sie zeigten auf einen dritten, der mit blutiger Nase unter einer langen, offensichtlich umgestürzten Leiter am Boden lag und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein hielt. Wo die Leiter an der Wand gelehnt haben mochte, stand ein Fenster offen.

Ein überaus attraktives Mädchen in Oles Alter sah daraus hervor.

Lina.

Sie war die Tochter des schwedischen Starbootseglers Fredrik Sønstebye aus Stockholm. So viel wusste Ole. Sie trug ein seidenes, nachlässig zugeknöpftes Pyjamahemd, das einen delikaten Blick in ihr Dekollete erlaubte, als sie sich nach vorne aus dem Fenster beugte. Ihre langen, dunkelblond gelockten Haare wehten offen um ihr Gesicht, und ihre Augen hatten die Farbe von sehr tiefem grünem Meerwasser - gerade eben noch von einem Grün, bevor es sich in ein dunkles, bodenloses Schwarzblau verlor.

Im Moment blitzten diese Augen gleichermaßen angriffslustig wie amüsiert, was wohl daran lag, dass Lina just in diesem Augenblick den Inhalt eines Nachttopfs über die Kompagnons des gescheiterten Fensterstürmers ausschüttete. Sie hatte exzellent gezielt und das Lachen der beiden verstummte sofort.

Ole konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er fragte sich, ob es nur Wasser gewesen war, das die beiden so abrupt zum Schweigen gebracht hatte, oder eine andere, pikantere Flüssigkeit, als er sah, dass Linas Blick an ihm hängen geblieben war.

»Die Vorstellung ist beendet!«, fauchte sie kühl und raffte ihren Pyjamakragen vor der Brust zusammen. »Du kannst jetzt auch verschwinden!«

Ole bemerkte den skandinavischen Akzent in ihrer Stimme.

Dann bemerkte er noch etwas.

Es sauste auf ihn zu und verfehlte seinen Kopf nur um Zentimeter, bevor es hinter ihm in tausend Stücke zersplitterte. Er drehte sich um und sah die Reste des Nachttopfes auf dem Pflaster.

Gleichzeitig knallten oben die Fensterläden zu.

Ole Storm blinzelte. Das Mädchen war definitiv das aufregendste weibliche Wesen, das er je gesehen hatte.

~

Die Segelmacherei hinter dem Clubhaus stand im Schatten der mächtigen Buchen des Düsternbrooker Gehölzes. Dennoch war der Innenraum dank großer Sprossenfenster an beiden Längsseiten überraschend hell. Die hintere Schmalseite des flachen Schuppens war mit tiefen, offenen Regalborden versehen, in denen sich zusammengelegte Segel, Tuchrollen, Tauwerke und Bootsbeschläge aller Art stapelten. Dort, wo die Werkstatt an das Clubgebäude anstieß, befanden sich der Eingang, das kleine Büro des Meisters, sowie ein frei im Raum stehender gusseiserner Ofen mit der Aufschrift »Ätna«. Der »kleine Vulkan« war im Winter die einzige Wärmequelle im Schuppen. Oft, wenn die Stege und Dalben draußen im Olympiahafen weiße Manschetten und Stehkragen aus Eis trugen, setzte sich Ole mit seiner Arbeit vor Ätnas offene Feuerklappe, damit seine Finger im Umgang mit Takelnadel oder Marlspiker nicht allzu klamm und ungeschickt wurden. Den restlichen Raum der Werkstatt nahm der große, wie eine Bühne erhöhte Schnürboden ein.

Auf ihm wurden mit Hilfe von straff gespannten Schnüren und biegsamen Straklatten die Tuchbahnen für ein neues Segel in die gewünschte Form geschnitten, bevor sie an der schweren, in den Boden eingelassenen Nähmaschine zusammengefügt wurden. Der Schnürboden war das Allerheiligste einer jeden Segelmacherei, und es war strengstens verboten, ihn mit Schuhen zu betreten. Normalerweise.

Konteradmiral Paul Freiherr von Wellersdorff scherte sich nicht darum, und Oles Chef, der Segelmachermeister Heribert Rausch, war klug genug, ihn im Moment nicht darauf aufmerksam zu machen.

»Dieser gottverfluchte Vollidiot!«, bellte von Wellersdorff ungehalten und tigerte mit schweren Schritten auf dem Schnürboden auf und ab.

Ole seufzte. Nachher würde es an ihm hängen bleiben, die kleinen Steinchen, die der Marineoffizier zwangsläufig unter seinen Schuhen mit hereingebracht hatte, aus den rohen Holzdielen herauszupicken. Nichts war schädlicher für das empfindliche, leichte Baumwollgewebe, aus dem die Regattasegel gemacht waren, als Steinsplitter und andere scharfkantige Dreckpartikel.

»Nicht genug, dass er den schwedischen Sportsfreund kompromittiert, indem er bei dessen Tochter einzusteigen versucht. Nein, er stellt sich dabei auch noch so hundserbärmlich dumm an, dass er sich das Bein bricht!«

Von Wellersdorff blieb stehen und starrte aus einem der Fenster.

»Und mit solchem Personal will der Führer einen Krieg vom Zaun brechen! Zum Totlachen.«

Als Kommandeur der Marineschule in Flensburg-Mürwik, hieß es, war er ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter. Er stammte aus einer alten holsteinischen Adelsfamilie, die eine ganze Reihe von erstklassigen Seefahrern und Offizieren hervorgebracht hatte, was man bei einem Blick in seine kühlen grauen Augen sofort zu glauben bereit war. Gleichzeitig aber hatte er auch den Ruf »exzentrisch« zu sein, was in diesen Tagen eine vorsichtige Umschreibung dafür war, dass er bei der Ausbildung seiner Kadetten mehr Gewicht auf die nautische als auf die ideologische Erziehung legte und deswegen bereits mehrere Male bei seinem Vorgesetzten Admiral Raeder und der obersten Heeresleitung in Berlin angeeckt war. Dass er es abgelehnt hatte, sich zu irgendeinem Zeitpunkt dieser Regatta in der Uniform der Kriegsmarine zu präsentieren - auch jetzt trug er einfache Knickerbocker, Wollpullunder und ein schlichtes weißes Hemd -, war ein weiterer Beleg dafür, dass ihm weniger an großdeutscher Etikette, als an der internationalen Kameradschaft der Starbootsegler gelegen war. Von Wellersdorff war knappe fünfzig und sein streng nach hinten gekämmtes Haar wurde bereits grau und schütter. Er war eher klein und erst recht nicht athletisch, aber seine Ausstrahlung machte ihn zu einem beeindruckenden Mann.

Und mit dem Brass, den er im Moment vor sich herschob, dachte Ole Storm, hätte er problemlos jeden 200-Pfund-Kerl aus dem Weg gerammt. Was er wohl dazu zu sagen hätte, dass auch Ole in den anstößigen morgendlichen Vorfall hineingeschlittert war? Kurz huschte das Bild von schlafzerzausten blonden Locken und der Verheißung weicher weiblicher Formen unter Seide vor Oles innerem Auge vorbei, und sicherheitshalber ging er etwas tiefer hinter der wuchtigen Nähmaschine in Deckung.

»Hab gehört, das Fräulein Sønstebye hat ihm noch ordentlich eins auf die Nase gegeben, bevor sie die Leiter umgestoßen hat«, sagte Rausch beiläufig.

Oles Chef war ein kräftiger, untersetzter Mann Ende vierzig mit tätowierten Unterarmen, kahlem Kopf und kleinen, klugen Augen, der sich auch von einem aufgebrachten Marineoffizier auf seinem Schnürboden nicht aus der Ruhe bringen ließ.

»Allerdings. Sein Nasenbein ist genauso in Stücke gegangen wie sein Unterschenkel!«, schnaubte von Wellersdorff, und zum ersten Mal sah er wieder etwas zufriedener aus. »Das spricht sich ja verdammt schnell rum. Woher wissen Sie das denn schon wieder?«

Oles Meister und der Konteradmiral kannten und schätzten sich seit vielen Jahren, seit Rausch unter von Wellersdorff als Takelmeister und Ausbilder auf einem Segelschulschiff der Kriegsmarine zur See gefahren war.

»Können Sie sich doch denken, Herr Konteradmiral. Von einem der beiden Italiener, die mit von der Partie waren. Dem Vorschoter von Straulino. Der konnte natürlich nicht die Klappe halten.«

»Die Brüder werde ich mir auch noch vorknöpfen«, brummte von Wellersdorf. »Die haben ihn schließlich abgefüllt und zu dieser unseligen Wette angestachelt!«

Zu Oles Erleichterung sprang er jetzt endlich vom Schnürboden, ließ sich schnaufend auf einem großen Ballen Segeltuch nieder und sah nachdenklich aus dem Fenster.

Das Tackern von Oles Nähmaschine war einen Moment lang das einzige Geräusch im Raum.

Rausch zog ein Taschenmesser hervor und begann angelegentlich an einem Stück Kautabak herumzusäbeln.

»Und was machen Sie jetzt?«, fragte er.

Ein rechtschaffen großer Priem verschwand in seinem Mund.

»Was denken Sie wohl?«, knurrte von Wellersdorff. »Sowie er transportfähig ist, schicke ich ihn zurück nach Mürwik. Da kann er meinetwegen Unkraut zupfen oder Rost klopfen, bis ich zurück bin und mir überlegt habe, ob ich ihn degradiere oder zu den Gebirgsjägern versetze. Damit er bei denen klettern lernt, verdammt noch eins! An meine Vorschot jedenfalls lass ich den nicht mehr!«

»Ich meine nicht Leutnant Heikell«, sagte Rausch langsam und kratzte sich bedächtig an der Glatze. »Ich meine die Regatta. Heute wird doch bestimmt gesegelt, bei dem netten Windchen da draußen.«

»Hmm. Allerdings. Zwei Läufe sogar. Um den Flautenausfall aufzuholen.«

Oles Nähmaschine tackerte jetzt nur noch sehr langsam. Auch wenn er nicht wagte, den Kopf zu heben und hinüberzusehen, so wollte er doch auf keinen Fall irgendetwas von dem verpassen, was jetzt gesprochen wurde.

»Und das ist genau das Fatale«, fuhr der Konteradmiral fort. »Ich habe versucht, einen Ersatzmann zu bekommen. Koppenhagen oder Leutnant Brokstedt von der Ausbildungskompanie oder irgendeinen Hauptbootsmann, der halbwegs segeln kann. Aber die sind inzwischen alle auf Alarm gesetzt und können nicht raus.« Er seufzte inbrünstig. »Dagegen kann selbst ich nichts machen. Und wenn ich zehnmal der Leiter der Offiziersschule bin.«

»Muss es denn einer von Ihren Jungs sein?«

»Nein. Aber bei der Luftwaffe sieht es genauso aus. Und die vom Heer ... na ja, Sie wissen schon. Die sollte man wirklich nur fragen, wenn es um Pferde geht.«

»Ich dachte eher an einen Zivilisten. Oder widerspricht das irgendwelchen Vorschriften?«

Von Wellersdorff überlegte. Der Gedanke war ihm offensichtlich noch gar nicht gekommen.

»Nein … im Grunde genommen nicht. Hätten Sie denn wen?« Heribert Rausch antwortete nicht.

Ole hielt unwillkürlich die Luft an. Es war jetzt plötzlich mucksmäuschen still. Verdammt, er hatte ja auch vergessen, das Pedal seiner Nähmaschine weiter zu treten.

Dann bemerkte er, dass sowohl der Meister als auch von Wellersdorff zu ihm herübersahen. Rasch senkte er den Blick. Verflucht und zugenäht! Musste er in solchen Situationen immer rot anlaufen wie ein Backfisch beim ersten Stelldichein?

»Na, jetzt komm schon raus aus dem Karnickelloch, Junge!«, brummte der bullige Segelmacher und spuckte geräuschvoll seinen Priem aus. »Du willst doch nicht kneifen, wenn die See dich ruft?«

~

Ein Starboot war eine kleine, kantige Kiste von Segelboot, sehr schmal und nur wenig mehr als sieben Meter lang. Außerdem völlig übertakelt und daher überaus sportlich zu segeln. Das Cockpit war ein enges Loch, in dem sich die Beine verhedderten, wenn zwei normal gebaute Männer darin saßen. Auf dem langen Schlepp zur Außenförde begannen Oles angezogene Oberschenkel bereits ab Höhe Möltenort höllisch zu schmerzen, weil er dem strengen Herrn Konteradmiral nur ja nicht auf die Füße treten wollte.

Von Wellersdorff war bei dieser Regatta nicht nur der ranghöchste Offizier der deutschen Kriegsmarine, er war zugleich auch deren bester Segler. Bei den vergangenen Nationalen Meisterschaften und Kieler Wochen hatte er im Starboot ohne Ausnahme vordere Plätze belegt. Und bei den internen Pokalwettfahrten des Marine-Regatta-Vereins war er schon seit Jahren quasi ungeschlagen.

Aber das anfängliche Unbehagen, das Ole seit seiner überraschenden »Shangheiung« empfunden hatte, löste sich zusehends auf. Von Wellersdorff hatte ihn umgänglich nach seiner bisherigen Regattaerfahrung gefragt und ihm dann einige wichtige Trimmeinrichtungen auf seinem Star erklärt. Dabei war er zwar nicht ganz so redselig gewesen wie Tante Elfi, aber immerhin machte er auch nicht den Eindruck, als wolle er dieses Boot im straffen Marinekommandoton befehligen.

»Wenn du was siehst, einen Winddreher oder eine Bö, dann sag mir das ruhig«, hatte er sogar gesagt. »Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Ja, Herr Konteradmiral.«

»Und hör bloß auf, mich so zu nennen. Das kannst du dir für nachher aufsparen, wenn wir wieder an Land sind. Wenn ich an der Pinne sitze, bin ich der Paul, klar?«

»Jawohl, Herr … Paul.«

Spätestens als der Schleppzug der 21 Stare neben der Undine angekommen war, dem Startschiff, das die Kriegsmarine zur Verfügung gestellt hatte, war Oles Unsicherheit vollends verflogen und der Dankbarkeit darüber gewichen, dass er nun doch noch zum Mitsegeln gekommen war. Und als die Segel gesetzt waren und im Wind zu schlagen begannen, stellte sich auch die vertraute, für Ole wie selbstverständlich zu einem Regattastart gehörende Anspannung ein, die den Puls schneller schlagen ließ und alle seine Sinne schärfte.

Die Bedingungen in der Strander Bucht waren nahezu ideal.

Drei Beaufort, moderate Welle und strahlende Sonne. Die Minuten bis zum Start vergingen wie im Fluge. Von Wellersdorff hatte eine Position ganz links an der Startboje für sie ausgekuckt, nachdem sie gemeinsam festgestellt hatten, dass die Linie auf dieser Seite vom Wind begünstigt zu sein schien.

Von Meister Rausch hatte Ole eine Segeluhr geliehen bekommen. Nun sagte er die Zeit an.

»Fünfzehn Sekunden … zehn … von oben kommt Weise …«

»Gesehen!«, knurrte von Wellersdorff und luvte leicht an, um den eigenen Startplatz und damit den freien Wind zu verteidigen.

»Sechs … fünf … vier …«

Oles Anspannung war kurz vor dem Siedepunkt.

Von Wellersdorff zog die Großschot an. Ole tat es ihm mit der Vorschot gleich. Das Boot nahm Fahrt auf und passierte unbedrängt bei »Null« die Starttonne.

»Einzelrückruf?«, fragte von Wellersdorff.

Ole drehte sich zur Undine um. Durch die Wand von startenden Booten hindurch war es nicht einfach, aber dann konnte er kurz durch eine Lücke den Signalmast auf dem Startschiff sehen.

»Keine Flagge oben!«, rief er und ein heißer Schuss Adrenalin fuhr durch seine Adern. Sie hatten einen exzellenten Start gefahren.

Für den Konteradmiral schien dies jedoch nichts weniger zu sein, als er erwartet hatte. Konzentriert steuerte er weiter.

»Kannst du Pimm sehen?«

»Ist in der Mitte gestartet.«

Von Wellersdorff grunzte abfällig.

»Macht er immer. Geht kein Risiko ein, der Lump. Verlässt sich ganz auf seine Bootsgeschwindigkeit.«

Über ihnen, jedoch leicht achteraus, lag Weises Star. Darüber folgten der Europameister Straulino und dicht an dicht die schaumbenetzten Nasen von zehn oder zwölf anderen Booten. Von Hütsch-ler in der Mitte hatte sich bereits einige Meter aus dem Feld herausgearbeitet.

Kurz darauf sah auch von Wellersdorff über die Schulter. Er schien zu überlegen. »Wird schön eng werden …«, murmelte er. »Aber den Gegner verblüffen ist immer eine gute Taktik!«

Dann sagte er laut: »Wir nehmen die Parade ab! Klar zum …?« Ole schluckte.

»Die Parade abnehmen« hieß so viel wie: wenden und vor den nachfolgenden Booten hindurchkreuzen, obwohl diese allesamt auf vorfahrtsberechtigtem Backbord-Bug sein würden. Wenn es gelang, hatte man freien Wind und einen frühen Vorteil errungen.

Wenn nicht, musste man nicht nur einem Boot ausweichen, sondern allen!

»Wir … wenden?«, fragte er ungläubig.

»Natürlich. Der Wind dreht doch weg hier drüben!«

Das hatte Ole zwar auch bemerkt, aber er wäre in dieser Situation lieber so lange weitergefahren, bis die Boote über ihnen zuerst den Bug gewechselt hätten.

»Wenn du mir die Wende versaust, schmeiß ich dich über Bord«, schnarrte von Wellersdorff. »Hast du verstanden, Junge?«

»Wende ist klar!«, krächzte Ole. Dass gleich alles vom ersten Manöver abhängen sollte, war nicht besonders vielversprechend.

»Re!«

Von Wellersdorff stieß die Pinne von sich und tauchte unter dem überkommenden Großbaum hindurch. Als er drüben ankam, war Ole schon auf der neuen Luvkante, holte die Fock dicht und hängte sich weit nach außen, um das Krängen des Bootes auszugleichen. Wasser gurgelte unten über das leewärtige Seitendeck, aber dann richtete sich der Star sofort wieder auf und beschleunigte. Einen bangen Moment lang konnte Ole wegen des Großsegels keinen Blick auf ihre Widersacher erhaschen. Aber dann schäumte eineinhalb Meter hinter ihrem Heck der Bug von Weise hindurch und Sekunden danach der des Italieners.

»Gut gemacht!«, lobte von Wellersdorff. »Und jetzt häng dich rein!«

Schulbuchmäßig legte sich Ole der Länge nach mit seinem Körper außen auf die schräge Bordwand. Sein Gewicht sollte sich so weit es ging in Luv befinden, um möglichst effektiv dem Druck des Segels entgegenzuwirken. Er war ziemlich erstaunt, als er bemerkte, dass auch von Wellersdorff die gleiche Haltung einnahm und mit langem Arm am Pinnenausleger steuerte. Für einen Mann seines Alters eine ungemein athletische Art zu segeln.

Auch die anderen Boote, die auf Backbord-Bug herankamen, gingen ohne Probleme hinter ihnen durch. Einzig von Hütschler mussten sie ausweichen.

Das hatte jedoch zur Folge, dass sie bei ihrem nächsten Zusammentreffen, nachdem jedes der beiden Boote eine weitere Wende gefahren hatte, ihrerseits Vorfahrt reklamieren konnten. Diesmal musste der Titelverteidiger seine Schoten fieren, hinter ihnen passieren und ihnen den ehrenvollen Vortritt um die erste Tonne lassen.

Auch wenn man ihm dies kaum ansah, war Ole völlig aus dem Häuschen. Nie, nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er sich vorgestellt, einmal einem seiner Segelidole derartig den Schneid abzukaufen. Und sei es auch nur für einen kurzen Moment.

Denn dass sie diese Position nicht auf Dauer würden halten können, davon war er fest überzeugt. Von Wellersdorff jedoch sah auch das anders.

»Nerven behalten«, knurrte er. »Die andern kochen auch nur mit Wasser!«

Zwar mussten sie auf den folgenden Bahnschenkeln von Hütschler, Straulino und auch den Ex-Weltmeister Wegeforth ziehen lassen, aber als es auf die Zielkreuz ging, waren sie immer noch an vierter Position. Ein überaus befriedigendes Ergebnis, wenn es denn so blieb.

Zu Beginn dieser letzten Runde fiel Ole eine leichte Veränderung auf. War zuvor das Blau der Wasseroberfläche noch etwas dunkler und die Wellen steiler gewesen, wirkten sie nun flacher und ihre Farbe war heller und matter. Ole wusste, was das bedeutete. Die Strömung war gekippt und kam nun mit dem Wind von vorne.

Unterschiedliche, ihren Ort verändernde Strömungen waren für die Kieler Außenförde nichts Ungewöhnliches. Besonders nicht, wenn man in der Nähe der tieferen Fahrrinne segelte. Ole sah sich um. 100 Meter Backbord querab, wo es flacher wurde, durchzog ein dunkles, von kleinen Wirbeln durchzogenes Band die Oberfläche. Eine Strömungskante. Dahinter hatte das Wasser noch das gleiche Aussehen wie zuvor. Also würde dort auch der Strom noch aus der alten Richtung setzen. Und das Boot auch weiterhin anschieben, anstatt zu bremsen.

»Wir sollten da rüber wenden«, sagte er, ohne großartig darüber nachzudenken.

Von Wellersdorff richtete sich aus seiner Ausreitposition auf und starrte ihn an. »Blödsinn! Zum Angreifen sind wir viel zu weit weg. Wir müssen den Hintermann decken.«

Tatsächlich waren von Hütschler, Straulino und Wegeforth bereits sechzig oder siebzig Meter voraus, wogegen ihr ärgster Konkurrent Weise nur zwei Bootslängen hinter ihnen die Leetonne gerundet hatte.

»Aber die Strömung ist gekippt!«

Darauf zu insistieren war vorlaut, doch vermutlich war es das Wort »Blödsinn« gewesen, dass Ole zu seinem Widerspruch veranlasst hatte.

»Du behauptest also, wir haben jetzt den Strom von vorne?«, fragte von Wellersdorff. Es klang gereizt.

»Nur hier. Da drüben unter Land gibt es einen Neerstrom, der uns schieben würde.«

»Woher, verdammt und zugenäht, willst du das wissen?«

Ole wusste sich nicht anders zu behelfen als mit der schlichten Wahrheit.

»Ich kann es sehen«, antwortete er leise. »An der Farbe des Wassers.«

Es klang so unsäglich dumm, dass er sich am liebsten sofort die Zunge abgebissen und über Bord gespuckt hätte. Seiner Aussage nach segelten voraus ein amtierender und ein Ex-Weltmeister sowie der Europameister blindlings in die falsche Richtung und nur er, der Verlegenheitsvorschoter Ole Storm, kannte den richtigen Weg.

Ole duckte sich tiefer auf die Kante, um dem stechenden Blick seines Steuermanns zu entgehen. Aber von Wellersdorff sah über ihn hinweg und beobachtete konzentriert die Wellen. Erst voraus, dann querab in der von Ole angezeigten Richtung.

»Ich kann keinen Unterschied erkennen«, brummte er. Dann fügte er jedoch zu Oles grenzenloser Überraschung hinzu: »Aber sei's drum. Wer nicht wagt … Klar zur Wende!«

Als kurz darauf die Undine den Salutschuss für das »first ship home« abfeuerte, nickte von Wellersdorff Ole Storm nur einmal knapp zu. Aber in seinen kühlen grauen Augen lag Anerkennnung.

Sie hatten einhundert Meter Vorsprung auf von Hütschler herausgefahren und einhundertfünfzig auf Straulino und Wegenforth.

~

Auch im zweiten Lauf des Tages hatten sie nahezu perfekt gesegelt. Sie beendeten ihn als Zweite hinter dem amerikanischen Boot von Wegeforth, nicht zuletzt, weil Ole auf der zweiten Kreuz einen Winddreher angesagt und von Wellersdorff ihm diesmal ohne zu zögern geglaubt hatte.

Die eigentliche Sensation dieses Rennens war jedoch, dass der favorisierte Pimm von Hütschler und sein Vorschoter Richard Korfmann durch eben diesen Dreher am Ende nicht über einen sechsten Platz hinausgekommen waren und sich in der Gesamtwertung völlig überraschend den ersten Platz mit von Wellersdorff teilen mussten. Und mit einem allseits unbekannten jungen Segelmacher namens Ole Storm.

Auf dem Weg zurück in den Hafen war Ole so stolz und glücklich wie noch nie zuvor. Sie rauschten mit weit aufgefierten Schoten und schäumender Bugwelle die grünen Ufer der Förde entlang. Wegeforth dreißig Meter querab winkte ihnen anerkennend zu und ihre übrigen Kontrahenten reihten sich brav in ihrem Kielwasser ein.

»Übernimm mal!«, sagte von Wellersdorff, als sie den Friedrichs-orter Leuchtturm passierten. Ole ließ sich das nicht zweimal sagen und setzte sich an die Pinne. Der Konteradmiral lehnte sich entspannt gegen den Großbaum und genoss, wie er es formulierte, den »erhebenden Blick« auf die nachfolgende Flottille. Er zog ein goldenes Zigarettenetui hervor und steckte sich eine seltsame, aus dunklem Papier gewickelte Zigarette an.

»Maisblatt«, sagte er. »Auch eine?«

Ole schüttelte den Kopf.

»Kluge Entscheidung. Eine von denen wird mich eines Tages umbringen ...« sagte von Wellersdorff leise und ließ das Etui zuschnappen. Er inhalierte und lehnte sich genießerisch zurück. Scheinbar gedankenverloren wanderte sein Blick über die Wellen achteraus. Doch dann sah er Ole unvermittelt in die Augen.

»Du kannst dem Wasser also ansehen, ob ein Strom setzt oder wohin der Wind dreht?«

Ole war ein wenig überrascht.

»Ja, manchmal.«

»Und du siehst es an der Farbe?«

Der Konteradmiral ließ den Qualm seiner Zigarette aus der Nase strömen und überlegte. Dann machte er eine vage Geste übers Wasser.

»Also für mich sehen die Wellen alle irgendwie gleich aus. Alle sind Blau.«

Ole zuckte die Achseln.

Natürlich waren die Wellen blau. Aber gleich? Niemals!

Das Meer hielt so unendlich viele Nuancen dieser Farbe Blau parat, dass Ole nicht einmal einen Bruchteil davon hätte mit Namen benennen können. Außerdem, wo hörte Blau auf und wo fing Grün an? Oder Türkis? Grau, Braun, Weiß?

Tiefes Wasser hatte ein anderes Blau als flaches. Salziges ein anderes als frisches oder brackiges oder schaumiges. Der Farbverlauf einer langen Welle sah für Ole völlig anders aus als der einer kurzen oder jener, die quer zur Strömung lief. Wie der Himmel und das Licht von oben, so spiegelten sich auch von unten herauf die Farben des Meeresgrundes in die der Oberfläche hinein. Sandgrund, Kraut, Felsen, Schlick mischten deren Blau ihre eigenen matten Grün- und Gelb- und Brauntöne bei. An der Intensität dieser Reflektion konnte Ole in etwa ausmachen, wie tief der entsprechende Grund unter Wasser lag. Einmal hatte Ole ein versunkenes Wrack im Farbenspiel der Oberfläche erkannt. Schwarz und grün und rostrot. Ein andermal das blitzende Silber eines Heringsschwarms.

Auch die wechselhaften Spuren des Windes und der Strömung veränderten die Farbe der See. Ein leichter Lufthauch, der silbrig eine glatte Oberfläche kräuselt. Eine kräftige Sturmbö, die in unheilvollem Schwarz über das Wasser fährt. Eine Unterströmung, vom ansteigenden Verlauf des Meeresbodens an die Oberfläche geleitet, die einen flachen, blanken Kegel hinterlässt. Wind gegen Tide, deren dunkle, steile Seen mit giftig grauen Schaumkämmen auf der Stelle zu stampfen scheinen. Sie alle zeichneten ihr eigenes Bild in die Oberfläche und veränderten die Farben des Wasser und dessen Stimmung. Friedvoll. Heiter. Gereizt. Wütend. Heimtückisch.

Ole spürte den Blick aus von Wellersdorffs Augen. Ein kühles Blaugrau. Ruhiges, winterklares Salzwasser über hartem Fels. Der Konteradmiral wartete geduldig auf eine Erklärung.

Ole überlegte angestrengt. Er hatte sich nie viele Gedanken über seine Fähigkeit gemacht, die Farben der See unterscheiden zu können. Ihre Bedeutung zu erkennen. Stundenlang dasitzen und zusehen und sich später in aller Klarheit daran erinnern zu können. Er war damit aufgewachsen. Seit er mit seinem Vater als kleiner Junge zum ersten Mal durch die engen, lehm- und ockerfarbigen Priele Nordfrieslands zum Fischen hinausgefahren war.

»Meistens ist es die Farbe«, sagte Ole zögerlich. »Manchmal auch nur die Helligkeit oder die Bewegung und die Art wie die Wasseroberfläche beschaffen ist. Oder alles zusammen.«

Er verstummte. Konnte es einfach nicht besser erklären.

»Ich sehe es eben«, sagte er knapp.

Der Konteradmiral schwieg einen Moment, dann nickte er.

»Du siehst ein Schema aus Farbe und Form und erkennst, ob es richtig aussieht oder sich verändert hat?«

»Ja, so ungefähr.«

Ole war erleichtert, dass diese Erklärung den Konteradmiral zufriedenzustellen schien.

»Du musst ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen haben«, stellte von Wellersdorff fest und schnippte seine Zigarette über Bord. »Wie ein indianischer Fährtenleser.«

Ole war sich nicht sicher, ob Anerkennung in diesem letzten Satz mitgeschwungen hatte oder Spott.

Eine Weile herrschte Schweigen.

Dann fragte der Konteradmiral unvermittelt: »Hast du ein weißes Hemd?«

Ole zwinkerte irritiert.

»Du brauchst ein sauberes weißes Hemd, wenn du mit mir und Pimm und den anderen im Club zu Abend essen willst!«

Oles Herz tat einen Sprung.

»Ach, und waschen und kämmen solltest du dich vielleicht auch noch ein bisschen! Es könnten schließlich Damen anwesend sein.«

~

Als um Punkt sieben das Essen im ehrwürdigen Kommodore-Saal des Clubs aufgetragen wurde, war nur eine Dame anwesend - Lina! - und Ole Storm konnte unmöglich sagen, wann sie bezaubernder ausgesehen hatte: am Morgen, im Pyjama, mit offenen, schlafzerzausten Locken und mit vor Angriffslust blitzenden Augen, oder jetzt, mit nach hinten zusammengebundenem Haar, im eleganten Kleid und einem strahlenden Lächeln, das ein Paar reizende Grübchen auf ihre Wangen zauberte.

Ihre Augen waren nicht einfach nur grün, wie Ole bisher geglaubt hatte. Jetzt, da er ihr genau gegenübersaß, sah er, dass sich ihre Farbe und Helligkeit in einem atemberaubenden Verlauf änderte. Vom tiefdunklen Blaugrün der äußeren Iris über jenes intensive Grün, das Ole am Morgen auf zwanzig Schritt Entfernung hatte blitzen sehen, bis hin zu einem hellen, fast türkis leuchtenden Ring, in dem feine silberne Strahlen auf das Schwarz ihrer Pupillen zuliefen. Silber und Türkis. Wellen einer Brandung über einem Sandstrand.

Eigentlich hätte dieser Anblick mehr als genug sein können, um Oles Glück an diesem Tag komplett zu machen. Aber leider schien Lina eben diese Augen nur für Richard Korfmann zu haben.

Als sei es nicht schon unverschämtes Glück genug gewesen, den Platz an Pimms Vorschot zu ergattern, jetzt hatte Richard sich in seiner unnachahmlichen Selbstsicherheit auch noch den Stuhl neben Lina unter den Nagel gerissen. Und während Ole, obwohl er ihr beinahe direkt gegenübersaß, kaum von ihr beachtet wurde, lachte und scherzte sie mit Korfmann und hing buchstäblich an seinen Lippen.

Richard war hoch gewachsenen und wurde wegen seiner strubbeligen blonden Haare, dem ebenmäßigen Gesicht und den hellblauen Augen von allen Mädchen im Umfeld des Segelclubs angehimmelt. Lina schien da leider keine Ausnahme zu machen, und Ole spürte einen kalten Klumpen im Magen. Eifersucht?

Richard Korfmann selber schien, seinem charmanten Plauderton zum Trotz, Linas lebhafter Konversation nur mit halbem Ohr zu folgen. Mit dem anderen, so kam es Ole jedenfalls vor, versuchte er dem Gespräch zu lauschen, das Linas Vater Fredrik Sønstebye ein paar Plätze weiter führte.

Der Universitätsprofessor aus Stockholm unterhielt sich mit dem amerikanischen Starbootsegler Alfred Lee Loomis, einem schweren, rotgesichtigen Mann Mitte Vierzig, der angeblich so reich war, dass er dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt das Geld für dessen Wahlkampf spendiert hatte. Bei ihnen saß Christian Hülsmeyer, der Eigner der Lydia.

Die Anwesenheit des hageren, nervösen Physikers mit der Nickelbrille hatte Ole anfangs ein wenig verwundert, denn Hüls-meyer hatte keinerlei Verbindungen zur Starbootklasse. Vielleicht lehrte Sønstebye an der Universität in Stockholm das gleiche Fach, in dem Hülsmeyer seine Forschungen betrieb, und möglicherweise drehte sich das Gespräch um eine von Hülsmeyers geheime Erfindungen. Was wiederum den leisen und vertraulichen Tonfall des auf Englisch geführten Gespräches erklären mochte, der es Freund Korfmann so schwer machte, etwas von dem Gesagten zu verstehen.

Dieser Idiot, dachte Ole und sah verstohlen zu seinem Clubkameraden herüber. Der sollte sich lieber um Lina kümmern, wenn die ihn schon so anhimmelt.

Richard schien den Blick bemerkt zu haben, denn plötzlich hob er den Kopf und sah Ole direkt an. Erst nach einem langen Augenblick, in dem Ole das unangenehme Gefühl hatte, als Gegner taxiert und gewogen zu werden, trat das altbekannte jungenhafte Grinsen auf Korfmanns Gesicht. Vertraulich beugte er sich vor und sagte:

»Na, Storm? Wer hätte das gedacht: Du bei einer Weltmeisterschaft. Und dann auch noch ziemlich weit oben auf der Ergebnisliste.«

»Wir sind Erste«, entfuhr es Ole. »Genau wie ihr.«

»Oh, natürlich«, antwortete Richard. »Entschuldigung. Ich vergaß.«

Das Grinsen wurde noch eine Spur breiter und der Blick spöttisch.

»Allerdings könnte es nachträglich Probleme geben …«

»Was für Probleme?«, fragte Ole steif.

»Na ja«, antwortete Richard und betrachtete beiläufig seine Fingernägel. »Du stehst ja nicht auf der Meldeliste, und ich habe auch keinen ordnungsgemäßen Aushang der Jury gesehen, der deine Teilnahme nachträglich erlaubt. Es könnte jemand Protest einreichen …«

Das verschlug Ole die Sprache.

»He, war doch nur ein Scherz!«, sagte Richard und lachte. »Drangekriegt!«

Verdammt, wieso kam Ole sich in Richards Gegenwart so oft wie ein dummer Schuljunge vor? Andererseits - er war sich nicht vollends sicher, ob in Korfmanns Ausdruck nicht doch noch etwas anderes als Schalk gelegen hatte. Feindseligkeit?

Zum Glück klopfte in diesem Augenblick jemand am anderen Ende des Tisches gegen sein Glas und zog so die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es war kein geringerer als der amtierende Weltmeister.

»Paul, jetzt erklären Sie uns allen mal, warum Sie auf einmal so verdammt schneidig segeln?«, fragte von Hütschler und prostete dem Konteradmiral gutgelaunt zu. »Sie wollen mir doch nicht etwa den Titel wegschnappen, an den ich mich gerade so schön gewöhnt habe?«

Alles lachte.

»Um ehrlich zu sein, Pimm«, antwortete von Wellersdorf, »mir schwebte schon so etwas vor!«

»Und deswegen haben Sie sich zusätzlichen Sachverstand ins Boot geholt?«, fuhr von Hütschler fort und nickte Ole anerkennend zu.

»In der Tat«, antwortete von Wellersdorff und klopfte Ole jovial auf die Schulter. »Storm hat den Dreher im zweiten Rennen vorhergesagt!«

Von mehreren Seiten kam anerkennendes Gemurmel und auch Lina sah nun zum ersten Mal mit etwas mehr Interesse in seine Richtung. Ole fühlte die altbekannte, lästige Hitze in seine Wangen steigen. In wenigen Augenblicken würde er auf beiden Seiten Backbordposition gesetzt haben.

»Ich würde das eher verdammtes Glück nennen«, sagte Richard leise, aber deutlich genug, dass jeder es hatte hören können.

Die Gespräche verstummten. Was hatte Richard vor? Wollte er von Wellersdorff provozieren? Der Konteradmiral taxierte den Jüngeren mit kühlem Blick und überlegte einen Moment.

»In gewisser Weise haben Sie Recht, Korfmann!«, erwiderte er dann leichthin. »Es war pures Glück. Der eine Mann fällt von einer Leiter, der andere landet in meinem Cockpit - und sagt den entscheidenden Winddreher an! Vielleicht sollte ich mich bei Ihrer bezaubernden Tischnachbarin dafür bedanken, dass sie dieser glücklichen Fügung ein wenig auf die Sprünge geholfen hat?«

Unter herzlichem Lachen für dieses elegante Bonmot stand von Wellersdorff auf und hob sein Glas in Linas Richtung.

»Meine Herren!«, rief er. »Auf das Wohl von Fräulein Sønstebye aus Stockholm! Auf ihre Schönheit und ihre glückliche Hand bei der Wahl des rechten Mannes!«

Die übrigen Segler folgten seinem Beispiel und tranken Lina zu. Diese quittierte den Trinkspruch, indem sie nun ihrerseits das Glas hob. »Was die Schönheit angeht, lieber Herr Konteradmiral, so fühle ich mich natürlich sehr geschmeichelt«, sagte sie mokant. »Was die glückliche Hand betrifft, so möchte ich Sie doch bitten, mir das nächste Mal einfach jemanden zu schicken, der - wie sagt man auf Deutsch? - schwindelfrei ist.«

Damit hatte sie unbestritten die Lacher auf ihrer Seite, und wer von den ausländischen Seglern den Wortwechsel in Deutsch nicht hatte verstehen können, ließ ihn sich eilig von seinem Sitznachbarn ins Englische oder Holländische übersetzen.

In diesem Augenblick, da Lina der strahlende Mittelpunkt der illustren Regattagesellschaft war, blickte sie Ole unvermittelt an und lächelte ihm verschwörerisch zu. Ihm allein!

Plötzlich lag ein goldenes Glitzern über allem. Das gleiche goldene Glitzern, das Ole an diesem Morgen auf dem Wasser der Förde gesehen hatte. Es war der Augenblick, in dem Ole sich unsterblich in Lina verliebte.

Und es sollte für lange Zeit der letzte helle, unbeschwerte Moment sein. In Oles Leben, aber ebenso in dem aller anderen.

Noch bevor die allgemeine Heiterkeit abgeklungen war und sich die Gespräche wieder anderen Dingen zuwandten, betrat ein Marineoffizier in Uniform den Saal. Er sah sich unsicher um, entdeckte den Konteradmiral und ging auf ihn zu. Von Wellersdorff hörte sich aufmerksam an, was ihm der andere ins Ohr flüsterte. Sein Gesicht verriet dabei kaum etwas, aber Ole schien es, als wäre es plötzlich eine Nuance bleicher geworden. Der Konteradmiral sah auf die Uhr. Dann stand er auf und klopfte abermals an sein Glas.

»Meine Herren, meine Dame, ich fürchte, ich muss Sie noch einmal um Aufmerksamkeit bitten! Es ist ... es scheint etwas von absoluter Wichtigkeit vorgefallen zu sein.«

Alle verstummten. Auf einer Anrichte in der Nähe des Tisches befand sich ein großer Volksempfänger, der hier selten benutzt wurde. Von Wellersdorff ging hinüber, schaltete ihn ein und drehte an der Frequenz, bis er den Großdeutschen Rundfunk gefunden hatte. Dann stellte er die Lautstärke hoch, bis jeder im Raum die Stimme des Sprechers erkannte. Sie gehörte unverkennbar Joseph Goebbels.

Unwillkürlich hielt Ole die Luft an. Wenn der Propagandaminister persönlich im Radio zu hören war, musste es tatsächlich um etwas Wichtiges gehen.

»... liegt es im natürlichen Interesse des Deutschen Reiches«, rollte es im sattsam bekannten Goebbels'schen Tonfall aus dem Lautsprecher, »jene uns verbundenen Völker, allen voran Italien und Japan, in wahrer Freundschaft und aufrichtiger Brüderlichkeit um uns zu scharen. Nun aber ist es durch den nimmermüden Einsatz und das große diplomatische Geschick unseres Führers Adolf Hitler gelungen, jenen außenpolitischen Freunden ein weiteres starkes Mitglied hinzuzugewinnen.«

Die rhetorische Kunstpause, die Goebbels - ein ausgewiesener Meister seines Fachs - an dieser Stelle einlegte, verfehlte auch im Kommodoresaal des Yachtclubs seine Wirkung nicht. In der angespannten Stille schien sich das Knistern des Äthers auf die Luft im Raum zu übertragen.

»Geleitet vom Wunsche, die Sache des Friedens in Europa zu festigen und zu befördern«, fuhr Goebbels fort, »unterzeichnete heute, am späten Nachmittag des 23. August, die deutsche Reichsregierung, vertreten durch unseren Außenminister Joachim von Ribbentrop, einen gemeinsamen Vertrag zur nachbarschaftlichen Freundschaft und zur künftigen Vermeidung jeglicher kriegerischer Handlungen und Angriffe unserer beiden Völker gegeneinander mit der Regierung der Union der sozialistischen Sowjet- republiken.«

Ein Pakt mit Stalin!

Das Raunen, das dieser Enthüllung folgte, glich bei vielen einem schmerzhaften Aufstöhnen und steigerte sich in wenigen Momenten zu einem regelrechten Tumult, der die weitere Radioübertragung übertönte. Besonders die englischen Segler waren hellauf entsetzt, hatten sich doch Frankreich und Großbritannien bereits seit einem Jahr erfolglos um den Abschluss eines derartigen Paktes mit der Sowjetführung bemüht. Und nun war es Hitler scheinbar im Handstreich gelungen, ihnen zuvorzukommen!

»Jetzt kann nicht mal mehr der liebe Gott die Polen retten!«, hörte Ole jemanden neben sich sagen. Es war Frederik Sønstebye. Linas Vater.

Mehr als der Tumult oder die Nachricht selber, deren ganze Tragweite ihm erst später dämmern sollte, erschreckte Ole die Reaktion des Konteradmirals.

Von Wellersdorff stand reglos neben dem Radioempfänger, sein Gesicht bleich wie das Tischtuch und seine Hand im Kragen seines Hemdes zusammengekrampft, als müsse er sich in einem plötzlichen Anfall von Übelkeit Luft verschaffen. Dann ging er hinaus.

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2. Kapitel SCHWARZ

In dieser Nacht war das Wasser der Förde von einem undurchdringlichen Schwarz. Schwärzer als in anderen Nächten. Kein Grund zu sehen, keine auch noch so kleine Bewegung in der Oberfläche. Nicht einmal sein eigenes Spiegelbild konnte Ole darin finden, als er draußen auf dem Steg saß und nach unten starrte. Und dennoch sagte ihm die Schwärze des Wassers etwas. Sie war die perfekte Spiegelung seiner inneren Stimmung. Und der dort draußen in der Welt.

Wie es zu dieser völlig unwahrscheinlichen Annäherung der ideologischen Feinde Deutschland und Russland hatte kommen können, war zunächst niemandem so recht klar. Gerüchte um einen geheimen Zusatz jenes Freundschaftsvertrages machten die Runde, in dem sich der Führer Stalins Einwilligung angeblich durch territoriale Zugeständnisse im Osten erkauft haben sollte. Fest stand jedoch, dass die deutsche Führung mit diesem unerwarteten Coup die Erzrivalen Frankreich und England nicht nur überrumpelt, sondern regelrecht gedemütigt hatte. Und ebenso fest stand, dass es bei diesem Nichtangriffspakt nicht um den darin beschworenen Frieden, sondern um den kommenden Krieg ging. Den Krieg, den Hitler zur Klärung der deutschen Gebietsansprüche gegen Polen zu führen gedachte, und in den England und Frankreich wegen ihrer Garantieerklärungen für Warschau zwangsläufig mit hineingezogen würden.

Die meisten Teilnehmer der Regatta - deutsche wie ausländische - teilten von Wellersdorffs Einschätzung, dass der Ausbruch der Kampfhandlungen nun nur noch eine Frage von Tagen sein würde. Entsprechend niedergeschlagen war die Stimmung.

Die drei holländischen Starbootmannschaften beschlossen, noch in der Nacht ihre Schiffe abzubauen und so früh es ging am nächsten Morgen abzureisen. Die übrigen anwesenden Teilnehmer, die Wettfahrtleitung und die Vertreter des Clubs trafen sich eine knappe Stunde später im Rauchsalon zu einer Art Krisensitzung, deren Leitung von Wellersdorff als Rear Commodore der Starbootklasse übernahm.

Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten und die gegenwärtige politische und militärische Aufstellung Deutschlands sorgsam erörtert worden war, einigte man sich darauf, die Regatta nicht gänzlich abzubrechen, sondern lediglich abzukürzen, indem man das für Samstag geplante fünfte Rennen und die anschließende Preisverteilung auf den morgigen Freitag vorzog. Sodann sollten die ausländischen Teilnehmer aus den nicht mit Deutschland verbündeten Staaten, also vor allem die Engländer und Amerikaner, mitsamt ihren Booten möglichst schnell und »geräuschlos« über Dänemark außer Landes gebracht werden.

Auch Professor Sønstebye würde auf diesem Wege nach Stockholm zurückkehren. Und mit ihm Lina, so wurde Ole schlagartig klar.

Die Organisation des heiklen Transportes wollte von Wellersdorf am kommenden Tag persönlich in die Hand nehmen.

Ole hatte sofort verstanden, was dies zu bedeuten hatte: Sie würden nicht weiter an der Regatta teilnehmen. Und wenn sie zehnmal in Führung lägen.

Von Wellersdorff sah die Enttäuschung in Oles Augen.

»Mir bleibt keine andere Wahl. Ich bin vermutlich der Einzige, der in dieser Situation und in der Kürze der Zeit ein geeignetes Schiff für den Transport auftreiben kann«, erklärte er.

Dann legte er die Hand auf Oles Schulter und fuhr fort: »Nimm's nicht so schwer, Storm. Mit ein bisschen Glück wird diese Krise nicht lange andauern und du wirst bald wieder bei einer Weltmeisterschaft vorne mitmischen. Vielleicht sogar als Steuermann.«

Ole nickte. Das unerwartete Lob war nur ein schwacher Trost. Plötzlich hatte er das Gefühl gehabt, dringend frische Luft zu benötigen und war hinunter ans Wasser gegangen. Da saß er nun und verglich die Schwärze des Wassers mit der Stimmung seines Herzens.

Ein Weltmeistertitel, völlig unverhofft in greifbare Nähe gerückt und dann doch wieder außerhalb jeder Reichweite. Ein strahlend schönes Mädchen, das mit kaum mehr als einem Lächeln und ein paar Blicken seine Gefühle auf den Kopf gestellt hatte, nur um gleich darauf auf nimmer Wiedersehen aus seinem Leben zu verschwinden. Und dies alles vor dem Hintergrund einer politischen Krise, die die ganze Welt aus der Bahn zu stürzen drohte.

Zwischen diesen drei Dingen sprangen Oles Gedanken vor und zurück. Immer wieder, knirschend wie die Nadel eines Grammophons auf einer zerkratzten Schelllackplatte.

Ole schüttelte sich unwillkürlich und stand auf. Wie von selbst gingen seine Schritte hinüber zum Liegeplatz der Lydia. Sie war noch da, wo sie hingehörte. Wenigstens das!

Ohne lange zu überlegen, kletterte er an Bord und setzte sich ins Cockpit an die geschwungene Holzpinne. Die mondlose Dunkelheit, das sachte Wiegen des Bootes und die kühle Nachtluft in seinen Lungen taten ihren Teil und ließen seine Sinne zur Ruhe kommen. Dann merkte Ole auf einmal, wie müde er war. Das frühe Aufstehen und die beiden ebenso aufregenden wie anstrengenden Regattaläufe forderten ihren Tribut, und es dauerte nicht lange, bis er eingenickt war.

Ole Storm schreckte aus dem Schlaf, als er Schritte und leise Stimmen auf den Bohlen des Steges hörte. Es waren zwei Männer. Sie blieben keine zehn Meter von der Lydia entfernt stehen, offensichtlich um auf zwei weitere Personen zu warten, die vom Land aus herüberkamen. Die Silhouette des Kleineren der beiden war trotz der Dunkelheit unverkennbar: von Wellersdorff.

Die Lydia lag mit dem Heck zum Steg. Rasch duckte Ole sich tiefer ins Cockpit, um nicht entdeckt zu werden. Ohne Erlaubnis ein fremdes Schiff zu betreten, so etwas wurde im ungeschriebenen nautischen Knigge des ehrwürdigen Yachtclubs als Delikt knapp unterhalb von Piraterie oder Jungfrauenraub geführt. Und wie der bekanntermaßen strenge von Wellersdorff auf einen solchen Fauxpas reagieren würde, wollte sich Ole lieber erst gar nicht vorstellen. Andererseits war es bereits zu spät, um noch unbemerkt auf den Steg springen zu können. Und wenn die Herren ihren nächtlichen Spaziergang in diese Richtung fortsetzten, würden sie ihn zwangsläufig entdecken.

Da kam es Ole ganz gut zupass, dass der Niedergang der Lydia offen stand. Vermutlich war er zum Lüften aufgelassen worden. Oder Hülsmeyer war, bevor er sich zum Abendessen mit Linas Vater getroffen hatte, an Bord gewesen und hatte vergessen, die beiden kleinen Türen wieder zuzuschließen. Doch das war Ole jetzt einerlei. Mit einem schnellen Satz sprang er unbemerkt den Niedergang hinunter.

Nur Sekunden später jedoch hätte er sich dafür bereits ohrfeigen können.

»Da ist sie«, sagte eine Stimme auf dem Steg.

Oh nein, dachte Ole. Hülsmeyer!

»Kommen Sie an Bord, meine Herren!«

Ole merkte, wie sich das schmale Heck des Seekreuzers senkte und die vier Männer nacheinander über das Achterdeck an Bord kletterten. Am liebsten hätte er laut geflucht. Wie hatte er sich nur wieder in diese unmögliche Lage manövrieren können? Vorsichtig tastete er sich in der stockdunklen Kajüte nach vorne, möglichst weit vom hellen Rechteck des Niedergangs weg, bis er mit dem Rücken ans Vorschott anstieß.

Das erste Paar Stiefel stieg bereits ins Cockpit hinab, und das Schiebeluk über dem Niedergang wurde aufgeschoben.

Rasch öffnete Ole die Türe zum Vorschiff und drückte sich in die niedrige Vorpiek hinein. Im selben Augenblick, als er die Tür zuzog, erhellte ein Streichholz den Salon und eine Öllampe wurde entzündet. Ihr schwacher Lichtschein fiel durch die Ritzen der Tür. Instinktiv sah Ole sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Über der breiten Doppelkoje, die zum Bug hin V-förmig zulief und gleichzeitig als Stauraum für diverse Segelsäcke diente, befand sich das Vorluk. Wenn es nicht mit einem Schloss gesichert war, konnte er vielleicht hinausklettern, bevor sie ihn erwischten?

»Nice boat, Christian!«, hörte Ole den Vierten im Bunde sagen. Der Amerikaner, Loomis.

»Thank you, Alfred«, antwortete Hülsmeyer. »Please, take a seat.«

Die Männer schienen es sich um den kleinen Kajüttisch gemütlich zu machen. Sie hatten ihn also nicht bemerkt!

Ole atmete erleichtert auf. Sie würden nicht nach vorne sehen. Vorsichtig setzte er sich auf das Kopfende der Koje. Vermutlich war es das Beste, wenn er sich nicht rührte und einfach abwartete, bis sie wieder verschwanden.

Nebenan wurde ein Schapp geöffnet, Gläser klirrten, eine Flasche wurde entkorkt. In den Geruch von klammem Holz und Leinölfirnis mischte sich das zarte Aroma von Sherry, und wenige Momente später der kräftige Qualm von Tabak. Eigentlich angenehm. Wenn nicht seine Lage so verdammt prekär gewesen wäre.

»Professor Sønstebye, Herr Konteradmiral«, sagte Hülsmeyer. »Ich bin Ihnen zutiefst dankbar, dass Sie mir und Mr. Loomis mit dem Transport helfen wollen. Dennoch muss ich Sie nochmals darauf hinweisen, dass, sollte irgendwer davon Wind bekommen, speziell die Heeresversuchsanstalt, wir alle vier wegen Hochverrats an die Wand gestellt werden. Zuallererst Sie und ich, von Wellersdorff.«

Ole merkte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.

»Darüber sind wir uns durchaus im Klaren«, antwortete der Konteradmiral. »But we should continue in your language, Mr. Loomis.«

Alles Weitere wurde auf Englisch besprochen, von dem Ole nur ein paar einfache Brocken beherrschte und deswegen kaum etwas von dem Gesagten verstand. Ob ihn das allerdings retten würde, wenn man ihn hier vorne entdeckte, war zu bezweifeln. Also wagte er kaum, sich zu bewegen, auch wenn die harte Kante des Schlingerbretts der Koje inzwischen ein unangenehmes, taubes Gefühl in seinem Hintern verursachte.

Eine halbe Stunde später beendeten die vier Männer ihr Gespräch und verließen die Lydia wieder. Ole entschied, noch ein Weilchen zu warten, bevor er selber an Land ging. Sicherheitshalber.

Er ließ sich nach hinten gegen einen der Segelsäcke plumpsen und atmete tief durch. Was hatte er da gehört? Ein Transport? Vermutlich doch der, den der Konteradmiral zu organisieren hatte. Aber was hatte Hülsmeyer damit zu schaffen, der doch mit der Starbootregatta gar nichts zu tun hatte? Und was sollte dieser Transport, so heikel er auch sein mochte, mit Hochverrat zu tun haben?

Ole wurde kalt. Und das lag nicht daran, dass er lediglich sein weißes Sonntagshemd anhatte. Zwei Dinge hallten in seinem Kopf nach: Hochverrat. An die Wand gestellt.

~

Hätte Ole Storm tatsächlich Geld auf den Ausgang der Weltmeisterschaft verwettet, wie er es sich noch gestern Morgen gewünscht hatte, so hätte er nun einen schönen Gewinn eingestrichen.

Walter von Hütschler, für den er sich durchaus freute, und Richard Korfmann, dem er es weit weniger gönnte, ersegelten in beiden Läufen am Freitag einen ersten Platz und sicherten sich so den Weltmeistertitel. Zweiter wurde der Italiener Straulino vor dem Berliner Hans-Joachim Weise und dem amerikanischen Ex-Weltmeister Wegenforth.

Sie selber, von Wellersdorff und Ole, waren mit den beiden nicht gesegelten Rennen weit in die hintere Hälfte des Klassements zurückgefallen. Auf welchen Platz, das hätte Ole der am Takelschuppen ausgehängten Ergebnisliste entnehmen können. Aber um die machte er geflissentlich einen Bogen.

Auch die meisten übrigen Segler hatten anderes im Kopf als ihre Platzierungen. Jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause. Masten wurden gelegt, Boote und Ausrüstung verzurrt und Reisegepäck verladen. Vielfach spielten sich anrührende Abschiedsszenen zwischen deutschen und ausländischen Seglern ab. Zur Preisverteilung war kaum noch ein Drittel der Teilnehmer anwesend, und wer noch geblieben war, dem war nicht sonderlich nach Feiern zumute. Walter von Hütschler war einer der Ersten, der sich nach der Zeremonie verabschiedete. Unter anderem auch von Ole, den der herzliche Händedruck und das nochmalige Lob des Weltmeisters einigermaßen tröstete. Richard Korfmann hingegen, der mit geschwellter Brust und vor Stolz glühendem Gesicht einherging, als habe er selber und nicht Pimm gesteuert, ging Ole lieber aus dem Weg.

Der Konteradmiral blieb den ganzen Tag über unsichtbar. Genauso übrigens wie Lina, deren Gegenwart er, so musste Ole sich eingestehen, am meisten vermisste. Erst am Abend tauchten beide wieder auf.

Den Nachmittag über waren abermals schwere graue Wolken aufgezogen, und mit Hereinbrechen der Dunkelheit hatte es zu regnen begonnen. Eigentlich hätte Ole oben in der Segelmacherei zu tun gehabt, wo es jetzt warm und trocken war. Aber Meister Rausch hatte gebrummt, es wäre nur recht und billig , wenn er sich um das Boot des Konteradmirals kümmerte. Also putzte Ole den Star, legte den Mast und verzurrte beides für den Transport auf einem LKWAnhänger der Marine. Als er alles nach bestem Wissen erledigt hatte, war er bis auf die Knochen nass. Er wollte gerade trockene Kleidung und eine Öljacke holen, die er für feuchte Segeltage in seinem Spind im Umkleideraum des Clubhauses aufbewahrte, als er Lina in Begleitung ihres Vaters, des Amerikaners Loomis und einiger englischer Segler aus dem Hauptportal kommen sah.

In Regenmäntel und Jacken gehüllt gingen sie hinunter auf die Mole und gestikulierten in Richtung Förde. Dort waren im Grau einer Regenwand die Positionslichter eines Dampfschleppers zu sehen.

Bei dessen Näherkommen konnte Ole erkennen, dass der Schlepper eine weiße Ordnungsnummer und das Kreuz der Kriegsmarine am Schornstein führte und eine flache, offene Schute vor sich her schob. Wenig später kam der Schubverband an der Spundwand des Olympiahafens längsseits, direkt vor dem Bootskran und den Starbooten. Die Festmacher gingen über und oben in der Brückennock erschien von Wellersdorf. Zum ersten Mal sah Ole ihn in voller Uniform.

»Paul, Sie sind ein Teufelskerl!«, rief Sønstebye ihm zur Begrüßung hinauf.

Von Wellersdorff winkte müde ab.

»Fragen Sie nicht, was mich das gekostet hat! Das Signalwinken mit dem Edelmetall«, er zupfte an seinem Ärmelaufschlag, an dem der breite Goldstreifen eines Konteradmirals prangte, »war jedenfalls der kleinere Teil.«

Dann zog er einen schweren Uniformmantel über, kam den Niedergang hinunter und sprang an Land.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren!«, sagte er. »Die Sondergenehmigung für die Grenzpassage gilt nur bis morgen früh sechs Uhr. Und der Schlepper darf den Stützpunkt eigentlich gar nicht verlassen. Also, an die Arbeit!«

Drei amerikanische, vier englische, zwei schwedische und das algerische Starboot mussten auf die offene Ladefläche der Schute gekrant und das Gepäck ihrer Besatzungen auf dem Schlepper verstaut werden. Außer den von der »Evakuierung« betroffenen Seglern packten auch einige Clubmitglieder mit an. Ole und Meister Rausch waren unter ihnen. Richard Korfmann hingegen fehlte.

Es wurde nur das Nötigste gesprochen, und im regenmatten Schein der wenigen Lampen hatte das Ganze tatsächlich etwas von einem geheimen Kommandounternehmen.

»Um eins müssen wir ablegen«, trieb von Wellersdorff immer wieder zur Eile an. »Spätestens!«

Vermutlich war es nicht nur die knappe Zeit, die ihn so nervös machte, dachte Ole. Allzu deutlich hatte er noch Hülsmeyers bedrohlichen Satz vom »Hochverrat« im Ohr. Dass der Physiker früher oder später ebenfalls auftauchen würde, davon war Ole überzeugt. Und er sollte sich nicht getäuscht haben.

Es war kurz vor Mitternacht. Der letzte Star hing im Krangeschirr und bis auf einen kleinen Rest war das Gepäck verladen. Ole war gerade auf dem Weg zum Clubhaus hinauf, als Hülsmeyer plötzlich vor ihm stand. Er hatte weder Hut noch Mantel an. Sein schütteres Haar klebte nass an seinem Kopf. Seine Nickelbrille war beschlagen. Die Augen dahinter verrieten Anspannung. Oder Angst.

»Haben Sie den Konteradmiral oder Professor Sønstebye gesehen?«, fragte er Ole.

Seine Hand krampfte sich um den Griff eines großen, ledernen Reisekoffers, der so vollgestopft war, dass er in der Mitte bereits ordentlich ausbeulte. Plötzlich verstand Ole, dass der Physiker selber mit dem Transport außer Landes gelangen wollte.

»Unten, auf der Schute«, antwortete er. »Soll ich Ihnen mit dem Koffer helfen?«

»Nein, nein!«, sagte Hülsmeyer hastig und zog den Koffer an sich, als müsse er ihn vor Ole schützen. »Den behalte ich!«

Dann verschwand er eiligst in die angegebene Richtung.

Als Ole kurz darauf mit einem letzten schweren Seesack auf den Schultern die Starbootbühne erreichte, sah er den Physiker vom Schiff herunterkommen, wo er sein ominöses Gepäckstück vermutlich abgestellt hatte.

Hülsmeyers Auftauchen und die besorgten Gesichter von Sønstebye, Loomis und von Wellersdorff beschäftigten Ole derart, dass er beim Betreten der regennassen Gangway des Schleppers um ein Haar ausgerutscht und mitsamt seiner Last ins Wasser gefallen wäre. Nur mühsam konnte er das Gleichgewicht halten und das Deck erreichen. Dort stand ein Ölmantel vor ihm. Die Kapuze wurde zurückgeschlagen und blonde Locken quollen darunter hervor.

»Bloß vorsichtig mit dem«, sagte Lina und lächelte. »Da sind Vaters und meine Sachen drin.«

Ole ließ den Seesack zu Boden gleiten und lächelte unsicher zurück. Wieso wollte ihm jetzt partout keine charmante oder originelle Antwort einfallen? Stattdessen konnte er sie nur anstarren und verlegen an seinem Hemd zupfen, das patschnass an seinem Oberkörper klebte.

»Danke, dass du mithilfst! Bei dem Wetter!«, sagte Lina, als sich das Schweigen zwischen ihnen in die Länge zu ziehen drohte.

»Keine Ursache«, antwortete Ole.

Es klang allzu knapp und kühl.

Tatsächlich wurde Linas Lächeln eine Spur dünner, und die zauberhaften Grübchen verschwanden.

Verdammt, Elfi hatte Recht. In Konversationsdingen war er talentiert wie ein Fisch.

»Hör mal, wenn du wegen der Sache mit dem Nachttopf immer noch sauer auf mich bist,« sagte sie kühl, »glaub bloß nicht, dass ich mich dafür entschuldige!«

»Nein nein! Schon vergessen!«, sagte er hastig und fügte einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Geistesblitz folgend hinzu: »Außerdem hast du ja nicht getroffen!«

»Ja, da hast du verdammtes Glück gehabt!«

Zu Oles grenzenloser Erleichterung kehrten die Grübchen an ihren Platz zurück.

»Normalerweise werfe ich nie daneben!«

Damit schlug sie die Kapuze wieder hoch und wollte sich an ihm vorbei zur Gangway schieben. Aber mitten in der Bewegung erstarrte sie.

Auch Ole drehte sich um.

Unten auf der Starbootbühne flammten plötzlich starke Scheinwerfer auf. Regen glitzerte nass auf einem Dutzend schwarzer Ledermäntel, unter denen Polizeiuniformen zu erkennen waren.

»Keiner rührt sich vom Fleck! Stay where you are!«, kommandierte lautstark eine scharfe Stimme.

»Gestapo!«, entfuhr es Lina.

Zu Oles Überraschung schob sie sich hinter ihn und drückte sich eng an seinen Rücken.

»Alles durchsuchen!«, befahl der Anführer der Polizeieinheit. »Die Segelboote, den Schlepper und das gesamte Gepäck!«

»Einen Moment!«, sagte von Wellersdorff laut und stellte sich den ersten Polizisten in den Weg. »Das ist ein Schiff der Kriegsmarine und wir haben alle nötigen Papiere! Sie haben keine Befugnis, hier irgendetwas zu durchsuchen.«

Zwar war der Konteradmiral einen guten Kopf kleiner als die Polizisten, aber die Autorität in seiner Stimme und die Epauletten auf seinen Schultern hielten sie zurück. Zumindest für den Moment.

»Oh doch, die haben wir!«, antwortete der Polizeioffizier heiser. »Und an Ihrer Stelle, Wellersdorff, wäre ich sehr, sehr vorsichtig.«

Damit hielt er dem Konteradmiral ein Papier unter die Nase. Trotz der Entfernung und des Regens konnte Ole sehen, wie von Wellersdorffs Gesicht versteinerte.

»Befehl direkt aus dem Staatspolizeiamt in Berlin«, rief der Gestapooffizier so laut, dass alle Umstehenden es hören konnten, und seine Stimme troff von Wichtigkeit. »Wo ist der Physiker? Where is Mr. Hülsmeyer?«

Ole sah, wie von Wellersdorff und Professor Sønstebye einen entsetzten Blick tauschten. Einen Moment lang war nur das Prasseln des Regens zu hören.

»Verdammt! Jemand hat uns verraten!«, hörte Ole Lina hinter sich flüstern. »Ausspioniert und verraten! Jemand von der Regatta!«

Ihr Atem streifte in verwirrender Weise Oles Genick. Noch verwirrender war ihre Hand, mit der sie von hinten in seinen Hosenbund griff.

»Bleib vor mir! Die dürfen mich nicht sehen, hörst du?«, sagte sie und zog ihn mit sich in den Schatten des Brückenaufgangs. Obwohl sie einen Regenmantel trug, konnte er deutlich die Wärme und die Formen ihres Körpers auf seinem nassen Rücken spüren.

Unten auf der Pier traten zwei Polizisten in den Lichtkegel. Sie hatten Hülsmeyer in ihrer Mitte. Der Physiker war weiß wie die Wand und hatte den Kopf gesenkt. Er wehrte sich nicht.

»Er hatte sich in der Baracke da versteckt!«, sagte einer der Polizisten und zeigte auf den Takelschuppen.

Ole merkte, wie Lina scharf Luft holte und entsetzt etwas auf Schwedisch flüsterte, einen Fluch vielleicht oder ein Stoßgebet.

»Der Physiker Christian Hülsmeyer«, schnarrte der Gestapooffizier laut und schwenkte seinen Befehl, »Leiter der naturwissenschaftlichen Versuchs-Abteilung und Geheimnisträger des Reiches, ist mit sofortiger Wirkung in Schutzhaft zu nehmen …«

Er machte eine Pause und sah direkt in die vor Schreck versteinerten Gesichter von Loomis und Sønstebye. Dann hob er die Stimme noch weiter an.

»… um ihn dem Zugriff der hier anwesenden Feinde des Reiches zu entziehen.«

Der Gestapooffizier machte eine Handbewegung und Hüls-meyer wurde abgeführt.

»Was unterstehen Sie sich?«, schnappte Sønstebye. »Feinde des Reiches … Schweden ist neutral! Amerika auch!«

»Sie wissen sehr genau, was gemeint ist!«

»Unterstellungen! Sie können nichts beweisen!«, protestierte der Schwede. Aber seine Stimme war belegt und zitterte ein wenig.

»Noch nicht!«, korrigierte der Mann im Ledermantel und lächelte kalt und wächsern wie eine Wasserleiche. »Anfangen!«

Die Polizisten schwärmten aus. Diesmal hielt niemand sie zurück.

»Zur Tür!«, hörte Ole Lina hinter sich flüstern und ihr Griff an seinem Hosenbund wurde fester.

Rechts von ihnen stand ein Schott offen. Dahinter führte ein schmaler Gang in die kleine Messe, wo das Gepäck der ausländischen Segler gestapelt war. Ole gehorchte und bewegte sich seitlich darauf zu, Lina vor den Blicken von der Pier abschirmend.

»Hey, du da! Stehen bleiben!«

Einer der Polizisten, die auf die Gangway zukamen, hatte Ole entdeckt.

»Nicht anhalten!«

Linas Stimme war kaum zu hören, aber der flehende Ton darin war dennoch herauszuhören.

»Zwei Schritte noch!«

»Stehen bleiben, sag ich!«, bellte der Polizist.

»Wer, ich?«, fragte Ole unschuldig zurück. Er hob langsam die Hände, blieb aber erst stehen, als er die Türöffnung hinter sich hatte.

»Du musst sie aufhalten«, wisperte Lina aus der Dunkelheit hinter Ole heraus, und ihre Lippen schienen sein Ohr zu streicheln. »Bitte!«

Eine winzige Berührung ihrer Hand, die über seinen nassen Rücken strich, und etwas, das man mit viel Phantasie als einen gehauchten Kuss auf seine Wange deuten könnte, dann war Lina im Quergang des Schiffes verschwunden.

Keine fünf Sekunden später standen drei Polizisten vor Ole.

»Hast wohl Tomaten auf den Ohren!«, schnauzte der erste und packte ihn grob am Kragen.

»Immer mit der Ruhe!«, fauchte Ole zurück und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.

»Aus dem Weg, du Idiot!«

Jetzt wurde Ole Storm tatsächlich wütend.

Mit Schwung stieß er den Polizisten von sich, so dass er rückwärts gegen seine beiden Kollegen stolperte. Einer von ihnen ging mit einem Platschen über Bord, der zweite fiel über den noch an Deck stehenden Seesack. Einen Augenblick lang war Ole geschockt über das, was er da gerade getan hatte. Dann sauste auch schon der Schlagstock des ersten Polizisten auf ihn nieder. Zum Glück hatte er auf dem überdachten Seitendeck nicht richtig ausholen können, und Ole konnte gerade noch seinen Unterarm vor den Kopf heben. Ein gleißender Schmerz durchzuckte seinen Ellenbogen. Dann flüchtete er in das offene Schott und versuchte, die Türe zuzuschlagen. Der Polizist setzte nach und bekam gerade noch seinen Schlagstock dazwischen. Jetzt war auch der zweite Angreifer wieder auf den Beinen und mit vereinten Kräften warfen sie sich von außen gegen die Tür.

Ole hielt verzweifelt von innen dagegen. Zum Glück konnte er sich mit den Beinen an einem Absatz in der Wand abstemmen. Sonst hätte er den Stößen in seinem Rücken wohl kaum Stand halten können.

In diesem Moment kam Lina aus der Messe. In der Hand hielt sie einen Koffer. Hülsmeyers Koffer.

Beide starrten sich einen Moment lang an und nichts weiter passierte. Dann erschien ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht, und das Grün ihrer Augen leuchtete ein weiteres Mal auf. Meeresleuchten, dachte Ole und lächelte zurück. Doch da war sie bereits verschwunden, und Ole meinte, vom gegenüberliegenden Seitendeck ein gedämpftes Platschen zu hören.

Im nächsten Augenblick splitterten in seinem Rücken die Scharniere aus dem Türholz, und er wurde im hohen Bogen nach vorne in den Gang geschleudert. Dann prasselten die Schlagstöcke auf ihn ein, und es wurde schwarz um ihn. Schwarz wie das Wasser der Förde, in das Lina den Koffer geworfen hatte.

~

Als Ole Storm wieder zu sich kam, brummte sein Schädel, als hätte er den Großbaum eines 100er-Seekreuzers dagegen bekommen. Außerdem schien jeder einzelne Knochen in seinem Körper zu schmerzen. Er kniff die Augen zusammen. Über ihm baumelte eine nackte Glühbirne von der Decke. Wo war er?

Den ersten Versuch, sich aufzusetzen, bezahlte er mit einem stechenden Schmerz im Kopf und einem grauen Flimmern auf der Netzhaut, das untrüglicher Vorbote einer weiteren Bewusstlosigkeit war. Also blieb Ole lieber erst einmal reglos liegen, bis er wieder klar sehen konnte. Dann biss er die Zähne zusammen - immerhin schienen diese noch vollzählig vorhanden! - und versuchte es erneut. Im zweiten Anlauf gelang es ihm, sich aufzurichten.

Er sah sich um. Nackte Wände, eine Eisentür, ein winziger Lichtschacht mit einem Gitter davor. Eine Zelle!

Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Und mit ihr die Angst. Ole hatte Geschichten gehört von Leuten - Kommunisten, Juden oder auch nur armen Säufern -, die den uniformierten Schlägern der SA oder den anderen Schergen der Hakenkreuzpartei in die Quere gekommen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Fing es in einer solchen Zelle an?

Plötzlich hörte er hinter sich ein Schnarchen.

Am Kopfende seiner Pritsche stand ein Holzschemel. Darauf saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und friedlich über dem Bauch gefalteten Armen, der Segelmachermeister Heribert Rausch. Mit einem warmen Gefühl der Erleichterung stupste Ole ihn an.

»Ah, Junge …«, grunzte Rausch und streckte sich.

»Wo sind wir?«, fragte Ole.

»Polizeiwache Düppelstraße.«

»Haben die uns ALLE festgenommen?«

»Nee, nur dich!«, antwortete Rausch. »Und Hülsmeyer natürlich, das arme Schwein. Aber den haben sie wohl gleich nach Berlin geschleppt.«

Ole schluckte. Hochverrat, tickte es in seinem Kopf. An die Wand stellen.

»Kannst von Glück reden«, sagte Rausch, »dass sie dich nur wegen Trunkenheit am Kanthaken haben!«

»Trunkenheit?«

Ole zwinkerte irritiert. Tatsächlich bemerkte er jetzt den strengen Geruch nach Alkohol, der von ihm ausging.

»Aber … Ich hab doch gar nicht …«

»Leute, die sich absichtlich mit der Gestapo anlegen, sind weg vom Fenster. Besoffene hingegen kommen mit einer Tracht Prügel und ein paar Nächten im Loch davon«, erklärte Heribert Rausch und grinste breit. »Der Konteradmiral war so geistesgegenwärtig, dir in der Messe auf dem Schlepper eine Flasche Schnaps über den Kopf zu schütten, als er dazu kam.«

Rausch schnüffelte.

»Friesengeist, wenn ich nicht irre. Na ja, passt ja irgendwie.«

Ole war ungemein erleichtert. Mit diesem Kniff hatte von Wellersdorff ihm vermutlich das Leben gerettet. Er atmete tief durch.

»Dann haben sie die Sache mit dem Koffer also nicht bemerkt?«

»Was für ein Koffer?«, fragte der Segelmacher und runzelte die Stirn.

Ole wurde siedend heiß klar, dass es wohl keinen schlechteren Ort geben konnte, um danach zu fragen. Rasch wechselte er das Thema.

»Und warum sind Sie hier drin?«

»Durfte mitkommen, um dich zu verarzten. Hättest dich mal sehen sollen!«

Er verzog das Gesicht und deutete auf ein paar blutige Lappen, die neben einer Blechschale mit rot gefärbtem Wasser auf dem Boden lagen.

»Hab mir erlaubt, ein paar von deinen Schmissen zu betakeln, damit die elende Bluterei aufhört.«

Neben der Waschschale lag eine Segelmachernadel und eine Rolle dicken, weiß geharzten Takelzwirns.

»Damit?«

Entsetzt tastete Ole sein Gesicht ab und stöhnte auf, als er eine krustige Wulst über der Augenbraue fühlte. Am Hinterkopf und am Kinn fand er zwei weitere.

»Ich hatte nichts anderes. Und einen Arzt wollten sie dir nicht spendieren.«

Ole stöhnte und sackte auf die Pritsche zurück.

»Du kannst verdammt froh sein, Junge!«, fuhr Rausch fort und rutschte mit dem Hocker neben die Pritsche. »Wenn das Mädchen nicht dazwischen gegangen wäre, das Fräulein Sønstebye meine ich, dann hätten sie dir wohl das Gehirn aus dem Schädel geklopft. Sie war ganz schön mutig, diese Kleine!«

»Lina?« Plötzlich war Ole hellwach. »Wo ist sie?«

»Auf dem Weg nach Dänemark. Marstrand vermutlich oder gleich durch bis Svendborg. Zusammen mit ihrem Vater, ihrem Verlobten und den Anderen.«

Ole zuckte zusammen. Hatte er sich verhört?

»Sie … Lina ist verlobt?«, fragte er schwach.

Aber Rausch, der sich gerade richtig schön in Rage redete, überhörte die Frage.

»Vorausgesetzt, sie schaffen es überhaupt noch aus der 12-Meilen-Zone! Erst um halb drei hat diese Gestapofresse sie ablegen lassen. Und auch erst, nachdem seine Leute in jede Hohlniete des Schleppers gekuckt haben. Von den Starbooten und dem Gepäck der Ausländer ganz zu schweigen. Die Hälfte davon haben sie konfisziert.«

»Mit wem ist sie verlobt?«, fragte Ole noch mal und zupfte ungeduldig an Rauschs Ärmel.

»Und das auch nur, weil von W… Was ist denn?«

»Mit wem Lina verlobt ist?«

»Mit dem Vorschoter ihres Vaters. Diesem Dings … na, wie heißt der noch … Svenson?«

»Johannson, Sigur Johannson«, sagte Ole leise und schloss die Augen.

Plötzlich meldete sich der Schmerz in seinen Gliedern zurück und alle seine Blessuren brannten stärker denn je.

Ole kannte Sigur vom Sehen. Ein Baum von einem Kerl, blond und ziemlich gut aussehend, wenn man die etwas zu eng beieinander stehenden Augen einmal abzog. Während der Regatta hatten sie nicht viel miteinander zu tun gehabt, und auch beim Essen im Club war Sigur nicht dabeigewesen. So hatte Ole ihn natürlich auch nicht mit Lina in Verbindung gebracht.

Verdammt, aber wie hatte er auch glauben können, so ein phantastisches Mädchen sei noch zu haben? Überhaupt, wie vermessen war es, aus einem Lächeln und einer winzigen Berührung abzuleiten, ihr Leben und seines könnten irgendetwas miteinander zu tun haben? Vermutlich würde er sie nie wiedersehen, und die grausame Wahrheit war, dass sie ihn vergessen haben würde, noch bevor sie in Dänemark an Land ging.

Zu seinen übrigen Schmerzen gesellte sich ein weiterer. Aber dieser tat viel mehr weh als die anderen und saß tiefer. In der Herzgegend.

»Ach, Junge!«, seufzte Rausch, der den Ausdruck in Oles Gesicht richtig deutete und ihm mit seiner Pranke mitfühlend den Unterarm tätschelte. »Wenn das all unsere Probleme wären …«

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3. Kapitel PURPUR

An diesem Abend hatte die See die Farbe von leuchtendem Purpur. Glatt und spiegelnd lag sie da. Verschwamm an ihren Rändern mit dem Abendhimmel. Keine Grenze, kein Oben und kein Unten, eine scheinbar unendliche, völlig schwerelose Weite. Einzig dort, wo die Sonne untergegangen war, zeigte ein letzter, orange glühender Strich noch an, wo man sich den Horizont hinzudenken hatte.

Ole Storm ließ sich zurücksinken. Der Sand der großen Düne auf Amrum war noch warm von der Hitze des Tages, aber im Osten zeigten sich bereits ein paar erste Sterne am Himmel. Nicht mehr lange und sie würden unten auf dem Strand den großen Holzstoß entzünden.

Es war Mittsommer. Überall auf den Inseln und auf den Deichen am Festland würden heute Nacht die Feuer brennen und eigentlich hätte alles an diesem 22. Juni 1940 so sein sollen wie jedes Jahr.

Aber nichts war mehr wie sonst. Es war Krieg. Und der Krieg war allgegenwärtig.

Polen im Herbst. Dänemark und Norwegen im April. Dann in rascher Folge Holland, Belgien und nun sogar Frankreich. Erst vergangene Woche waren deutsche Truppen durch den Triumphbogen in Paris marschiert. Ole hatte die unglaublichen Bilder in der Wochenschau gesehen.

Alles war so schnell gegangen. Schwindelerregend schnell. Kein Wunder, dass sich die Leute an den Erfolgen der deutschen Kriegsmaschine berauschten. Manche wurden sogar regelrecht besoffen davon. Selbst hier im ansonsten nicht gerade zur Hysterie neigenden Norden Frieslands.

»Wirst sehen, in drei Monaten ist alles vorbei!«, hatte selbst Nils gesagt und übermütig gegrinst. »Dann stehen wir am Trafalgar Square!«

Nils war Oles älterer Bruder.

In Statur und Aussehen ähnelte er - hoch aufgeschossen und strohblond - ihrem Vater, während sein sonniges, stets aufgeräumtes Naturell wohl eher von ihrer Mutter stammen musste. Mit Ole, der fünf Jahre jünger war, verhielt es sich genau anders herum. »Mutters dunkle Locken und Vaters dunkles Gemüt«, wie Nils ihn oft genug aufgezogen hatte.

Ole glaubte nicht an ein schnelles Ende des Krieges. Allzu leicht täuschten die schrillen Jubelmeldungen der militärischen Erfolge über den Preis hinweg, den man für all das zu zahlen hatte. Operation »Weserübung«, der handstreichartige Überfall, bei dem man binnen weniger Tage Dänemark und Norwegen überrollt hatte, war weitaus verlustreicher ausgefallen, als geplant. Drei Freunde aus Oles Segelschulgruppe in Kiel, die sich sofort nach Kriegsausbruch freiwillig zur Marine gemeldet hatten, waren an Bord der »Blücher« gefallen, als diese im Oslofjord versenkt worden war. Auch in Belgien und Frankreich, so hörte man hinter vorgehaltener Hand, hatte es bittere Verluste gegeben. Und war nicht gerade erst Hamburg als Vergeltung von englischen Bombern in Schutt und Asche gelegt worden?

»Jetzt zieh nicht schon wieder so eine Fresse!«, sagte Nils und knuffte Ole aufmunternd in die Seite. »Oder willst du dir und mir den wohlverdienten Heimaturlaub vermiesen?«

Es war in der Tat sehr selten geworden, dass sie gemeinsam ein paar Tage zu Hause verbrachten.

»Außerdem«, fügte Nils verschwörerisch hinzu, »wenn Elsbeth dich so sieht, denkt die noch, du hast Schmerzen am Sack, weil du dir ’n Tripper mit nach Hause gebracht hast oder so was. Und dann lässt sie dich wieder nicht rein in ihr Walhalla!«

Ole schnitt eine Grimasse. Er könnte sich heute noch ohrfeigen, dass er Nils jemals von seinem vergeblichen Versuch bei Elsbeth erzählt hatte und dem peinlichen Korb, den sie ihm verpasst hatte. Zwei Jahre war das jetzt schon her, und es sah Nils verdammt ähnlich, ihn immer noch damit aufzuziehen.

Trotz dieser und anderer weitaus weniger harmloser Frotzeleien, mit denen der Ältere ihn stets bedachte, liebte und bewunderte Ole seinen Bruder. Nils Storm, dem alles zu gelingen schien. Der die Ärmel hochkrempelte und das Problem beseitigte, wenn ihm etwas - oder jemand - in die Quere kam. Nils, dem dank seiner stets zu Scherzen aufgelegten Art und seines frechen Mundwerks schon als Fünfzehnjährigem sämtliche Röcke Amrums nachgelaufen waren. Was jetzt, seit er auf Heimaturlaub stets die schmucke Uniform eines Leutnants der Marine trug, natürlich noch schlimmer geworden war.

Auch Ole hatte inzwischen das Blau der Kriegsmarine anziehen müssen, wenn auch mit weitaus weniger Heldendrang als sein Bruder. Vor knapp zwei Monaten war die Einberufung zur Rekrutenausbildung ins Haus geflattert und schon in wenigen Tagen, noch vor dem offiziellen Ende einer ohnehin verkürzten militärischen Grundausbildung, würde er auf irgendeinem Kriegsschiff an die Front verlegt werden. Kämpfen fürs Vaterland, Sterben für den Führer, wie man ihnen einzubläuen versucht hatte. Sterben! Natürlich hatte Ole Angst.

»Weißt du schon, auf welchen Zossen sie dich stecken?«, fragte Nils.

Ole zuckte die Achseln. Man hatte es ihm gesagt, aber er hatte den Namen wieder vergessen. Was hätte er auch daran ändern können? Nichts.

Nils schwieg einen Moment, dann sagte er:

»Ich hab auch ein neues Kommando.«

»Aha?«

»U-102.«

Ole starrte seinen Bruder entgeistert an.

»Jetzt kuck nicht so kariert! Unsere U-Boote sind das Modernste und Seetüchtigste, was die Marine zu bieten hat«, antwortete Nils. »Außerdem sind sie das entscheidende Mittel, um die Lymies in die Knie zu zwingen. Das ist wohl spätestens seit Scapa Flow klar, oder?«

Wenn man der Propaganda glauben wollte, würden die Erfolge von Admiral Dönitz’ »Wolfsrudel«, jenem fast schon legendären U-Boot-Verband, der seit Oktober im Nordatlantik Jagd auf britische Geleitzüge machte, in Bälde die Versorgung des Gegners unterbrochen haben und so die Eroberung der Britischen Insel ermöglichen. Wie gesagt, wenn man der Propaganda glauben wollte. Ole Storm neigte auch hier zur Skepsis. Und der Gedanke, in einer Röhre aus Stahl hundert Meter unter Wasser gefangen zu sein, war ihm alles andere als geheuer. Eine Abneigung, die er im Übrigen mit ihrem Vater teilte. Unter Wasser, pflegte der zu knurren, hat keiner was verloren, dem der Herr nicht Kiemen oder Flossen hat wachsen lassen.

»Und … hast du's ihm schon gesagt?«, fragte Ole.

»Dem Alten? Bist du verrückt?«

Einen Moment lang sah Nils aufrichtig erschrocken aus.

Ole verkniff sich ein Schmunzeln. Ein Wutausbruch des ansonsten so ruhigen Vaters war das Einzige, vor dem Nils Storm Respekt zu haben schien. Ole konnte sich nicht erinnern, wie oft der Vater Nils als Jungen wegen irgendeiner seiner Schelmereien windelweich geprügelt hatte. Ein Schicksal, dem Ole selbst seltsamerweise meist entgangen war. Vermutlich wegen der großen Ähnlichkeit mit seiner Mutter.

Auch heute, da Nils ein stattlicher erwachsener Mann war, hatte sich nichts an seiner Angst vor dem Alten geändert. Und dessen ansonsten eher trübe blaue Augen hatten noch jedes Mal gefährlich aufgeblitzt, wann immer Nils versucht hatte, die Sprache auf seine U-Boot-Pläne zu bringen.

»Wenn du willst, rede ich mit ihm«, sagte Ole und bemühte sich, es ernst und treuherzig klingen zu lassen.

»Wenn du das tust …«, setzte Nils drohend an, unterbrach sich aber, als er Oles verstecktes Grinsen sah.

»Armleuchter!«, lachte er und schlug Ole mit der flachen Hand von hinten an den Kopf. »Komm, lass uns runtergehen. Bevor wir nichts zu trinken abbekommen. Oder schlimmer noch: keins von den Mädels!«

Er erhob sich und klopfte sich den Sand von der Hose.

»Und um den Alten mach dir mal keinen Kopp. Der erfährt's noch früh genug! Vielleicht schreib ich ihm einfach eine Postkarte aus La Rochelle. Los, wer zuerst unten beim Feuer ist!«

Damit sprang Nils mit weiten Sätzen die Dünen hinunter. Ole folgte ihm, so gut er konnte. Aber Nils war immer schon der Schnellere gewesen.

Der große Holzstoß auf dem Strand war inzwischen beinahe ganz heruntergebrannt. Bald würde die Flut kommen und die Reste ins Meer holen. Aber noch strahlte die Glut eine Hitze ab, die im Wettstreit mit der Kühle der Nacht ein angenehmes Prickeln auf Oles Gesicht verursachte. Oder kam das vom Alkohol?

Nils war schon vor gut einer Stunde verschwunden, eine Flasche Köm in der Hand und zwei Mägde vom Sieversen-Hof im Arm. Ole stand noch mit ein paar von den alten Kumpels von früher zusammen, aber es wurde nicht mehr viel gesprochen. Ole kam das entgegen. Das Knacken und Knistern des Feuers war ohnehin mehr nach seinem Geschmack, als die immer gleichen Geschichten vermeintlicher Heldentaten des Krieges.

Plötzlich stand Elsbeth neben ihm.

»Hallo, Ole!«, sagte sie.

»Hallo«, antwortete er, zugegebenermaßen etwas verwirrt.

Seit der Sache vor zwei Jahren hatten sie beide versucht, einen Bogen umeinander zu machen, wann immer Ole auf der Insel gewesen war.

Sie hatte sich verändert, wirkte irgendwie erwachsener, weiblicher. Kein Babyspeck mehr. Nur die unzähligen Sommersprossen waren noch da und das kupferrote, widerspenstige Haar, das sie immer noch zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug. Genau so, wie sie es schon als Kind getan hatte, als sie gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten, in der kleinen Dorfschule von Nebel.

Ole hatte geglaubt, sie wäre schon vor einer ganzen Weile nach Hause gegangen. Wenn sie zurückgekommen war, dann doch nicht etwa seinetwegen?

»Gehen wir ein Stück?«, fragte sie.

Ole nickte stumm und wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm unter. Als sie den Strand entlangspazierten, plauderte sie munter auf ihn ein. Was auf der Insel so alles passiert war, seit es Ole zur Marineausbildung verschlagen hatte. Dass die Fischer wegen der Feindaufklärung nicht mehr so weit hinausfahren durften wie früher.

Dass ein englischer Wellington-Bomber von einer Flakstellung auf Eiderstedt abgeschossen worden und direkt neben dem Hof von Elsbeths Onkel in der Nähe von St. Peter heruntergekommen war. Belangloses Zeug.

Ole hingegen schwieg die meiste Zeit. Er wunderte sich, warum sich Elsbeth auf einmal so offensichtlich zu ihm hingezogen fühlte. Und er wunderte sich über sich selbst. Mit einem der meistumworbenen Mädchen der Insel im Arm in einer sternenklaren Nacht am Strand, was hätte er dafür noch letzten Sommer nicht alles gegeben?

Aber jetzt? Etwas ratlos blieb Ole stehen und blickte den einsamen Pfad ihrer Fußspuren zurück. Der warme rote Schein des Feuers war irgendwo hinter ihnen in der Dunkelheit verschwunden und Ole hatte das verwirrende Gefühl, als sei ihm auf dem Weg hierher noch irgendetwas anderes verloren gegangen.

Irgendwann wich der harte Sand des Strandes dem weicheren der Dünen. Ole hatte keine Ahnung, wohin sie ihn geführt hatte. Irgendwo in die Mitte zwischen Norddorf und Nebel vermutlich. Die beiden großen Leuchtfeuer Amrums, deren Peilung ihm sonst immer verlässlich den Weg nach Hause gezeigt hatten, waren wegen der Verdunklung abgeschaltet worden. Und um sich ohne sie zu orientieren, dafür hatte er vermutlich ein bisschen zu viel getrunken.

»Ich bin müde. Wollen wir uns ausruhen?«, fragte Elsbeth und zog ihn, ohne seine Antwort abzuwarten, neben sich auf ein Büschel Dünengras.

Ihre Hände, die sich plötzlich irgendwie unter seinen Pullover verirrten, waren kalt. Genau wie ihre Lippen, die kurz darauf feucht über sein Gesicht wanderten.

Oles Kopf schwirrte. Er war sich nicht sicher, ob er das hier wirklich wollte. Ihr Atem ging schneller, als sie ihn immer heftiger zu küssen und dabei ihre Bluse aufzuknöpfen begann. Ole schloss die Augen, als sie seine Hand auf ihren Busen zog. Er war klein und flach und die harten Nippel drängten sich förmlich zwischen seine Fingerspitzen. Elsbeth setzte sich auf ihn, zog ihren Rock hoch und begann, sich mit leisem Stöhnen an ihm zu reiben.

So weit waren sie schon einmal miteinander gewesen. Nur andersherum. Damals war Ole derjenige gewesen, der es forciert hatte. Angestrengt versuchte er sich vorzustellen, wie es sich damals angefühlt hatte. Aber seine Erinnerung fand nichts. Jedenfalls nichts, das mit Elsbeth zu tun hatte.

Vor seinem inneren Auge tauchte wie von selbst ein anderes Bild auf: ein seidenes, weit aufgeknöpftes Pyjamahemd, schlafzerzauste dunkelblonde Haare, meergrüne Augen, die angriffslustig blitzten. Ein Bild, das er seit einem halben Jahr in sich trug und das ihn einfach nicht loslassen wollte.

Nicht einmal jetzt.

Seine Finger vergaßen, was sie hatten tun sollen. Es dauerte noch einen Moment, bis Elsbeth es ebenfalls bemerkte. Mit einem enttäuschten Schnaufen rollte sie sich von ihm herunter in den Sand.

»Dann sind wir jetzt wohl quitt, wie?«, sagte sie bitter und zog sich die lose Bluse vor der Brust zusammen.

»So’n Quatsch«, brummte er. »Mit der Sache in der Scheune hat das nix zu tun.«

Obwohl Ole sich abwandte und in die Richtung blickte, in der er das Meer vermutete, wusste er, dass ihre bernsteinfarbenen Augen ihn fragend anstarrten. Sie wartete auf einen Grund. Ole schwieg.

»Wie dumm von mir«, sagte sie brüsk. »Du hast eine andere. Ich hätte vorher fragen sollen.«

Hastig knöpfte sie ihre Bluse zu.

»Ich dachte, ich wäre was Besonderes für dich gewesen.«

Ihre Stimme begann zu zittern, und bevor sie sich von ihm wegdrehte, sah Ole, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen.

Was sollte er ihr sagen? Er wusste es nicht.

»Stattdessen weißt du nichts Besseres, als dich der erstbesten anderen an den Hals zu schmeißen, sowie du von der gottverfluchten Insel runter bist!«

»Hör mal, Elsbeth«, sagte er behutsam und legte ihr die Hand auf ihre Schulter. »Dieses andere Mädchen …«

Hastig wehrte sie ihn ab.

»Und ich Dummkopf habe auf dich gewartet!«

Sie sprang auf und lief davon. Nach wenigen Sekunden war sie in der Dunkelheit verschwunden. Ole machte nicht den Versuch, ihr zu folgen.

Was Nils wohl dazu zu sagen gehabt hätte? Ein handfestes Schäferstündchen sausen zu lassen wegen eines nutzlosen, längst abgelegten Traumes. Eines Traumes, der ohnehin niemals die geringste Aussicht gehabt hatte, Realität zu werden.

Aber Ole war nicht Nils.

Und eine einzige Sekunde seiner Erinnerung an Lina war ihm zehnmal kostbarer als alles, was sein Bruder in dieser Nacht erleben mochte.

~

Nach Mittsommer war das Wetter auf Südwest umgesprungen und feucht und windig geworden. Es dauerte noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang, und in der Norderaue, dem Seegatt zwischen Amrum, Föhr und Langeneß stand eine unangenehme, kabbelige See. Ablaufendes Wasser, Wind gegen Tide. Aber der stäbige Fischkutter von Arne Storm wühlte sich scheinbar völlig unbeeindruckt durch die grauen Wellen. Das sonore Tackern des alten Dieselmotors klang beruhigend gleichmäßig und einschläfernd zugleich. Vor gut einer Stunde waren sie in Steenodde ausgelaufen, dem kleineren der beiden Fischerhäfen auf Amrum, und hatten seitdem kaum ein Wort gesprochen. Bis Dagebüll waren es noch gut zwei Stunden. Nils, der in dieser Situation vielleicht ein wenig für Unterhaltung gesorgt hätte, lag in seinen Ölmantel gerollt im Windschatten hinter dem Steuerhaus auf seinem Seesack und schlief tief und fest.

Im fahlen Morgenlicht war die Sicht nicht eben zum Besten, zumal die Peilfeuer abgeschaltet waren. Aber Oles Vater kannte entlang dieser Strecke jede Tonne und jede Pricke mit Vornamen. Und Ole orientierte sich ohnehin auf seine eigene Weise. Das immer wiederkehrende Muster der heranrollenden Wellen verriet ihm, wo sie sich gerade befanden. Steil und kurz: Fahrwassermitte. Steil, aber etwas länger: Fahrwasserrand. Flach und lang auslaufend und von der Farbe her etwas gelber: der mit dem Wind fließende Neerstrom in der Mündung des Amrumtiefs oder eines der anderen Priele, die sie in nordöstlicher Richtung zu passieren hatten.

Oles Vater angelte seine zerbeulte Emailletasse hinter dem Kompassgehäuse hervor und hielt sie ihm wortlos hin. Ole nahm die Blechkanne aus ihrem Lasching am Auspuffrohr, das hinter ihnen durch das Kajütdach stieg. Er schenkte ein, dann befestigte er die Kanne wieder und trank einen Schluck aus seiner eigenen Tasse. Erstaunlich wie lange die Abgase der Maschine den Kaffee warm hielten. Nur bitter wurde er mit der Zeit. Verdammt bitter.

Ole sah seinen Vater verstohlen von der Seite an. Im schwachen Schein der Kompassbeleuchtung und dem grauen Morgenlicht sahen die strengen Falten um seinen Mund noch tiefer aus und ließen ihn alt und verbraucht aussehen. Älter als die Sechzig, die er inzwischen tatsächlich war.

Aber noch hielten Arne Storms schwielige Hände das Steuer sicher und noch fuhr er jeden zweiten Tag, den Gott werden ließ, vor dem Morgengrauen zum Fischfang hinaus aufs Meer. So wie er es getan hatte, seit er zwölf war und das Handwerk von seinem Vater und dessen Vater gelernt hatte.

Heute war eine Ausnahme. Nicht etwa, um seine beiden Söhne am Ende ihres Heimaturlaubes persönlich nach Dagebüll zur Eisenbahn zu bringen. Nicht, weil Nils und Ole dem Krieg und einem unsicheren Schicksal entgegenreisen würden. Nein, zu solchen Sentimentalitäten hätte er sich nie verstiegen.

Er hatte großen Wert auf die Feststellung gelegt, dass er sie lediglich mitnehme, weil er ohnehin ein paar Bestellungen auf dem Festland abzuholen habe. Vierzig Meter Stellnetz, eine Rolle geteertes Grundtau und einen kleinen Kanonenofen für den nächsten Winter, der sein zugiges Schlafzimmer in der Mansarde des kleinen Reetdachhauses heizen sollte. Vor allem aber ein paar wichtige Ersatzteile für den Schiffsdiesel, und die waren ja in diesen Zeiten schwer genug zu bekommen, so dass man sie besser nicht allzu lange in irgendeinem Pappkarton in der Fährstation herumstehen lassen sollte.

Nils hatte beim Frühstück eine perfekte Imitierung der väterlichen Begründung geliefert, natürlich erst nachdem der Alte bereits zum Kutter gegangen war, und Ole musste jetzt noch schmunzeln, wenn er daran dachte.

»Brauchst gar nicht so dumm zu grienen«, brummte der Vater, der es in der Spiegelung der Scheibe bemerkt hatte. »Ich weiß Bescheid.«

»Was meinst du?«

Arne Storm machte eine unbestimmte Kopfbewegung durch die offene Schiebetür zum Achterdeck, wo Nils schlief.

»Dass er zu den U-Booten geht!«

Der Vater zog ebenso geräuschvoll wie missbilligend die Nase hoch und spuckte den Rotz durch die halboffene Tür in den Wind.

»Er hat's dir gesagt?«, fragte Ole erstaunt.

»Das hat sich der Feigling nicht getraut«, knurrte der Vater. »Aber er konnte es sich nicht verkneifen, damit vor den Weibsleuten anzugeben. U-Boote! Wie kann einer nur so dämlich sein?«

Es klang weniger wütend als resigniert. Jedenfalls nicht so, als sollte noch das große Donnerwetter folgen, vor dem Nils sich selber so bange gemacht hatte. Eine ganze Weile sagte keiner ein Wort. Erst als sie den dunklen, flachen Rücken von Langeneß querab an Steuerbord hatten und das Wasser merklich ruhiger wurde, meldete sich der Vater wieder brummend zu Wort.

»Wenn sie dich einteilen auf dem neuen Schiff und sie geben dir die Chance, selber auszusuchen, dann nimm dir 'ne Station unter Deck, klar? Da will meistens keiner hin, weil du nichts sehen kannst und die ganzen verdammten Bazis, die neuerdings zur Marine kommen, da unten seekrank werden. Aber oben an Deck, da fliegen als Erstes die Splitter herum, wenn ihr einen Treffer kassiert!«

Ole nickte. Er war ein wenig überrascht. Normalerweise war es nicht die Art seines Vaters, sich solche Gedanken zu machen. Und erst recht nicht, derartig viele Worte darüber zu verlieren.

»Das Gleiche gilt für die Geschütztürme und die Brücke. Auf die wird immer zu erst gezielt. Kapiert?«

Ole erinnerte sich, dass sein Vater im letzten Krieg ebenfalls zur See gefahren war und mehrere Gefechte erlebt hatte. Aber er sprach nie darüber. Dass er einmal im Skagerrak sogar versenkt und nur mit Glück überlebt hatte, wusste Ole nur von Tante Elfi in Kiel, die es ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte. Was bei ihr allerdings nicht viel zu bedeuten hatte.

»Übernimm mal«, brummte der Vater und zeigte auf das Steuerrad.

Ole nahm das Ruder. Mit steifem Schritt das Rollen des Kutters ausgleichend trat der Alte aus dem Steuerhaus und verschwand nach vorne zu dem Niedergang, der hinunter in die winzig kleine Vorpiek führte. Sie war kaum mehr als ein Lagerraum für Fischereigerät und Ölzeug, aber, abgesehen vom Steuerhaus, die einzige überdachte Kajüte auf dem Kutter.

Nach wenigen Momenten war Arne Storm wieder da und drückte seinem Sohn wortlos einen in Wachstuch geschlagenen Gegenstand in die Hand. Ole übergab das Ruder und wickelte das Päckchen aus. Es war ein Taschenmesser mit gezackter Klinge und Marlspieker. Es schien sehr alt und viel benutzt, und als Segelmacher hatte Ole natürlich bereits ein Takelmesser. Aber dieses hier trug eine schöne, altmodisch geschnörkelte Gravur in dem schwarzen Horngriff. O.S. Seine Initialien.

»Das O steht für Ove«, sagte Arne.

Ove Storm. So hatte Oles Großvater geheißen.

Ole erinnerte sich dunkel. Der Großvater war in einem Novembersturm über Bord gegangen, im dem Jahr als Ole in die Schule gekommen war. Wie die meisten Fischer der Insel hatte er nicht schwimmen können und war sofort untergegangen. Erst drei Wochen später hatte die See die Leiche freigegeben und nahe Rantum an den Strand geworfen.

»Hat immer steif und fest behauptet, das Ding bringt ihm Glück«, sagte Arne Storm rau und hielt die Augen auf der Kimm. »Tatsächlich hatte er es zu Hause vergessen, an dem Tag, als es passierte … Also sieh verdammt noch mal zu, dass du’s nie irgendwo liegen lässt!«

Ole war gerührt. Er konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemals ein Geschenk von seinem Vater bekommen zu haben. Und nun gab er ihm etwas derart Kostbares. Ole nahm das Messer und schnitt ein Stück von der ausgedienten Flaggenleine ab, mit der die Kaffeekanne an den Schornstein gelascht war. Damit bändselte er das Messer an seinem Gürtel fest und steckte es in die Hosentasche.

Bis Dagebüll sprachen sie kein Wort mehr.

Am Anleger im Fährhafen halfen Nils und Ole dem Vater, die bestellten Sachen aus der Poststelle der Fährgesellschaft zu holen und auf den Kutter zu verladen. Dann kam der Abschied. Wie nicht anders zu erwarten, fiel er kurz und bündig aus. Knapper Händedruck, keine Umarmung, keine überflüssigen Sentimentalitäten. Das war nicht die Art von Arne Storm. Auch wenn diesmal seine beiden einzigen Söhne in den Krieg zogen und er, das ahnte Ole seit ihrem Gespräch auf der Überfahrt, Angst um sie hatte.

Ole und Nils standen nebeneinander auf der Mole und sahen dem Kutter nach, bis er um die Hafenmauer herum verschwunden war. Der Vater hatte sich nicht noch einmal zu ihnen umgedreht.

»Lass uns was frühstücken!«, sagte Nils und knuffte Ole aufgeräumt wie eh und je in die Seite. »Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.«

Bis ihr Zug ging, hatten sie noch etwas Zeit und so schlenderten sie zum altehrwürdigen Deichhotel hinauf. Dort bestellte Nils für sie beide eine große Kanne Kaffee und je ein halbes Dutzend Spiegeleier auf Schwarzbrot mit Krabben und Bratkartoffeln. Ole ließ sich die Eier und die Bratkartoffeln schmecken, verzichtete aber auf den Kaffee. Von dem hatte er auf dem Kutter schon genug gehabt. Das Gespräch mit dem Vater auf der Überfahrt erwähnte er nicht, ebenso wenig dass der Alte über Nils heimlichen Wechsel zu den U-Boot-Fahrern im Bilde war. Wenn der Vater es Nils nicht aufs Brot geschmiert hatte, brauchte er es ebenfalls nicht zu tun. Er hatte ohnehin den Verdacht, dass er mit dieser Nachricht bei Nils nicht viel mehr als ein Achselzucken geerntet hätte.

Sie zahlten und gingen zum Bahnhof, wo sie gemeinsam in den Bummelzug stiegen, der über Niebüll nach Husum und weiter nach Hamburg fuhr. Von Station zu Station füllten sich die Wagen.

Hauptsächlich waren es junge Männer, Soldaten wie Nils und Ole, die nach dem verlängerten Wochenende zu ihren Einheiten zurückkehren mussten, und so hatte Nils in ihrem Abteil bald eine sehr interessierte Zuhörerschaft für die Geschichte von seinem Abenteuer mit den beiden Mägden vom Sieversen-Hof. Seine Hoffnung allerdings, Ole könnte nun seinerseits damit herausrücken, ob ihm bei Elsbeth diesmal mehr Erfolg beschieden war, wurde enttäuscht. Ole schwieg eisern. Stattdessen gaben die anderen Bursehen ihre Erlebnisse - oder Prahlereien - zum Besten. So verging die Fahrt wie im Fluge.

In Husum musste Ole in einen anderen Zug umsteigen, der ihn über Rendsburg zu seiner Ausbildungskompanie nach Eckernförde bringen würde. Da er das Gleis wechseln musste und so gut wie keinen Aufenthalt hatte, blieb ihm auch nicht viel Zeit für den Abschied von Nils, der im selben Zug weiter nach Hamburg fuhr. Und das war vielleicht auch gut so. Denn dieses Lebewohl fiel beiden schon merklich schwerer.

Während Ole seinen Seesack aus der Ablage zerrte und durch den engen Gang zur Tür bugsierte, machte Nils ein paar aufmunternde Bemerkungen, die im weiteren Sinne mit Seekrieg, Heldentum und dem daraus resultierenden Erfolg bei Frauen zusammenhingen.

An der Tür nahm er Ole unvermittelt in die Arme und drückte ihn fest an sich.

»Pass auf dich auf, Kleiner!«

»Und du auf dich!«

»Um mich mach dir man keine Sorgen. Wenn’s ernst wird tauch ich einfach ab!«, antwortete Nils.

Es hatte locker und scherzhaft klingen sollen. Aber seine Stimme klang seltsam heiser und belegt.

»Und jetzt sieh zu!«

Damit stieß er Ole förmlich aus dem Waggon und warf ihm den Seesack hinterher. Keinen Augenblick später schnaufte und ruckelte es und der Zug fuhr wieder an. Aus der offenen Tür heraus winkte Nils ihm zu, bis eine Qualmwolke aus einem Seitenventil der Lokomotive ihn verschluckte.

Mit Erstaunen und Rührung hatte Ole die Tränen gesehen, die seinem Bruder übers Gesicht gelaufen waren, und auch er selber hatte einen mächtigen Kloß im Hals.

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4. Kapitel REGENGRAU

Die See war grau und stumpf vom Regen. Und stumm. Sie wusste nichts zu erzählen vom zarten Spiel des Windes auf den Wellen und den geheimnisvollen Mustern einer Strömung, erst recht nichts vom hellen Glitzern des Sonnenlichts auf einer leicht geriffelten Oberfläche. Nur vom Regen sprach sie, vom kalten, anhaltenden Regen, der seit Tagen in faden, windlosen Schleiern auf die Förde niederging.

Es war Anfang Juli und Ole war wieder in Kiel. Er blickte auf die gleichen Ufer, die er jahrelang vom Yachtclub aus gesehen hatte. Aber inzwischen war es eine andere, tristere Welt geworden, eine Welt im Krieg, eisengrau eben, und unendlich weit entfernt von jenem lichten, warmen Morgen, als er Lina zum ersten Mal begegnet war.

Wo früher leichte weiße Yachten aus Holz und Segeltuch um die Wette gesegelt waren, lagen nun dicht an dicht die schweren, tarnfarbenen Stahlleiber der Kriegsschiffe, missmutig auf ihren nächsten Waffengang harrend. Im Regen waren sie kaum mehr als kalte Schatten vor dem verwaschenen Hintergrund des Fördeufers und der Stadt.

Und auf eines von ihnen, die Schleswig-Holstein, hatte das Schicksal Ole nun verschlagen.

Das Linienschiff Schleswig-Holstein war jenes Kriegsschiff gewesen, das im Jahr zuvor am 1. September mit seinen Schüssen auf die Westerplatte in Danzig den Zweiten Weltkrieg eröffnet hatte. Im Moment lag sie, nach ihrem Einsatz bei der Operation »Weserübung« in Norwegen, zur Reparatur von Gefechtsschäden und zur neuerlichen Proviantaufnahme an der Ausrüstungspier im Arsenal.

Noch zur Kaiserzeit gebaut, war sie ein betagter, eckiger Kasten von Schiff. Unförmig und hässlich, selbst für einen Kriegskreuzer, bei denen man ohnehin keine Maßstäbe an Schönheit und Linienführung anlegen durfte. Der Bug war, wie vor dem Ersten Weltkrieg allgemein üblich, noch »falsch herum« geneigt, das Freibord mittschiffs für echten Seegang definitiv zu niedrig, und die Funk- und Signalmasten schienen sich seltsam schief nach vorne zu krümmen. Von den ursprünglich drei Schornsteinen waren, nach ihrer Umrüstung von Kohlefeuerung auf Ölkessel, nur die beiden hinteren übrig geblieben, die nun seltsam unbeholfen die Lücke zwischen Haupt- und Achteraufbau zu füllen versuchten. An ihren Schweißnähten nagte der Rost und sandte kleine braunrote Rinnsale an den fensterlosen grauen Aufbauten hinunter, nur schlecht kaschiert durch hastig aufgepönte Mennige. Wasser, Rost und Dreck sammelte sich zu trüben Pfützen, die in den Dellen und Beulen des nackten, von keinem einzigen Meter Holzplanke bemäntelten Stahldecks standen.

Hinzu kamen die Narben, die ihr der jüngste Zusammenstoß mit britischen Verbänden vor Norwegen eingebracht hatte. Einer der beiden Geschütztürme auf dem Achterdeck hatte einen Treffer kassiert und war halb aus seiner Verankerung gerissen, Steuerbord mittschiffs hatten mehrere großkalibrige Maschinengewehrgarben oder vielleicht auch Bombensplitter tiefe Spuren hinterlassen und auf dem geschwärzten Vorschiff schien es gebrannt zu haben. Nein, die Schleswig-Holstein war alles andere als ein schönes Schiff. Und als Ole sie zum ersten Mal gesehen hatte, war es Abneigung auf den ersten Blick gewesen.

Eine Abneigung im Übrigen, die auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Auf unheimliche Art und Weise schien auch die Schleswig-Holstein alles daranzusetzen, es Oles schwer zu machen.

Gleich am ersten Tag war er ausgerutscht und einen der steilen Niedergänge hinuntergesegelt - etwas, das ihm bisher noch auf keinem anderen Schiff passiert war und ihm reichlich blaue Flecken und Spott eingebracht hatte. Am zweiten Tag war ein Bodengitter in einer Peilnock nicht richtig eingelegt gewesen und Ole wäre, hätte er sich nicht im letzten Moment noch an der Reling festgehalten, um ein Haar abgestürzt. An seiner Stelle waren jedoch besagtes Bodengitter und der offene Farbtopf, mit dem er gerade hantiert hatte, zwei Stockwerke tiefer durch eine offene Ladeluke in die darunter befindliche Proviantlast eingeschlagen, wo sie für reichlich Aufregung gesorgt und Ole eine gehörige Abreibung eines Unteroffiziers eingebracht hatten.

Gleich in der ersten Nacht hatte Ole festgestellt, dass genau über seiner Koje die Abwasserleitung eines der Mannschaftsklosetts entlang führen musste. Der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der die unappetitlichen Geräusche über ihn hinweggurgelten, schien es die einzige Toilette auf dem ganzen verdammten Schiff zu sein und ob die gelegentlichen Tropfen, die auf seine Koje fielen, Schwitzwasser waren oder Schlimmeres, das wagte Ole sich gar nicht erst vorzustellen.

Überhaupt war die Schleswig-Holstein, wenn überhaupt möglich, unter Deck noch hässlicher als oben. Niedrig, mangelhaft beleuchtet und derartig unübersichtlich angeordnet waren die Gänge, dass Ole sich in diesen ersten Tagen wohl ein Dutzend Mal verlaufen hatte. Und wie oft er sich in einem der Decks den Kopf angestoßen hatte, wusste er schon gar nicht mehr. Eine Lüftung schien auf der Schleswig-Holstein ebenfalls nicht zu existieren. Überall in ihren Eingeweiden stand derselbe feuchtmuffige Geruch nach Kombüse, Pumpklo und Dieselöl.

Das Schlimmste von allem jedoch war, dass man Ole für den Decksdienst eingeteilt hatte. Anfänglich hatte er noch gehofft, er bekäme so vielleicht wenigstens hin und wieder ein paar Festmacher zu spleißen oder eine Persenning zu flicken. Aber schon nach der ersten Woche wusste er, worum es für einen Decksgast ausschließlich ging: Reinschiff und Rostklopfen. Besonders für Letzteres gab es auf der Schleswig-Holstein ja auch reichlich Bedarf.

Im Gefechtsfall hatte die Decksmannschaft zudem die leichten, nur unzureichend gepanzerten MGs an Oberdeck zu bemannen. Mit flauem Gefühl in der Magengegend sah Ole zu den Einschusslöchern mittschiffs. Einer seiner neuen Kameraden hatte ihm erzählt, dass bei dem Gefecht mit den britischen Verbänden acht Männer gefallen waren, sieben von ihnen aus der Deckscrew.

Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn, sich nur ja eine Position unten im Schiff zu suchen, wenn man ihn fragte. Natürlich hatte man nicht gefragt. Man hatte ihn einfach eingeteilt mit den Worten, dass man auf einem kesselgetriebenen Schiff mit einem Segelmacher ohnehin nichts Besseres anzufangen wüsste.

Die Reparaturarbeiten waren vollendet und schon morgen sollte es zurück an die Nordfront gehen. Bergen oder Narvik, vielleicht auch Island. Etwas Genaueres hatte man ihnen nicht gesagt. Fest stand nur eins: Es würde ungemütlich werden. In jeder Beziehung. So passte das graue Regenwetter über Kiel bestens zu Oles trüben Zukunftsaussichten.

An diesem Nachmittag standen noch Treibstoff- und Munitionsübernahme auf dem Dienstplan. Während vorne und achtern die großen Kaliber mit einem Kran an Deck und hinunter in die Munitionslasten gehoben wurden, mussten Ole und einige andere mittschiffs die schweren Holzkisten mit der MG- und Handfeuermunition Hand über Hand in die engen Lagerräume hinunterlassen. Jede verdammte Kiste einzeln. Vor dem Rücken brechenden Gewicht der Munition war Ole nicht bange. Aber die feuchte, finstere Enge der Munitionslast war ihm ein Graus. Und natürlich hatte ihn der Unteroffizier - es war der gleiche, der ihn seit der Sache mit dem Farbeimer als seinen »speziellen Kunden« betrachtete - ganz nach unten geschickt.

Während er auf die nächste Kiste von oben wartete, versuchte Ole sich dadurch aufzuheitern, an andere unerfreuliche Arbeiten zu denken, die er schon einmal auf anderen Schiffen hatte tun müssen. Auf Knien ein Teakdeck schrubben, oder ein verstopftes Pumpklo zerlegen und reinigen. Auf einem Zwölfer hatte er einmal geholfen, einhundert Quadratmeter zerrissenes und störrisch hin und her schlagendes Segeltuch einzufangen, nachdem bei sechs Windstärken das Großfall gebrochen war. Was für ein Kampf. Als sie das Segel endlich auf dem hin und her schlingernden Großbaum verzurrt hatten, war die Haut über Oles Knöcheln blutig gewesen und ein Fingernagel fehlte. Immerhin war er damals stolz gewesen. Von Stolz konnte hier an Bord keine Rede sein.

Ein Fluchen von oben riss Ole zurück ins Hier und Jetzt. Gerade noch konnte er verhindern, dass ihn die Kiste, die dem Mann über ihm aus der Hand gerutscht war, an der Schulter erwischte. Mit ohrenbetäubendem Lärm ging sie neben ihm entzwei und ergoss ihren öligen Inhalt über die bereits gestapelten Kisten. Wehmütig dachte Ole an das Großsegel des Zwölfers. Er hätte nie für möglich gehalten, wie sehr ihm ein schnödes Stück Baumwolle mit ein paar Nähten, Kauschen und Reffbändseln würde fehlen können. Er schluckte. Verdammt, war das nun Schweiß, der ihn so in den Augen zwickte? Oder war es etwas anderes, das man besser möglichst schnell mit dem Handrücken wegwischte, bevor es jemand sah?

Als gute eineinhalb Stunden später die letzte der verhassten Kisten gestapelt war und Ole sich erschöpft und erleichtert aus seinem stickigen Verlies ans Tageslicht zurückarbeitete, gönnte ihnen der Obermaat großzügig ein paar Minuten Pause. Rasch verdrückte sich Ole auf das Achterdeck, wo er sich an die Reling lehnte und erst einmal tief Luft holte. Überrascht stellte er fest, dass der Regen aufgehört hatte. Mehr noch, zum ersten Mal seit über einer Woche stahlen sich ein paar verirrte Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und ließen das Wasser glitzern.

Plötzlich erstarrte Ole. Hatte er eine Vision? Oder war es die Folge von Anstrengung und Sauerstoffmangel unter Deck, die ihm ein Trugbild vorgaukelte?

Direkt vor ihm leuchteten strahlend weiß die Segel einer großen, rassigen Segelyacht. Langsam und majestätisch wie ein Schwan zwischen hässlichen schwarzen Aaskrähen zog sie an den Kriegsschiffen vorbei, genau in jenen einzelnen Flecken Sonnenlicht hinein, der ihre Takelage und jeden einzelnen Plankengang ihres weißen Rumpfes in magischem Gold aufleuchten ließ.

Einzig die Tatsache, dass auch seine Kameraden neben ihm das Schauspiel mit offenem Mund und blanken Augen verfolgten, ließ Ole nicht vollends an seinem Verstand zweifeln.

Groß- und Fliegersegel gingen herunter, und nur unter Fock und Besan fuhr der als Bermuda-Yawl getakelte Zweimaster einen eleganten Aufschießer, bis er längsseits an der Pier zum Stehen kam. Ein Anleger ohne Motoreinsatz war ein beachtliches Manöver für ein Schiff von gut und gerne 70 Tonnen Gewicht. Wer immer dort das Ruder führte, verstand etwas von seinem Handwerk.

»Ist ja ein dolles Ding!«, sagte einer von Oles Kameraden voller Bewunderung. »Woher die wohl kommt?«

»Aus Mürwik«, antwortete Ole, ohne die Augen von der Yacht abzuwenden.

Er hatte sie sofort erkannt.

»Das ist die Skagerrak.«

Sie gehörte der Marineschule in Flensburg. Im letzten Juni war sie auf ihrer Jungfernfahrt von der Weser, wo sie bei Abeking & Rasmussen gebaut worden war, durch den Kanal gekommen und hatte vor dem Kaiserlichen Yachtclub Station gemacht. Von Takelung, Rumpfform und Segelverhalten her war sie das Modernste und Schnellste, was die Yachtkonstrukteure bis dato hervorgebracht hatten, und es hieß, Erich Raeder, Großadmiral und Oberbefehlshabender der Kriegsmarine, habe sie beim alten Henry Rasmussen in Auftrag gegeben, um höchstselbst mit ihr nach Amerika zu segeln und dort zum Ruhme der deutschen Marine den legendären 100-Guinee-Cup zu gewinnen. Nun, das war vor dem Krieg gewesen, und die Ansichten des Herrn Raeder, wie die Marine zu Ruhm und Ehre gelangen sollte, hatten sich grundlegend gewandelt. Inzwischen wurde die Skagerrak, wie alle anderen größeren Yachten der Marine, ausschließlich für die nautische Ausbildung von jungen Offizieren eingesetzt. Nachschub an Menschenmaterial, nach dem die unersättliche Kriegsmaschinerie ständig verlangte.

»Mürwik?«, fragte Oles Kamerad. »Von der Kadettenschule?«

»Genau die«, knurrte der Obermaat, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. »Und während sich unsereins beim Feindeinsatz im Nordmeer die Eier wegschießen lassen darf, machen die künftigen Herren Offiziere erst mal ein zwei Wochen Segelurlaub auf der heimeligen Ostsee!«

Er zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte das unerfreuliche Ergebnis abfällig in Richtung der Yacht.

»Na ja, die erwischt's auch noch früher oder später! Los jetzt! Zurück an die Arbeit, ihr verdammten Faulpelze! Reise Reise!«

~

Dienstausscheiden war um sechs und trotz reichlich Arbeit verging die Zeit bis dahin quälend langsam. Sobald die Musterung vorüber war, hatte es jeder eilig, an Land zu kommen. Die einen wollten den letzten Abend vor dem Auslaufen im Schoße ihrer Familien verbringen, die anderen hatten weit unkeuschere Schöße im Sinn, die drüben auf der sündigen Meile Kiels auf sie warteten. In den Quartieren rasierten und parfümierten und putzten sich beiderlei Landgänger heraus, was das Zeug hielt. Auch Ole verspürte den unbestimmten und ihm selbst etwas rätselhaften Impuls, ein frisches Hemd anzuziehen. Rätselhaft deswegen, weil er doch lediglich ein paar Meter auf der Pier zu gehen und sich die Skagerrak aus der Nähe anzusehen gedachte. Aber das Gedränge vor den Kleiderspinden und Rasierspiegeln war so groß, dass Ole dann doch verschwitzt und zerknittert wie er war hinunter auf die Pier ging.

Die stattliche, 27 Meter lange und 5,5 Meter breite Segelyacht wirkte mit ihrem weit überhängenden Bug und Heck und dem betonten Deckssprung überraschend leicht und elegant. Das breite, weitläufige Teakdeck und die Anordnung der chromblitzenden Beschläge machten einen aufgeräumten Eindruck, und das Wenige, das an Luken, Oberlichtern und Aufbauten darauf verteilt war, erglänzte in makellos lackiertem Mahagoni. Der mächtige Großmast mochte an die 90 Fuß hoch sein und war, ebenso wie der kleinere Besan, schneidig nach achtern gepfeilt. Ein Schiff, das von seiner gesamten Konstruktion her nur einem einzigen Zweck verpflichtet war: dem Sieg bei Segelregatten.

Langsam schlenderte Ole nach achtern, um sich das Cockpit und die »Hütte« näher anzusehen, wie der kurze, etwas erhöhte Kajütaufbau direkt vor dem Steuerstand genannt wurde.

Ole stutzte. Aus dem Niedergang schob sich genau in diesem Moment ein wohlbekannter stiernackiger Glatzkopf. Ole hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

»Meister Rausch?«, rief er aus und strahlte von einem Ohr zum anderen.

Der Segelmacher fuhr herum, auch er über alle Maßen erfreut.

»Ole! Das ist ja ein Ding! Was machst du denn hier? Mensch, komm an Bord!«

Das ließ sich Ole nicht zweimal sagen. Der kräftige Griff, mit dem Rausch ihm von der Pier auf das Deck der Segelyacht hinüber half, artete in ein ausgiebiges herzliches Händeschütteln aus.

»Erzähl! Wie ist es dir ergangen? Auf welchem schönen Schiff lässt dich der Führer über die Meere schippern?«, fragte Rausch, als er Ole ins Cockpit zog.

»Auf der Schleswig-Holstein. Da!«, seufzte Ole und nickte zu dem unansehnlichen grauen Klotz hinüber. »Morgen früh laufen wir aus.«

»Oh …«, machte Rausch. »Das ist ja weniger schön.«

Er ließ offen, ob er damit Oles baldigen Fronteinsatz meinte oder das Schiff an sich, das auch er mit sichtlichem Missfallen betrachtete.

Erst jetzt fiel Ole auf, dass Rausch ebenfalls Uniform trug. Die Abzeichen auf den Schulterklappen wiesen ihm den Dienstgrad eines Hauptbootsmanns zu.

»Und Sie?«, fragte Ole. »Was machen Sie hier?«

»Seemännische Ausbildung von Offiziersanwärtern.«

»Aber die Werkstatt …?«

»Ach, die Zeiten sind nicht allzu rosig für alles, was mit Segeln zu tun hat«, antwortete Rausch gedehnt. »Und bevor sie mich einziehen und weiß der Geier wohin stecken, dachte ich, heuer ich lieber noch mal freiwillig an. Als Decksmeister in der Segelcrew von unserem guten Herrn Konteradmiral.«

»Von Wellersdorff?«, fragte Ole. »Ist der etwa auch hier?«

»Das will ich meinen! Der skippert die Yacht. Oder glaubst du, der überlässt irgendjemand anderem den Spaß, mit dem schönsten Schiff der ganzen verdammten Reichskriegsmarine über die Ostsee zu segeln?«

Liebevoll tätschelte er den Kajütaufbau der Skagerrak. Aber dann verflog das sonnige Lächeln aus seinem Gesicht. Er sah sich vorsichtshalber um, ob sie allein waren, dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Wer wollte es ihm auch verdenken? Es gibt Gerüchte, dass er sich nicht mehr lange als Chef der Offiziersschule wird halten können. Differenzen mit dem Großadmiral und ein paar hohen Tieren aus der Partei. Du verstehst.«

Ole nickte verständnisvoll, obwohl ihm nur zum Teil klar war, was Rauschs Andeutungen besagen sollten.

»Und dann rat mal, wer außerdem noch zur Crew gehört?«

Ole konnte nur die Achseln zucken.

»Unser Herr Starbootweltmeister!«

»Pimm? Pimm van Hütschler?«, fragte Ole zutiefst erstaunt.

»Quatsch. Dein Freund, der Schnösel ... Korfmann! Sein Vater meinte wohl, dass er noch ’ne handfeste Offiziersausbildung abhaben soll, bevor er ihn nach Berlin holt, um Karriere zu machen.«

Ole runzelte die Stirn. Natürlich freute es ihn zu hören, dass Richard Korfmann es einmal mehr so gut getroffen hatte. Aber irgendwie hatte er auch gewisse Schwierigkeiten, sich den selbstbewussten, um nicht zu sagen selbstgefälligen Richard als gehorsam Befehle ausführenden Offiziersschüler vorzustellen.

»Ist er an Bord?«, fragte er. »Richard meine ich?«

»Nee, die sind natürlich alle auf Landgang. Apropos! Komm, ich zeig dir das Schiff!«, sagte Rausch aufmunternd und verschwand unter dem Schiebeluk.

Ole folgte ihm bereitwillig in das kleine Deckshaus, das fast zu einem Drittel von einem großen Kartentisch eingenommen wurde. Von dort ging es weiter einen geschwungenen, steilen Niedergang hinab unter Deck.

»In der Achterkammer logiert natürlich der Konteradmiral«, sagte Rausch und deutete auf eine Tür, die halb offen stand.

Ole konnte einen Salon mit einem weiteren Navigationsplatz, gepolsterten Sitzbänken und einer Koje mit zugezogenem Vorhang erkennen.

»Was Kapitänleutnant Strasser natürlich gar nicht schmeckt. Der ist normalerweise der Ausbildungsskipper, wenn der Kon.Ad. nicht mitfährt. Jetzt muss er sich mit einer der Kammern für die Offiziersanwärter begnügen. Und die sind natürlich empfindlich kleiner.«

Rausch deutete auf die Kabinentüren, die entlang des Mittelganges folgten. Drei an Steuerbord, drei an Backbord.

»In der hier wohnt übrigens Korfmann!«

Ole äugte neugierig in die von Rausch bezeichnete Kammer hinein. Sie verfügte über zwei Etagenkojen und davor gerade genug Platz, um sich einmal um die eigene Achse drehen zu können. Es gab zwei schmale Spinde. Einer war mit einem Vorhängeschloss gesichert, der andere stand weit offen und gab den Blick frei auf unordentlich durcheinander geworfene Kleidungsstücke. Ole musste grinsen. Dieser gehörte mit Sicherheit nicht seinem Freund Richard, der stets pedantisch auf Ordnung hielt.

Rausch zog ihn weiter. Ein paar Meter nach vorne mündete der Mittelgang im geräumigen Salon der Skagerrak. Mehrere Oberlichter erhellten einen mächtigen, langen Tisch, der an beiden Seiten und am Kopfende von lederbespannten Sitzbänken eingefasst wurde. Ole entwischte ein anerkennender Pfiff durch die Zähne.

»Ist ja riesig!«

»Täusch dich nicht«, sagte der Segelmacher. »Wir segeln mit vier Mann Stamm und zwölf Kadetten. Da wird’s schon mal ganz schön eng an der Back.«

Alles, Bodenbretter, Schränke, Wandverkleidung, Sitzbänke und der Tisch, waren aus dem gleichen dunkel schimmernden Holz, das Ole bereits in der Achterkammer und oben im Deckshaus gesehen hatte. Durchaus geschmackvoll, aber längst nicht so üppig wie auf manch anderer Segelyacht dieser Größe. Ein Zeichen dafür, dass die Skagerrak vornehmlich als Regattayacht konzipiert worden war.

»Tja, und hier vorne hausen Obermaat Fleck, der Smut, und meine Wenigkeit.«

Durch die vor dem Salon liegende Kombüse und eine weitere Tür erreichten sie die Vorpiek, einen lang gestreckten, niedrigen Raum. Spätestens hier hatte aller Komfort ein Ende. An beiden Seiten unter zwei Bullaugen gab es je einen kleinen Schrank und eine einfache Koje mit Schlingerbrett. Die Bordwände waren gänzlich unverkleidet, und im Abstand von einem halben Meter zueinander sah man die nackten Stahlspanten, auf welche die sechs Zentimeter starken Mahagoniplanken der »Skagerrak« genietet waren. Aufrechtes Stehen war hier nicht mehr möglich. Und nicht nur unter der großen Vorschiffsluke war alles klamm und feucht. Noch weiter vorne in Richtung Kettenkasten entdeckte Ole im Halbdunkel einige große Taurollen und gigantische Segelsäcke.

»Nicht gerade das Parkhotel, was?«

Ole nickte. Trotzdem hätte er alles dafür gegeben, dieses Quartier mit seiner Koje unter der tropfenden Abwasserleitung auf der Schleswig-Holstein zu tauschen.

»Ach Herrjeh, das Ding hab ich fast vergessen«, brummte Rausch und deutete auf ein Segel, das aus einem der Segelsäcke hervorquoll. »Die Baumfock. Unser schnöseliger Supersegler hat sie über die scharfe Kante vom Ankerspill gezerrt.«

Ole musste grinsen. Rausch hatte Richard Korfmann noch nie leiden können. Er kniete sich hin und nahm den Riss mit Kennermiene in Augenschein. Rausch stand gebückt neben ihm und fuhr sich nachdenklich mit der Hand über die Glatze.

»Hmm, sag mal, du hast nicht rein zufällig Lust, mir dabei zu helfen? Das Ding ist ein bisschen schwer, um es allein hin und her zu ziehen.«

Ole blinzelte irritiert. Hatte er sich verhört? Er durfte ein Segel reparieren?

»Natürlich nur, wenn du Lust hast«, setzte Rausch rasch nach. »Ich will dich nicht um deinen wohlverdienten …«

»Doch! Doch!«, sprudelte es aus Ole heraus. »Nichts lieber als das!«

Wenig später saß Ole mit dem schweren Vorsegel auf den Knien unter dem offenen Vorluk, einen fleckigen, abgenutzten Segelmacherhandschuh an der rechten Hand, und wie von selbst glitt die Nadel mit dem geharzten Faden durch das schwere Tuch. Von außen war das vertraute Glucksen des Wassers gegen den Rumpf zu hören und Ole war, wenn auch nur für den Augenblick, mit sich und der Welt versöhnt.

»Fast wie früher, hm?«, sagte auch Heribert Rausch.

Ole lächelte, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Dann hörte er das vertraute Schmatzen und scharfe Luftholen, das stets ein jedes Stück Kautabak begleitete, das der Meister sich in den Mund schob.

»Wenn nur der verdammte Krieg nicht wär!«, seufzte Rausch und wischte ein paar Reste Priem von seinem Takelmesser. »Ne Affenschande ist das. Sommer und kein einziges Segel auf’m Teich. Die Boote aufgeslippt in irgendwelchen Schuppen, machen die Planken auf, weil sie keinen Tropfen Wasser zu sehen kriegen. Die einzigen, die vielleicht noch segeln, außer uns natürlich, sind ein paar Parteibonzen. Apropos … Erinnerst du dich an diesen hübschen 50er-Kreuzer aus dem Club? Wie hieß der noch?«

»Den von Hülsmeyer?«, Ole sah ruckartig von seiner Arbeit auf. »Natürlich, die Lydia!«

Wie hätte er jemals »sein« Schiff vergessen können? Oder die Nacht, in der er unfreiwillig in die Fluchtpläne ihres Eigners ein-geweiht wurde. Plötzlich tauchten noch andere, längst verdrängte Bilder auf. Zum Beispiel das von Lina, die Hülsmeyers Koffer über Bord gehen ließ, und Ole bemerkte, wie sein Herz heftiger gegen die Rippen schlug.

»Was ist mit ihr?«, fragte Ole. »Also der Lydia, meine ich?«

»Du hast das damals, glaube ich, nicht mitbekommen. Aber keine Woche, nachdem sie Hülsmeyer verhaftet haben, sind sie gekommen und haben die Yacht konfisziert. Angeblich, um sie für ihn sicherzustellen. Aber … hier!«

Rausch tippte sich bedeutungsvoll mit dem Zeigefinger unter das rechte Auge.

»Tatsächlich segelt jetzt irgendein Parteibonze mit ihr auf dem Wannsee herum. Stell dir das mal vor! So ein Schiff auf dem Wannsee.«

»Und … Hülsmeyer?«, fragte Ole.

»Ist nie wieder aufgetaucht. Das arme Schwein. Es heißt, dass er im Gefängnis Selbstmord begangen hat.«

Rausch senkte verschwörerisch die Stimme.

»Ich persönlich tippe eher darauf, dass er die Befragung der Gestapo nicht überlebt hat. Die werden ihn wohl ziemlich in die Mangel genommen haben.«

Um herauszufinden, wo sein Koffer abgeblieben ist, schoss es Ole sofort durch den Kopf. Und wer mit ihm unter einer Decke steckte. Wie eine kalte Hand griff diese Erinnerung nach ihm.

»Was hat Hülsmeyer eigentlich für eine Erfindung gemacht?«, fragte er vorsichtig.

»Genau weiß ich das nicht. Er war ein ziemlich hohes Tier in Peenemünde. Irgendwas mit diesen Dingern, na, wie heißen die … diesen Raketen vielleicht. Oder sonst irgendwelchen neuartigen Superwaffen. Der Konteradmiral will nicht, dass darüber geredet wird.«

»Und das hat seinen verdammten Grund!«, schnarrte in diesem Augenblick eine Stimme, und die Tür zur Vorpiek flog auf. Sowohl Ole als auch Rausch fuhren erschrocken zusammen.

Es war der Konteradmiral.

»Ich dachte, ich hätte das klar genug zum Ausdruck gebracht, Herr Hauptbootsmann!«

Von Wellersdorff war binnen des Dreivierteljahres sichtlich gealtert. Sein Haar war vollends ergraut und noch schütterer geworden. Die Furchen auf seiner Stirn und um den Mund waren tiefer, was seinem ohnehin scharf geschnittenen Gesicht nun einen fast asketischen Ausdruck gab. Vielleicht eine Folge der Schwierigkeiten, von denen Rausch gesprochen hatte? Aber seine grauen Augen blitzten wie eh und je und auch seine Stimme hatte nichts von der alten Schärfe eingebüßt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783961941520
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
See Abenteuer Sturm Krimi Segel Thriller Spannung

Autor

  • Jan von der Bank (Autor:in)

Jan von der Bank ist mehrfacher Deutscher Meister und Weltmeister (2005) in der Einmannjolle Contender. Seine Kinderbücher zum kleinen Klabautermann PIKKOFINTE erscheinen ebenfalls im KJM Buchverlag.
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Titel: Die Farbe der See