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Koks im Zuckerstreuer und Kakerlaken in der Wand

5 Jahre Leben in London

von Ronja Maue (Autor:in)
216 Seiten

Zusammenfassung

Koks im Zuckerstreuer und Kakerlaken in der Wand erzählt die amüsante Geschichte der dreiundzwanzig-jährigen Ronja, die fünf Jahre in einer der beliebtesten Metropolen Europas gelebt hat. Ronja berichtet vom (Über-)Leben in der britischen Kultur, Gefängnis-besuchen, dem Umgang mit Straßengangs, dem wilden Londoner Nachtleben sowie drogenkonsumierenden Mitbewohnern und Alltagsabenteuern. Eine unterhaltsame, spaßige und lehrreiche Odyssee, die dazu ermutigt, Neues erleben zu wollen und sich auf die Reise ins Ungewisse zu machen. Oder einfach nur nach London.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


INHALT

KAPITEL 1.

Wohnungssuche in London –

oder Schimmel in allen möglichen Farben

Am Flughafen ♣ London – Finally! ♣ Neues Land – Neue Ronja? ♣ Mein erster Tag in London ♣ Wohnungssuche ♣ Die Jugendherberge in Kensington ♣ Sich Träume erfüllen ♣ Bunter Schimmel ♣ Studio Flats ♣ Teuer – teurer – London ♣ Die ersten Abende in London ♣ Verzweiflung. Planänderung: WG ♣ East London ♣ Hip, hipper – Hipster WG ♣ Menschen ohne Köpfe ♣ Die nächste Jugendherberge ♣ Alles Schicksal ♣ Shaddi ♣ Endlich Glück? ♣ Angekommen in London ♣ Britisches (nicht amerikanisches) Vokabular und Dialekte ♣ Kulturschock? ♣ Tories, Queen und NHS ♣ Integration ♣ Wie sind die Deutschen so?

KAPITEL 2.

Crazy Shaddi in Bayswater –

Mein erstes Jahr in London

Dauer-aggro ♣ Ganzkörper-Waxing ♣ Charity Shops ♣ Islam by Shaddi ♣ Ankommen im Paradies ♣ Bugger ♣ Feiern mit Nicoletta Traurige, schöne Menschen ♣ Notting Hill Carnival ♣ Nackt + betrunken + voller Schokolade ♣ Shaddi, Deutsche, Hitler und die Vorurteile ♣ Eindimensionales Weltbild ♣ Reality Show: Leben in Großbritannien ♣ Royale Hochzeit ♣ Shaddi – der Stratege ♣ Pure Angst ♣ Weg aus Bayswater

KAPITEL 3.

Umzug nach Camden –

und flat hunt mit Daniel

Flatmate Parties ♣ Wanted: Sexy Babes ♣ Daniel ♣ Psycho Peter ♣ Die Wohngemeinschaft in der North Road ♣ Glückskribbeln im Bauch ♣ Neues Kapitel im Leben ♣ Kakerlaken in der Wand

KAPITEL 4.

Das erste Jahr in Camden Town –

Gangs, Prostituierte und Nervenzusammenbruch

Hauptsache tätowiert ♣ Keine Chance als Prinzessin ♣ Von Hardbass bis Chello ♣ Multitalent oder Megaloser ♣ Damals, als ich noch cool war… ♣ Eine WG: Zwei Extrovertierte ♣ Mein Maverick ♣ Unterwegs mit meinem Rambo-Tierchen ♣ Die Straßengang ♣ Little Daniel, Waliser No. 1 ♣ Liliana: Große Möpse, kleines Gehirn ♣ Warum? ♣ Ungebetener Besucher ♣ Mörder ♣ Emotionale Standhaftigkeit: Im Wanken ♣ Nervenzusammenbruch ♣ Newsagents ♣ Aus die Maus ♣ Auf der Suche nach einem neuen Mann

KAPITEL 5.

Der zweite Waliser –

Stuart und die Banker

Traumprinz: Stuart ♣ Doch nicht schwul ♣ Nur Engländer sind Briten ♣ Tanzen mit James Bond ♣ Tribut to Karen Millen ♣ Eyes Wide Shut Szenerie ♣ Mit Champagner lässt’s sich leben ♣ Promis in London ♣ Kunst ist Geschmacksache

KAPITEL 6.

Wohngemeinschaft mit einem Nutcase –

Ich lebe in einem Cohen-brothers movie

Der perfekte Mitbewohner ♣ Non-stop Cannabiswolke ♣ Living with a Nutcase ♣ Bügeln ist was für Loser ♣ Vollgedröhntes Randalieren ♣ Vollgedröhntes Kochen ♣ Vollgedröhntes Waschen ♣ Jeden Abend: Dinner for One ♣ Einmal Koks für alle, bitte ♣ Leichenstarre ♣ Ein modernes Theaterstück ♣ Leben mit einem Rockstar ♣ Mitbewohner-Vorführung ♣ Der Zonk ♣ Sex, Drugs – kein Rock’n’Roll ♣ Graham, der Magier

KAPITEL 7.

Das Camden-Karma

Drogen, Vorstrafen und Gefängnisbesuche

Pub-Quiz ♣ Der Anfang vom Ende ♣ Gute Menschen – böse Menschen ♣ Platzverweis ♣ Karma, Baby! ♣ Das Londoner Viergespann ♣ Rory ♣ Gefängnis: die Erste ♣ Der Unfall ♣ Gefängnis: die Zweite ♣ Unser Gangster ♣ Kontrollierte Brieffreundschaft ♣ Belmarsh ♣ Meeting Hannibal Lecter ♣ Alles Tarnung ♣ Araber Alibi

KAPITEL 8.

Kein Koks mehr im Zuckerstreuer –

dafür Schlägerei, Zickenterror und Abschiednehmen

Drogen-Premiumkunde ♣ Männer vom Mars, Frauen aus der Klapse… ♣ Duschwand aus Pergamentpapier ♣ Kein Wort ohne meinen Anwalt ♣ Bullshit Bingo ♣ Let’s get retarded ♣ Kompromissfindung: Ade ♣ Noya ♣ Das Blair Witch Project ♣ Nutcase: Finale ♣ Staubflocken so groß wie Kuscheltiere ♣ Von Koks zu Kohl ♣ Prolls und Hohlios ♣ Kontroletti und der Dritte Weltkrieg ♣ Vodoo-Püppchen Mirac ♣ Terrorgezicke ♣ Sinneswandel und Vorfreude ♣ Playboy, Schwindler oder Traummann? ♣ Dating Day ♣ Ein Streit unter Liebenden ♣ Massenschlägerei daheim ♣ Nur über meine Leiche ♣ Alles wird gut

EPILOG

Neue Herausforderungen –

Nächstes Kapitel: Für alle

♣ London ist, was man aus London macht

MIT DABEI…

Pablo – Wohnungssuchender Italiener

Shek – Immobilienmakler in Bayswater

Shaddi – Bayswater. Ronjas erster Mitbewohner

Yae – Guter Freund von Shaddi

Nicoletta – Beste Freundin von Shaddi

Vivi – Friseuse in Bayswater

Daniel – Camden. Ronjas zweiter Mitbewohner

Franca – Ronjas Vermieterin in Camden

Toschi – Angestellter in Daniels Restaurant

Peter – Immobilienmakler in Camden Town

Jules – Nachbar und Kumpel von Ronja

Maverick – Hund (Rottweiler) von Jules

Liliana – Freundin von Daniel

Barnaby – potenzieller Mitbewohner

Blanka – Freundin von Daniel

Stuart – Camden. Ronjas dritter Mitbewohner

Jerome – Kumpel von Ronja in Camden

Mila – Tschechische Freundin von Ronja

Logan – Mitbewohner von Mila

Rory – Ronjas Freund

Miraç – Kumpel von Ronja

Ethan – Guter Freund von Miraç

Lizzie – Nachbarin von Ronja

Allison – Mitbewohnerin von Lizzie

Faris – Freund von Miraç

Jeffrey – Freund von Miraç

Igor – Club-Bekanntschaft von Ronja

Graham – Camden. Ronjas vierter Mitbewohner

Greg – Ex-Freund von Allison

Francis – Freund von Graham

Noya – Camden. Ronjas fünfte Mitbewohnerin

Jordan – Noyas Chat-Freund

Kapitel 1. Wohnungssuche in London - oder Schimmel in allen möglichen Farben

„Ziemlich schwer.“

Die große, blonde Dame vom Flugpersonal wog mein Gepäck und prüfte meinen Flugschein sowie meinen Personalausweis, während ich panisch auf die Anzeige der Waage starrte und gleichzeitig sympathisch zu lächeln versuchte.

„Ja, ich weiß. Ist 'en bisschen schwer… Das ist, weil ich erst an Weihnachten wiederkomme…“, versuchte ich mein Glück, auch, wenn es sie wahrscheinlich nicht interessierte. Ich verlieh meiner Vorfreude Ausdruck in einem breiten Grinsen. Diese Methode hatte eine neunzigprozentige Erfolgsquote in meinem Leben und sollte mich auch dieses Mal nicht enttäuschen. Ich könnte ein ganzes Buch schreiben über die Situationen, aus denen ich mich schon herausgelächelt habe – oder hinein, je nachdem - aber das wäre eine ganz andere Geschichte.

AM FLUGHAFEN

Flugticket ohne Rückflug gebucht. Sowas hatte ich noch nie gemacht. Mit meinem schwarzen Eastpak-Rucksack auf dem Rücken und meinem kleinen, schwarzen Rollkoffer in der Hand stand ich ganz vorne in der check-in Schlange am Dortmunder Flughafen und betete, dass das Flugpersonal mich trotz der sieben Kilogramm Übergepäck einfach durchwinken würde. Bis auf ein paar britische Soldaten mit camouflage-farbigen, riesigen Rucksäcken auf dem Rücken, erschien mir in der Warteschlange niemand so auszusehen, als plane er in Großbritannien zu bleiben. Mein Bauch kribbelte vor Vorfreude. Bald war es soweit. London sollte meine neue Heimat werden.

Meiner Mutter hatte ich versprochen an Weihnachten nach Hause zu kommen. Bis dahin waren es aber noch einige Monate. Der Sommer hatte gerade erst begonnen und die Tage wurden immer heißer. Ich band mir meine langen, braunen Haare zusammen und winkte meinem Vater zu. Der hatte sich ins Flughafencafé gesetzt und beobachtete mich und meine Mutter von dort aus. Genau genommen starrte er uns skeptisch an. Meine Idee, nach London zu ziehen, fand er gar nicht so toll. Die Stadt war ihm zu groß, zu wild, zu britisch. Und dann seine Ronja unter all den fremden Menschen – der Gedanke stimmte ihn seit Tagen mürrisch. Mädels über zwanzig wissen ja wie das mit Vätern so ist: Man wird nicht älter für sie. Für Papa bleibt man immer das kleine Mädchen.

Mein Vater hatte seine ganz eigene Art, mir zu zeigen, dass er meine Idee für verrückt hielt: Zuerst sprach er eine ganze Woche gar nicht mit mir. Dann brach er seinen selbst auferlegten Kommunikations-Streik und setzte hinter jeden seiner Sätze ein „diese Briten…“ – und schüttelte dann energisch den Kopf, so, als wüsste er Düsteres über die Menschen auf der Insel. Urlaub machen war für ihn überall okay, aber wegziehen oder sogar auswandern hielt er für übertrieben. Ich glaube, dass es nicht einmal an Großbritannien lag. Sein Unmut über mein Ausziehen hätte sich vermutlich gegen jede Nation gerichtet. Ob nun diese Italiener oder diese Amerikaner – Papa fand das mit Ausland plus Tochter plus 23 Jahre plus alleine … einfach nicht so toll.

Dabei fand ich London immer recht un-britisch. London ist alles, aber sicher keine typisch britische Stadt. So wie Berlin mit seinen ganzen Kiezen und den vielen zugezogenen Menschen nicht repräsentativ-deutsch ist…, wenn es so etwas wie repräsentativ-deutsch überhaupt gibt. Wer Großbritannien erleben möchte, muss mal durch die Highlands wandern, nach York, Cardiff und Liverpool reisen, in Pubs in Cornwall Bier trinken und mit Einheimischen quatschen oder ein paar Wochen mit dem Rucksack durch Yorkshire trampen. Nicht nach London. London hat eine ganz eigene Kultur, die mit der Britischen nur an wenigen Stellen Überschneidungen hat. Letzten Endes war es aber so, dass Papa dachte, Ronja zieht zu den Briten und ich dachte, ich ziehe in die Welt.

Ich winkte ihm aus der Warteschlange zu und zwinkerte einmal, um ihn aufzuheitern, aber sein mürrischer Blick wollte einfach nicht aus seinem Gesicht verschwinden. Die große Dame im orangefarbenen Hosenanzug drehte meinen Koffer um und lächelte mich an. Dann druckte sie die Kennung für mein Gepäck aus, klebte den Aufkleber an den Kofferhenkel und sagte dann „Eine gute Reise wünsch‘ ich Ihnen“, während sie mir mein Flugticket reichte. Mein Vater war mittlerweile zu uns getrottet und stand nun neben meiner Mutter. Zu dritt liefen wir also zur Gepäckkontrolle. Meine Mutter warf mir einen aufheiternden Blick zu – sie war der Erlebnisjunkie in der Familie und konnte verstehen, warum ich mich entschieden hatte, meinem Leben durch den Umzug in ein anderes Land neuen Esprit zu verleihen. Ich liebte mein altes Leben, wollte aber unbedingt etwas Neues ausprobieren. Mein Studium in Deutschland langweilte mich und außer meiner Familie, gab es nicht wirklich etwas oder jemanden, der mich in Deutschland gehalten hätte.

An der Sicherheitskontrolle angekommen, drückte mich mein Vater feste und als ich ihn ansah, huschte ihm ein Lächeln über sein Gesicht. Ich wusste, dass er sich schnell an die neue Situation gewöhnen würde. Meine Mutter strahlte mich mit ihrem runden Gesicht an und fasste meine Hand. „Du wirst das alles super meistern, Ronja, das weiß ich!

Von der Gepäckkontrolle aus winkte ich beiden noch ein letztes Mal zu, bevor ich gespannt den langen Gang zur Passkontrolle hinunter lief in Richtung neues Leben in London.

LONDON – FINALLY!

Nach etwas mehr als einer Stunde Flug, die durch die Zeitverschiebung quasi wieder ausradiert wurde, landeten wir in der knapp 50 km von London entfernten englischen Stadt Luton. Von dort aus ging es für mich im Zug weiter bis zur St Pancras Station. Dort angekommen stand ich erst einmal einige Minuten in der großen Bahnhofshalle rum und malte mir aus, wie ich an einem der kommenden Tage bereits in einer kleinen Wohnung in London sitzen würde. Einer Wohnung, die ich mein Eigen nennen durfte und aus der heraus ich jeden Tag aufs Neue London erkunden gehen konnte. So zumindest der Plan.

In der Vorhalle der riesigen Bahnhofhalle stand ein Klavier, dass von allen Reisenden genutzt werden durfte. Der Klang der Töne hallte durch die Luft und vermischte sich dort mit dem Rumoren der Züge, (die in die Halle hinein oder heraus fuhren) und dem Stimmengewirr der Menschen, die hektisch versuchten, die Halle zu durchqueren. Um das Klavier standen so viele Menschen, dass ich zunächst nicht erkennen konnte, wer gerade spielte. Ich stellte mich daher auf die Zehenspitzen und erblickte (über die Köpfe der Zuschauer hinweg) ein Mädchen, so klein, dass sie mit ihren Füßen noch nicht an die Klavierpedale kam. Sie trug ein kurzes, altrosa Kleidchen, dessen Saum mit weißer Spitze bestickt war und kleine weiße Lederschuhe. Man hatte ihr einen Pottschnitt verpasst – ganz im Prinz Eisenherz Style. Die Kleine hatte pechschwarze Haare, die ordentlich gekämmt waren, schaute streng auf die Tasten vor sich und spielte, als habe sie ihr Leben lang nie etwas anderes getan.

Ich stellte meinen Rucksack zwischen meinen Beinen ab und genoss es, einen Moment in der Menschenmasse unterzugehen. Dann schaute ich das kleine Mädchen wieder an. Vielleicht durchlebten wir in diesem Moment recht ähnliche Emotionen – sie und ich: Die Kleine wollte allen beweisen, dass sie Klavier spielen kann wie ein Erwachsener. Und ich wollte allen beweisen, dass ich es schaffen würde, alleine durch mein Leben zu kommen. In einer fremden Stadt. In einem fremden Land.

Ihre Mutter trat neben sie, strich ihr durchs Haar und schaute etwas verlegen die anderen Wartenden an. Dann fragte sie die Kleine, ob sie nicht mal jemandem anderen das Klavier überlassen wolle. Aber das kleine Mädchen ließ sich nicht beirren, ignorierte die eigene Mutter und spielte weiter. Genau, dachte ich, nicht ablenken lassen. Dann packte ich meine Sachen zusammen und verschwand in der riesigen Menschenmenge, die sich auf die U-Bahnschächte zubewegte.

NEUES LAND – NEUE RONJA?

Auf der Zugfahrt nach London hatte ich versucht die Stadtteile Londons auswendig zu lernen und meine Geldscheine zerknüllt, damit sie nicht mehr so automatenneu aussahen. Die Sonne knallte durch das Glasdach des Bahnhofes direkt in mein Gesicht. Vor mir bahnten sich so viele Menschen den Weg durch die Bahnhofshalle, dass ich zwischendurch stehen bleiben musste. Dann stand ich ein paar Minuten mit den wartenden Nutzern des Eurostars in der großen Bahnhofshalle und versuchte zu realisieren, dass ich nach Wochen des Planens endlich dort angekommen war, wo ich die nächsten Monate meines Lebens verbringen sollte. Hätte man mir damals gesagt, dass es ein halbes Jahrzehnt werden würde, hätte ich das ganz sicher nicht geglaubt.

Am Underground-Schalter, der sich im hinteren Teil der St Pancras Station befand und einen direkten Zugang zu den U-Bahn-Schächten bot, kaufte ich mein erstes Monatsticket. Das Englischsprechen fiel mir schwer und ich legte mir die Sätze im Kopf immer zuerst zurecht, bevor ich sie aussprach. Ich wurde diktiert von der Angst, am Ende der Schlange anzukommen und nicht genau zu wissen, welche englischen Wörter ich nun aneinander-reihen musste, um dem Mann hinter der Glasscheibe mitteilen zu können, was ich von ihm wollte. An Selbstbewusstsein fehlte es mir nicht, was das Sprechen mit fremden Personen betraf, aber mein Ego verbot es mir, Dinge unnötig falsch zu sagen.

MEIN ERSTER TAG IN LONDON

Mein Herz schlug bis zum Anschlag, wann immer ich einen meiner mental bereits vorgebauten, englischen Sätze in die Richtung meines Gegenübers entsenden musste: Ich hatte Angst, sofort als nicht-Britin enttarnt zu werden und mich dann der Frage stellen zu müssen, warum ich nicht in Deutschland, sondern in Großbritannien war. (Eigentlich verrückt. Heute frage ich mich, ob es Ausländern in Deutschland vielleicht manchmal ähnlich geht.) Natürlich hatte ich mir für die Situation, sollte diese Frage mal aufkommen, ein nettes Argument zurechtgelegt: Ich war in Großbritannien, weil ich in London verliebt war. Das zollte von Respekt und Zuneigung, die zwar potenziell vergänglich war, aber als Anwesenheitsgrund herhalten konnte. Schließlich kann sich niemand so recht aussuchen wen oder was man liebt. So absurd es mir heute erscheint - damals hat das kein Mensch in Frage gestellt. Im Gegenteil. Die Aussage stieß gerade bei den patriotischen Engländern auf viel Zuneigung und Gefallen: Ich wurde in den Arm genommen und man lächelte mich nett an – ich durfte bleiben.

Mit meinem Bahnticket in der Hand nahm ich die U-Bahn Richtung Kensington in den Westen meiner Lieblingsstadt. Ich konnte nicht anders, als in jedem Bahnreisenden einen potenziellen neuen Freund zu sehen. Lauter Menschen, die vielleicht neue Bekanntschaften werden konnten. Mein Optimismus war grenzenlos. „Wie man in den Wald hinein ruft…“, hätte meine Mutter gesagt und diese Einstellung sollte mich auch in den folgenden Jahren in London nur selten enttäuschen. Auch wenn es aus heutiger Sicht tausend Indizien dafür gibt, dass ich einer der naivsten Menschen war, die jemals Londoner Luft riechen durften, damals kam es mir eigentlich nur zugute. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich nur halb so viele positive Dinge in Großbritannien erlebt hätte, wäre ich damals mit einer anderen Einstellung nach London gezogen. Meine Naivität war meine Achillesferse und zeitgleich mein Sprungbein ins Glück.

WOHNUNGSSUCHE

Mein Plan sah es vor, eine Wohnung irgendwo in Kensington, Notting Hill oder Bayswater zu finden. Nicht gerade die günstigsten Anlaufziele in London, – das wusste ich wohl – dafür aber ein paar der Schönsten und die einzigen Bezirke in London, die ich damals einigermaßen kannte. Seit dem Frühjahr desselben Jahres hatte ich einen Platz an einer Londoner Universität in der Tasche. Zur Vollendung meines London-Traumes fehlten mir daher nur noch eine eigene Wohnung und neue Freunde.

Die einzigen drei Personen, die ich damals auf der Insel kannte, waren mein Exfreund (von dem ich nicht einmal mehr eine Adresse hatte,) und ein englisches Pärchen, (bei denen ich einmal Urlaub gemacht hatte als Teenager) die 250 Meilen von London entfernt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Richmond in Yorkshire lebten. Trotzdem gab es keine einzige Minute in London, in der ich mich jemals einsam gefühlt habe. Im Gegenteil. Niemanden zu kennen, eröffnete mir die Möglichkeit, mich neu zu erfinden. Nicht, dass ich das dann getan hätte. Ich blieb irgendwie Ronja. Bodenständig und offenherzig, wie schon mit sieben Jahren. Die Spielwiesen wechselten sich nur ständig.

Mit sieben Jahren interessierten mich Pferde und Mandalas. Mit zwölf Abenteuerromane und Basteln. Mit siebzehn Jungs und Hardrock. Mit zwanzig mein Studium und die Natur des Menschen. Und mit dreiundzwanzig, als ich in London ankam, interessierte ich mich auf eine magische Art und Weise für ALLES. Das Leben fremder Menschen. Die Städte um London herum. Vorträge in Fachgebieten, die ich nicht verstand (beispielsweise Physik und Astronomie). Besuche von Konzerten, in der Oper oder bei politischen Abendveranstaltungen. Ich konnte mich einfach für alles begeistern, von dem ich umgeben war. Mein Gehirn entwickelte sich zu einem London-Schwamm, der einfach alles in sich aufsog, was er so finden konnte. Ich musste mich demnach nicht neu erfinden. Ich war innerlich immer noch die siebenjährige Ronja, die einfach nur jedes Jahr ihre Interessen erweitert hatte.

Es gab keine Menschen, die ich mochte, und Menschen, die ich nicht mochte, als ich nach England zog. Es gab ausschließlich Menschen, die mich interessierten. Deswegen kann ich mich auch an kein einziges Date in meinem Leben erinnern, das ich als unerträglich empfunden hätte. Ich konnte mir alles und jeden als Teil meines Lebensexperiments verkaufen – und wenn jemand panne war, wollte ich nicht weglaufen, sondern versuchen herauszufinden, warum derjenige so geworden war – also panne haha. Natürlich bin ich auch in Großbritannien genügend unzugänglichen, nervigen oder übermäßig anstrengenden Menschen begegnet, jedoch hat meine Einstellung, ihnen gegenüber aufgeschlossen zu sein, zunächst immer dazu beigetragen, mein Abenteuer in London um einiges einfacher zu machen. Aber auch das ist eine ganz andere Geschichte. Also: Zurück zur Wohnungssuche.

Wohnungen aus der Ferne zu mieten schien schier unmöglich zu sein, daher hatte ich mich entschieden, sechs Wochen vor Studienbeginn nach London zu reisen, um aus einer kleinen Jugendherberge heraus die Jagd nach einer Wohnung im Westen Londons aufzunehmen. Damals sträubte ich mich dagegen, eines der Zimmer, die die Uni anbot, zu mieten. Dafür, dass man sich das Bad mit dem gesamten Flur teilen musste und im Prinzip nur ein Zimmerchen mit einem Einzelbett für sich selbst zur Verfügung hatte, waren die Uni-Zimmer abartig teuer. Zum anderen wollte ich einfach nicht mit anderen Studenten zusammenleben. Ich wollte so richtig in London leben und mein eigenes Leben führen. Nicht ständig mit Leuten abhängen, die aus aller Herren Länder zugereist waren. Darüber hinaus wollte ich nicht den ganzen Tag von Akademikern umgeben sein, sondern von Menschen, die einem echten Leben nachgingen – so nannte ich das damals. Ich liebte meine Uni Homies, aber in der Freizeit verbrachte ich meine Zeit lieber mit Menschen, die nicht fachsimpelten, gerne Bier tranken und offen dafür waren, Verrücktes erleben zu wollen.

Die Jahre zuvor war ich jeden Sommer nach London gereist und hatte irgendwann die kleine, süße Jugendherberge im Holland Park in Kensington für mich entdeckt. Von da an kehrte ich (wie ein Pilger) jedes Jahr in meinen Lieblingsstadtteil nach London zurück.

DIE JUGENDHERBERGE IN KENSINGTON

Die Jugendherberge mit den hohen Decken und zwölf-Personen-Zimmern liegt direkt neben einer wunderschönen Parkanlage. Ein wenig versteckt hinter einem kleinen blumenüberwachsenen Steintor und einem Café, (in dem sich die Einheimischen nachmittags treffen, um draußen bei einer Tasse Tee Schach zu spielen,) befindet sich der Holland Park. Sowohl die Jugendherberge, als auch der Holland Park, liegen auf einem kleinen Hügel und werden nur von einer Freilichtbühne getrennt, auf der an warmen Sommernächten Operetten den Klang der Luft verzieren. Mit offenen Fenstern in der Herberge war es, als hätte man einen Platz in der ersten Reihe.

Trotz der überbelegten Zimmer und den ständig wechselnden Zimmerbewohnern, war die Jugendherberge ein kleiner Ort der Zuflucht in der großen unbekannten Stadt mit all den fremden Menschen. Im Foyer der Herberge saßen immer mindestens zwei Weltenbummler, die spannende Abenteuergeschichten erzählen konnten. Außerdem war es leicht, neue Bekanntschaften zu schließen - wenn man nicht auf den Mund gefallen war und einigermaßen Englisch sprechen konnte.

Meine Mutter erzählt gerne, dass ich schon als kleines Mädchen immer alle um mich herum angesprochen habe. Im Supermarkt. Im Zug. Auf dem Spielplatz. Überall. Auch die grimmig dreinschauenden Menschen. Einfach jeden. Obwohl ich es an anderen Mädchen immer ganz süß fand - schüchtern war ich noch nie. Nörgelige Menschen haben meine kommunikative Offenheit in meinem späteren Leben auch gerne mal als Respektlosigkeit abgetan, obwohl ich glaube, dass man mir da unrecht tut. Gradlinig und kommunikativ zu sein, bedeutet nicht, respektlos zu sein.

Ich mache mir nichts aus Hierarchien, Titeln oder Popularität. Alle Menschen sind für mich zunächst einmal nur Mensch: Menschen mit Geschichten und Menschen ohne Geschichten. Und die meisten haben eine. In der Jugendherberge war ich umgeben von Menschen mit abenteuerlichen Lebensgeschichten, die sie bereit waren mit mir zu teilen. Und ich sog die Geschichten auf, wie ein kleiner Schwamm. Die vom schottischen Mann am Tresen. Der spanischen Putzfrau. Dem walisischen Küchenchef (der das beste Rührei machte, dass ich jemals gegessen habe) und den zahlreichen Besuchern im Aufenthaltsraum, im kleinen Park zwischen den zwei Hauptgebäuden oder den Frauen und Mädels, die mit mir das Zimmer teilten.

Und ich lernte dazu. Warum es Menschen in Costa Rica gibt, die Spanier nicht mögen. Warum Cantuccini nicht mit Haselnüssen gemacht werden. Wer das cheese sandwhich erfunden hat (angeblich waren es die Waliser). Warum es in manchen italienischen Dörfern Feiertage gibt, die es offiziell gar nicht gibt. Welche Modemarke in Australien am meisten Umsatz macht. Wer die Ölindustrie in Nigeria inoffiziell leitet. Warum der Wiener und der Kärntener zwei grundverschiedene Menschentypen sind. Und und und. Ich wurde ein Informationensammler. Ich fühlte mich wie der Junge aus Slumdog Millionaire: Irgendwann stellt mir vielleicht irgendwer eine völlig absurde Frage in einer völlig absurden Situation und ich weiß dann die Antwort. Warum? Na, weil ich Dinge weiß, von denen man sich nichts kaufen kann. Dieses Wissen hilft einem zwar nicht einen Job zu finden – aber es rundet mich charakterlich ab. Ich lernte quasi nichts und doch alles. Wie in der Kneipe, in der ich als Teenager und zu Abizeiten gearbeitet hatte und mir Abend für Abend die Sorgen von Menschen angehört hatte, die dutzende Jahre älter waren als ich selbst. Wenn man genau zuhört – lernt man so viele Dinge. Eben: Vom Leben selbst,- aus erster Hand. Die Tage in der Jugendherberge waren wunderbar.

Läuft man den Berg, auf dem die Jugendherberge liegt, über einen schmalen Asphaltweg herunter, gelangt man in einen kleinen Park, der von Schulklassen als Trainingsfläche für Fußball- und Rugbyspiele genutzt wird. Unterhalb dieses Parks liegt die Kensington High Street, die die üblichen Lebensmittelläden wie Tesco, Sainsbury‘s und Charity Shops beherbergt. (Was Charity Shops sind, erkläre ich im nächsten Kapitel.) In den vorhergegangenen Jahren hatte ich mir meine Freizeit in London sorgfältig aufgeteilt zwischen dem Bummeln gehen in Geschäften wie T.K.Maxx und Primark, die es damals in Deutschland noch nicht gab, den langen Spaziergängen durch neu entdeckte Viertel Londons, (um schöne Fotos schießen zu können,) und dem Ausgehen mit neuen Bekanntschaften aus der Jugendherberge.

Es fiel mir leicht, auf andere Menschen zuzugehen und immer für ein neues Abenteuer offen zu sein. Der Schlüssel zum Glück war ein einfaches Lächeln. Ich hatte mir das mal aus einem Film abgeguckt. Überhaupt stammt mehr als die Hälfte meiner Lebensweisheiten aus Filmen. In diesem wollte ein Junge was – ich erinnere mich nicht mehr genau daran was – ist auch egal – wichtig war, dass ein alter Mann ihm zeigte, wie er die Reaktion seiner Mitmenschen durch seine Körpersprache beeinflussen kann. So eben auch durch ein simples Lächeln. Prinzipiell war es recht einfach, mit unbekannten Menschen in Kontakt zu kommen: Man musste nur Augenkontakt mit jemanden aufnehmen und lächeln. Mehr braucht es nicht, um in der Jugendherberge jeden Tag mindestens zehn neue Menschen kennen zu lernen – so man das denn wollte. Das mit dem Lächeln funktioniert übrigens auch 1 zu 1 mit Männern. Aber auch das wäre eine ganz andere Geschichte…

SICH TRÄUME ERFÜLLEN

London erschien mir wie das Paradies auf Erden: Weltenbummler, Philosophen, Abenteurer. Ich war ein glücklicher Mensch, als ich mich entschied mein altes Leben in Deutschland zu verlassen, aber ich war noch viel glücklicher, als ich endlich in London war. Noch heute hängt das kleine I’m leaving paradiese for happiness Schildchen vom Tag meiner Abreise nach London im Haus meiner Eltern an der Wand. Mit meinem Umzug nach London erfüllte ich mir meinen eigenen Traum.

In völliger Naivität hatte ich angenommen, dass es einfach werden würde eine kleine, schöne Wohnung in London zu finden. Ich wusste, dass die meisten Wohnungen zu Wochenpreisen vermietet wurden und es nur sehr selten so lange Kündigungsfristen gab wie in Deutschland. Jemand entschied sich umzuziehen, inserierte die Wohnung online und war maximal zwei Wochen später ausgezogen. Das akribisch deutsche Planen passte also so gar nicht in die britische Hauptstadt. Ich versuchte mich demnach anzupassen. Reagierte schnell auf Wohnungsanzeigen und versuchte noch am selben Tag einen Besichtigungstermin zu ergattern.

Der Alptraum holte mich relativ schnell ein. Bereits nach meiner ersten Woche auf Wohnungssuche in London hatte ich das Gefühl, alles gesehen zu haben, was der Londoner Wohnungsmarkt an Abartigkeiten hergeben konnte.

BUNTER SCHIMMEL

Es schien eine ungeschriebene Regel zu sein, dass Badezimmer in Londoner Wohnungen grundsätzlich verschimmelt sind. Grauer Schimmel (den ich ja kannte) war Luxus, da die meisten Badezimmer von dunkelgrünen, roten oder tiefschwarzen Schimmelsorten befallen waren. Die öffentlichen Toiletten in Deutschland erschienen mir auf einmal wonniger als die Badezimmer, die ich, so ich denn wollte, für umgerechnet fast 1000 Euro im Monat zur Verfügung gestellt bekommen würde.

In der ersten Wohnung, die ich zu sehen bekam, fehlte der Toilettenaufsatz und alles was hätte verrosten können, war auch verrostet. Unter dem Fenstervorhang im Wohnzimmer, das gleichzeitig auch das Schlafzimmer war, wie in den meisten so genannten Studio Flats, lagen kleine Kakerlaken, tot - die kleinen Beinchen zum Himmel gestreckt. Dabei hatte die Wohnung auf den Bildern im Online-Inserat ganz nett ausgesehen. Der Besitzer wollte auch 'nur' 750 anstatt 800 Pfund Miete. Das waren damals trotzdem knapp 1000 Euro. Im Monat. Kalt, wohlbemerkt.

STUDIO FLATS

Als Studio Flats bezeichnet man in London Einzimmerwohnungen, die man in Deutschland häufig in Studentenwohnheimen vorfindet. Der Vorteil eines Studio Flats ist, dass man ein eigenes Badezimmer hat. Die meisten Menschen in London konnten sich schon zu der Zeit als ich in London lebte kein eigenes Studio flat leisten, da diese, meist nicht mehr als 30m² großen Wohnungen, schon damals ein halbes Vermögen kosteten ̶ je nachdem in welchem Stadtteil man leben wollte. Von daher stellt es bis heute keine große Ausnahme dar, dass auch die Ü40-Generation in London in WGs oder in Studio Flats lebt. Diese sind meist so klein, dass das Bett tagsüber in einer Wand verschwinden muss, damit man sich in dem Raum, - in dem man lebt, - überhaupt einigermaßen bewegen kann.

Manche Wohnung die mir die Makler zeigten, hatten gar keine Badezimmer. Die Toilette war eine Etage höher in den Flur integriert und wurde mit zwei weiteren Wohnungen geteilt. Ein pakistanischer Immobilienmakler erklärte mir, dass ich Duschgel, Handtuch und Toilettenpapier jedes Mal mitnehmen müsse, da diese sonst geklaut werden würden - da theoretisch jeder, der einen Schlüssel von der zentralen Eingangstür des Hauses hatte, auch die Toilette hätte nutzten können. Nach weiteren vier Tagen Wohnungssuche fühlte ich mich, als sei ich im falschen Film gelandet: Das war nicht London - das war die dreckige Variante von Gotham City in der kein Batman mehr lebte. Ich kam mir vor, als sei ich in einem Entwicklungsland gestrandet, in dem das mit der Wasserversorgung und Elektrizität in den nächsten Jahren erst noch organisiert werden musste. Es war schmutzig: Londons Innenleben war abartig dreckig und die Auswahl der Wohnungen, die noch einigermaßen finanzierbar erschienen, war miserabel.

Zum ersten Mal fühlte ich mich Deutsch. Zum ersten Mal wollte ich Fotos machen und sie allesamt mit dem Untertitel krass, oder? an meine Freunde nach Deutschland schicken. Das würde mir doch keiner glauben. Das schöne London, diese trendige Stadt. Ich konnte nicht fassen, wie heruntergekommen es hinter so vielen schönen Fassaden aussah. Meistens stank es in den Hausfluren schon so sehr, dass ich die Wohnung gar nicht mehr sehen wollte. Trotzdem traute ich mich nur selten, den engagierten, freundlichen Immobilienmaklern direkt vor den Kopf zu stoßen und ließ mir so trotzdem noch jedes Detail der Wohnungen erklären.

„Nach zehn Uhr gibt’s kein warmes Wasser mehr,“ erklärte mir ein großer, schwarzhaariger Immobilienmakler im maßgeschneiderten Anzug.

„Und was ist, wenn ich dann noch duschen möchte?“

„Das geht dann nicht. Machste dann halt morgens. Dann geht’s ja wieder. Müll schmeißte einfach in einer kleinen Tüte aus dem Fenster - die Müllabfuhr holt den dort jeden Morgen ab. An der Bordsteinkante.“

„Ja, so riecht das hier auch…“ sagte ich leise und mehr zu mir selbst, als zu ihm.

„Wie bitte?“

„Ähm, gibt es da keine andere Lösung?“ Er schien meine Frage ziemlich dämlich zu finden und strafte mich mit einem Augenrollen. Dann antwortete er beiläufig: „Nein. Das machen hier alle so.“

„Kommen da keine Tiere nachts und reißen die Säcke auf?“

„Ja, manchmal. Aber das ist nicht dein Problem. Die Straßenreinigung macht das weg.“

„Wo ist denn die Küchenzeile in dieser Wohnung?“ fragte ich und schaute mich um, als hätte ich den Durchgang zu einem versteckten Bereich der Wohnung noch nicht entdeckt.

„Diese hat keine.“

„Und wo kann man dann hier kochen? Ich dachte, das wäre ein Studio Flat?“

„Ist es ja auch. Aber die Küchenzeile haben sie hier vergessen einzubauen. Ich kann mal nachfragen, vielleicht hat der Vermieter noch eine Küchenzeile in einer anderen Wohnung, die er dann hier einbauen lassen kann. Ist aber auch nicht so schlimm, direkt gegenüber ist ein Chicken Cottage.“

„Ein was?“

„Ein Chicken Cottage. Da bekommst du günstig was zu essen.“

Eigentlich hatte ich schon kein Interesse mehr an der Wohnung, also entschied ich mich, das Gespräch zumindest nicht durch weitere Fragen anzuheizen. Er setze seine Führung aber einfach weiter fort und zeigte auf die Haustür: „Ach so, der Vormieter hat seinen Schlüssel nie zurückgegeben, aber du musst keine Angst haben: Der Hausflur dieses Hauses ist kameraüberwacht.“

„Falls der mal kommt…“

„Ja, genau. Es gibt auch einen Hausmeister.“

„Hier im Haus…“

„Nein, der wohnt außerhalb von London, der kommt aber vorbei, wenn man ihn anruft.“

„Zum Beispiel, weil das heiße Wasser nach 10 Uhr nicht mehr funktioniert…“

„Nein, das kann der auch nicht ändern. Der kommt, wenn eingebrochen worden ist.“

„Oh, sehr beruhigend.“

TEUER – TEURER - LONDON

Aus manchen Duschen kam nur glühend heißes Wasser, in anderen wurde es erst gar nicht warm. Eine Wohnung in den Porchester Gardens in Bayswater hatte sogar eine Badewanne aus deren Duschhahn bräunlich-schwarzes Wasser schoss. Wie in dem Haus, in dem Tyler Durden in Fight Club lebte, nur dass mein Leben kein Film war und der Immobilen-Makler, als er das Wasser sah, nur lachte und dann sagte: „Keine Angst, das ist nur die ersten Minuten so, dann wird’s normal.“ Oh-ha.

Nach einer Woche rief ich meine Mutter an, die zu Hause auf eine Adresse wartete, um mir meine in Kartons verpackten Sachen nach London zu schicken. Aber der Umzug musste noch warten. Ich wurde von Tag zu Tag desillusionierter und vor allem müder, da immer mindestens drei Frauen in unserem Zimmer in der Jugendherberge nachts am Schnarchen waren und viele erst mitten in der Nacht wiederkamen, um sich dann lautstark mit ihren Familienmitgliedern (am anderen Ende der Welt) am Telefon zu unterhalten.

In der Jugendherberge gab es nur zwei Computer mit Internetanschluss im Eingangsbereich, die stark umkämpft waren, da ich nicht die einzige Wohnungssuchende war. Man musste also immer einiges an Wartezeit einplanen, um einen der Computer zu ergattern und dann neue Wohnungsanzeigen raussuchen zu können. Mit einem der heutigen Smartphones mit Internetverbindung wäre meine Suche damals doch um einiges leichter gewesen. Über die Computer in der Jugendherberge das Internet nutzen zu können, kostete eine Menge Geld und wenn die bezahlten Minuten verstrichen waren, ging der PC einfach aus, auch wenn man die Telefonnummer des Maklers erst zur Hälfte abgeschrieben hatte.

Die Abende in der Jugendherberge verbrachte ich meist im Vorraum des Frühstückraumes, der an eine kleine Küche grenzte, die von allen Bewohnern der Jugendherberge benutzt werden durfte - und so aussah, als würden auch alle von diesem Angebot Gebrauch machen. Hygienische Verhältnisse waren völlige Fehlanzeige: Der überwiegende Teil des Bestecks wies Spuren von mindestens zwei Malzeiten auf, für die es mal genutzt worden war. Ich versuchte mich also mit Sprüchen wie „Dreck reinigt den Magen“ oder „du bist jung, dein Körper ist fit und du hast gute Abwehrkräfte“ zu beruhigen. Mein Körper sollte mich nicht enttäuschen.

Ich lernte Pablo kennen, ein Italiener, der obwohl er genauso wie ich erst 23 war, mindestens zehn Jahre älter aussah und permanent über Sex redete. Aus seinem Mund kam kein Satz ohne die Anspielung auf den kleinen Freund in seiner Hose, - den ich zu seinem Bedauern nicht persönlich kennen lernen wollte. Das erledigte dann eine Australierin, die genau im Gegenteil zu Pablo zehn Jahre jünger aussah, als sie es war. Vor der Eheschließung mit ihrem Freund in Australien ließ sie in London nichts anbrennen. Sie war Designerin für Game Convention Kostüme oder so. Auf jedem Fall schneiderte sie so eine Art zerfetzte Bikinis für Männer und Frauen die an Elfen und Feen glauben (ich bitte um Verzeihung, sollte dies ein und dasselbe sein).

DIE ERSTEN ABENDE IN LONDON

Die meisten Abende verbrachte ich mit einem alten Engländer, einem Franzosen, der Schauspieler werden wollte und einem Waliser, der von der Erstellung von Comiczeichnungen für die Filmindustrie lebte. Der Engländer erzählte uns von seinen Abenteuern in allen Herrenländern. Er stammte aus einem Arbeiterviertel in der Nähe von Brighton, hatte früh die Schule geschmissen und war zusammen mit seiner Mutter zu deren Eltern gezogen. Weg von seinem alkoholkranken Vater, der sich manchmal nicht einmal an den Namen seines eigenen Sohnes erinnern konnte. Mit sechzehn ist er zur Armee und hat sich direkt freiwillig für einen Auslandseinsatz gemeldet. Als er zwanzig wurde, starb seine Mutter an einer Überdosis und es gab keinen Grund mehr für ihn, nach England zurückzukehren. Also blieb er in der Armee und ließ sich in den damaligen Enklaven des Britischen Imperiums einsetzen. Die Armee wurde zu seiner Familie. Man bekam das Gefühl, als gäbe es kein Land, das er noch nicht gesehen und keine Erfahrung, die er noch nicht gemacht hatte. Wenn er erzählte, saßen alle da und lauschten ihm andächtig. Bis auf Pablo. Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl rum, schob sich matschige Sandwich in den Mund und schien nicht zu verstehen, warum alle so gebannt dem alten Mann zuhörten.

Ich hoffe, dass ich von den Abenteuern in meinem Leben irgendwann mal ebenso unterhaltsam berichten werde, wie er. No regrets. Jeder merkte, dass er im Reinen mit sich und seiner Vergangenheit war. Rückschläge im Leben hatten ihn nicht verbittert gemacht. Im Gegenteil. Sie hatten ihm eine bemerkenswerte Herzlichkeit geschenkt, die uns jungen Reisenden wie Weisheit vorkam. Wir alle lauschten ihm gerne stundenlang, während wir aßen oder ein Pint Bier tranken.

Wie es der Zufall so wollte, fand ich abends auch immer jemanden, der so viel gekocht hatte, dass etwas für mich übrig war. Das ersparte mir tagsüber wertvolle Zeit: So musste ich zwischen den Wohnungsbesichtigen nicht noch einkaufen gehen. Aus Essen machte ich mir ohnehin nicht besonders viel. Wenn ich ein kleiner Gourmet gewesen wäre, wäre ich vielleicht auch nicht nach England gezogen. Aber Essen war mir völlig egal.

Eine Woche lang lebten in der Jugendherberge italienische Konditoren, die tagsüber versuchten Kostproben ihrer Arbeit bei potenziellen Arbeitgebern an den Mann zu bringen. Abends verteilten sie das, was übrig geblieben war an uns ausgelaugte Wohnungssuchende. Nichtsdestotrotz gab es ganze Tage, an denen sich meine Nahrung auf Kaffee, triple chocolate cookies vom Sainsbury’s und Zigaretten beschränkte. Obwohl ich umgeben war von herzlichen und spannenden Charakteren, wurde mein Körper daher zunehmend müder und meine Motivation in London sein zu wollen, schwand mit jeder schimmelbefallenden Wohnung.

VERZWEIFLUNG. PLANÄNDERUNG: WG

Am zwölften Tag meiner Suche, konnte ich die Panik in zwei Tagen auf der Straße zu stehen oder ein teures Hotel bezahlen zu müssen kaum noch unterdrücken: Die Bestimmung der britischen Jugendherbergen sah es damals vor, dass eine Jugendherberge nach zwei Wochen gewechselt werden musste und da es Hauptsaison war, waren die Jugendherbergen in der Umgebung alle ausgebucht. Ich gab die Hoffnung, eine eigene Wohnung in London zu finden daher auf und begann nach Wohngemeinschaften zu suchen.

Bei der WG-Suche kam im Gegensatz zur Wohnungssuche noch hinzu, dass die Wohnungen nicht nur dreckig waren, sondern den Zimmersuchenden auch noch vor die Hürde eines Vorstellungsgesprächs stellten: Schließlich wollten die schon vorhandenen Mitbewohner in ihrer Wohnung nicht mit jemanden leben, der nicht zu ihnen passte. Daher waren die WG-Besichtigungen auch meist erst abends möglich, da dann alle Mitbewohner zuhause waren. Eigentlich kein Problem, da ich gerne mit Menschen sprach und im Großen und Ganzen mit jedem klar kam. Eigentlich. Allerdings war ich nach weiteren zwei Tagen auf Wohnungssuche so ausgelaugt, dass ich kaum noch aktiv agieren konnte und nur noch auf meine Umwelt reagierte. Wurde ich etwas gefragt, nickte ich nur oder schüttelte den Kopf. Alles nach dem Motto: Minimaler Energieverbrach – denn ich hatte keine Energie mehr. Mein Akku war leer.

Meine Gedanken schweiften schnell ab. Ich war unkonzentriert und unaufmerksam. Eigentlich kam ich mir vor, wie ein Bittsteller, ohne die Chance auf Erfolg. Ich war erschöpft und so müde, dass ich im Stehen hätte einschlafen können. Zweimal verpasste ich meine Haltstelle, weil ich eingedöst war. Und ich musste mich tagsüber tatsächlich darauf konzentrieren, mich nicht von Autos, die für mich von der falschen Straßenseite angefahren kamen, umbringen zu lassen. Die Hälfte meines Energiehaushalts ging mittlerweile dafür drauf, überhaupt von morgens bis abends Englisch zu sprechen. Wäre ich eine Glühbirne gewesen, ich hätte den Raum nicht mehr hell erleuchten können – der Glühdraht wurde von Stunde zu Stunde dunkler.

Die WG-Zimmer waren im Durchschnitt kleiner als das Abstellzimmerchen, das meine Mutter daheim zum Bügeln nutzte. Viele hatten nur ein Einzelbett, da ein Doppelbett auch gar nicht erst reingepasst hätte. Schränke oder Geraderobe stellten schon große Luxusgüter dar. Der überwiegende Teil der Zimmer war winzig. Aus heutiger Sicht erscheint es mir maximal faszinierend, wie schnell man als Mensch seine Ansprüche innerhalb von Tagen herunterschrauben oder komplett ablegen kann. Ich war aus einer kleinen, modernen, warmen und wirklich schön eingerichteten Wohnung aus Deutschland nach London gezogen, um dort zumindest ein stilähnliches Zimmerchen zu finden. Nach zwei Wochen war ich bereits glücklich, wenn ich bei den Besichtigungen ein Klappbett in einem nicht komplett verschimmelten Zimmer vorfand. Für einen Schreibtisch war in den meisten Räumen ohnehin kein Platz mehr. Und das ganze zum Spottpreis von 800 Pfund im Monat.

Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich nur noch ein Dach über dem Kopf haben und die Vorstellung eines eigenen Bettes im kleinsten Räumchen schien zu genügen, um mich glücklich zu stimmen. Ich war in London. Der erste Schritt war getan und trotz der steigenden Müdigkeit, dem Frust, Ärger und gelegentlichen Ekel über die besichtigten Wohnungen, brachte mich nichts von meinem Optimismus ab, doch noch etwas Akzeptables zu finden. Das Leben findet ohnehin draußen statt, sagte ich mir selbst jeden Tag aufs Neue und der wahre Luxus im Leben sind nicht die Zimmer, die wir bewohnen – sondern die Dinge, die wir erleben.

In der einzig passablen WG, die ich während meiner Suche fand, schlief ich halb auf dem Sofa ein, nachdem man mich erst für halb zehn abends bestellt hatte und ich bereits am selben Tag sieben Wohnungsbesichtigen in unterschiedlichen Teilen Westlondons hinter mich gebracht hatte. Völlig entkräftet antwortete ich auf alle Fragen die mir gestellt wurden nur mit ja oder nein und schaffte es zum Abschied nicht einmal ein halbwegs normales Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Ich träumte nur noch von einem warmen Bett und Ruhe ̶ vor allem Ruhe.

Zurück in der Jugendherberge, schrieb ich vor dem Schlafengehen noch eine liebe SMS-Entschuldigung, die dazu dienen sollte, den WG-Leuten meinen alptraumhaften Zustand zu erklären. Aber ich hatte es verbockt: Die zwei Engländer wollten nicht mit mir zusammenleben. Morgens erhielt ich eine kurze Antwort, in der mir die beiden absagten. Die Nachricht schloss mit good luck. Glück brauchte ich in der Tat. Also musste eine Planänderung her. Ich nahm meinen Stadtplan von London und faltete dann den linken Teil nach hinten – also den gesamten Westen Londons. Dann schaute ich auf die ganzen Straßen. Versuchte die reale Karte mit der Underground Map übereinander zu legen, was nicht so recht funktionierte, da die Abstände zwischen den Stationen überhaupt nicht mit den realen Abständen an der Oberfläche Londons übereinstimmten.

Dann schaute ich, welche Stadtteile am besten angebunden waren: Von wo aus würde ich morgens am schnellsten zur Uni kommen, ohne zigmal umsteigen zu müssen. Es war East-London. Kannte ich noch nicht. Noch kein einziges Mal während meiner London-Besuchen in den Jahren zuvor, war ich im Osten der Stadt gewesen. Aber ich war offen genug, dem Ganzen eine Chance zu geben: Also versuchte ich mein Glück fernab meiner geplanten neuen Heimat im Osten Londons, wo die Zimmerpreise im Gegensatz zum Westen deutlich unter der 700 Pfund-Marke lagen.

EAST LONDON

Die Bahnhöfe im East End waren heruntergekommen. Im Gegensatz zum Stadtteil Kensington saßen dort an jeder Ecke Obdachlose. Die Straßen waren verschmutzt und vor einigen Hauseingängen stank es übler, als an so mancher Kläranlage. Die meisten WG-Zimmer befanden sich in so genannten council flats, die ursprünglich mal für Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger gebaut worden waren. Einige von diesen Sozialhilfeempfängern hatten in den 70er Jahren eine Marktlücke entdeckt: Sie begannen in Wohnungen in andere Bezirke Londons zu ziehen, um die vom Staat zur Verfügung gestellten Wohnungen in den hipperen Gegenden teuer an Studenten oder young professionals zu vermieten. Mietverträge gab es keine. Das Geld wurde unter Hausmatten hinterlassen, einem der Mitbewohner gegeben oder auf ein Zahlenkonto ohne genauere Angaben über den Kontoinhaber überwiesen.

Die ersten zwei WGs, die ich mir anschaute, lagen in Vierteln, bei denen ich schon tagsüber Angst hatte, alleine herum zu laufen. Könnte man Menschen auf magische Weise in ihrem Leben beobachten und mein Vater hätte durch Zufall den Channel entdeckt, auf dem mein Leben übertragen wurde, wäre er ohnmächtig geworden. Oder hätte sofort einen Trupp beauftragt, mich aus London zurück zu holen. Ich kam mir vor, wie in einem amerikanischen Ghetto-Gangsterfilm. Mir wurden alle nur denkbaren Drogen angeboten und zwei Straßen lang verfolgte mich ein Mann und schrie mir Obszönitäten hinterher.

Die einzig nette WG, die ich fand, war in der obersten Etage eines council flats in Stratford. Vier Mitbewohner teilten sich dort eine über zwei Etagen verlaufende Wohnung und eine süße Dachterrasse: Tagsüber wurde auf dieser gekifft und an den Abenden gefeiert. Das Zimmer lag in der zweiten Etage der Wohnung und bestand aus einem Doppelbett, einem kleinen Fenster und einem Schrank.

HIP, HIPPER – HIPSTER WG

„Wir feiern viel, weißt du. Wenn du das nicht magst, ist das nichts für dich. Wir wollen niemanden, der abends rum heult, weil es ihm zu laut ist,“ leitete der Holländer, mit langen blonden Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, die Führung durch die Wohnung mit mir ein. Er trug nur Jeans und Flip-Flops. Seine Oberarme verrieten, dass er viel Zeit im Fitnessstudio verbrachte und ich musste mich beherrschen, seinen perfekt definierten Oberkörper, nicht anzustarren. Er sah aus wie das Titelcover eines Fitness-Lifestylemagazins für Männer.

Man merkte ihm an, dass es nicht seine erste Führung an diesem Tag war und er sich nicht übermäßig viel Zeit nehmen wollte, um meine Fragen zu beantworten.

„Was ist denn mit den Nachbarn, sagen die nie was?“ fragte ich, mehr um das Schweigen zu durchbrechen, als aus Interesse.

„Nein, die sind cool. Haben noch nie was gesagt.“

Ich konzentrierte mich, ihm ins Gesicht zu schauen, und nicht auf die Brust. Parallel überlegte ich, warum es mich verunsicherte, dass er halb nackt vor mir stand. Männer am Strand liefen ja auch oberkörperfrei herum, ohne, dass es mich nervös machte. Aber dieser Mann könnte demnächst im Zimmer neben mir wohnen… schoss es mir durch den Kopf. Mein Blick wanderte zu seinen Armen und ich spürte, wie meine Wangen sich röteten, als er mich anschaute und keck zu lachen begann.

„Gibt es sonst noch etwas Wichtiges, was ich wissen sollte?“ fragte ich ihn und entschied mich, ihm ebenfalls ein Lächeln zu schenken.

„Nicht mehr als zwei Gäste pro Tag.“

„In der WG?“

„Nein, für dich.“

„Das heißt...“

„Das heißt, dass wir hier schon Freunde und so schlafen lassen, aber nie mehr als zwei pro Person.“

„Also übernachten hier manchmal zwölf Leute.“

„Ja, an den Wochenenden kommt das schon mal vor“, sagte er beiläufig, während er die Treppe in die zweite Etage der Wohnung vor mir hochlief.

Die Tapeten der Wohnungswände waren allesamt bemalt. Manche mit großen und kitschigen Bildern, manche lasziv - mit riesigen Brüsten und Pos in allen Größen - und andere mit abstrakten Graffitis.

„Mit einem Badezimmer…?“ hakte ich nach, weil mich der Gedanke nicht losließ, dass in dieser kleinen Wohnung am Wochenende ein Dutzend Menschen leben würden. Mittlerweile waren wir oben im Hausflur angekommen und er drehte sich zu mir um, um zu überprüfen, ob ich noch hinter ihm herlief.

„Ja. Wieso? Ist das ein Problem?“ fragte er und schaute mich erstaunt an, so als sei die Frage völlig absurd.

„Habt ihr denn da irgendwelche Regeln? Zum Beispiel morgens, wenn alle zur selben Zeit zur Arbeit müssen?“

„Ha ha, sowas zu fragen, ist so typisch Deutsch.“ Er lachte laut und nickte dabei, so als bestätigte er sich seine Aussage noch mal selbst. Ich musste ihm schrecklich uncool vorkommen – aber ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie da morgens eine Schlange vor dem keinen Badezimmer stand und ich nicht mal in Ruhe duschen gehen konnte – und das mit Haaren bis zum Hintern.

Weil er merkte, dass ich verstummt war, beugte er sich näher zu mir und sagte dann amüsiert: „Ne, wir haben keine Regeln. Wer zuerst kommt, malt zuerst.“

Ich nickte nur. Eigentlich wusste ich bereits, dass ich nicht in der WG wohnen wollte. Auch, wenn ich der Überzeugung war, mich wie ein Chamäleon meiner Umgebung anpassen zu können, fehlte mir hier die Phantasie, mir eine dauerfeiernde, lässige Ronja vorzustellen.

„Was machst du denn so?“ fragte ich ihn schnell. Auch, um das Thema zu wechseln. Ich kam mir super spießig vor.

„Ich bin Designer. Die zwei anderen auch, nur das Mädel studiert – so wie du.“

„Unternehmt ihr auch mal was zusammen?“

„Ja, klar. Abends. Ausstellungen, Parties und so – die Anbindung nach Shoreditch sind ganz gut.“

„Wo kommst du denn her?“

„Ich bin aus Holland. Der Kerl, der das Zimmer neben dem leeren Zimmer hat, ist Italiener und das Mädel kommt aus Norwegen, oder Schweden oder so, ich vertausch das da immer alles.“

„Ok, ich überleg’s mir, ja?“

„Ja, aber nicht zu lange. Wir haben noch andere Interessenten.“

In dem Zimmer gab es nicht wirklich viel anzugucken, also liefen wir noch mal auf die Dachterrasse, wo er sich eine Zigarette ansteckte und mich fragend anblickte, so, als erwarte er doch sofort eine Antwort.

Brauchste noch Bedenkzeit?“ hakte er nach und schnippte zeitgleich die Asche seiner Zigarette auf den Boden.

Bisschen, ja,“ antwortete ich und setzte mich auf die Holzbank, die am Rand der Terrasse stand. Er lief weg, ohne noch etwas zu sagen und ich blieb da einfach sitzen. Schaute in den Himmel. Versuchte ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob die Wohnung nicht doch mein neues zu Hause werden könnte.

Als er zurückkam, hatte er eine Flasche Wein in der einen und eine große Schale mit Hummus, Olivenöl und Weißbrot in der anderen Hand. Die Schale mit dem Hummus ließ er auf meine Beine fallen, drehte sich dann um und drückte mit der anderen Hand seine Zigarette in einem großen Aschenbecher aus, der auf einem Brettvorsprung stand. Der Aschenbecher war so voll, dass rechts und links ein paar Kippen rausfielen, was er aber nicht mal zu merken schien. Ich musste schmunzeln.

Parallel war ich so müde, dass es mir seit Tagen schwerfiel, die Augen offen zu halten. Auch, weil ich regelmäßig vergaß zu essen. Alkohol auf leeren Magen war vielleicht nicht die beste Idee, aber als ich mich gesetzt hatte, spürte ich die Müdigkeit wieder. Ein Glas Wein kann sicher nicht schaden, dachte ich mir und nahm seine Einladung dankend an.

Ich kann mich bei bestem Willen nicht mehr an den Namen des Holländers erinnern. Nur noch daran, dass er felsenfest behauptete, dass Holländer überhaupt kein Deutsch verstehen könnten und es eine Frechheit sei, wenn deutsche Touristen einfach anfangen würden, auf Deutsch mit ihnen zu sprechen.

Ich geh ja auch nicht davon aus, dass du mich verstehst, nur weil unsere Sprachen sich vielleicht ein wenig ähneln“, sagte er und steckte sich beiläufig ein riesiges Stück Weißbrot in den Mund.

Ich glaub schon, dass ich dich verstehen könnte, wenn du ganz langsam sprechen würdest,“ überlegte ich laut.

Typisch Deutsch. Total arrogant ist das, sowas zu sagen“ antwortete er, lachte dann aber laut, wobei ihm ein paar Krümel des Weißbrotes aus dem Mund fielen.

In eurer Nationalhymne singt ihr sogar von eurem deutschen Blut…“ provozierte ich ihn ein wenig und lächelte.

Tun wir das? Ich glaub, ich kenn den Text nicht mal…“ erwiderte er und steckte sich eine weitere Zigarette an. Dann beugte er sich zu mir, goss mir ein weiteres Glas Wein ein und fragte dann „Noch mehr Weisheiten über uns Niederländer?

Ich wühlte in meinem Kopf. Halbweisheiten gab es darin genügend. Aber die Niederlande waren ein weißes Tuch für mich. Ich war nur einmal in Amsterdam. Segeltrip mit der Schule. Vla nicht vertragen und richtig übel Magen-Darm bekommen. Keine Erinnerung zum Teilen mit einem Fremden, bei dem ich potenziell einziehen könnte. Irgendwie verband ich Holland nur mit Flachland, Blumenmärkten, Kiffen und Techno. Aber er starrte mich an und nickte dann auffordernd mit dem Kopf, so als warte er darauf, dass ich noch irgendwas sage.

Ich weiß, dass nicht alle Holländer Niederländer sind“, sagte ich betonungslos und trank mein Glas Wein aus. Wirklich das Einzige, was mir auf die Schnelle noch eingefallen war.

Sehr gut. Mit dieser Aussage hast du den Jackpot gewonnen“, scherzte er herum, klatschte in die Hände und setzte sich in Bewegung Richtung Tür.

Und, was habe ich gewonnen?“ hakte ich nach und blieb erst einmal sitzen.

Du kannst jetzt mitkommen. Lucio und Ines kommen gleich Heim und dann fahren wir alle zusammen nach Shoreditch.“

Lucio und Ines schienen die anderen Mitbewohner zu sein. Ich war vom Wein so dösig, ich nickte einfach nur und lief dann, wie so ein Entenbaby, hinter ihm die Treppe hinunter in die Küche.

MENSCHEN OHNE KÖPFE

Nach weiteren zehn Minuten und drei weiteren Gläsern Wein, tauchten drei große Menschen auf: Zwei Männer und eine junge Frau. Alle schätzungsweise drei bis fünf Jahre älter als ich und alle etwas schräg angezogen: Ines hatte beige Schnürstiefel an, die nicht zugebunden waren, - die Schnürsenkel hingen auf dem Boden, - was bei mir instinktiv den Drang auslöste, mich zu bücken und ihr die Schuhe zuzubinden. Wie bei kleinen Kindern, die sonst hinfallen könnten. Ich unterdrückte diesen Impuls. Es bestätigte mir nur ein weiteres Mal, dass ich ein Spießer war und nicht stylisch, hip und locker. Ihre Jeans war vier Nummern zu groß, dafür aber unter der Brust stramm mit einem Gürtel zusammengebunden. Sie hatte kein Oberteil an, sondern nur einen Sport-BH. Zumindest sah das für mich so aus.

Einer der Männer trug einen Hut und einen Hosenanzug. Hatte ich noch nie an einem Mann gesehen. Sah so aus, wie eine Kombi aus einem Overall für Handwerker und einem Jumpsuit - in grellem Gelb. Er lachte mich freundlich an, wobei sich herausstellte, dass er riesige Zahnlücken hatte, was irgendwie niedlich aussah. Ich war so betrunken, dass ich nur dachte dich kann heut Abend kein Autofahrer überfahren und dann behaupten, er habe dich nicht gesehen, du bist ein wandelndes Warnschild mit dem Outfit, als der andere Mann sich, - über beide Ohren strahlend, - vorstellte. Seinen Namen habe ich ebenfalls vergessen. Vielleicht war er Lucio. Auf jedem Fall war das Unterhemd, das er trug, vorne so weit ausgeschnitten, dass man bis zu seinem Bauchnabel alles sehen konnten. Ich kicherte angetrunken. Er erwiderte diese Geste meinerseits und kicherte ebenfalls – obwohl ich natürlich nicht musste, worüber er nun eigentlich lachte.

Nun gehöre ich mit meinen einsachtundsiebzig nicht zu den kleineren Menschen auf diesem Planeten, aber die drei waren alle mindestens einen Kopf größer als ich. Das erlebte ich eher selten. Nach ein paar weiteren Minuten small talk packten alle ihre Sachen zusammen und man schob mich Richtung Wohnungsausgang. Wie wir von der Wohnung in die Bahn und von der Bahn dann in irgendeine Galerie in East London gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir zu viert eine Vernissage besuchten, in der ein Künstler Ölbilder von Menschen ohne Köpfe ausstellte. Und ich war sehr betrunken.

Zum Abendessen immer gut…“ erklärte mir der Kumpel vom Holländer im Jumpsuit, der seinem Akzent zu urteilen nach eventuell auch ein Niederländer war, worüber wir aber nicht sprachen: „…bei den richtig guten Eröffnungen, gibt’s immer gut was zu essen – das lohnt sich.“ Er stellte sich neben einen jungen Kellner, der ein Tablett mit Häppchen auf seiner Hand jonglierte und begann, ein Häppchen nach dem anderen in seinen Mund zu stecken, - bis das Tablett leer war. Ich musste lachen. Den Kellner schien es nicht wirklich zu interessierten.

Nach drei weiteren Stunden und zahlreichen Gesprächen in Haschischwolken mit Menschen, die ich nie wiedersehen würde, umarmten sich alle herzlich zum Abschied und man sagte mir, dass wir eine coole WG wären und viel Spaß haben könnten. Trotzdem wusste ich zu diesem Zeitpunkt schon seit Stunden, dass ich nicht hipster genug war, um in die WG einziehen zu können.

DIE NÄCHSTE JUGENDHERBERGE

Am nächsten Tag zog ich also mit meinem Koffer und meinem Rucksack in eine Jugendherberge, die direkt an der St. Paul’s Cathedral lag. Diese Jugendherberge war zwar nicht halb so schön wie die im Holland Park, allerdings hatte sich mein Wohlfühlanspruch zu diesem Zeitpunkt auch bereits auf ein Bett reduziert. Die Wohnungsbesichtigungen und das Englischreden zerrten dermaßen an meiner Lebensenergie, dass ich abends halb tot ins Bett fiel, ohne jeglichen Anspruch auf Komfort oder Privatsphäre. Ich brachte nicht einmal mehr die Energie auf, mich darüber aufzuregen, dass mal wieder jemand im Zimmer am Rauchen war oder sein nasses Handtuch nach dem Duschen auf mein Kopfkissen gelegt hatte.

In der neuen Jugendherberge fand ich aufgrund meines debilen Zustandes auch kaum noch neue Bekanntschaften. Ich plauderte auch nicht mehr mit den Leuten, die morgens oder abends um mich herum waren. Beim Frühstück setzte ich mich dorthin, wo noch niemand saß. Ich wollte keine oberflächlichen Gespräche mit Unbekannten führen. Für interessante Gespräche, fehlte mir wiederrum die Kraft, beziehungsweise, - ich redete mir ein, ich müsse mir meine Energie für die WG-Gespräche aufsparen.

Eines Morgens setzte sich beim Frühstück ein Mädchen aus Südkorea zu mir und fragte, ob ich traurig sei. Ich war nicht traurig, ich war einfach nur völlig energielos. Am Ende meiner dritten Woche in London war meine Verzweiflung so groß, dass ich in Betracht zog, das Zimmerangebot eines Pärchens anzunehmen, das recht zentral in Bayswater lebte. Ihre Zimmeranzeige war am selben Morgen online gegangen und ich hatte sie sofort angeschrieben, um das Zimmer als Erstes sehen zu können.

Der Haken an der Sache war, dass die Abstellkammer in der ich wohnen sollte, und in die meine Sachen auch gestapelt gerade so reingepasst hätten, direkt neben dem Badezimmer der Wohnung lag. Dieses führte wiederrum direkt in das Schlafzimmer des Pärchens. Genau genommen gab es für mich also keinen Weg aus der Wohnung heraus, wenn einer der beiden im Badezimmer war. Und sollte einer von ihnen die Badezimmertür zu meiner Zimmerseite hin, nach Nutzung des Badezimmers, versehentlich vergessen wieder aufzuschließen, hieß dies zwangsläufig, dass ich in der Wohnung eingesperrt gewesen wäre. Dem hinzu kam, dass ich mich mit dem Gedanken schwertat, keine Freunde mit nach Hause bringen zu dürfen. Das war eine ihrer Wohnungsregeln. Außerdem wusste ich, sollte ich mal später nach Hause kommen, dass ich dann nachts durch ihr Schlafzimmer durchlaufen müsste, um in mein Zimmer zu gelangen. Alleine der Gedanke machte mich verlegen.

Als wenn das nicht alles schon suboptimal genug gewesen wäre, besaßen die beiden noch zwei amerikanische Pit-Bullterrier, die mit in der Wohnung lebten. Bei aller Hundeliebe war ich mir nicht sicher, ob die fünfzig Quadratmeter für drei Menschen und zwei Hunde nicht vielleicht doch irgendwann sehr anstrengend werden würden. Da es die erste Wohnung war, die Wände anstatt Schimmel und warmes anstatt kaltes Wasser in der Dusche hatte, sagte ich trotzdem zu. Zurück in der Jugendherberge schaute ich meinen im Waschbecken gewaschenen Klamotten beim Trocknen im Innenhof zu, rauchte Kette und textete meinen Eltern, dass ich wohl endlich was hätte. Ich redete mir gut zu: Würde ich in London nicht auf Anhieb neue Freunde finden, gab es zumindest zwei Hunde, mit denen ich kuscheln und morgens durch den Hyde Park joggen gehen konnte. Am nächsten Morgen schaltete ich mein Handy an, bevor ich aus meinem Bett kletterte. Es vibrierte zweimal – eine SMS, - die Absage des Pärchens. Ich blieb noch eine Stunde im Bett liegen und starrte das Bettgestell über mir an, auf dem die Matratze der Frau lag, die über mir schlief. Irgendwann hatten alle das Zimmer verlassen und es kehrte Ruhe ein.

Seit fast einem Monat war ich nun schon in London und konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem ich mehr als fünf Stunden geschlafen hatte. Die Angst, keine Wohnung zu finden, machte sich in mir breit. Ich kalkulierte, wie lange ich mit meinen Ersparnissen auskommen würde und ob ich mein Studium wohl eher abbrechen müsste, da ich kein Geld mehr hatte, um in London bleiben zu können.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass der Osten Londons nichts für mich war, daher fuhr ich am selben Tag noch einmal nach Bayswater, um zwei kleine WG-Zimmer in Augenschein nehmen zu können. Beides keine Treffer, aber ich lernte durch Zufall eine alte Dame kennen, die auf der Inverness Terrace in Bayswater Einzelbettenzimmer auf Tagesbasis vermietete. Die Mieter setzten sich zusammen aus Studenten und Gelegenheitsprostituierten. Das Zimmer bot ein Einzelbett und eine kleine Kochplatte sowie eine nicht komplett verschimmelte Zimmerdecke und einen, an den meisten Stellen bereits aufgerissenen, Fußbodenbelag. Der Splitterfußboden hätte Hausschuhe zu einer Notwendigkeit gemacht, damit man sich nicht jeden Tag einen der kleinen, nach oben stehenden Holzspäne in die Füße gerammt hätte. Das Bad lag auf dem Gang und wurde mit den anderen Flurbewohnern geteilt. Ich verabredete mich mit der älteren Dame für den nächsten Tag, um einen Blick auf ihre freien Zimmerchen werfen zu können.

ALLES SCHICKSAL

Zur Besichtigung in Bayswater angekommen, rannte ich zufällig in Shek, einen jungen Inder, der sein Glück als Immobilienmakler in London versuchen wollte und dann (wie so viele andere Menschen) irgendwann wieder frustriert in sein Heimatland zurückkehrte. Shek hatte mir bereits zum Beginn meiner Suche zahlreiche Studio Flats seines Chefs gezeigt: Das eine heruntergekommener als das andere. An diesem Nachmittag lud er mich auf einen Kaffee ein und wir sprachen über die Tücken der Wohnungssuche. Shek selbst lebte mit neun weiteren Indern in einem kleinen Zimmer im Osten Londons. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mich mochte und noch mal ausgehen wollte und ich war verzweifelt genug, um aus seinen Annäherungsversuchen Profit schlagen zu wollen und stellte ihm ein Date in Aussicht, wenn er mir seinen Chef persönlich vorstellen würde.

Es funktionierte. Shek nahm mich mit zu seinem Büro. An einer verrosteten Tür, die in einen Hinterhof führte, gab Shek einen sechststelligen Pin ein und winkte mir zu, dass ich ihm folgen solle. Nach wenigen Sekunden standen wir vor Sheks Chef. Ich begann das Gespräch mit ein paar müden Späßen über den Londoner Wohnungsmarkt und erzählte ihm dann kurz meine story. Sheks Chef zögerte nicht lange, griff in seine Tasche, holte einen Schlüssel hervor und nahm mich in seinem kleinen Rover auf eine spontane Wohnungstour durch Notting Hill mit. Diese Wohnungen waren zwar noch bewohnt, sollten aber in Kürze frei werden. Da ich verzweifelt war, zog ich in Betracht, mit ein wenig Licht am Ende des Tunnels auch noch eine weitere Woche in der Jugendherberge zu verbringen. Deshalb ließ ich mir auch alles zeigen, was er noch zu bieten hatte. Wir klopften an Türen und besuchten Wohnungen, in denen die Bewohner nur mäßig erfreut waren, Sheks Chef zu sehen. Ich fühlte mich seltsam dabei, Wohnungen zu betreten, dessen Bewohner mich eigentlich nicht reinlassen wollten. Trotzdem lief ich brav hinter dem kleinen, indischen Mann hinterher und ließ mir alle Wohnungen zeigen, von denen er einen Schlüssel hatte. Die Tour lässt sich mit vier Wörtern zusammenfassen: Schimmel in allen Farben.

Wieder zurück in seinem Büro, bekam ich noch einen starken Kaffee und ein Stück Banane von Shek, da ich es mal wieder versäumt hatte, tagsüber etwas zu essen und mir etwas schummrig war. Sheks Chef bemühte sich redlich, mir Mut zu machen und berichtete uns lange über seinen Umzug nach London. Parallel dachte ich darüber nach, ob ich vorrübergehend in ein Hotel ziehen sollte. Hotels waren allerdings viel zu teuer für mich. Ich hatte ein Stipendium und wusste, dass man die Kosten meiner Miete tragen würde, allerdings nicht die, eines Hotels. Irgendwann fragte ich Sheks Chef, ob er sich nicht vorstellen konnte, mich vorübergehend in seinem Büro schlafen zu lassen. Alleine in einem Zimmer, wenn auch auf kaltem Boden, kam mir wie der reinste Luxus vor. Außerdem ging ich davon aus, dass nachts niemand mehr in dem kleinen Büroblock am Leinster Square sein würde und es sicher schön ruhig war. Das hätte es mir ermöglicht, mal eine ganze Nacht durchschlafen zu können.

„Das geht nicht. So gerne ich dem auch zustimmen möchte. Du bist so‘ne Liebe, Ronja und ich verstehe, dass du nicht noch weiter in der Jugendherberge schlafen möchtest…“ sagte Sheks Chef, „aber das müsste ich hier im Gebäude mit allen abstimmen und ich glaube nicht, dass das bei allen auf Zustimmung stoßen würde. Du kannst ein paar Tage bei mir und meiner Freundin auf der Couch schlafen, wenn du möchtest, obwohl…“ er wurde nachdenklich und schien sich vorzustellen, wie er mich abends mit Heim bringen würde. Dann schüttelte er den Kopf leicht und sagte mehr zu sich selbst, als zu mir: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das gut fände. Wärst du Shek, wäre das was anderes – aber wenn ich eine junge Frau mit nach Hause bringe…“

„Is lieb von dir. Ich versteh schon, das wird nicht klappen,“ nahm ich ihm die Entscheidung ab, weil mir klar war, dass ihn das in eine unangenehme Situation bringen würde.

Innerlich plante ich schon meinen Umzug in die Kammer eines kleinen Bibliotheken-Seitenflügel im Maughan Library in der Chancery Lane: Meine Chipkarte für die Uni erlaubte mir 24-Stunden-Zugang zum Unigelände und in alle Bibliotheken. Diese Idee erschien mir damals nicht annähernd so absurd, wie sie sich aus heutiger Sicht anhört. Wir hatten Duschen in der Uni und die Toiletten waren warm, modern und nicht verschimmelt – im Großen und Ganzen also besser als alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt auf dem Londoner Wohnungsmarkt angeboten bekommen hatte. Außerdem liebte ich Bibliotheken: Den Geruch von neuen und alten Büchern und das Geräusch von Buchseiten, die umgeblättert wurden. In einer Bibliothek zu wohnen, fand ich daher gar nicht so abwegig.

Müde in dem warmen Büro sitzend, scherzte ich mit Shek herum und freute mich, dass er und sein Chef so freundlich zu mir waren. Nachdem Sheks Chef uns allen noch einen frischen Kaffee gemacht hatte und von seinen ersten Wochen in London berichtete, schoss er auf einmal in die Höhe, starrte mich an, - so, als sei ich seine verschollene Tochter und er habe mich gerade erst wiedererkannt - und lief dann hastig in Richtung Ausgang.

Shek und ich sprangen auf und liefen ihm hinterher, um sicher zu gehen, dass er okay war. Sein Chef blieb ruckartig im Gang stehen, drehte sich zu uns um und streckte uns seine Handfläche entgegen, um uns zu signalisieren, dass wir ihm nicht folgen sollten.

„Ich habe eine gute Idee. Wartet mal hier, ich bin gleich wieder da“, erklärte er und verschwand durch den Ausgang.

SHADDI

Minuten später, die sich wie Stunden anfühlten, tauchte er wieder auf und forderte mich auf, ihm zu folgen. Shek blieb im Büro sitzen. Ich lief hinter seinem Chef her, der schnellen Schrittes vor mir hermarschierte. Er hatte sein Handy in der Hand und redete lautstark auf seinen Gesprächspartner am anderen Ende ein. Dabei lief er so schnell die Straße hinunter, dass ich kaum hinterherkam. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, er habe schon vergessen, dass er mich im Schlepptau hat. Doch dann drehte er sich um, ohne sein Gespräch zu unterbrechen, zwinkerte und gab mir mit einem optimistischen Lächeln zu verstehen, dass er meine Lage vielleicht schlagartig verbessern konnte.

Ich lief ihm also weiter hinterher, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wohin wir liefen. Dafür war ich viel zu sehr damit beschäftigt, etwas von dem Gespräch, das er am Telefon führte, aufzuschnappen – auch, wenn ich die Sprache, in der er redete, nicht verstand. Mein Ehrgeiz war aber entbrannt und ich redete mir ein, dass aufmerksames Zuhören mir vielleicht verraten könnte, worum es bei dem Telefonat inhaltlich ging.

Ego hin oder her – ich verstand kein Wort. Nach knapp zehn Minuten Fußmarsch führte er mich auf den Hinterhof eines indischen Restaurants, in dessen Küche man sehen konnte, wann immer sich die Hintertür öffnete und einer der Angestellten heraustrat, um im Freien eine Zigarette zu rauchen. Wir standen dort eine Weile, bevor ein kleiner Mann mit schwarzem Schnurr- und Kinnbart durch die Tür trat. Er war zierlich, zwei Köpfe kleiner als ich und wirkte zerbrechlich. Seine Haare waren in das Innere einer Plastikhaube gedrückt, die so löchrig war, dass die Haare durch ein paar der Löcher herausschauten. Sah irgendwie süß aus. Erst bei näherem Hinsehen sah ich, dass er Plastikhandschuhe trug, die vor Blut trieften.

Ich schaute mich einmal irritiert um und versuchte mich an den Weg, den ich hergekommen war, zu erinnern. Dann stellte ich mir meinen Vater vor, wie er seinen Kopf schüttelt und sagt: Ronja, bist du da etwa in einen Hinterhalt geraten? Aber ich musste keine Panik haben. Der kleine Mann lächelte. Und das war nicht das Lächeln eines Serienmörders, der junge deutsche Studentinnen in irgendeinem Hinterhof aufgabelte und dann im Keller eines indischen Restaurants in kleine Stücke hackt. Das war ein aufrichtiges und ehrliches Lächeln.

„Hi, ich bin Shahid, aber alle nennen mich Shaddi“,

sagte er, trat mir entgegen und wollte mir die Hand geben. Ich zögerte, was ihn veranlasste, an seinen Armen herab zu sehen und lachend die Handschuhe auszuziehen.

So, jetzt aber“, setzte er noch einmal an und reichte mir die Hand. Im Anschluss steckte er sich eine Zigarette in den Mund. Sheks Chef beugte sich vor und reichte ihm ein Feuerzeug. Dann zeigte er auf mich und sagte: „Komm gleich noch mal zu mir ins Büro!

Ich nickte nur und ohne die Situation aufzuklären, lief Sheks Chef wieder los Richtung Straße. Shaddi lief auch los, allerdings in die andere Richtung. Maximal verwirrt entschied ich, Shaddi zu folgen und abzuwarten, ob sich die Situation von alleine aufklären würde.

Dann erzähl mal was von dir“, forderte Shaddi mich beiläufig auf. In meinem Bauch machte sich ein wonniges Kribbeln breit – ich war auf dem Weg zu etwas Gutem. Für sowas hatte ich ein Gespür.

Ich plapperte also drauf los und versuchte Schritt zu halten mit dem kleinen Mann.

Shaddi lief die Straße hinunter bis zu einem kleinen, urigen Pub, vor dem ein paar Gäste standen, Bier tranken und rauchten. Von dort aus lief er weiter den Queensway hoch, an einem großen Einkaufszentrum vorbei bis zu den Porchester Gardens, einer kleinen Nebenstraße, die auf die Garway Road überging. Kurz vor der Westbourne Grove vor der großen Holztür eines unscheinbaren, mehrstöckigen Hauses blieb er stehen, gab einen Zahlencode an deren Türrahmen ein, stieß sie offen und rief mir zu: „Nah, komm schon, Ronja!“

ENDLICH GLÜCK?

In der obersten Etage angekommen, öffnete er die Tür zu einer kleinen Wohnung, deren langer Flur in ein Zimmer mündete, in dem zwei Einzelbetten standen. Das eine stand links an der Wand, direkt neben dem Fenster zum Hinterhof und das andere auf der rechten Seite unter einem schmalen Einbauschrank, der in eine kleine Kommode überging. Im Zimmer summte es, da sich im Hinterhof eine riesige Lüftungsanlage befand. Shaddi hatte drei Vorhänge vor dem Fenster angebracht, die durch die leichten Vibrationen der Lüftungsanlage in den Innenraum hineinwehten. Er stand rauchend in der Tür und beobachtete wie ich den Raum anschaute. „Und, magste?“ fragte er nach einer Weile und lief ohne eine Antwort bekommen zu haben zurück in den Wohnungsflur. Mein Herz fing an laut zu pochen. Er zeigte mir noch das Badzimmer. Rechts eine große Badewanne und davor eine kleine Abstellkammer. Kein Schimmel an der Wand ̶ ich war fassungslos.

Außer der Küche, war die gesamte Wohnung mit Teppich ausgelegt. Auch das Badezimmer. Meine Mutter würde ausrasten – wer verlegt denn einen Teppich anstatt Fliesen im Badezimmer? Shaddi halt. Ich war hin und weg. Von der Küche aus, in der nur ein kleiner Holztisch mit zwei Holzbänken stand, konnte man auf einen kleinen Vorsatz herausgehen, an dem eine Feuerleiter befestigt war. Ich kannte das nur aus amerikanischen Filmen – mochte es aber direkt, weil es einem vermittelte, dass man es lebendig aus dem Haus schaffen kann, sollte es mal brennen. Von der Feuertreppe aus schaute man in den Hinterhof des indischen Restaurants. Shaddi stand stolz mit seiner Zigarette in der Hand auf dem Vorbau zu der Feuerleiter und lächelte. Er war mindestens zwanzig Jahre älter als ich, kaum größer als eins-sechzig und hatte eine herzliche, warme Ausstrahlung.

„Und, wie gefällt es dir, Ronja?“

Es hörte sich süß an, wie er meinen Namen aussprach. Wie „Ron-jäh“. Mein Blick schweifte durch den Raum zum großen Kühlschrank, den bunten Döschen, die neben ihm standen, den Wandvorsprung neben dem Fenster, in deren Ritze Shaddi massenhaft Plastiktüten geklemmt hatte. Und auf einmal war ich ganz schön aufgeregt. Mein Körper wurde durchflutet von diesem Gefühl, das man hat, wenn man weiß, dass die nächsten Minuten das eigene Leben in eine komplett neue Richtung verschieben könnten.

„Ist wirklich schön. Gefällt mir gut. Wo schläfst du denn?“ fragte ich neugierig und etwas zu schnell. Im mit der Tür ins Haus fallen war ich schon immer geübt. Ich überlegte noch, ob ich die Frage nochmal etwas anpassen konnte, weil ich riesige Angst hatte, dass er sagen würde im selben Zimmer wie du – aber Shaddi nahm mir diese Angst sofort: „Mein Zimmer ist direkt nebenan. Ist um einiges größer als deins.“

Ich wurde ganz schön nervös.

M e i n Z i m m e r, das hörte sich super an. Shaddi lief zurück Richtung Badezimmer und öffnete dann die Tür, direkt gegenüber vom Bad. Das Zimmer war riesig. Überall stand Krimskrams herum. Es gab kein Bett, nur eine Matratze auf dem Fußboden, auf der mehrere Wolldecken übereinander lagen. In der Ecke stand eine kleine, pinke Couch und dieser gegenüber ein runder Holzvorsatz, auf dem sich ein kleiner Fernseher befand. Die zahlreichen Schränke waren beladen mit kleinen Gegenständen. Shaddis Zimmer sah aus wie ein Trödelladen: Von kleinen Kuscheltieren bis hin zu Zottelbällen und indischen Tonfiguren in allen möglichen Farben. Durch drei große Fenster strahlte die Sonne hinein und machte das Zimmer schön hell. Das Erste von den drei Fenstern ließ sich so weit öffnen, dass man auf das Dach raussteigen und sich dort an den Rand neben das Fenster setzten konnte.

„Mein Zimmer ist größer als deins ̶ dafür ist es aber auch viel kälter im Winter“, sagte Shaddi, als fühle er sich schlecht, weil er mir das Kleinere der beiden Zimmer anbot. Dann ergänzte er schnell „es gibt keine Heizung in dieser Wohnung.“

„Keine Heizung?“

„Nein, aber ich habe einen Öl-Radiator für jedes Zimmer, also keine Sorge.“

„Und was machst du so beruflich?“

„Ich bin Metzger. Arbeite für das indische Restaurant hier auf dem Queensway. Und du, Ronja?“

Shaddi schien den Drang zu haben, meinen Namen möglichst oft benutzen zu wollen – vielleicht, um ihn sich schneller merken zu können.

„Ich werde nächsten Monat mein Masterstudium beginnen.“

„Studentin?“

„Ja, genau.“

Ich wollte nicht unhöflich sein, da Shaddi sehr stolz auf sein Zimmer und die ganzen Sachen darin zu sein schien, daher stellte ich ihm ein paar Fragen zu dem ganzen Krimskrams der herumlag und stand, bevor ich ihn beiläufig nach seinem Alter fragte.

„Du, Shaddi, wie alt bist du denn?“

„Was glaubst du denn?“

„Keine Ahnung. Weiß du, ich will dich nicht beleidigen oder so.“

„Tust du nicht. Ich denk zum Beispiel, du bist Anfang 20.“

„Ich werde bald 24.“

„Schau an. Und, hat dich das jetzt beleidigt?“ Ich musste ein Lachen unterdrücken und traute mich dann einfach: „Also ich würde sagen du bist 40, Anfang 40?“

„Nein, ich bin älter“, sagte er, grinste und ging wieder in die Küche, drückte seine Zigarette aus und machte mir durch seinen Gesichtsausdruck erkenntlich, dass das Gespräch über sein Alter damit für ihn beendet war. Ich überlegte noch, ob das Alter wirklich so unwesentlich war, aber Shaddis fesche Art, seine freundliche, leicht verrückte Ausstrahlung, seine Wohnung – all das hatte mich bereits überzeugt. Wir einigten uns noch auf 700 Pfund im Monat für mein Zimmer und er versprach, mir einen kleinen Schreibtisch zu besorgen.

Noch nie war ich so gerne in die Jugendherberge zurückgekehrt. Shaddi hatte mir für den Weg nach Central London was zu essen aus dem Restaurant (in dem er arbeitete) mitgegeben. Im Bus textete ich meinen Eltern, dass ich endlich eine Bleibe gefunden hatte und begann dann davon zu träumen, wie mein Leben in Bayswater wohl aussehen würde. In der Jugendherberge angekommen, packte ich schnell meine Sachen zusammen, bezahlte meine Rechnungen und machte mich schnurstracks wieder auf den Weg nach Bayswater ̶ zurück zu Shaddi, in mein neues zu Hause.

Heute weiß ich, dass die gesamte Wand hinter der Schrankwand in meinem Zimmer in Bayswater von Schimmel befallen war, den Shaddi versuchte mit bunt angemalten Blättern zu überdecken. In der Wand zwischen meinem Zimmer und dem Badezimmer lebten Kakerlaken, die abends zu Scharen hoch und runter krabbelten und einem das Einschlafen ab und an schwer machten – aber all das war mir damals völlig egal – höchstwahrscheinlich wohl auch, weil ich es schlichtweg nicht wusste.

In der ersten Nacht bei Shaddi schlief ich wie ein Stein. Ein Dach über dem Kopf. Mein Abenteuer konnte endlich beginnen.

ANGEKOMMEN IN LONDON

In den ersten Tagen in Bayswater sprach ich zahlreiche Menschen auf der Straße an, um nach Wegen zu fragen, die ich eigentlich kannte. Der Plan hinter diesem Vorgehen war es, dadurch in eine Routine des Englischsprechens zu gelangen. Was in den folgenden Jahren in ein auf-Englisch-denken und ein automatisiertes Sprechen auf Englisch übergehen sollte, war schwere Arbeit in den ersten Wochen in Großbritannien. Es fühlte sich an, als wenn die Englischstunde einfach nie zu Ende geht und ich konnte nicht mal eben ins Deutsche wechseln zwischendurch, um meinem Gehirn eine kleine Pause einzuräumen. Den ganzen Tag Englisch zu sprechen war wie zehn Sporteinheiten hintereinander.

Nach ein paar Stunden war ich so schläfrig durch das dauerhafte Englischsprechen, dass ich fast ein paar Mal im Bus einschlief: Und obwohl mir die Augen ab und an zufielen, passierte das eigentlich nur nicht, weil die Aufregung über all das Neue in London in regelmäßigen Schüben Adrenalin in meinen Körper pumpte, der (die Müdigkeit bei Seite schob und) mich wach hielt.

Außerdem war ich besessen von der doch recht naiven Idee, nicht als Ausländer auffallen zu wollen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht zu Besuch, auf Urlaub oder Durchreise. Ich hatte mich entschlossen, Großbritannien zumindest vorübergehend, zu meinem festen Wohnsitz zu machen und fand, dass dieses Vorhaben mit einer gehörigen Portion Respekt den Briten gegenüber einhergehen sollte. Noch in Deutschland hatte ich viel darüber nachgedacht, was ich von Ausländern erwarte, die nach Deutschland kommen. Was sie wissen sollten und wie sie sich in Deutschland verhalten sollten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass ich bald selbst Ausländer in einem anderen Land sein würde. Daher verfasste ich eine lange Liste mit Dingen, die ich bis zu meinem Umzug unbedingt lernen wollte. Am wichtigsten erschien es mir, mich respektvoll in die britische Kultur zu integrieren. Zwingende Voraussetzung dafür war wohl, fließend Englisch sprechen zu können und mich daher (aus rein strategischen Gründen) zunächst einmal von anderen Deutschen in London fern zu halten.

Sich als Deutsche in die englische Kultur zu integrieren, war allerdings viel einfacher, als ich das zunächst angenommen hatte. Nach nicht einmal drei Monaten hatte ich verstanden, dass Integration in London bedeutete, jeden Abend im Pub mindestens ein Bier trinken zu gehen und mein amerikanisches Floskelvokabular fleißig gegen ein britisches einzutauschen. Dann das SORRY. Ich möchte behaupten, kein anderes Wort wird in London so häufig gesagt wie SORRY. Völlig egal wer wen auf der Straße angerempelt hat: Beide haben sorry zu sagen. In den guten Vierteln muss es nicht einmal so weit kommen: Steht man beispielsweise in Kensington auf dem Bürgersteig und ein anderer Passant muss um einen herumgehen, um an einem vorbei zu kommen, sagt man auch sorry. Der andere dann übrigens auch. Sein sorry bedeutet allerdings ist schon ok oder kein Problem.

Auf der sicheren Seite ist man integrationstechnisch, wenn man einfach immer sorry sagt. Und zwar nicht ein ernst gemeintes lautes sorry, sondern ein fast schon überflüssig klingendes, genuscheltes sorry. Warum? - fragt sich jetzt der Deutsche, der auch Probleme damit hat How are you? gefragt zu werden, obwohl sein Gegenüber überhaupt kein Interesse daran hat, zu erfahren, wie es ihm eigentlich tatsächlich geht. Ist auch egal. Hier geht es nicht darum, sich zu entschuldigen, sondern höflich zu sein und kulturell angepasst. Wer nicht sorry sagt, ist, ziemlich klar: ein Tourist!

Sich englisch zu verhalten hieß de facto eine Höflichkeit an den Tag zu legen, die viele Deutsche schon wieder als unhöflich (oder zumindest aufgesetzt oder gekünstelt) empfunden hätten. In Deutschland fragt man eine andere Person nicht, wie es ihr geht, wenn man das eigentlich gar nicht wissen möchte. Man sagt auch nicht ständig sorry, wenn man eigentlich pass doch auf, du Hirni! meint. Und man sagt ganz sicher nicht see you later, wenn man schon weiß, dass man sich gar nicht wiedersehen wird.

BRITISCHES (NICHT AMERIKANISCHES) VOKABULAR UND DIALEKTE

Gar nicht so einfach, wie es sich anhört. In der Schule dachte ich noch, das bedeute, die ganzen Z’s gegen S’s (organised anstatt organized) einzutauschen und aus O’s OU’s zu machen (neighbourhood anstatt neighborhood). Bis auf elevator und lift fiel mir damals auch kein Wort ein, dass das britische vom amerikanischen Vokabular unterschied. In den kommenden Monaten schlug dann jedoch ein ganzer Haufen neuer Vokabeln auf mich ein. Das komplizierte war jedoch nicht, das Erinnern an all die neu erlernten Wörter, sondern der passende Umgang mit eben diesen, denn (– und das ist das komplizierte am englischen System! –) der Gebrauch gewisser Vokabeln verrät den Briten sofort, aus welcher Bildungsschicht man stammt und woher man kommt.

Guy war hier ein Vorname und kein Wort – der gute Kumpel war ein chap oder mate – aber wann welche Vokabel nutzen? Sagte man nun cheers oder thank you? Und wann sagte man was zu wem? Britisches Englisch zu sprechen, war wie ein Geheimcode, den man erst einmal verstehen musste, um ihn dann strategisch und vor allem geschickt einsetzen zu können.

Ich lernte, dass es so etwas wie ein poshes Englisch gibt. So sprachen zumeist Leute aus der gehobenen Bildungsschicht, die so genannte grammar schools (vergleichbar mit dem deutschen Gymnasium oder Privatschulen) besucht hatten. Oder Menschen aus gutem Hause. Oder Menschen, die anderen zu verstehen geben wollen, dass sie sich für etwas Besseres halten. Während in Deutschland niemand einen Hochdeutsch-sprechenden-Niedersachsen als arrogant bezeichnen würde, weil er nicht mit Dialekt redet, war es in England ganz anders. Ein Teil meiner britischen Freunde setzte das dialektfreie Englischsprechen strategisch ein: Ziel war es, eine bestimmte Nachricht an sein Gegenüber zu senden. So nach dem Motto: Nicht Kleider machen Leute, sondern Dialekte machen Leute.

Außerdem macht der Ton die Musik ̶ im wahrsten Sinne des Wortes ̶ und es dauerte Jahre, bis ich die unterschiedlichen Redensweisen, Dialekte und den Gebrauch des poshen Englisch richtig verstand. So konnte man seinem Gegenüber, wenn man nicht derselben Meinung war, beispielsweise look, I disagree sagen, oder ein lang gezogenes, poshes und sehr deutlich ausgesprochenes und silbentechnisch in die Länge gezogenes l-oo—oo--ccck, I dis---agree. Während das gängige Vorurteil ist, Briten seien extrem höflich, hatte ich nach Jahren in Großbritannien eher den Eindruck, dass dieses Vorurteil nur zustande kommen konnte, weil die meisten nicht-Briten britische Unhöflichkeiten einfach nicht enttarnen können.

Briten können sehr unfreundlich sein - aber sie tun dies so subtil, dass es nicht direkt auffällt. So beispielsweise mit der Art und Weise, wie sie Wörter betonen oder indem sie Wörter nutzen, von denen jeder Brite weiß, dass sie eine andere Bedeutung haben, als die, die wir non-native speaker in unserem Wörterbüchern finden.

Wenn einem posh-sprechenden Briten etwas so richtig auf den Sack geht, sagt er nicht: Ich bin mega wütend oder total sauer. Nein. Er sagt: I’m quite irritated. Gereizt. Verärgert. Genervt. Ist er aber nicht. Er ist richtig pissed off, würde es aber so nie sagen. Trotzdem kann er in der Art und Weise, wie er betont irri---tated zu sein, ganz deutlich zum Ausdruck bringen, was er meint. Wenn jemand you irritate me zu dir sagt, ist das im Ernstfall wirklich böser, als wenn man eins der gängigen, englischen Schimpfwörter gegen den Kopf geschmissen bekommt. Diese sind nämlich wiederrum meist spaßig gemeint. Dazu später aber noch mehr.

KULTURSCHOCK?

Im Rahmen meiner Integrationsversuche informierte ich mich also über die wichtigsten politischen Entwicklungen im Vereinten Königreich, lernte die Nationalhymne auswendig und versuchte typisch britisches Vokabular zu behalten, um mich nicht direkt mit amerikanischen Wörtern, (die ich aus Filmen oder aus der Schule kannte,) unbeliebt zu machen.

Als ich nach London zog, kannte ich mich eigentlich nur (im Westen Londons) in Kensington und im Zentrum Londons relativ gut aus. Mit dem Rest Großbritanniens hatte ich mich nur grob auseinandergesetzt. Dafür hatte ich mich mit den gängigen Differenzen zwischen Deutschland und Großbritannien vertraut gemacht und mich in die britische Politik der vergangenen Jahre eingelesen.

Meinen Bachelor hatte ich bereits in der Tasche und nun wollte ich mein Studium in Großbritannien fortsetzen. Eigentlich hätte ich Kulturwissenschaften studieren sollen, denn in meinem Leben ging es mir immer darum, Menschen und ihr Handeln verstehen zu wollen – und da unsere Kultur unser Handeln stark beeinflusst, wäre die Wahl dieses Studienganges naheliegend gewesen. Aber was für einen Job sollte man damit irgendwann mal bekommen. Kulturwissenschaftlerin? Das hörte sich doch stark nach Arbeitslosigkeit oder Taxifahren an. Für die Geld-verdien-Fächer wie BWL, VWL oder Jura konnte ich mich aber nicht begeistern. Also ließ ich das mit dem später mal Geld verdienen ganz außer Acht und studierte einfach, was mich interessierte: Geschichte.

Die Geschichte eines Landes zu verstehen, war ein guter Ansatz dazu, auch die Kultur eines Landes verstehen zu können. Zu Letzterem gehört jedoch viel mehr, als nur Bücher zu lesen und mit Menschen zu reden. Auch, wenn das ein guter Anfang ist. Ich sog die britische Kultur in mich auf wie einen Thriller. Die Spannung in meinem Leben entstand dadurch, dass ich nicht wusste, wie es weiter gehen und zu welchen neuen Erkenntnissen ich noch gelangen würde. Ich verschlang also massenhaft Bücher über Großbritannien und interviewte meine Sitznachbarn. In der Uni. Im underground. Im Bus. Im Zug. Im Flugzeug. Im Café. Überall. Ich weiß wirklich nicht mehr, wann genau es soweit war - aber irgendwann kannte ich mich – zumindest kulturell - deutlich besser in meiner Wahlheimat aus, als in Deutschland.

Großbritannien wurde Teil meines Lebens. Wie ein neuer Partner an meiner Seite, den ich besser kennen lernen wollte. Ich versuchte einfach alles um mich herum zu verstehen. Allem einen Sinn zu geben. Ich wollte einfach alles lernen… verstehen, was ein echter Tory ist oder der NHS und warum Großbritannien noch immer eine Queen hat.

TORIES, QUEEN UND NHS

Ein Tory zu sein bedeutet den Konservatismus in Großbritannien zu unterstützen. In der Regel haben die Tories eine positive Grundhaltung zur britischen Monarchie und gegenüber dem ehemaligen britischen Empire. Natürlich ist das maximal pauschalisiert. Fragt man zwanzig Briten, die sich selbst als konservativ bezeichnen, was das Konservativ-sein denn nun konkret ausmacht, bekommt man höchstwahrscheinlich zwanzig völlig unterschiedliche Antworten. Ähnlich hält es sich mit den Tories. Einen selbsterklärten Tory, der das Britische Empire nicht mit nationalem Stolz, Ruhm und Ehre in Verbindung brachte, habe ich trotzdem nie kennen gelernt. Über dies hinaus vertreten viele Tories die Meinung, dass das Vereinte Königreich zwar geographisch, allerdings nicht mental zu Europa gehört. Stichwort: Brexit. Dazu aber später noch mehr.

Der NHS (National Health Service) ist der nationale Gesundheitsdienst in Großbritannien. Aus deutscher Sicht ein eher bizarrer Laden. Seinen Hausarzt darf man sich beispielsweise nicht aussuchen, sondern bekommt ihn - je nachdem wo man wohnt - zugewiesen. Mein erster Hausarzt in London war ein Chinese in den Ladbroke Gardens. Er sprach so schlecht Englisch, dass es mir eigentlich bis heute ein Rätsel ist, wie er es geschafft hat, auf seinen damaligen Posten zu gelangen. Über dies hinaus war er der unprofessionellste und unfreundlichste Arzt, der mir jemals untergekommen ist.

Die Ärzte des NHS im Nordwesten Londons, wo ich die meiste Zeit meines Lebens in Großbritannien verbrachte, waren zwar um Längen netter und professioneller, hatten jedoch leider auch nicht mehr als fünf Minuten Zeit für jeden einzelnen Patienten. Und diese fünf Minuten wurden auch strikt eingehalten. Jede Sitzung bei einem NHS-Arzt ließ mich das deutsche Gesundheitswesen ein wenig mehr schätzen. Die Briten, die auf ihre Gesundheit Acht gaben, (und das waren nicht besonders viele: Die meisten Menschen die ich in London kennen lernen sollte rauchten, tranken und konsumierten einen bunten Strauß an Drogen) versuchten den NHS zu meiden und gingen alternativ zu Privatärzten. Das sagt indirekt eigentlich auch schon alles, was man über den NHS wissen muss.

INTEGRATION

Ich nahm meine Integration in die britische Kultur äußerst ernst. So vermied ich es beispielsweise, (wie bereits erwähnt) mich mit anderen Deutschen zu treffen, um nicht Gefahr zu laufen, ständig Deutsch mit jemandem sprechen zu können. In Unterhaltungen versuchte ich Redewendungen oder Slang-Wörter aufzuschnappen, um zumindest fünf Minuten durch ein Gespräch kommen zu können, ohne mich als Ausländer enttarnen zu lassen. Mein damaliger Denkfehler: Fast alle Londoner waren Ausländer.

Die im Vergleich zum Rest der Bevölkerung (und abhängig vom Stadtteil) eher wenigen Briten, die sich in London tummelten, kannten meist selbst den vollständigen Text der Nationalhymne nicht und nur die wenigsten von ihnen konnten eine realitätsnahe Einschätzung über Großbritanniens Position in der EU abgeben. Das als Ausländer wahrgenommen werden (oder nicht) schien eher etwas damit zu tun zu haben, wie gut man zu der Gesellschaft passt, in die man versucht, sich selbst zu integrieren. Mit Nationalhymnen und politischem Wissen hatte es auf jedem Fall nichts zu tun. Und Londoner können einfach nicht gleichgesetzt werden mit dem Rest der britischen Bevölkerung. Spätestens der Brexit hat das dem Rest der Welt bewiesen.

Ich verstand die Regel zwar nicht so recht, aber mir wurde schnell klar: Aus recht unterschiedlichen Gründen, waren Deutsche in London, anders als andere Europäer, nicht unbedingt Ausländer. Zeitweise kam es mir fast so vor, als gehöre man als Deutscher auf eine seltsame Art und Weise mit zur britischen Kultur: So empfanden es die Briten, die ich kennen lernen sollte, beispielsweise nicht als problematisch, in meiner Gegenwart über all die „kack Ausländer in Großbritannien“ zu lästern. Wann immer ich darauf verwies, dass auch ich Ausländerin in Großbritannien sei, bekam ich ein „das ist was völlig anderes“ zu hören – und das war keine Ironie.

Spanier, Polen, Franzosen und vor allem Rumänen waren gar nicht so beliebt. Irgendwie schienen vor allem die jungen Briten aber keinen großen Unterschied zwischen sich und den Deutschen zu machen. Warum? Vielleicht wegen den engen deutschen Verbindungen zum britischen Adel und der Königsfamilie. Vielleicht, weil man sich über die Deutschen gerne lustig machte, obwohl man wusste, dass man sich gar nicht so unähnlich war. Vielleicht, weil es viele Familien gab, deren Wurzeln bis ins Deutsche Reich zurück gingen.

Viele Briten denken, der Weltmachtanspruch des britischen Imperiums sei irgendwann automatisch aufs Commonwealth übergegangen und man sei nach wie vor einzigartig, mächtig und einflussreich. Und wie bei kleinen Kindern, bei denen man froh ist, wenn sie selbstbewusst sind, korrigiert die Briten einfach niemand. Alle lächeln nett und denken sich ihren Teil.

Bei uns Deutschen übrigens auch, aber aus anderen Gründen. Im Vorfeld zu meinem Umzug hatte ich mir einen solchen Stress gemacht, dass irgendwer in England mit alten Kriegsgeschichten ankommen würde: Böses Hitlerdeutschland oder so. Fehlanzeige. Deutschland war total angesagt unter den jungen Briten.

WIE SIND DIE DEUTSCHEN SO?

Die meisten nahmen an, dass alle Deutschen fleißig, zielstrebig und ordentlich seien. I’m from Germany und daher made in Germany resultierte zu einem Qualifikations- und Qualitätssiegel – auch für Menschen. Ich erntete herzliche Begrüßungen und einen ganzen Strauß voller Vorurteile, die mir im Großen und Ganzen aber immer zu Gute kamen. Und wenn man es dann noch schaffte, nicht allen negativen Vorurteilen zu entsprechen (humorlos, spießig, emotionslos), hatte man alle Vorteile auf seiner Seite. Man musste seine Karten nur gut auszuspielen wissen.

In London wurde Deutschland gleichgesetzt mit Liberalismus, modernen Technologie, schlauen und arbeitswütigen Menschen… Siemens, Volkswagen, BMW und Mercedes. Deutschsein, das bedeutete ein wenig gefühlsentleert zu sein, dafür aber grundsätzlich effektiv. Das mit den bösen Krauts schien in Großbritannien länger her zu sein, als in Deutschland. Über die Nazis im Zweiten Weltkrieg wurde in England – gerade in Armeekreisen - oftmals ohnehin mehr mit Bewunderung als mit Hass gesprochen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein ganzes Buch füllen würde.

Und fun fact: Jeder zweite Mann, der mich in meinen fünf Jahren London gefragt hat, woher ich komme, hat auf die Antwort „Germany“ hin: „Ich fahre ein deutsches Auto“ gesagt. Ernsthaft.

Kapitel 2. Crazy Shaddi in Bayswater - Mein erstes Jahr in London

Shaddi wurde zum wichtigsten Menschen für mich während meines ersten Jahres in London. Auf der britischen Insel war er meine Mama, mein Papa und mein bester Freund zugleich. In Indien geboren, war er als kleiner Junge mit seiner Familie nach Großbritannien gekommen und dort in einer Kleinstadt nördlich von London aufgewachsen. Seine Familie war riesig: Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem wir versuchten, seinen Familienstammbaum aufzuzeichnen - aber Shaddi blickte überhaupt nicht durch, mit wem er wie verwandt oder verschwägert war.

War der Mann, der erst am Tag zuvor auf einen Tee bei uns in der Wohnung gewesen war nun sein Onkel oder Cousin oder doch Bruder seiner Großmutter…? Niemand schien es so recht zu wissen. „Er gehört halt zur Familie,“ sagte Shaddi und grinste breit. Es amüsierte ihn, dass ich an seinem Stammbaum scheiterte – und das als Historikerin. Er hatte schlichtweg keine Ahnung, mit wem er wie und über wie viele Ecken verwandt war - Letzteres führte unter anderem dazu, dass er irgendwann mit seiner eigenen Cousine anbändelte ̶ dazu aber später mehr.

Im Gegensatz zu den anderen Mitarbeitern in dem indischen Restaurant in dem Shaddi arbeitete, sah er mit seinen schwarzen Haaren, der hellen Haut und dem kleinen Kinnbart nicht indisch, sondern eher wie ein Spanier oder Italiener aus. Er sprach akzentfrei Englisch und regte sich schnell über alles und jeden auf. Eigentlich tat Shaddi nichts lieber, als sich aufzuregen – auch, wenn seine Ausraster eher niedlich, als ernst zu nehmen waren. Sein sonst hell-weißes, kleines Gesicht wurde dann knallrot und er strich sich alle paar Sekunden durch seine schulterlangen, schwarzen Haare oder zupfte sich nervös in seinem Kinnbart herum, trat von einem auf den anderen Fuß und schüttelte seinen Kopf.

DAUER-AGGRO

Wenn Shaddi ausrastete, wirkte er auf Menschen, die kleiner waren als er, sicher sehr bedrohlich. Aber es gab nicht besonders viele Menschen, die kleiner waren als Shaddi. Zudem war er zierlich und wirkte in seinen engen Jeans, mit seinen dünnen Beinchen, geradezu zerbrechlich. Es dauerte nicht lange, um herauszufinden, dass Shaddi zu der Art von Menschen gehörte, die viel rumtobten und schrien, weil sie eigentlich nur mal herzlich in den Arm genommen werden wollten. Mindestens einmal pro Woche nahm ich ihn in den Arm, dann lachte er und sagte immer ganz verlegen: „Ein verrücktes deutsches Mädel - das bist du, ja, genau das.“

Eigentlich waren Shaddis Haare schon lange weiß, aber er färbte sie schwarz und nahm zum Frühstück Unmengen an Vitamintabletten zu sich, um jung zu bleiben. Die Küche stand voll mit Mittelchen aus dem Bioladen, Reformhaus oder irgendwelchen okkulten Apotheken. Morgens verspeiste er zehn bunte Tabletten, mittags nur noch die Hälfte und abends trank er eine übelriechende, algenfarbige Flüssigkeit von irgendeinem selbst ernannten Heiler, der bei uns um die Ecke wohnte. Bei allem Gesundheitswahn und den Unmengen an Geld, die er investierte, musste man Shaddi aber eines zugestehen: Er sah super gut aus für sein Alter und war top fit. Niemand schätze sein Alter auf Anhieb richtig und er genoss es, wenn Leute ihm Komplimente für sein Aussehen machten.

GANZKÖRPER-WAXING

Shaddis Schönheitswahn ging so weit, dass er sich die Haare am gesamten Körper mit Wachs entfernen ließ. Einmal im Monat. Wenn er nach dem Wachsen nach Hause kam, konnte er eine Weile lang weder liegen noch sitzen. Alternativ stampfte er dann breitbeinig bei uns in der Wohnung auf und ab und wartete darauf, dass die Ganzkörperschwellung zurückging. War ich zu Hause, wenn er nach dem Waxing Heim kam, dauerte es keine Minute, bis er zu mir ins Zimmer marschiert kam und bemitleidet werden wollte.

„Als wenn ein Mann direkt schwul sein muss, wenn er sich pflegt… was für ein Quatsch,“ redete Shaddi mit sich selbst und marschierte nur in Boxershorts bekleidet in meinem Zimmer auf und ab. Die Haut an seinem Körper war hochrot, angeschwollen und blutete sogar an einigen Stellen vom Waxing.

„Ich weiß, Shaddi,“ sagte ich beiläufig, ohne ihn anzusehen und wohl auch ein bisschen zu desinteressiert, denn Shaddi setzte noch mal neu an. Nun noch ein wenig dramatischer:

„Nein, ich meine, im Ernst, was soll das? Ich trag gern schöne Klamotten, na und? Macht mich das schwul? Weil ich gut aussehe? Weil ich gepflegt bin?“

„Das mit dem Ganzkörperwachsen ist vielleicht ein wenig übertrieben…“ merkte ich an, in Anbetracht dessen, dass ich jedes Mal dasselbe Gespräch mit ihm führen musste, wenn er vom Waxing kam.

„Warum denn? Frauen mögen glatte Haut und ich…“ erklärte Shaddi, blieb dicht neben mir stehen und strich sich über seinen Bauch, „ich mag das eben auch,“. Ich roch, dass er mal wieder ins Parfumfass gefallen war und unterdrückte ein Lachen, blätterte eine Seite um, in dem Buch, das ich zu lesen versuchte und sagte dann beiläufig „ich sag doch auch gar nichts.“

„Tust du doch – ich seh‘ doch wie du guckst…“ konterte er. Ich musste lächeln und schaute ihn nun an, während er sich mit einer melodramatischen Geste durch die Haare fuhr.

Also legte ich das Buch beiseite und hörte ihm zu. Ich wusste nur zu gut, dass es unmöglich sein würde weiterzulesen, wenn ich ihm nicht sofort meine Aufmerksamkeit schenkte.

Manchmal kam Shaddi in mein Zimmer, um nicht alleine zu sein. Wenn ich ihn ignorierte, setzte er sich irgendwann auf das zweite Bett und begann auf seinem Handy rum zu tippen oder sich meine Sachen anzuschauen. Ich mochte es, wenn er bei mir war. Manchmal kam es daher, dass ich stundenlang etwas anders tat in meinem Zimmer, während er da war und sich selbst beschäftigte. Er schien sich ungeheuer wohl zu fühlen in meiner Gegenwart. Ein Kompliment, das ich uneingeschränkt zurückgeben konnte, denn auch ich hatte Shaddi gerne um mich herum. Ist doch faszinierend, dass es Menschen gibt, mit denen man sich einfach pudelwohl fühlt. Als besonders süß empfand ich, dass Shaddi manchmal regelrecht versuchte, mich in sein Zimmer zu locken. Er rief mich dann unter irgendeinem Vorwand und wenn ich in seinem Zimmer ankam, sagte er sowas wie: „Schau mal, der Film fängt gerade an. Hast du Lust, den mit mir zu gucken? Ich habe sogar etwas Popcorn.“ Der liebe Shaddi.

„Ach komm schon, Shaddi“ sagte ich dieses Mal, „du bist doch nur beleidigt, weil ich dich nicht bemitleide…“

„So ein Quatsch,“ konterte er und stand eine Weile gekränkt in der Tür herum, bevor er sich doch nicht zum Gehen entschied, zurück zu dem kleinen Tischchen kam, an dem ich zu lesen versuchte und mich feste am Arm fasste: „Komm mal eben mit, ich zeig dir die neuen Hemden, die ich im Charity Shop um die Ecke gekauft habe.“

Mindestens einmal im Monat hatten wir dieses Gespräch. Shaddi nahm mich dann mit in sein Zimmer und zeigte mir bunte Hawaii-Hemden, Hosen in Knallfarben oder viel zu große, glänzende Jacketts die er sich im Charity Shop bei uns um die Ecke gekauft hatte. Jeder hat schon mal diesen Moment erlebt: Man geht in einen Laden und sieht ein völlig verrücktes Kleidungsstück, nimmt es in die Hand, schaut es genau an und fragt sich: Wer in aller Welt würde DAS (!) kaufen und vor allem auch auf der Straße anziehen? Die Antwort war: Shaddi.

CHARITY SHOPS

Charity Shops sind kleine second-hand Läden, die einem guten Zweck dienen. Manche setzen sich für Obdachlose ein, andere für den Tierschutz oder die Forschung zur Heilung bestimmter Krankheiten. Das Prinzip der Charity Shops ist einfach: Menschen können ihre alten Anziehsachen, Schuhe, DVDs, CDs und Haushaltsgegenstände im jeweiligen Laden für einen guten Zweck abgeben. Die Charity Shops verkaufen die gut erhaltenen Dinge dann in ihren Läden für einen kleinen Obolus. Auf diese Weise nehmen sie Geld für den guten Zweck (für den der jeweilige Laden steht) ein.

Anstatt in die Kleiderboxen des Roten Kreuzes, (wie wir das in Deutschland kennen,) bringen die meisten Engländer ihre alten Sachen in Charity Shops, die es sogar in kleineren, britischen Städten gibt.

In den Läden arbeiten so genannte charity worker - das sind meist Sozialhilfeempfänger, Ehrenamtliche oder Ex-Knackis. Dadurch haben die Läden eine gute Gewinnspanne, da meist nur der Geschäftsführer bezahlt wird und die gewinnbringend verkaufte Ware nicht vorher vom Ladenbesitzer eingekauft werden musste, da sie dem Laden geschenkt worden ist. Manche Charity Shops sind günstiger als andere. Das hat meistens etwas mit der Gegend zu tun, in der sie ansässig sind und aus welcher Schicht die dort lebenden Menschen stammen. Da in Kensington, Notting Hill und Bayswater eher wohlhabendere Menschen leben, zählten die Charity Shops bei uns im Bezirk eher zu den teureren – hatten dafür aber auch einen großen Fundus von Kostbarkeiten im Angebot.

Zweimal im Jahr veranstaltete der teure Charity Shop bei Shaddi und mir um die Ecke einen großen SALE: Dann wurden zuerst alle Kleidungsstücke für 8 Pfund verkauft und danach jeden Tag immer ein Pfund günstiger. Ich erinnere mich an zahlreiche Kampfaktionen mit anderen Frauen am 2 Pfund-Tag. Die Designertaschen, Pumps, Jacketts, Röcke, Kleider, Blusen, Pullis – ALLES kostete nur 2 Pfund und die Frauen im Laden schlugen sich regelrecht um die ergatterten Fundstücke.

Shaddi hatte schon aufgrund seines ausgefallenen Kleidergeschmacks gute Beziehungen zum Personal im Shop – regelmäßig wechselnden Hippies. Sie ließen ihn immer wissen, wann der 2-Pfund-Tag anstand, was es uns ermöglichte, morgens als Erstes auf der Matte zu stehen, bevor die offizielle Schlacht um die Designerstücke im Laden losging.

Da ich mir nicht viel aus Essen machte und beim Ausgehen abends meistens von irgendwem eingeladen wurde, ging mein gesamtes Stipendiengeld für Zugtickets und Designerware zum Preis von 2 Pfund drauf. Noch heute habe ich zahlreiche dieser 2-Pfund-Schnäppchen in meinem Kleiderschrank: von Karen Millen bis Armani. Ich liebte die Charity Shops und Shaddi liebte sie auch. Im Gegensatz zu mir kaufte er aber nicht nur Anziehsachen in den Läden, sondern auch allerhand Plunder für unsere Wohnung. Vom Aschenbecher, der wie eine kleine, grüne Kröte aussah, deren Rachen die Asche verschluckte, bis hin zum neunteiligen Blumentopfset, für das er kleine, grüne Petersilientöpfe kaufte, die nach drei Wochen tot auf unserem improvisierten Balkon vor sich hinsiechten.

Riskant wurden Situationen mit Shaddi immer erst, wenn jemand seinen Stil in Frage stellte. Lob war stets willkommen, aber wer seinen Kleidungsstil kritisierte, konnte sich auch ganz schnell mal eine einfangen. An meinem ersten Silvester in London schmiss Shaddi einem Mann einen Burger ins Gesicht, der ihn als tuntig bezeichnet hatte. Keine zwei Wochen später, mischte er einem Kellner den stärksten Chili, - den er in der Küche hatte finden könnte, - ins Essen, nur, weil dieser die Kombination von schwarzen Leggins mit einem knielangen Batik-T-Shirt an Shaddi belächelt hatte. Noch am selben Abend beichtete Shaddi mir seine hinterlistige Aktion und erklärte dann ausführlich, warum der wohl schon am selben Tag begonnene Leidensweg des Kellners auf der Toilette genau die richtige Strafe für dessen diskriminierende Haltung Shaddis Kleidungsstil gegenüber gewesen sei. Kleinkrieg gehörte zu Shaddis Hobbies.

ISLAM BY SHADDI

Shaddi war Moslem, ging aber nur ab und an freitags in die Moschee. Manche Sitten und Riten fand er ganz wichtig - andere waren ihm völlig fremd. Er betete nicht zu Hause, wurde aber trotzdem ganz böse, wenn jemand versehentlich auf seinen kleinen Betteppich trat. Den hatte er unsinniger Weise direkt in der Mitte des Zimmers liegen - und da das Zimmer dauerhaft zugemüllt war, hatte man gar keine andere Wahl, außer den Teppich zu überspringen, wenn man in den hinteren Teil seines Zimmers gelangen wollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, Shaddi hatte den Teppich nur in der Mitte des Zimmers liegen, damit er seine uneinsichtigen Gäste zurechtweisen und kritisieren konnte, - denn eigentlich mussten alle Menschen, (wenn sie sich bei ihm im Zimmer aufhielten,) zwangsläufig irgendwann auf den kleinen Teppich treten.

Schweinefleisch kam uns nicht in die Wohnung, dafür war der gesamte Kühlschrank manchmal bis zum Rand gefüllt mit frischen Grillhähnchen, die bei Shaddi auf der Arbeit übriggeblieben waren. Shaddi war stolz, Moslem zu sein, auch, wenn er aus rein wissenschaftlicher Sicht nicht besonders viel über seine eigene Religion wusste. Wichtig war ihm jedoch, dass fremde Menschen ihn nicht für einen Hindu hielten, denn die waren aus Shaddis Sicht alle „Hirnis, die nur an die Liebe glauben und sonst nix.“ Per se hörte sich das für mich relativ friedlich und daher ganz niedlich an – aber Shaddi benutzte das Wort Hindu tatsächlich als Schimpfwort. Für ihn waren Hindus die Personifikation von Naivität und Lebensfremdheit. Fand er eine Idee ganz besonders unreif, sagte er zu mir: „Du könntest auch ein Hindu sein, wirklich!

An die Liebe glaubte Shaddi zwar auch, aber er betonte immer, dass die Liebe zu einer Frau oder einem Mann nicht im Lebenszentrum eines Menschen stehen sollte. Für Shaddi war trotz aller Wutausbrüche und Kleinkriege die zwischenmenschliche Liebe am aller wertvollsten. Nicht die Liebe zwischen Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau, sondern allgemein die Liebe zwischen Menschen, die miteinander in einem Haus, einer Straße oder einem Stadtteil lebten. Er bemühte sich redlich, die Menschen aus unserer Nachbarschaft so zu behandelt, als wenn sie zu seiner Familie gehörten. Alle.

Es war Shaddi sehr wichtig, dass ich verstand, dass sich der wahre Islam, wie er ihn nannte, nicht groß von anderen Religionen unterschied und die Angst vor seiner Religion, (der er sich in London manchmal ausgesetzt sah,) völlig unberechtigt sei. Nach über einem Jahr mit Shaddi konnte ich diese Ansicht nur teilen: All seine muslimischen Freunde waren herzliche Menschen, die mich in ihre Reihen aufnahmen und versorgten, als sei dies ganz selbstverständlich. Dass ich eine römisch-katholisch getaufte Christin bin, musste ich nicht ein einziges Mal während meiner Jahre in London sagen – warum? Schlichtweg, weil nie jemand danach gefragt hat. Es war irrelevant.

ANGEKOMMEN IM PARADIES

Um Lebensmitteleinkäufe musste ich mich nur sehr selten kümmern, da Shaddi fast alles von der Arbeit mitbrachte. Am liebsten aß ich seinen egg-fried-rice, den er mir immer extra kochte, weil ich keine scharfen Gewürze mochte. Shaddis Reis war so schmackhaft und gut gewürzt, dass man ihn auch kalt essen konnte. Zwischendurch gab es bei uns zur Abwechslung Sushi, das sein bester Freund, Yae, der als Kellner in einem edlen Sushi-Restaurant an der Portobello Road arbeitete, jeden zweiten Abend bei uns vorbeibrachte. Unser Kühlschrank war auf jedem Fall immer prall gefüllt, was es mir ermöglichte, grundsätzlich Freunde aus der Uni zum Essen mit Heim zu nehmen, da Shaddi entweder für uns vorgesorgt hatte oder dann ganz aufgeregt in die Küche lief, um uns etwas zu holen. Er war die gute Seele des Hauses.

Parallel sparte ich ungeheuer viel Geld, bemerkte das aber so recht erst, als ich nicht mehr bei Shaddi wohnte. London war teuer, in jeder Hinsicht. Ob nun einkaufen und selbst kochen oder draußen essen gehen. Häufig weiß man ja erst, was man an jemandem hat, wenn man die Person verloren hat. Bei Shaddi ging es mir ähnlich. Und das hatte wirklich nichts mit Geld sparen zu tun, sondern damit, dass er sich um mich sorgte, als sei ich ein wichtiger Teil seines Lebens. Ich war wohl behütet in Bayswater bei Shaddi und musste mir um nichts Sorgen machen. Wenn ich heute an Shaddi denke, zaubert es mir nach wie vor ein Lächeln aufs Gesicht und ich bin froh, dass es ihn gibt.

In Bayswater war Shaddi meine Ersatzmutti. Ich war behütet, wurde versorgt und musste nur bedingt auf eigenen Beinen stehen, da Shaddi sich um alles kümmerte: Von den Nebenkostenrechnungen bis zum sauber machen. Es gab nur zwei Dinge, auf die ich penibel achten musste, weil er sonst ausrastete: Keine Krümel in der Küche hinterlassen und immer alle Steckdosen nach deren Benutzung ausschalten. In England haben viele Steckdosen noch separate An- und Ausschaltbalken neben den Steckdoseneingängen. Waren diese aus, floss logischer Weise auch kein Strom, wenn man den Stecker in die Dose steckte.

Da geht wertvolle Energie verloren, wenn man das anlässt“, hatte Shaddi mir direkt an meinem Einzugstag erklärt, „das wäre Geldverschwendung – deswegen mach sie, nachdem du sie benutzt hast, immer sofort wieder aus. Vergiss das nicht. Versprich es!

Ich versprach es.

Yae und Shaddi waren ganz verrückt nach japanischen Frauen. Yae war ein Halb-Thai und hatte bereits zwei Kinder mit einer Engländerin. Jeden Abend nach der Arbeit rief er Shaddi an und die beiden bequatschten stundenlang Verhaltensweisen von Frauen. Jede Geste und jeder gesprochene Satz einer Frau wurden analysiert und interpretiert. Dass nur Frauen sich über unnötige Kleinigkeiten Gedanken machen ist ein Klischee.

Das Leben mit Shaddi war herrlich. Ich musste nur drei Tage in der Woche zur Uni und hatte die Wohnung zumeist für mich alleine. Wenn ich morgens ging, war Shaddi noch am Schlafen und wenn ich abends wiederkam, war er auf der Arbeit. In der Regel arbeitete er bis Mitternacht. Häufig wartete ich dann auf ihn, einfach, weil mir nach einer Unterhaltung zumute war. Niemand konnte so viel reden wie Shaddi. Ohne Punkt und Komma erzählte er von seinen neuesten Einkäufen, den Missgeschicken anderer Menschen, seinen ihm verhassten Arbeitskollegen, (die er allesamt strunz-dumm fand,) oder seinen Plänen für die Zukunft. Und ganz traditionell beinhaltete jeder zweite Shaddi-Satz mindestens ein bugger.

BUGGER

Bugger ist ein Slang-Wort, das so ziemlich alles von "Hoppla!" über „Blödmann“ oder „Idiot“ bis hin zu kleinen Tieren oder Kindern ("cute little buggers") beschreiben kann. Shaddis Lieblingskombination war der „dirty bugger“ für sexuelle Anspielungen, die er zumeist selbst machte – der dirty bugger war allerdings nicht er, sondern alle Menschen, die über seine Anspielungen lachten. Wie bereits erwähnt, kam es beim Gebrauch von englischen Schimpfwörtern eher darauf an, wie und wann man sie einsetzte, als darauf, was sie eigentlich bedeuten. Während wir im Deutschen meist versuchen Wörter zu entkräften, indem wir sie verniedlichen oder die Betonung verändern, kam es im Englischen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Komponenten an, von der Stimmlage bis hin zur Kontextualisierung. Als ich das Wort bugger zum ersten (und dann auch letzten Mal) benutzte, ging das ordentlich in die Hose. Mein Gegenüber verlieh seinem Gesicht einen Ausdruck maßloser Empörung und forderte umgehend eine Entschuldigung. Sowas passierte Shaddi nie. Er war der Schimpfwörter-Champ.

FEIERN MIT NICOLETTA

Nicoletta, Shaddis damalige beste Freundin, die zugleich auch seine Ex-Freundin war, lebte direkt auf der anderen Straßenseite. Nachdem Nicoletta vor mehr als zwanzig Jahren wegen ihrer wohl etwas seltsamen Familie in Italien nach London geflüchtet war, hatte Shaddi sie zu sich aufgenommen. Damals waren die beiden ungefähr gleich alt und dachten, dass sie füreinander bestimmt seien. Die Beziehung hielt nicht lange. Nicoletta sah in Shaddi eher einen guten Freund, als den Mann ihres Lebens.

Ihr fiel es zunächst schwer, neue Bekanntschaften in London zu machen. Sie war eher ruhig – das genaue Gegenteil von Shaddi. Und so kam es, dass sie bis heute eng befreundet sind. Der extrovertierte Shaddi und die schüchterne Nicoletta. Fast jedes Wochenende unternahmen sie gemeinsam etwas: Mal gingen sie shoppen, mal hip Brunchen in einem angesagten Restaurant in der Gegend oder einfach Spazieren, um den neuesten Klatsch und Tratsch über Menschen, die sie beide kannten, auszutauschen.

Es dauerte nicht lange, nachdem ich bei Shaddi eingezogen war, bis ich in den kleinen Zweierclub aufgenommen wurde. Shaddi hielt mich per SMS auf dem Laufenden, wo sie waren und wenn ich Zeit und Muße hatte, verbrachte ich ein paar Stündchen mit ihnen zusammen.

An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatten die beide einen Tisch beim Italiener auf der Ladbroke Grove für uns reserviert, schenkten mir eine wunderschöne Kette mit einem Herzchenanhänger und schafften es, alle Gäste in einer Bar in Kensington, in der wir den Abend im Anschluss verbrachten, dazu zu bringen, aufzustehen und mir ein Ständchen zu singen. Shaddi und Nicoletta waren unbezahlbar. Ebenso das Leben, das sie führten und in das sie mich so liebevoll und kompromisslos aufgenommen hatten. Nicoletta versuchte mich zu einer Großstadtprinzessin zu machen, indem sie mich ständig versuchte zu überreden, mir die Nägel machen zu lassen, teure Designerpumps zu kaufen oder mich mit dem Gedanken anzufreunden, mir Botox spritzen lassen. Sie gab ihr gesamtes Erspartes für den Erhalt ihrer Schönheit aus: Ob nun ein wenig Fett absaugen lassen an ihren Knien oder sich künstliche Augenbrauen aufmalen zu lassen. Unsere Gespräche waren meist oberflächlich, was mich aber keinesfalls störte. Im Gegenteil. Es war ein guter Ausgleich zu meinen Tagen in der Uni und ich schätzte Nicolettas aufrichtige, gute Art sehr. In meiner Welt konnte Intellekt schon immer wett gemacht werden mit emotionaler Intelligenz oder Gutherzigkeit. Bis heute.

Nicoletta war Mitglied in so einer Art sozialen Verbindung. So eine Art Lions Club, in dem es aber nicht um den guten Zweck, sondern lediglich um das Netzwerk schöner und einflussreicher Menschen ging. Details erfragte ich nie, da ich ein wenig Angst vor der Wahrheit hatte. Gemeinsam hatten die Mitglieder dieser Verbindung, dass sie alle überdurchschnittlich gut aussahen und gerne schick essen und feiern gingen. Ob das nun reinster Zufall war oder nicht – Nicoletta machte ein großes Geheimnis daraus, wie sie diese Menschen kennen gelernt hatte und was sie tun musste, um Teil der Verbindung bleiben zu dürfen.

Wenn ich am Wochenende nicht in Camden oder South London mit Studienkollegen unterwegs war, schloss ich mich Nicoletta und ihren Verbindungsmenschen an, wenn die feiern anstatt essen gingen. Noble Restaurants konnte ich mir in London nicht leisten, also ließ ich das essen zumeist ausfallen und traf die Meute dann erst irgendwo direkt vor`m Club. Auch dort konnte ich mir weder Eintritt noch Getränke leisten, aber in der Regel ließ sich ein junger Mann finden, der sich Hoffnung machte, die Nacht nicht alleine verbringen zu müssen und daher spendabel für alles bezahlte. Und diese Sorte von Mann musste ich nicht einmal erst finden – meist stand Nicoletta schon mit ein oder zwei Männern vor dem Eingang und wartete auf mich. „The German girl“ hieß es dann und alle waren ganz interessiert, so, als sei meine Nationalität etwas extrem Exotisches. Da Nicoletta ihr Geld lieber für Schönheits-Operationen ausgab, ließ auch sie sich gerne einladen. Vielleicht war es gerade unser Altersunterschied, der uns zu einer explosiven Mischung machte. Wir ließen es uns gut gehen und die einzigen Kosten, die aufkamen, waren die für das Taxi nach Hause. Das teilen wir uns zumeist, unser Heimweg war ohnehin derselbe.

Eines Abends nahm Nicoletta Shaddi und mich auf die Geburtstagsparty eines britischen Models mit. Er wurde dreißig und hatte sich gewünscht, dass all seine Gäste in weiß kommen sollten. Nicoletta und ich trafen uns daher freitags im Charity Shop unseres Vertrauens und deckten uns mit weißem Kleidchen, Handtasche und Haarschleifen ein. Dass wir den Typen nicht mal kannten, schien kein Problem zu sein. Nicoletta telefonierte kurz und gab Shaddi und mich einfach als ihre plus 1, beziehungsweise plus 2 Begleitung an. Wir standen nun auf der Gästeliste. Während alle anderen Gäste in Autos mit Fahrern vorfuhren und sich am Club nur absetzen ließen, waren Shaddi, Nicoletta und ich mit der tube gekommen. Nicoletta war das so unangenehm, dass wir dreimal um den Block laufen mussten, bis alle im Club verschwunden waren und uns keiner mehr kommen sehen konnte.

Kein Eintritt. Nicoletta sagte unsere Namen und der Türsteher im MI6-Anzug strich sie auf einer Liste auf dem Klippboard, das er in seiner Hand hielt, durch und schob die Tür hinter sich einen Spalt auf. Wir nickten ihm nett zu und wurden dann in eine Vorhalle geleitet. Links befand sich eine Treppe, die in den Hauptraum des Clubs führte. Shaddi drehte sich auf der Treppe zu mir um und fing laut an zu lachen: „Gott sei Dank – kein Eintritt. Eintritt hätten wir uns hier auch nicht leisten können. In dem Laden verdient die Klofrau in einer Nacht mehr als ich im Jahr…

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137200
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Großbritannien Kulturstudien Abenteuer London Reisen Auslandsaufenthalt Lebenserfahrungen Erlebnis Erzählung Humor Erzählungen Kurzgeschichten Satire Parodie

Autor

  • Ronja Maue (Autor:in)

„Ronja Maue“ veröffentlicht seit ihrer Jugend Essays und Lyrik. Ihre Texte sind international veröffentlicht und preisgekrönt. Sie lebt und arbeitet in Berlin. >Koks im Zuckerstreuer und Kakerlaken in der Wand< ist eine autobiographische Abhandlung. Das Pseudonym dient dem Schutz der Personen in diesem Roman, denn es gibt sie wirklich alle…
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Titel: Koks im Zuckerstreuer und Kakerlaken in der Wand