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Blutfels

von Amelie Maria Winter (Autor:in)
145 Seiten

Zusammenfassung

Am Grab ihrer Mutter sehen sich Verena und ihr Bruder Carsten zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihre Mutter hat den beiden in einem Testament viel Geld, teuren Schmuck und eine Villa auf Madeira hinterlassen. Daraufhin entschließt sich Verena, für eine Zeit lang auf Madeira zu wohnen. Da arbeitet auch der Gärtner António, der Verena für sich gewinnen will, und der ein Geheimnis hat, hinter das Verena gerne kommen möchte. Und da ist auch noch der geheimnisvolle Safe, der zuerst nicht auffindbar ist…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Blutfels

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Blutfels

Amelie Maria Winter

Roman

Impressum:

Titel: Blutfels

Texte: Copyright ©2018 Amelie Maria Winter

Das kleine Atelier – Literatur- und Kunstverlag

Anna Margareta Windheim, Spitalgasse 5a

D-91438 Bad Windsheim, https://www.dka-literatur.de

Umschlaggestaltung: ©2018 Das kleine Atelier

Fotos: ©2018 Das kleine Atelier

Gesamtgestaltung: ©2018 Das kleine Atelier

Druck: CPI Buchbücher GmbH, D-96158 Birkach

ISBN 978-3-947275-07-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Über die Autorin:

Anna Margareta Windheim schreibt unter dem Autorennamen »Amelie Maria Winter« ihre Romane und Erzählungen. Sie wurde in den Wirren des 2. Weltkrieges 1941 geboren. Ihre musisch begabten Eltern weckten schon früh ihr Talent für Musik, Zeichnen und Malen. Freunde auf der ganzen Welt und Reisen in viele Länder der Erde geben ihr die Inspirationen für ihre Bücher.

Inhalt

Am Grab ihrer Mutter sehen sich Verena und ihr Bruder Carsten zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihre Mutter hat den beiden in einem Testament viel Geld, teuren Schmuck und eine Villa auf Madeira hinterlassen. Daraufhin entschließt sich Verena, für eine Zeit lang auf Madeira zu wohnen. Da arbeitet auch der Gärtner António, der Verena unbedingt für sich gewinnen will, und der ein Geheimnis hat, hinter das Verena gerne kommen möchte. Und da ist auch noch der geheimnisvolle Safe, der zuerst nicht auffindbar ist …

Kapitel 1

Die grobe, dunkle Erde fiel hart und metallisch klingend auf die kupferfarbene Urne, als der Pfarrer die Schaufel über der kleinen Öffnung des Grabes langsam in seiner Hand drehte.

»Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub. Und der Herr wird dich auferwecken am Jüngsten Tag!«

Der Seelsorger der kleinen Gemeinde in der Nähe von München drehte sich zu den Trauergästen um und hob seine rechte Hand zum Kreuzzeichen:

»Es segne Euch der gütige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Gehet hin in Frieden. Amen!«

Mit seinen kleinen, verkniffenen Augen, die fast unter den dichten, schwarzen Augenbrauen verschwanden, musterte er kurz die kleine Trauergemeinde, die sich um das breite Familiengrab gruppiert hatte, und schloss behutsam sein dickes Gebetbuch. Dann drehte er sich langsam zu Verena um und griff nach ihrer Hand:

»Der Herr wird dich trösten und stärken! Wir sind alle in Gottes Hand! Mein herzlichstes Beileid!«

Verena erschauerte, als die kalte Hand des Pfarrers mit ihren langen, knöcherigen Fingern wie ein Stück totes Fleisch in ihrer Hand lag – leblos, weich und ohne Druck.

Er gab auch ihrem Bruder Carsten, der neben ihr stand, mit einem kurzen Nicken die Hand; dann verbeugte er sich leicht vor den wenigen Trauernden und setzte sein schwarzes Birett wieder auf sein schon etwas schütteres, graues Haar. Er winkte kurz seinen zwei Ministranten und verließ eilig mit ihnen die Grabstelle und den stillen Friedhof.

Der Duft von Weihrauch lag noch in der warmen Frühlingsluft und über den Gräbern, die um die kleine Kirche mit einem Zwiebelturm angelegt waren. Verena beugte sich langsam über das Grab und legte eine rote Rose zum Abschied auf die Urne. Sie konnte sich nicht überwinden, auch von der Erde zu nehmen. Zu hart und zu laut war für sie die Erde aus der Schaufel des Geistlichen in die friedvolle Stille des Friedhofs geschlagen und hatte ihr Herz tief getroffen.

Ihr Bruder Carsten trat hinzu, ließ ein wenig feine Erde über die Urne rieseln und nahm seine Schwester wie schützend in den Arm. Sie traten zurück und ließen die anderen, unbekannten Trauergäste Abschied von der Toten nehmen. Es waren nicht viele aus dem Dorf. Zu lange war Verena schon weg gewesen ‒ niemand schien sich ihrer zu erinnern. Dabei hatten doch all die alten Menschen ihre Mutter und auch Verena gekannt. Es schien alles in Vergessenheit geraten zu sein.

Sie nickten nur kurz Verena zu, dann entfernten sie sich in aller Eile oder blieben, doch etwas neugierig geworden, in einiger Entfernung oder an anderen Gräbern stehen.

Verena blickte mit Tränen in den Augen hinauf zum blauen Himmel, an dem eine einzelne kleine, weiße Wolke stand.

»Mama! Mama, wohin gehst du?« Aber ihre stumme Frage bekam keine Antwort.

Kapitel 2

»Mama! Mama, wo gehst du hin?«

Verena stand am geöffneten Fenster ihres kleinen Zimmers unter dem Dach und blickte hinaus. Dort unten im Hof des großen Anwesens parkte eine schwarze Limousine. Ihre Mutter stand auf der Treppe des großen Bauernhauses und sah zu, wie der Fahrer zwei große Koffer und eine Reisetasche im Kofferraum des unheilvoll aussehenden Autos einlud.

Dann stieg ihre Mutter, ohne sich noch einmal umzudrehen, in das Auto ein. Das Zuschlagen der Autotür hallte im großen Hof an der Scheune wider und klang wie ein dumpfer Schuss.

Verena fuhr erschrocken zusammen. Der Fahrer startete den Motor und fuhr langsam aus der Hofeinfahrt hinaus auf die breite Dorfstraße.

»Mama! Mama, wohin gehst du? Ich will mit ‒ ich will doch auch mit!«, rief sie dem Auto nach, das jetzt schon durch das große, mit dunkelroten Kletterrosen bewachsene Tor verschwunden war.

Die vierjährige Verena konnte nicht begreifen, dass ihre Mutter gegangen war ‒ ohne sich zu verabschieden ‒ ohne ein Wort ‒ ohne eine zärtliche Umarmung und ohne einen liebevollen Kuss! Es war für das Mädchen unverständlich und grausam.

Verena lief rasch die Treppe hinunter, öffnete die schwere Eichentür des Hauses und schaute enttäuscht hinaus in den jetzt leeren Hof. Ihre Mutter war fort. Warum?

Ihr Vater trat hinter sie, zog sie von der Haustür weg und schloss diese energisch.

»Komm herein!«, sagte er kurz zu ihr.

Er machte nie viele Worte.

»Aber, Papa!«, Verena schaute fragend zu ihrem Vater auf. »Mama kommt doch wieder ‒ oder? Wohin ist sie denn gefahren? Und warum sind wir nicht mitgefahren?«

»Das verstehst du jetzt noch nicht! Sie ist fortgefahren!« Seine Stimme klang rau. »Sie kommt nicht mehr zurück! Sie hat uns alle verlassen! Aber die Oma ist jetzt auch noch da! Die hast du doch auch lieb ‒ oder?«

Damit war für den Vater das Thema »Mutter« beendet ‒ aber nicht für Verena.

Sie stand allein im dunklen Flur des großen Bauernhauses, drehte den Saum ihres roten Pullovers mit ihren kleinen Händen zu einer dicken Rolle und blickte stumm zur Tür, hinter der das Wohnzimmer lag, durch die ihr Vater jetzt verschwunden war.

Sie konnte nicht begreifen, dass ihre so geliebte Mutter auch am nächsten Tag nicht wieder zurück sein würde ‒ auch nicht in der nächsten Woche und nicht im nächsten Monat. Ihre Mutter war fortgegangen.

Verena zog die dicke Wollrolle an ihr Gesicht und biss hinein. Dann stampfte sie heftig mit dem Fuß auf und schrie: »Nein! Nein! Ich will doch auch mit! Oma! Oma, wo bist du? Ich will auch mit!«, und sie brach in ein herzzerreißendes Weinen und Schluchzen aus.

Ihre Großmutter kam aus der Küche, nahm sie tröstend in die Arme und hielt sie fest.

»Sie wird schon wieder kommen! Du musst nur etwas warten, dann ist sie bestimmt schon bald wieder da!«

Sie trocknete mit einem Schürzenzipfel das von Tränen genässte, kleine Gesicht und blickte Verena ernst an:

»Sie ist jetzt einmal weg! Wir müssen abwarten!«, und sie setzte noch wie zur Beruhigung hinzu:

»Dann wird bestimmt alles wieder gut!«

Ihre Großmutter wischte sich heimlich ein paar Tränen aus den Augen. Verena sollte nicht sehen, dass auch ihre liebe Oma geweint hatte. Sie wollte zuversichtlich zu Verena sein, um sie trösten zu können.

Aber ihre Großmutter wusste mehr. Sie konnte es doch der vierjährigen Verena nicht erklären. Das kleine Mädchen würde es doch nicht verstehen.

Aber die Mutter kam nicht mehr zurück. Sie hatte den Vater, Verena und alles zurückgelassen, was sie mit dem Haus und dem Hof verbunden hatte. Sie hatte nur fortgehen wollen, weg vom streitsüchtigen und harten Ehemann, der ihr Leben unerträglich gemacht hatte. Verena hatte sie nicht mitnehmen dürfen. Das war ihr größter Schmerz und Verlust gewesen. Der Vater hatte es nicht zugelassen.

Am Abend schlich sich Verena noch einmal heimlich aus dem Bett, öffnete das Fenster und blickte hinauf zum nachtschwarzen Himmel, der über und über mit blinkenden und glitzernden Sternen übersät war. Einer von ihnen erschien ihr besonders hell und schön.

»Du bist jetzt mein Stern«, sagte sie mit ihrem kindlichen Verstand und faltete ihre kleinen Hände wie zu einem Gebet.

»Du bist so schön und so hell. Mama kann dich bestimmt auch sehen. Und wenn Mama dich dann sieht, dann sage ihr, dass ich an sie denke. Dann denkt sie auch an mich. Und dann kommt sie auch bald wieder heim. Gute Nacht, mein Stern!«

Mit blanken Füßen ging sie leise über den einfachen, geölten Dielenboden wieder zurück und stieg in ihr Bettchen, das in der kleinen Kammer im oberen Stockwerk unter der Dachschräge stand. Sie zog das dicke Federbett aus Gänse- und Entendaunen über ihren Kopf, rollte sich wie ein Kätzchen zusammen, steckte sich ihren Daumen in den Mund, was sie zwar nicht durfte ‒ aber niemand sah es ‒ und schlief bald ein.

Der Orion mit seinen weiten Schwingen hing wie ein Schmetterling am Firmament der sternenklaren Nacht über dem Hofgut. Der Rigel, der helle Stern an einem Ende eines Flügels, blinkte und funkelte am Himmel und sandte die Grüße zu ihrer Mutter, die nicht mehr da war.

Kapitel 3

Das helle Schlagen der Kirchturmuhr rief Verena wieder in die harte Wirklichkeit zurück.

»Komm!«

Ihr Bruder Carsten nahm seine Schwester bei der Hand und zog sie sacht vom Grab weg.

Sie drehten sich um. Hinter ihnen, am nächsten Grabstein, stand nur noch ein einzelner Trauergast. Es war ein großgewachsener Mann in einem dunklen Anzug.

Er hatte grau melierte, leicht gelockte Haare. In seiner rechten Hand hielt er eine weiße Rose mit einem schwarzen Trauerband. Er hatte die beiden Geschwister schon seit einer längeren Zeit beobachtet. Schon als sie den Friedhof betreten hatten, hatte er sofort gewusst, dass sie die Kinder Franziskas sein mussten.

Der Mann ging nun langsam zum Grab und legte die Rose vorsichtig auf die Urne. Er verharrte eine Weile, dann verbeugte er sich kurz, drehte sich um und ging auf Verena und Carsten zu.

»Guten Tag! Ich bin Notar Richard Friesinger aus München«, stellte er sich vor. »Ich habe Sie benachrichtigt. Sie sind sicher Verena und Carsten, Franziskas Kinder! Mein aufrichtiges Beileid!«

Er gab beiden die Hand: »Es tut mir leid, dass ich nicht eher kommen konnte. Aber um aus München herauszukommen bis hierher benötigt man mehr Zeit, als ich gedacht hatte. Deshalb die Verspätung. Aber jetzt können wir uns auch persönlich kennenlernen.«

»Ja, ich glaube, es gibt viel zu erfahren und auch zu erzählen.« Carsten umfasste wieder Verenas Schulter.

»Komm!«, sagte er, »wir wollen den Friedhof verlassen und irgendwo hingehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«

Aber der Notar hielt sie kurz zurück:

»Ich muss leider wieder zurück nach München. Aber wir können ja für morgen einen Termin festhalten und Sie können dann in meine Kanzlei kommen. Ihre Mutter hat ein Testament hinterlassen, wie ich Ihnen schon geschrieben hatte, das ich Ihnen eröffnen muss. Sagen wir morgen am Vormittag um zehn Uhr? Ist Ihnen das recht?«

Carsten sah seine Schwester fragend an: »Geht das?«

»Ja, das ist möglich. Ich muss hier nur noch die üblichen Formalitäten erledigen, dann kann ich noch heute nach München fahren. Ich bin ja mit meinem Auto hier!«

»Gut! Dann bis morgen um zehn Uhr. Die Anschrift meiner Kanzlei haben Sie ja mit dem Brief erhalten!«

Der Notar verabschiedete sich und ließ die Geschwister allein. Die beiden schauten ihm stumm nach, bis er hinter der kleinen Dorfkirche verschwunden war.

Verena und Carsten sahen sich an.

»Ich glaube, wir haben uns sehr viel zu erzählen«, meinte Verena etwas vorsichtig, aber Carsten pflichtete ihr gleich bei: »Ja, das glaube ich auch! Aber es ist gar nicht so einfach, plötzlich eine Schwester zu haben, die dazu auch noch so hübsch ist! ‒ Wie alt bist du eigentlich?«

Carsten drehte Verena zu sich um und schaute ihr direkt in die Augen.

»Oh, ich bin jetzt vierundzwanzig ‒ und du?«

Verena war gespannt auf sein Alter.

Sie schätzte ihn etwas älter.

»Da bin ich wohl dein älterer Bruder, denn ich bin schon achtundzwanzig! Oder ist das schon alt?«

Er lachte und Verena meinte:

»Nein! Das ist doch jung! Aber ‒ na ja, lassen wir das! Also ‒ ich war vor drei Jahren das letzte Mal hier, als Großmutter gestorben war. Da habe ich auch Papa das letzte Mal gesehen. Wir haben damals nicht viele Worte gewechselt. Er schien wie abwesend zu sein und er wollte nicht mit mir sprechen. Er wollte auch nicht meine Adresse haben. Und er hat mich auch nicht mehr in das Haus gelassen.«

Verena hielt kurz inne, als wollte sie sich etwas ins Gedächtnis zurückrufen und rechnete nach: »Also, wenn ich das richtig berechnet habe, dann bist du vier Jahre älter als ich ‒ stimmt das?«

»Stimmt genau!«

»Aber du hast doch nicht bei uns gewohnt! Wo bist du denn aufgewachsen? Weißt du vielleicht, wann unsere Eltern geheiratet haben?«

»Nein, Verena, das weiß ich auch nicht.«

Carsten zog Verena zu sich heran und legte seinen Arm um ihre Schulter. Aber Verena fragte weiter:

»Warum? ‒ Warum ist sie fortgegangen?«

Auch Carsten wusste keine Antwort darauf. Er versuchte zuerst einmal, von diesen vielen Fragen etwas Abstand zu bekommen, und meinte:

»Also, wo wollen wir hingehen? Gibt es hier ein Gasthaus? Ich war ja noch nie hier und deshalb ist mir auch alles fremd. Da kann ich dir dann noch viel mehr von mir erzählen.«

»Vielleicht gibt es noch die ‚Fichtner-Alm‘, die ist nicht weit von hier. Da kann man mit dem Auto hinfahren und im Freien sitzen. Außerdem gibt es dort nicht so viele Zuhörer!«, meinte Verena schmunzelnd. »Du weißt schon! Die Menschen hier sind neugierig!«

So fuhren sie mit Carstens Auto, einer alten 2CV-Ente, zur Alm, die noch bewirtschaftet war.

Unterwegs betrachtete Verena ihren »neuen Bruder« heimlich von der Seite. Warum nur hatte sie nie etwas über ihn erfahren? Ihr Vater musste doch gewusst haben, dass sie noch einen Bruder hatte. Und ihre Großmutter – auch sie musste doch mehr gewusst haben. Sie konnte sich auch erinnern. Sie durfte nie mehr nach ihrer Mutter fragen. Der Vater hatte es ihr verboten.

Verena hatte auch nie erfahren, warum ihre Mutter gegangen war. Gab es da ein Geheimnis, das ihre Mutter jetzt mit in das Grab genommen hatte?

Carsten bemerkte die forschenden und auch etwas neugierigen Blicke Verenas und lächelte.

»Schon komisch ‒ was?«, meinte er augenzwinkernd mit einem kleinen Seitenblick auf Verena. »So heute auf morgen einen Bruder zu haben? Wie gefällt dir das?«

Verena überlegte zuerst, dann erwiderte sie etwas spitzbübisch: »Tja, so einfach ist das nicht ‒ so einen gut aussehenden Bruder zu haben. Aber ich frage mich, wie das jetzt weitergehen soll. Auf alle Fälle war das eine große Überraschung für mich!«, und sie setzte noch hinzu: »Aber gleichzeitig war es auch eine recht traurige!«

Sie schwiegen und hingen ihren Gedanken nach, bis sie beim Almhaus auf dem Berg angekommen waren.

Es waren nur ein paar Gäste da.

Sie setzten sich an einen Tisch in den Schatten eines großen Kastanienbaums, der jetzt, Ende Mai, über und über mit weißen Blütenkerzen übersät war. Sie bestellten sich etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen und widmeten sich zuerst einmal ihrer Mahlzeit.

Dann ergriff Carsten doch als Erster das Wort:

»Ich weiß eigentlich gar nichts!«, begann er und sah Verena an, »das heißt, dass ich nicht viel weiß. Ich weiß nichts von meinem Vater, dem Haus und dem Hof und auch nicht von dieser kleinen Gemeinde hier. Du kannst mir glauben, ich fiel aus allen Wolken, als ich den Brief vom Notar bekam und von dir erfuhr. Natürlich bin ich jetzt sehr traurig, dass unsere Mutter gestorben ist. Aber ich weiß so wenig …!«

Er setzte ab und wartete auf Antwort.

»Mir geht es genauso wie dir!«, erwiderte Verena. »Vielleicht weiß ich ein bisschen mehr als du. Als unsere Mutter von zu Hause fortging, war ich gerade vier Jahre alt. Ein großes, schwarzes Auto hat sie damals abgeholt. Daran kann ich mich noch erinnern. Ich kann dir auch später den Hof und das Haus zeigen, das einmal unserer Familie gehört hatte. Aber das ist lange her. Vater hat nach dem Tod der Großmutter vor drei Jahren alles verkauft und ist weggezogen. Ich weiß auch nicht, wo er jetzt lebt. Als meine Briefe an ihn wieder zurückkamen, habe ich auch nicht mehr nachgefragt. Er hat doch sicher meine Adresse gewusst! Sie war doch auf dem Briefumschlag! – Du sollst wissen, dass ich kein besonders gutes Verhältnis zu Vater hatte. Aber vielleicht können wir jetzt noch nachforschen.«

»Ja, hast du denn nicht mehr dort gewohnt?«, wollte Carsten jetzt wissen.

»Nein, ich habe später nach dem Abi in München Musik studiert, was Vater nicht sehr gefallen hat. Er hat mich auch nicht finanziell unterstützt, sodass ich mich mit kleinen Jobs so durchgeschlagen habe. Er hatte schon früher immer gesagt, das ‚Geklimpere‘ der Mutter gehe ihm auf die Nerven. Ich weiß noch, dass unsere Mutter wunderschön Klavier spielen konnte. Es war ja eines im Haus. Vielleicht habe ich deshalb angefangen, Musik zu studieren. Aber ich konnte nicht weiter studieren. Es war alles zu teuer in München, die Miete und das Leben. Du weißt ja, wie das ist. Ich habe nie erfahren, wo unsere Mutter lebte und ob sie überhaupt noch lebte. Ich habe nur ein Foto von unserer Mutter mit mir, als ich zwei Jahre alt war.«

Verena holte das Foto aus ihrer Handtasche und gab es Carsten. Er betrachtete es lange.

»Das ist im Münchner Tierpark ‚Hellabrunn‘ aufgenommen und das ist ‒ das war unsere Mutter. Von Großmutter konnte ich nichts erfahren«, erzählte Verena weiter. »Vermutlich hatte mein Vater meiner Oma auch verboten, mir Näheres zu erzählen. Vater hatte immer gesagt, dass unsere Mutter weit weg sei, vielleicht in Südamerika, als ich noch klein war. Ich musste mich damit abfinden. Großmutter hat mir später ab und zu einen Brief und zu Weihnachten immer eine Karte geschrieben. Und ich musste dann meine Antwort in einem Umschlag an ihre Freundin senden, den sie dann an Großmutter weitergab. Daran siehst du schon, wie Vater war. Na ja! Und du ‒ was weißt du noch von unserer Mutter?«

»Ja, was weiß ich von Mutter?« Carsten schien etwas ratlos zu sein, aber er fuhr fort: »Noch weniger als du! Ich bin bei meinen vermeintlichen Eltern in Heidelberg aufgewachsen und habe bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr immer geglaubt, dass sie meine richtigen Eltern seien. An meinem Geburtstag haben sie mir dann die Wahrheit gesagt. Mit meinen sechzehn Jahren war das zuerst ein Schock für mich. Sie gaben mir dann am Geburtstag ein Foto von mir und Mutter, auf dem ich ein halbes Jahr alt war und noch eines von unserer Mutter.«

Er fasste in seine Jackentasche, holte die Fotos aus einem Kuvert und reichte sie Verena.

»In der Geburtsurkunde, von der ich eine Kopie dabei habe, steht aber nur ‚Vater unbekannt‘. Und unsere Mutter wohne nicht mehr in Frankfurt, hatten mir meine Adoptiveltern gesagt. Auch hatte sich niemand damals bemüht, die neue Adresse herauszufinden. Es sei besser so, sagten meine Eltern. Und ich fragte mich manchmal, wie Eltern so einfach verschwinden können und nicht mehr auffindbar sind. Ich habe mich auch gefragt, weshalb meine Mutter meinen Vater in der Geburtsurkunde nicht angegeben hatte. Ich wollte zwar immer noch nach meiner Mutter suchen, aber du weißt ja ‒ ich war jung! Ich sagte mir dann eines Tages: ‚Gib das auf, deine Mutter wollte dich einfach nicht haben ‒ und damit basta!‘ Es lief auch alles gut und ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. So habe ich es immer wieder aufgeschoben und endlich dann auch aufgegeben. Für mich waren meine Adoptiveltern einfach die richtigen Eltern.

Jetzt lebe ich immer noch in Heidelberg und studiere Geowissenschaften an der Uni. Eigentlich wollte ich einmal Priester werden ‒ und dann Kardinal! Aber das waren Kindheitsträume! Später gefielen mir die Mädchen dann doch besser!«

Er lachte verschmitzt und sah Verena wie prüfend an: »So, wie du mir auch gefällst. Du bist sehr hübsch!«

Aber Verena wehrte ab: »Na, na, was sollen denn diese Komplimente! Du bist doch mein Bruder!«

»Ja, das ist sehr schade!«, meinte er und kehrte zu seiner Erzählung zurück: »Also – ich habe mich dann entschieden, Geowissenschaften zu studieren. Ich möchte einmal Mineraloge werden ‒ oder ich werde vielleicht auch in Zukunft verborgene Schätze ausbuddeln! ‒ Du weißt schon ‒ so wie Schliemann oder ähnlich!«

Er lachte wieder, aber dann wurde er wieder ernst: »Eigenartig ist nur, dass mich der Notar gefunden hat. Woher hat er gewusst, wo ich lebe? Ich dachte immer, dass man bei einer Adoption nicht die Adresse oder den Namen der richtigen Mutter erfährt. Vielleicht doch von unserer Mutter?«

Carsten zuckte mit den Schultern und Verena unterbrach ihn kurz: »Hast du bemerkt, dass der Notar am Grab gesagt hat: ‚Sie sind bestimmt die Kinder von Franziska‘? Ist dir das nicht aufgefallen? Er hat gesagt: ‚von Franziska‘. Er hat unsere Mutter mit dem Vornamen genannt. Hat er unsere Mutter vielleicht gekannt? Vielleicht schon von früher …?«

»Nein, Verena, das habe ich nicht bemerkt. Aber es ist jetzt fast wie ein Geheimnis, das unsere Mutter umgibt. Was wird noch alles herauskommen? Ob wir morgen mehr wissen werden? Und was will unsere Mutter uns vererben ‒ in einem Testament? Ich bin sehr gespannt und auch ein wenig neugierig!«

Carsten schüttelte den Kopf, als könnte er das alles nicht glauben, und je mehr er über alles nachdachte, desto verwirrter wurden seine Gedanken: »Ich werde wohl noch einmal mit meinen Eltern sprechen müssen!«

Er schwieg und hing seinen Gedanken nach.

»Da müssen wir wohl bis morgen warten«, fing nun Verena wieder an. »Ich denke, dass der Notar uns sicher weiterhelfen wird. Er hat hoffentlich alle Unterlagen.«

Die Geschwister saßen sich eine Zeit lang schweigsam gegenüber und wussten nicht so recht, was sie sonst noch reden sollten. Sie konnten sich doch nicht gleich alles von sich erzählen. Sie waren sich heute ja das erste Mal in ihrem Leben begegnet und noch recht fremd.

Dann fragte Verena: »Was meinst du? Möchtest du einmal den Hof unten im Dorf sehen, wo ich aufgewachsen bin? Es würde mich auch interessieren, wie jetzt alles aussieht. Vielleicht wissen die neuen Besitzer, wo unser Vater jetzt wohnt.«

»Ja, das ist eine gute Idee. Dann werden wir nach München zurückfahren, wenn es dir passt.«

»Ja, ich muss vorher noch einmal zum Pfarrer und zur Gemeindeverwaltung, dann können wir fahren.«

Damit war im Augenblick alles besprochen. Sie mussten sich erst noch näher kennenlernen. Der Abstand war noch viel zu groß zwischen den beiden. Es waren einfach zwei junge Menschen, die sich gerade kennengelernt hatten und die sich vom ersten Augenblick an sympathisch fanden. Geschwister? Dieses Gefühl hatten sie noch nicht.

Sie fuhren schweigsam durch den Ort, immer der Hauptstraße nach, bis sie zu einem etwas abseits an einer breiten Dorfstraße liegenden, großen Bauernhof kamen. Sie parkten vor dem offenen Tor und stiegen aus.

»Hier hast du also gewohnt!« Carsten staunte. »Haben unsere Eltern den Hof auch bewirtschaftet? Er ist doch recht groß!«

»Nein, Carsten! Soviel ich weiß, arbeitete Vater in München in einer Brauerei. Ich glaube, Großmutter hat mir einmal geschrieben, dass er Braumeister sei. Mutter war zu Hause und gab Klavierunterricht für ein paar Kinder vom Dorf. Wir hatten auch kein Vieh ‒ ich meine Kühe oder Schweine. Ich hatte nur eine kleine, weiße Katze ‒ Minka! Großmutter sagte mir einmal, dass Vater das ganze Ackerland verpachtet habe. Ob er die Felder jetzt noch besitzt, das weiß ich auch nicht.«

Sie gingen durch das weit geöffnete Tor, über dem sich so wie früher die roten Kletterrosen rankten und erste kleine, grüne Blättchen und schon winzige Knospen zeigten, in den Hof und läuteten an der Haustür. Aber niemand öffnete. Es war vermutlich niemand zu Hause.

»Macht nichts!«, meinte Verena. »Vielleicht ist es besser so! Ich möchte sowieso nicht mehr in das Haus gehen. Jetzt nicht mehr!«

Carsten pflichtete ihr bei.

»Hast recht!«, meinte er und zog Verena von der Tür weg. »Komm, lass uns gehen!«

Sie fuhren mit ihren beiden Autos nach München und nahmen sich in der Nähe der Kanzlei in einem Hotel zwei Einzelzimmer. Sie waren beide nun doch sehr müde geworden und gingen nach einem gemeinsamen Abendessen bald zu Bett.

Aber Verena war trotz der Müdigkeit noch lange wach und konnte nicht einschlafen. Es war ihr, als würde jetzt ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen.

Für sie und ihren Bruder Carsten!

Sie sah ihn vor sich, wie er sie anlachte und sie dann an sich zog. Sie sah sein dunkelbraunes, gewelltes Haar und seine blauen Augen. Er kam ihr einen Moment lang bekannt vor, aber dann war er ihr auch wieder fremd.

Sie mochte ihn.

»Carsten ‒ mein neuer Bruder!«, dachte sie noch lächelnd, dann war sie endlich auch eingeschlafen.

Morgen würde ein aufregender Tag werden! Verena war schon gespannt auf das Testament ihrer Mutter.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück gingen Verena und Carsten zum Notariat. Es war eine kurze Wegstrecke von nur fünf Minuten, die sie schweigend zurücklegten. Die beiden waren gespannt, was nun auf sie zukommen würde.

Dr. Friesinger hatte schon auf sie gewartet. Er bat sie gleich in sein Büro und schloss mit einem: »Ich möchte jetzt nicht gestört werden ‒ und bitte auch keine Anrufe!«, die breite Doppeltür.

Er setzte sich hinter einen mit vielen Schriftstücken überhäuften Schreibtisch und forderte beide höflich auf, Platz zu nehmen.

»Damit Sie beide wissen, weshalb mich Ihre Mutter mit dem Erbe und mit dem Testament beauftragt hat, möchte ich Ihnen einiges erklären«, begann er langsam und schaute Verena und Carsten abwechselnd an.

Und er sah die Geschwister sehr ernst an: »Ihre Mutter ist auf Madeira ums Leben gekommen. Die Polizei wusste nicht, ob es Selbstmord oder ein Unglücksfall war. Das wurde nie geklärt.

Aber nachdem ich die Briefe bekommen habe, wie Sie sehen werden, muss es wohl ein Unglücksfall gewesen sein. Denn Ihre Mutter wollte nach München kommen! Ich habe mit dem Bestattungsunternehmen dann alles in die Wege geleitet.«

Er nahm einen Brief aus einer ledernen Unterschriftsmappe und zog das Schriftstück langsam aus dem Kuvert.

Verena und Carsten nickten wie zustimmend und sahen sich an. Carsten nahm Verenas Hand und drückte sie sacht.

»Um ganz weit auszuholen, möchte ich Ihnen sagen, dass ich schon früher mit den Erbangelegenheiten von Frau Hanna Lehnsmeier, das war die Patentante Ihrer Mutter, beauftragt war. Wie ich jetzt auch weiß, verstarb Frau Hanna Lehnsmeier im Jahr zweitausendundvier auf Madeira. Damals vererbte Frau Lehnsmeier alles an Ihre Mutter, da keine weiteren Nachkommen und Verwandten mehr von ihr lebten. Frau Lehnsmeier selbst war nie verheiratet gewesen. Ihre Mutter hatte damals alles geerbt. Aber dazu später.

Ich kenne die Familie Lehnsmeier schon länger und habe auch die Erbschaften dieser Familien früher schon bearbeitet, deshalb kannte ich auch Ihre Frau Mutter. Das ist jetzt kurz einmal die Vorgeschichte, damit Sie sich etwas zurechtfinden.«

Er setzte ab und strich das Schriftstück behutsam glatt. Er überflog den Brief noch einmal kurz, um ihn dann langsam vorzulesen.

»Dieser Brief ist an mich gerichtet und er wird Ihnen einiges erklären«, begann er etwas zögernd. Es schien, als wollte er nur ein paar bestimmte Zeilen im Brief finden, als wollte er nicht den vollen Wortlaut wiedergeben.

»Der Brief ist vom Juni letzten Jahres«, fuhr er fort, »also von zweitausendundsieben. Mit diesem Brief hat Ihre Mutter mir auch ihr Testament gesandt. Sie hat mich gebeten, dieses nur nach ihrem Tod zu öffnen. Ich habe bis dahin nicht gewusst, wo sich Ihre Mutter aufhielt. Das Testament der Tante, in der sie Ihre Mutter als Alleinerbin einsetzte, wurde auf Madeira gemacht. Eine Abschrift habe ich auch erhalten.

Die Adresse von Ihnen, Herr Carsten Schmitt, war mir deshalb durch Ihre Mutter bekannt. Sie hat immer gewusst, wo Sie leben. Bei Ihnen, Frau Verena Greiner, habe ich nachgeforscht und konnte Sie dann schließlich in Berlin ausfindig machen.

Es wird Sie überraschen, weil Sie verschiedene Familiennamen haben, aber Lehnsmeier ist der Mädchenname Ihrer verstorbenen Mutter. Und bei Ihnen, Herr Schmitt, ist ja als Vater ‚unbekannt‘ angegeben, deshalb steht der Mädchenname Ihrer Mutter in der Geburtsurkunde. Wie Sie inzwischen auch wissen, haben Ihre jetzigen Eltern Sie im Alter von sechs Monaten adoptiert ‒ deshalb auch der Familienname Schmitt.«

»Aber«, Verena war jetzt wirklich erstaunt, »aber wir sind doch trotzdem Geschwister, nicht wahr?«

Der Notar beschwichtigte sie: »Natürlich sind sie Geschwister! Sie haben ja dieselbe Mutter und wie ich annehme, haben Sie auch denselben Vater.

Warum Ihre Mutter ihren Mädchennamen angeben hatte, kann ich Ihnen leider nicht erklären. Es fehlen mir auch noch verschiedene Dokumente, die ich noch nicht erhalten habe.«

Und er fuhr weiter fort:

»Ich habe noch einen zweiten Brief, den ich vor einigen Wochen erhalten habe, kurz bevor Ihre Mutter verstarb. Er nahm auch diesen Brief aus der Mappe und klappte ihn auf. Und wie zur Entschuldigung fügte er noch hinzu:

»Sie müssen wissen, dass Ihre Mutter nicht gerne telefonierte, besonders nicht in solch einer wichtigen Angelegenheit. Und Mobiltelefone hat sie geradezu gehasst!«

Dann fing er an vorzulesen:

»Lieber …«, er setzte lächelnd kurz ab und schaute über seine randlose Brille zu den Geschwistern, die vor ihm erwartungsvoll saßen. »Lieber Dr. Friesinger«, begann er wieder, »ich habe mich heute entschlossen, doch selbst nach München zu kommen. Es wird so am besten sein. Dann werde ich meine Kinder endlich wiedersehen. Ich bereue es, dass ich mich nicht früher um meine Kinder gekümmert habe, aber ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Vielleicht können sich die beiden an mich erinnern. Carsten wohl weniger, aber Verena wird mich noch kennen, da bin ich mir sicher.

Und ich hoffe inständig, dass sie mir das alles verzeihen werden. Ich möchte mich zuerst ein paar Tage in München ausruhen. Dann wollen wir gemeinsam meine Kinder anrufen und sie nach München bitten. Ich möchte mein Testament selbst verlesen und endlich alles in Ordnung bringen.

Es gibt noch einige, sehr wichtige Dinge zu besprechen, die meinen Nachlass betreffen, aber die möchte ich«, er setzte wieder etwas ab, »– dir nicht in einem Brief schreiben.

Ich möchte sie dir und meinen Kindern persönlich mitteilen und wir werden sicher einen gemeinsamen Weg finden. Das hoffe ich sehr.

PS: Falls mir vorher etwas zustößt, ich meine, falls das Flugzeug abstürzt (was ich nicht hoffe!), dann liegt beim Testament noch ein Brief dabei, der für dich ganz persönlich ist, den du bitte erst nach der Testamentseröffnung lesen solltest, wenn du allein bist.«

Der Notar faltete den Brief zusammen und steckte ihn wortlos in die Mappe zurück. Er legte seine beiden Hände darauf und saß eine kleine Weile stumm da.

»Ja«, meinte er dann sichtlich gerührt, »ja, wir haben uns schon vor langer Zeit kennengelernt«, und er fügte noch schnell wie erklärend hinzu:

»Wie schon gesagt, durch die Abwicklungen von Erbschaften in der Familie ‒ deshalb das ‚Du‘!«

Verena und Carsten sahen sich an. Aber sie wollten beide nicht den Notar fragen, in welcher Beziehung er zu ihrer Mutter gestanden hatte. Vielleicht wurde die Frage durch das Testament erklärt?

Dr. Friesinger holte die beiden wieder aus ihren Gedanken zurück:

»Ich werde jetzt das Testament öffnen und es Ihnen vorlesen.« Er drehte sich auf seinem Sessel um, öffnete einen kleinen Safe und entnahm ihm das versiegelte, schwere Kuvert.

»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich jetzt das Siegel brechen und den Brief öffnen. Ist das Ihnen recht so?«

Verena und Carsten sahen sich erwartungsvoll an und nickten dann dem Notar stumm zu.

Der braune Umschlag enthielt mehrere Schriftstücke und Fotos, wie Verena schnell erkennen konnte. Als der Notar das Kuvert umdrehte, fielen noch zwei Schlüsselbunde leise klingelnd auf die schwere Eichenplatte des Schreibtisches.

Verena beugte sich überrascht nach vorn.

»Schlüssel?«, dachte sie, »Schlüssel ‒ wofür? Für ein Haus? Vielleicht hier in München?«

Sie sah Carsten fragend an. Der aber zuckte nur die Schultern, zog Verena wieder auf ihren Stuhl zurück und flüsterte ihr mit vorgehaltener Hand zu:

»Abwarten!«

Der Notar machte eine kurze Pause, nickte dann und begann wieder vorzulesen:

»Mein Testament!

Ich, Franziska Lehnsmeier, geschiedene Greiner, geboren am neunten Dezember neunzehnhundertzweiundsechzig in München, und im Besitz meiner vollen, geistigen Kräfte, vermache an meine beiden Kinder Verena, geboren am vierten Mai neunzehnhundertvierundachtzig in München, und Carsten, geboren am zweiundzwanzigsten November neunzehnhundertachtzig in München, zu gleichen Teilen all meinen Besitz, der besteht aus Geld in bar und auf Bankkonten auf Madeira und in München (wie in den beigefügten Dokumenten ersichtlich), Schmuck, das Auto, meine Villa »Casa Rosalina«, weitere Liegenschaften auf Madeira und auch alles im Safe des Hauses, einschließlich sämtlichen Inventars, wie in den beiliegenden Aufstellungen in Deutsch und in Portugiesisch geschrieben und von einem Notar auf Madeira beglaubigt wurde.

Eine Kopie des Testamentes in Portugiesisch liegt bei. Das Original hierzu liegt beim Notar Dr. Manuel Pereira da Silva in Funchal, Madeira.

Die Adresse liegt auch bei.

Funchal auf Madeira, den fünfzehnten März zweitausendundsieben ‒ Franziska Lehnsmeier, geschiedene Greiner.«

Dr. Friesinger legte das Testament zu den weiteren Schriftstücken und sah die Geschwister an:

»Ich muss Sie jetzt fragen, ob Sie beide das Testament Ihrer verstorbenen Mutter annehmen wollen!«

Verena und Carsten waren mehr als überrascht ‒ sie waren einfach ohne Worte ‒ und sahen den Notar nur stumm an. Sie hatten Geld und eine Villa auf Madeira von ihrer Mutter geerbt?

Sie konnten es einfach nicht glauben! Waren sie jetzt reich? Wie viel Geld ihre Mutter wohl gehabt hatte? Und eine Villa auf Madeira! Ihre Mutter hatte auf Madeira gelebt! Diese Testamentseröffnung hatte beide ziemlich sprachlos gemacht.

»Na?«, Richard Friesinger lächelte. »Sie glauben das wohl nicht? Aber es ist wahr! Es ist das Testament Ihrer Mutter ‒ und ‒ wie werden Sie sich entscheiden?«

Verena nickte stumm und Carsten bekräftigte dies mit einem Klaren: »Ja, wir nehmen das Testament unserer Mutter an!«

»Gut! Dann werde ich für Sie beide eine Kopie des Testaments anfertigen lassen.«

Der Notar ging wieder zur geschäftlichen Seite über. »Es sind noch einige Formalitäten zu erledigen, aber Sie können schon die restlichen Dokumente, natürlich auch in Kopie, mitnehmen, auch die Fotos und die Schlüssel für die Villa!

Das Originaltestament in Portugiesisch muss ich hier noch einmal rechtmäßig übersetzen lassen. Wenn alle Dokumente, die noch fehlen, vorhanden sind, können Sie diese im Original am besten selbst bei mir abholen.«

Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und gab den Geschwistern die Hand:

»Herzlichen Glückwunsch, auch wenn der Anlass nicht gerade Grund zur Freude gibt! Wie schon gesagt, ich lasse Sie wissen, wenn alles erledigt ist. Jetzt kommen Sie beide erst einmal etwas zur Ruhe. Ich denke, Sie haben sich jetzt bestimmt viel zu erzählen!«

Er ging zur Tür: »Warten Sie bitte noch einen Augenblick, Sie können die Kopien gleich mitnehmen!«

Als der Notar durch die Tür verschwunden war, stand Carsten auf und holte sich die Fotos vom Schreibtisch. Es waren vier Fotos.

Das eine zeigte Verena unter dem Torbogen des Hofes mit einer kleinen, weißen Katze. Auf der Rückseite stand: Verena, 3 Jahre alt, mit Minka.

»Siehst du!«, rief Verena spontan aus. »Das ist meine Minka! Das wusste ich noch!«

Auf dem zweiten Foto stand Carsten mit einer großen Schultüte im Arm vor einer Schule; auf der Rückseite stand: Carsten, sechs Jahre, sein 1. Schultag!

»Ja, das war mein erster Schultag!«, bestätigte Carsten. »Ich hatte fast die ganze Schultüte leergefuttert, bis ich wieder nach Hause kam, und dann hatte ich fürchterliche Bauchschmerzen!« Er lachte. Es war ein heiteres und unbekümmertes Lachen, das Verena ansteckte.

Ein weiteres Foto war in einem Haus vor einem weißen Flügel aufgenommen worden. Es war die Mutter mit Tante Hanna, wie auf der Rückseite stand.

Und die letzte, größte Fotografie zeigte ein geöffnetes, schmiedeeisernes Tor mit einer großen Villa in einem älteren Baustil im Hintergrund.

»Das ist das Haus!«, flüsterte Verena. »Auf Madeira!«, und sie drehte das Foto um: »Casa Rosalina, Rua do São Paulo 26, Funchal! ‒ Oh!«

»Das ist eine Villa ‒ fast ein kleines Schloss!«, verbesserte Carsten und sah Verena an. »Villa! – Schloss! ‒ Verena! Wie findest du das? Ihre gräfliche Hoheit!«

Er stupste Verena in die Seite und zwickte sie sanft, sodass sie kurz auflachte und rot wurde. Sie wehrte Carsten mit beiden Händen ab und holte die Schlüssel vom Schreibtisch.

»Der große Schlüssel ist bestimmt für das Tor«, meinte sie. »Der kleine sieht aus wie ein Sicherheitsschlüssel ‒ für das Haus ‒ äh ‒ natürlich für die Villa! Na ja, und die anderen sind sicher für Schränke oder so ähnlich!«

Sie grinste über das ganze Gesicht und sah Carsten an.

Dr. Friesinger trat wieder ins Zimmer und überreichte den beiden die Kopien.

»Die Fotos und die Schlüssel nehmen Sie natürlich schon mit!«, erklärte er zu Verena gewandt, als er sah, dass sie die Schlüssel noch in der Hand hielt.

Dann bat er sie noch: »Ich benötige noch Ihre Geburtsurkunde, die konnte ich leider nicht bekommen. Es fehlt auch noch die Heiratsurkunde Ihrer Eltern. Vielleicht sehen Sie einmal bei sich nach.

Es ist auch möglich, dass Sie diese Urkunden vielleicht auch in der Villa auf Madeira finden. Vielleicht ist da auch noch die Scheidungsurkunde Ihrer Eltern zu finden. Es hat keine Eile.«

»Ja, ich glaube, ich habe eine Geburtsurkunde von mir in Berlin«, meinte Verena, »die werde ich Ihnen dann sofort zusenden.«

»Und noch etwas!« Dr. Friesinger räusperte sich kurz. Er wusste wohl nicht so recht, wie er anfangen sollte.

»Ja, ich habe noch eine Frage.« Er wandte sich nun an Verena: »Ihre Mutter hat Ihren Vater, das heißt, ihren geschiedenen Mann, nicht erwähnt. Wissen Sie, wo er jetzt lebt oder auch, ob er noch lebt? Es könnte sein, dass er vielleicht Anspruch auf einen Pflichtteil erheben will, da im Testament keine weitere Klausel steht.«

»Nein, ich weiß leider nicht, wo mein Vater jetzt wohnt.« Verena setzte kurz ab, aber dann entschloss sie sich, doch mehr zu erzählen.

»Nachdem meine Großmutter gestorben war, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er hat auch ein paar Briefe wieder an mich zurückgesandt, das heißt, er hat sie gar nicht angenommen. Den Hof hat er auch verkauft. Mehr weiß ich leider nicht. Soll ich da einmal nachsuchen?«

»Wenn Sie möchten? Es ist nicht zwingend nötig, aber wenn Sie wollen? Möchten Sie nicht wissen, ob Ihr Vater noch lebt?«

Das war Verena ein bisschen peinlich, aber sie meinte dann doch: »Nein! Wir hatten noch nie ein gutes Verhältnis, auch nicht, als ich noch ein Kind war. Ich denke, er will einfach nichts mehr von uns wissen!«

»Gut!« Dr. Friesinger stand wieder auf:

»Ach ja, Sie können natürlich schon nach Madeira fliegen, wenn Sie wollen. Es gehört ja jetzt schon alles Ihnen. Das Haus ist noch versiegelt. Sie können aber die Siegel aufbrechen, es ist ja jetzt Ihr Eigentum. Mit dem Testament können Sie auch die Konten übernehmen oder auflösen ‒ ganz, wie es Ihnen beliebt. Für die Kosten komme ich auf, das heißt, die Abwicklung des Testaments und so weiter ist für Sie kostenlos. Das bin ich Franziska schuldig, wenn Sie mich vielleicht verstehen!«

Er gab Verena und Carsten die Hand und drückte sie fest: »Ich stehe Ihnen natürlich für weitere Fragen gerne zur Verfügung und hoffe, dass ich Sie vielleicht noch einmal wiedersehen werde.«

»Ja, das hoffen wir auch und auf Wiedersehen!«

Damit verließen die Geschwister die Kanzlei und das Haus und traten auf die Straße. Richard Friesinger setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er nahm das Testament noch einmal in die Hand und las den Brief und auch das Testament noch einmal durch.

»Franzi!« Er stöhnte leise und murmelte: »Warum haben wir uns nicht wiedergesehen? Es wäre doch alles so einfach gewesen. ‒ Ich habe dich nie vergessen! Aber jetzt ist es zu spät ‒ es ist einfach zu spät!«

Dann nahm er das große Kuvert und steckte alle Dokumente, die auf seinem Schreibtisch lagen, hinein.

Er drehte sich zum Safe, verwahrte die Dokumente im obersten Fach und schloss ab. Er ging hinüber zum Fenster, das zur Straße hin lag, und öffnete beide Flügel.

Der zarte Duft des Frühlings kam ihm entgegen und er atmete tief ein.

Unten auf der Straße sah er die Geschwister stehen. Er sah ihnen zu, wie sie miteinander sprachen. Carsten zog seinen Schlüsselbund für die Villa aus der Hosentasche und hielt ihn klingelnd an Verenas Ohr. Sie zuckte erschrocken zurück, aber dann lachte sie.

Dann umarmte Carsten seine Schwester und beide lachten. Sie hielten sich an den Händen, als sie die Straße entlangliefen, hinein in die Stadtmitte Münchens, hinein in ein unverhofftes und auf seltsame Weise verändertes, neues Leben.

»Ein schönes Paar!«, dachte der Notar. »Sie passen sehr gut zusammen. Sie werden sich sicher gut vertragen! Schade, dass Franzi das nicht mehr erleben konnte!«

Kapitel 5

»Und ‒ was machen wir jetzt?«

Verena stellte diese Frage am nächsten Morgen an Carsten. Sie hatten zusammen beim Frühstück in ihrem Hotel gesessen und waren nun noch einmal auf dem Weg in die Stadt. Sie waren schon noch etwas müde, denn sie hatten nach einem ausgiebigen Stadtbummel noch lange zusammengesessen und hatten sich viel erzählt.

»Nun ja«, meinte Carsten, »so, wie wir es gestern Abend besprochen haben. Ich schlage dir vor, dass wir jetzt zuerst einmal zur Bank gehen und nachsehen, wie viel Geld wir geerbt haben. Dann heben wir etwas davon ab und gehen einkaufen. ‒ Du hast doch Zeit?«

Verena zögerte ein wenig: »Ja«, meinte sie etwas gedehnt, »aber ich muss auch wieder nach Berlin fahren. Ich habe da doch noch zwei Jobs und auch noch einen …«.

»Aha!« Ihr Bruder fiel ihr grinsend ins Wort. »Und auch noch einen Freund? Das wolltest du doch sagen, nicht wahr?« Er blieb stehen und drehte Verena zu sich. »Deshalb musst du so schnell wieder nach Berlin? Komm, sag schon ‒ so ist es doch ‒ ja?«

»Ja, das stimmt! Ich habe einen Freund in Berlin. Ach, das habe ich dir noch gar nicht gesagt. Ich habe Felix, meinen Freund, in München kennengelernt. Er hat auch Musik studiert. Aber es war einfach zu teuer für uns und wir gaben beide auf. Dann ging Felix nach Berlin. Er konnte dort von einem Onkel ein kleines Bistro in der Nähe des Zoos übernehmen, das er jetzt betreibt. Das läuft ganz gut. Ich helfe ihm immer am Nachmittag bis zum Abend um zehn Uhr. Am Morgen habe ich noch eine Stelle halbtags in einer Boutique in der Nähe des Bahnhofs Zoo. Das passt ganz gut zusammen. ‒ Ja, und wir wohnen auch zusammen. Du verstehst mich?«

»Natürlich! Ja, versteht sich!«, beeilte sich Carsten zuzugeben, aber es sah so aus, als sei er etwas enttäuscht. Sie hatte einen Freund! Und er? Er hatte zur Zeit keine Freundin und er dachte sich, dass Verena eine gute Freundin für ihn sein könnte!

»Also, gehen wir zur Bank!«, war sein erneuter Vorschlag, womit Verena einverstanden war.

Sie liefen wieder Hand in Hand durch die Straßen und Carsten meinte nach einer kleinen Weile:

»Komm, plündern wir zuerst einmal die Bank und gehen wir mal richtig shoppen!«, und er lachte schon wieder.

»Aber Carsten!«, erwiderte Verena. »Können wir das so einfach? Das Geld unserer Mutter so einfach nehmen und ausgeben? Geht das?«

»Verena!«

Dieser Ausruf ließ einige Passanten sich umdrehen und neugierig stehen bleiben.

»Verena! Das Geld gehört doch jetzt uns! Kapiert?«

In der Bank konnten sie problemlos Geld vom Konto abheben. Der Bankangestellte lächelte freundlich:

»Ja, wir wissen bereits, dass Sie kommen werden!«

»Herr Dr. Friesinger hat uns schon alles mitgeteilt und uns die Unterlagen für die Kontoauflösung zugesandt. Sie können das Konto auch auf Ihrer beider Namen umschreiben lassen«, meinte er noch geschäftstüchtig, »das wäre dann für Sie und auch für uns so am günstigsten.«

Die beiden Geschwister sahen sich an.

»Was meinst du?«, fragte Verena und Carsten nickte: »Ich denke, wir lassen es auf deinen Namen umschreiben und du gibst mir dann immer etwas, wenn ich es brauche. Ich glaube, ich kann nicht sehr gut mit Geld umgehen. Es war ja immer alles da bei meinen Eltern. Ich hatte immer genügend Taschengeld. Und wenn ich so viel Geld auf einmal habe, dann …«, und er schüttelte den Kopf. »Nein! Du machst das mit der Vollmacht für dich oder was du da auch machen musst! Du weißt schon!«

Die Formalitäten waren schnell erledigt. Auf dem Konto befanden sich über dreißigtausend Euro.

»So viel Geld!« Verena war sprachlos. Was würde noch alles kommen? Noch mehr? Und was noch?

Sie nahmen sich zuerst einmal jeder dreitausend Euro in bar mit und gingen einkaufen. Aber sie konnten einfach nichts finden, was sie sich im Augenblick hätten wünschen können. Sie waren zuerst ‒ wie man oft sagt ‒ wunschlos glücklich.

Verena und Carsten trennten sich am nächsten Tag und fuhren beide nach Hause zurück. Verena fuhr wieder zu Felix nach Berlin und Carsten zu seinen Eltern nach Heidelberg.

»Ich hoffe, dass wir uns recht bald wiedersehen werden!« Carsten umarmte seine Schwester liebevoll beim Abschied und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Ja, das hoffe ich auch!«

»Wirst du nach Madeira fliegen?« Carsten hielt Verena ein bisschen von sich weg.

»Ja, ich denke schon. Ich muss dir gestehen, dass ich sehr neugierig auf das Haus bin! Willst du nicht mitkommen?« Verena schien etwas enttäuscht.

»Nein! Aber ich denke, dass ich dich nach Beendigung des Studiums im Sommer dann besuchen werde. Ich habe jetzt noch Prüfungen. Die muss ich unbedingt schaffen. Es ist das letzte Studienjahr und ich weiß noch nicht, was ich dann machen werde. Inzwischen ist mir schon klar geworden, dass es für angehende Geologen wohl nicht sehr viele Arbeitsplätze gibt – mal sehen, was ich finden werde.«

»Na ja«, meinte Verena spitzbübisch, »du kannst ja immer noch Kardinal werden!«, und sie verbeugte sich vor Carsten: »Eure Exzellenz ‒ Kardinal Carsten!«

»Bloß nicht!« Carsten wehrte lachend ab. »Dann schon lieber ein kleiner Schliemann oder so ähnlich. Irgendetwas werde ich schon finden. Ich hoffe, ich habe Geologie nicht ganz umsonst studiert!« Er lachte wieder, drückte Verena ganz fest an sich und gab ihr noch einmal einen dicken Kuss auf die Wange. »Also, machʼs gut und pass gut auf dich auf bis zum Wiedersehen!«

»Du auch, Carsten! Auf Wiedersehen, Carsten!«

Verena blickte ihm nach, bis sein Auto um die nächste Kurve verschwunden war. Er war manchmal wie ein kleiner Junge, so unbekümmert, als wäre er erst siebzehn! Dabei war er doch schon ein erwachsener Mann und im gleichen Augenblick auch wieder ernst und nachdenklich. Er musste sehr gute Eltern haben, die ihm alles an Liebe und Vertrauen gaben.

»Und ich Dussel habe nicht einmal ein Foto von ihm gemacht – oder er von mir!« Verena war etwas traurig.

Die Zeit mit ihm war viel zu kurz gewesen, um ihn näher kennenzulernen. Aber auch sie musste nach Berlin zurück. Die Arbeit wartete auf sie ‒ und auch Felix, ihr Freund mit seinem kleinen Bistro, in dem es immer etwas zu tun gab.

»Na, was hat denn dein Testament gebracht?«

Felix stand hinter dem langen Tresen seines Bistros und schenkte ein Bier ein. »Bist du jetzt eine reiche Frau und wir müssen nicht mehr so viel schuften?«

»Wie meinst du das? ‒ Und überhaupt: Guten Tag, lieber Felix, ich freue mich auch, dich zu sehen!«

Damit drehte sich Verena verärgert um und ging in den kleinen Aufenthaltsraum, der hinter der kleinen Bar lag und mit einer kleinen Küche ausgestattet war. Sie ließ ihre Reisetasche achtlos auf den Boden fallen und schaute aus dem Fenster.

Der Hinterhof war nur ein kleines Geviert, das zwischen den grauen Hochhäusern mit den vielen Stockwerken herum wie verlassen und eingezwängt dalag. Sie hatte das Gefühl, als würden die dunklen Fenster sie wie leere Augenhöhlen anstarren und nur darauf warten, ihr ein Geheimnis entlocken zu können.

Ein paar alte Fahrräder waren an der einen Seite abgestellt, gegenüber waren die Mülltonnen aufgereiht. Dahinter hatten Jugendliche ein paar Buchstaben, ein Hakenkreuz und ein paar unflätige Worte an die graue, schmutzige Wand gesprüht. Eine kleine, mit magerem Rasen bepflanzte »Grünanlage« war zur Zierde des Hofes in der Mitte angelegt worden. Ein mickriger Baum, vermutlich eine Linde, stand wie verlassen als krönender Mittelpunkt auf dem Gras. Sie diente wohl ab und zu auch den Hunden der Bewohner, was man auch deutlich erkennen konnte.

Das trübe Wetter trug nicht gerade zur Erheiterung Verenas bei. Sie blickte nur stumm hinaus und versuchte, sich an Carsten zu erinnern. Schade, dass sie nicht länger mit ihm hatte zusammen sein können. Sie versuchte, sich an Carstens Gesicht, an sein Lachen zu erinnern. Aber es gelang ihr nicht so recht. Warum nur hatte sie kein Foto von ihm gemacht? Aber bei all den Überraschungen hatten es beide vergessen. Aber sie hatte ja seine Adresse. Sie konnte ihn bitten, ihr ein Foto zu schicken.

»Aber wir werden uns ja wieder sehen! Dann machen wir schöne Fotos von uns beiden, die wir dann immer bei uns tragen werden.« Verena schaute schon wieder hoffnungsvoll nach vorn. Wann? ‒ Ja, wann!

Felix war ihr nachgefolgt.

»Sei doch nicht gleich sauer, nur weil ich einmal einen Scherz gemacht habe. Ich bin halt etwas neugierig«, meinte er wie zu seiner Entschuldigung. »Das kannst du doch verstehen. Man erbt doch nicht jeden Tag etwas! Und dazu noch so, wie aus heiterem Himmel. Wie war es denn?«

»Ja, Felix, ICH habe etwas geerbt und nicht ‚man‘! Und JA, das Testament hat etwas ‚gebracht‘, wenn du damit Geld meinst. Und außerdem habe ich meine Mutter vorgestern beerdigt. Und ich habe eine lange Fahrt auf vollen Autobahnen hinter mir! Das kannst du vielleicht auch noch zur Kenntnis nehmen, falls es dich interessiert. Aber das können wir alles später besprechen, wenn wir wieder oben in der Wohnung sind.«

Damit war das Gespräch für Verena beendet. War Felix vielleicht jetzt auf ihr Geld aus? So schätzte sie ihn eigentlich nicht ein. Aber Geld? So mancher Mensch hatte sich schon sehr zu seinem Nachteil verändert, wenn er an zu viel Geld gekommen war. Verena wollte vorsichtig sein und nicht allzu viel am Anfang erzählen.

So drehte sie sich nur wortlos und entschlossen um und ging zurück ins Bistro, um neue Gäste zu bedienen, so wie jeden Tag, wenn sie aus der Boutique nach Hause kam. Sie würde sich viel zu überlegen haben. Und sie würde sicher nach Madeira fliegen.

Und das schon sehr bald!

Felix hatte sich an diesem Abend nicht mehr getraut, noch einmal bei Verena wegen der Erbschaft nachzufragen. Verena fing auch nicht wieder von allein davon an. Er hoffte nur, dass sie ihm schon noch das Ergebnis mitteilen würde. Aber er machte sich doch Gedanken, was wohl ‒ und vor allem ‒ wie viel dabei herausgekommen war. Geld konnte man immer brauchen. Es würde sich schon ergeben. Damit hatte er recht!

Verena hatte es sich gut überlegt und wollte ihm am Nachmittag alles erzählen.

Als sie von der Boutique am nächsten Nachmittag zurückkam, richtete sie ein kleines Mittagessen, und zwischen Bedienen und Essen fanden sie etwas Zeit, sich zu unterhalten.

»Ich werde dir alles erklären!«, begann Verena. »Ich habe Carsten, meinen Bruder, wie du schon weißt, auf dem Friedhof kennengelernt. Wir sind danach noch einmal zu unserem alten Bauernhof gefahren, aber Vater hatte ihn schon verkauft, wie du ja auch weißt, und war nicht mehr da. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt und wo er lebt.

Mein Bruder ist vier Jahre älter als ich. Er studiert noch im letzten Semester Geologie in Heidelberg. Wir haben uns sofort gut verstanden und ich hoffe, ich werde ihn noch oft wiedersehen.« Sie setzte kurz ab.

»Wie groß die Erbschaft wirklich ist, weiß ich noch nicht. Auf der einen Bank in München waren dreißigtausend Euro. Wir werden natürlich alles teilen. Ich meine, mein Bruder und ich. Außerdem besaß meine Mutter eine Villa auf Madeira und noch weitere Wertsachen, die sie uns auch zu gleichen Teilen vererbt hat. Es steht alles genau in dem Testament.«

Verena hielt noch einmal an und beobachtete Felix heimlich, der jetzt aufgestanden war und einen neuen Gast bediente. Was er sich wohl dachte?

Als Felix wieder an den Tisch zurückkam, sagte er nur: »Das freut mich für dich, Verena. Du wirst wohl mit deinem Bruder zuerst einmal nach Madeira fliegen. Die Insel soll sehr schön sein ‒ habe ich gehört.«

»Ja, ich werde fliegen«, erklärte Verena bestimmt, »und zwar sehr bald. Vermutlich werde ich erst einmal allein fliegen. Ich denke, Carsten wird nachkommen, wenn er seine Prüfungen gemacht hat. Ich werde einmal im Internet nachsehen, wann der nächste Flieger geht.«

»Hast du es wirklich so eilig?« Felix schien etwas enttäuscht zu sein. »Ich denke, ich kann da noch nicht mit. Ich habe doch hier zu tun.«

Aber Verena lächelte nur: »Ich werde sowieso allein fliegen, Felix. Das verstehst du doch ‒ ja?«

Damit war zuerst einmal alles geklärt. Sie nahm sich vor, noch am Abend nach einem Flug zu suchen.

Sie würde fliegen, ‒ sie würde bald fliegen!

Kapitel 6

Verena ließ sich noch etwas Zeit, bis sie sich dann endlich entschloss, einen Flug nach Madeira zu buchen. Sie hatte den Flug über Nürnberg genommen, da sie damit die kürzeren Aufenthaltszeiten hatte.

Felix brummelte etwas vor sich hin, als Verena ihm kurz sagte, dass sie Ende Juni fliegen würde.

»Was hast du gesagt?«, wollte sie wissen.

»Also doch!«, war sein kurzer Kommentar.

»Was heißt: Also doch! Warum verstehst du das nicht!« Verena war etwas verärgert: »Ich muss doch nach Madeira! Man kann das Haus doch nicht so unbewohnt lassen. Und außerdem ‒ ich bin auch neugierig auf das Haus ‒ auf mein Erbe. Ich will es einfach einmal sehen! Ich will ‒ ich muss einfach fliegen, und zwar jetzt! Ich habe bereits einen Flug gebucht.«

»Und warum macht das nicht dein neuer Bruder? Der kann doch auch fliegen«, wollte Felix wissen.

»DER hat einen Namen. Mein ‚neuer‘ Bruder heißt Carsten! Er macht jetzt seinen Abschluss an der Uni – hatte ich dir schon gesagt! Da kann er nicht weg von Heidelberg. Das geht einfach nicht! Verstehst du doch ‒ ja?«

»Und wie lange willst du dann bleiben?«

»Weiß ich noch nicht!«

»Wieso ‒ weiß ich noch nicht?«

»Weil ich nur einen Hinflug gebucht habe. Es ist bestimmt vieles zu erledigen. Da weiß ich nicht, ob ich das alles in ein oder auch in zwei Wochen erledigen kann. Ich muss auch zum Notar in Funchal, vermutlich auch noch zum Einwohnermeldeamt, zur Polizei, und ‒ und! Und dann muss alles umgeschrieben werden. Ich denke da auch an die Grundsteuer zum Beispiel, an Wasser, Elektrizität und an das Auto. Da ist ja auch ein Grundstück dabei, wie du auf dem Foto gesehen hast. Das kann man doch nicht verwildern lassen, falls da Bäume und Büsche sind ‒ und vielleicht auch Blumen.«

»Und in der Boutique? Kannst du da Urlaub machen ‒ so einfach?«

Felix ließ nicht locker. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf hinein, dass Verena fortwollte und er nicht genau wusste, wann sie wieder zurück sein würde.

»Ja, das ist schon alles erledigt. Miriam hat schon eine neue Aushilfe für mich.«

»Hm!«

Das war alles, was von Felix im Augenblick dazu kam. Er stand auf und verschwand im Bistro. Es passte ihm einfach nicht, dass Verena fliegen wollte. Gerade jetzt, im Juni, wo wieder mehr Menschen in den Zoo gingen und viele dann auch bei ihm eine kurze Rast machten. Er musste sich vermutlich jemand für nachmittags zum Bedienen anstellen. Verena hatte das ja ohne Bezahlung gemacht ‒ versteht sich doch!

»Blöde Erbschaft! Hoffentlich verkauft sie das Haus. Dann haben wir wenigstens etwas davon!«, knurrte er vor sich hin. Aber seine Gedanken ließ er vorsichtshalber bei sich, sonst wäre Verena bestimmt wieder so verschnupft gewesen wie an dem Tag, als sie von München zurückgekommen war. Was sollte er auch sonst machen? Er musste es einfach abwarten! Es gab keine andere Lösung.

Es war ein herrlicher, sonniger Tag, als der Flieger auf dem Flughafen von Madeira landete. Der Flug war ruhig gewesen und Verena hatte sogar ein bisschen schlafen können. Jetzt war sie hellwach geworden, als der Flieger im Süden an der Insel vorbeiflog und nach einer engen Kehre zum Landen ansetzte. Sie war schon sehr neugierig auf das, was jetzt alles auf sie zukommen würde.

Sie nahm ihren Koffer vom Gepäckband und ging durch die Halle. Sie brauchte jetzt ein Taxi. An der Information fragte sie danach.

»Wohin müssen Sie denn fahren?«

Verena holte das Foto mit der Adresse der Villa heraus:

»Funchal, Rua do São Paulo 26, Casa Rosalina«, und zeigte der freundlichen Frau die Rückseite des Fotos.

»Ah ja!«, die Frau nickte: »Ich kann Ihnen ein Taxi rufen. Ich kenne einen Fahrer, der sich in Funchal gut auskennt!« Sie lächelte. »Er heißt Sebastian!«

Als Verena nickte, griff sie zum Telefon.

»Er kommt sofort!«, gab sie dann Verena zu verstehen und zeigte zum Ausgang. »Da kommt er schon!«

»Vielen Dank!«

Sebastian begrüßte Verena kurz, nahm den Koffer auf und Verena ging mit ihm zu seinem Taxi.

»Wohin?«

Verena zeigte ihm das Foto.

»Casa Rosalina?«, fragte Sebastian etwas ungläubig und drehte sich überrascht zu Verena um.

»Zu Dona Franziska?«

»Ja ‒ kennen Sie meine Mutter?« Verena war erstaunt. Hatte der Taxifahrer tatsächlich ihre Mutter gekannt?

»Ja, ich kannte sie!«, er zögerte etwas. »Sie wissen, dass Dona Franziska verstorben ist?«

»Ja, ich weiß es. Ich bin ihre Tochter und will nach dem Haus sehen. Ist es sehr weit von hier?«

»Es sind ungefähr zwanzig Kilometer bis zum Haus. Es liegt am Berg, ganz in der Nähe des Botanischen Gartens. Es ist hier immer viel los auf den Straßen, weil es auf Madeira viele Autos gibt! Das kann auch schon manchmal eine Stunde dauern, bis wir dort sind.« Es sollte wie eine Entschuldigung klingen und Verena verstand das.

Sie fuhren schweigend über die breite Autostraße, durch Funchal hindurch und dann einen steilen Berg hinauf. Nach zwei engen Kurven kamen sie in eine schmale Straße, die von hohen Mauern begrenzt war. Am Ende der Straße war ein kleiner Wendeplatz.

Sebastian stieg aus und öffnete die Autotür: »So, hier sind wir.« Er zeigte auf ein großes Tor. »Das ist das ‚Casa Rosalina‘ von Dona Franziska.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783947275069
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Unglück Glück Villa Geheimnis Madeira Flug Verbrechen Liebe Urlaub Testament Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Amelie Maria Winter (Autor:in)

Amelie Maria Winter wurde in den Wirren des 2. Weltkrieges 1941 geboren. Ihre musisch begabten Eltern weckten schon früh ihr Talent für Musik, Zeichnen und Malen. Freunde auf der ganzen Welt und Reisen in viele Länder der Erde geben ihr die Inspirationen für ihre Romane und Erzählungen. Besuchen Sie auch ihre Homepage „Das kleine Atelier“ und erfahren Sie mehr über sie, ihre Bücher und ihre Bilder.
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Titel: Blutfels