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Ein fast perfektes Team

von Katharina Kohal (Autor:in)
267 Seiten

Zusammenfassung

Ein Kunstbetrug mit Leidenschaft und Folgen:
Sie hätten ihren riskanten Coup noch abbrechen können, doch irgendwann gab es kein Zurück mehr. Wider besseres Wissen und gegen ihr Gewissen führen Norbert und seine Freunde ihren Plan aus. Denn die Aussicht, an dem skrupellosen Bankchef Kai Wenderick Vergeltung auszuüben, ist zu verlockend. Das aus dem Betrug erzielte Geld soll Norbert als Entschädigung für dessen persönlich erlittenen finanziellen Verlust dienen.
Zunächst scheint alles zu gelingen. Doch sie haben ihren Widersacher unterschätzt und nicht damit gerechnet, dass die Liebe ins Spiel kommt.

Der Roman ist mit einem Augenzwinkern und einer Prise Humor geschrieben, wobei die Sympathien in diesem Fall auf Seiten der Betrüger liegen. Bei der Durchführung ihres Coups erfahren sie ein paar Aspekte über den Kunstbetrieb und lernen durch die attraktive Katalanin Estrella auch ein wenig von Barcelona kennen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

  Estrella

Es war schon spät am Abend. Estrella Cardona wischte gerade den Flur der Chefetage, als sie hinter sich ein leises Geräusch vernahm. Hastig drehte sie sich um: Vor ihr stand Kai Wenderick, der Chef der SüdBank. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

»Oh, jetzt haben Sie mich erschreckt!«, formulierte sie in ihrem unüberhörbar spanischen Akzent. »Ich wusste nicht, dass Sie noch hier sind in der Bank!«

»Ja, ja, und wir beide sind jetzt ganz allein«, erwiderte er.

Mehr als durch diese Worte fühlte sie sich durch sein Lächeln irritiert. In seinen Gesichtszügen und dem Ton vermisste sie die harmlose Freundlichkeit, mit der er sich gestern Vormittag noch mit ihr unterhalten hatte. Da war sie mit der Reinigung der Kunsthalle der SüdBank beschäftigt, und er war dabei, sich die Vorbereitungen für die nächste Ausstellung anzuschauen. Die Kunsthalle war seine persönliche Passion, dort war er der Kunstbeauftragte und betrachtete die Gemälde und Grafiken fast als sein Eigentum. Gestern kam Estrella kurz mit ihm ins Gespräch. Sie hatte ihn als gutaussehenden, charmanten Herrn im besten Alter wahrgenommen. Wie alt genau er war, wusste sie nicht. Mitte fünfzig vielleicht? Offensichtlich war es ein Fehler, dass sie gestern mit ihm gescherzt und ein wenig geflirtet hatte. Auf jeden Fall hatte er sie gründlich missverstanden. Denn jetzt trat er mit einem süffisanten Lächeln an sie heran. Der Fluchtweg zur Treppe war ihr abgeschnitten.

»Warum auf einmal so abweisend, schöne Frau? Gestern jedenfalls schienen Sie mir einer amourösen Episode nicht abgeneigt.« In seinen Augen lag unmissverständlich Begierde, ein unverhohlenes Verlangen. Und noch etwas anderes glaubte sie in den Gesichtszügen zu erkennen: die feste Entschlossenheit, seinen Willen gegen ihren Widerstand durchzusetzen.

Estrellas entschiedenes »No« ignorierte er. Mit den Worten »Komm schon« ergriff er ihr Handgelenk und versuchte sie an sich heranzuziehen. Sie wehrte sich mit aller Vehemenz. Für einen kurzen Augenblick lockerte sich sein Griff, und sie nutzte die Gelegenheit, ihren Arm freizubekommen. Als er versuchte, sie wieder zu packen, langte sie beherzt nach dem vollen Eimer und schüttete ihm das Wischwasser ins Gesicht. Benommen und verdattert stand er für einen Augenblick hilflos da. Die Schmutzbrühe rann über sein weißes Hemd, die Haare und das Gesicht waren klatschnass, und die seifige Lauge brannte in seinen Augen.

Aber Estrella blieb keine Zeit für lange Betrachtungen. Sie raste an ihm vorbei in Richtung des Treppenhauses. Den Fahrstuhl ließ sie außer Acht. Vermutlich stand er weiter unten, in der ersten oder zweiten Etage. Auf der Treppe entledigte sie sich blitzschnell ihrer Schuhe. Barfuß und somit völlig lautlos lief sie weiter. Hätte sie mehr Zeit, käme ihr Cinderella in den Sinn. Aber die Situation verlangte nach Eile und Entscheidungskraft, denn sie hörte Wenderick auf dem Flur entlangrennen. Von dem Schock hatte er sich offensichtlich schnell wieder erholt. Wohin in aller Eile? Wie groß war ihr Vorsprung, und hatte sie eine Chance, vor ihm den Ausgang im Erdgeschoss zu erreichen? Mit Sicherheit nicht. Er war schnell und voll rasender Wut. In der zweiten Etage war sie gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Sie hörte ihn unmittelbar auf der Treppe über ihr; mit dem Erreichen des nächsten Absatzes käme sie in sein Sichtfeld. Estrella entschied sich, in den vor ihr liegenden Flur zu flüchten und nach der linken Seite zu laufen. Rechtzeitig fiel ihr ein, dass sowohl die Gänge als auch das Treppenhaus mit Bewegungsmeldern ausgestattet waren. Um die Beleuchtung nicht in Gang zu setzen, presste sie sich dicht an die Wand.

Wenderick rannte ein Stockwerk tiefer. Wann würde er bemerken, dass sie nicht mehr vor ihm im Treppenhaus lief? Spätestens in der ersten Etage. Und jetzt hörte sie, wie er wieder die Stufen hoch raste. Wohin in ihrer Not? Im Dunkeln stieß sie an das große Kopiergerät, das in einer Nische stand. Hastig rollte sie das schwere Gerät ein Stück hervor, stieg über das Netzanschlusskabel und presste sich hinter den Kopierer in die Wandvertiefung hinein. Dann bemühte sie sich, das Gerät so dicht wie möglich an sich heranzuziehen. Es gelang ihr in dem Augenblick, als die Beleuchtung anging und Wenderick in der Mitte des Flures stehenblieb; sie hörte nur seinen keuchenden Atem. Wie sie vermutete, entschied er sich für die rechte Hälfte des Ganges und öffnete zielgerichtet die Toilettentüren. Innerhalb einer halben Minute stand er wieder draußen. Jetzt lief er die linke Flurhälfte ab. Estrella hoffte inständig, dass das Herausragen des Kopierers nicht ins Auge fiel. Zu ihrer Erleichterung wandte er sich wieder dem Treppenhaus zu. Aus der Ferne hörte sie seine Schritte und dann überhaupt nichts mehr. Das Licht erlosch. Wo, um alles in der Welt hielt er sich jetzt auf? Auf keinen Fall hatte er das Haus verlassen, das spürte sie. Vermutlich wartete er in der Finsternis auf ein Geräusch von ihr. Kurzzeitig hatte sie erwogen, mit ihrem Generaltransponder eine Tür zu einem der Mitarbeiterzimmer zu öffnen, um sich dort sicherer verstecken zu können. Aber der Piep-Ton beim Entriegeln des Schlosses würde ihm ihre Position sofort verraten. Also wagte sie sich vorerst nicht aus ihrem Versteck hervor und verharrte weiter in ihrer unbequemen Stellung.

Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die unheimliche Stille.

 

Eine folgenschwere Begegnung

»Ja, Herr Lange, wie ich Ihnen bereits sagte: Es tut mir leid, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann. Der Kollege, mit dem Sie damals den Vertrag abgeschlossen hatten, befindet sich im Ruhestand. Aber ich denke schon, dass alles soweit in Ordnung geht. Jedenfalls haben wir nichts Gegenteiliges gehört. Wir könnten da ohnehin nichts ausrichten. Uns als Bank sind bei dem weiteren Ablauf die Hände gebunden. Aber Sie können sich ja selbst vor Ort vom aktuellen Stand des Baugeschehens überzeugen. Es tut mir wirklich leid.« Mit diesen Worten geleitete der Kundenberater der SüdBank Norbert zur Tür. Ratlos blieb er ein paar Sekunden auf dem Flur stehen, bis er sich dann dem Treppenhaus zuwandte. In diesem Moment stieß er heftig mit einer Frau mittleren Alters zusammen.

»Na, na! Ein bisschen müssen Sie schon aufpassen!«, meinte Norbert verärgert und schaute gleich darauf in ein verweintes Gesicht.

»Ich muss gar nichts!«, erwiderte Estrella wütend und kam beim Weiterlaufen ins Stolpern.

»So aufgeregt wie Sie sind, können Sie unmöglich auf die Straße. Ist etwas passiert?« Norbert hatte ihren südländischen Akzent bemerkt und auch, dass sie völlig außer sich war.

Ungehalten fuhr sie ihn an: »Natürlich ist etwas passiert! Aber das wollen Sie doch nicht wissen!«, und fügte, als sie sein betroffenes Gesicht sah, etwas versöhnlicher hinzu: »Sie können da nicht helfen. Sie sind ein Kunde, nicht wahr?«

Norbert nickte und meinte lakonisch, dass er wohl die längste Zeit hier Kunde gewesen sei. Estrella verstand nicht alles, aber immerhin so viel, als dass er ebenfalls Probleme mit der SüdBank und deren Personal hatte. Prüfend schaute sie ihn an, und Norbert fiel zum ersten Mal auf, dass sie trotz der verweinten Augen eine attraktive Frau war. Spontan schlug er vor, sich bei einer Tasse Kaffee auszutauschen. Vor allem, so redete er sich selbst ein, müsse er verhindern, dass sie in ihrem aufgebrachten Zustand kopflos auf die Straße lief. Nach einem kurzen Zögern nahm Estrella sein Angebot an.

Minuten später betraten sie die Konditorei auf der gegenüberliegenden Straßenseite und suchten sich einen Platz aus. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, fragte Norbert vorsichtig, ob sie ebenfalls eine enttäuschte Kundin sei. Aber Estrella schüttelte nur stumm den Kopf; und so entschied er sich, in knappen Worten seine eigene Misere zu schildern.

Vor reichlichen zehn Jahren hatten er und seine Frau sich entschlossen, in den Bau einer Immobilie in der Nähe des Bodensees zu investieren, gewissermaßen als Altersvorsorge. Ein Anlagenberater bei der SüdBank hatte sie zum Kauf des »Betongoldes« animiert. In der Nähe des Ortes Hagnau plante ein Bauunternehmen eine Wohnanlage mit altersgerechten komfortablen Wohnungen. Norbert und seine Frau Christa hatten vor, im Rentenalter dorthin zu ziehen. Entsprechend seinen Unterlagen war der Kredit an die Bank unterdessen abbezahlt und die Wohnanlage längt bezugsfertig. Heute wollte er sich bei der SüdBank über den aktuellen Stand informieren. Aber niemand von den jetzigen Mitarbeitern fühlte sich in dieser Angelegenheit zuständig. Mit Christa hatte er nicht über seine Befürchtungen gesprochen. »Ja, das sind zurzeit so meine Sorgen«, beendete er die Schilderung. Er war nicht sicher, ob ihn die Frau verstanden hatte.

Aber offenbar doch, denn nun meinte sie: »Sicher muss Ihnen jemand sagen können, wie jetzt der Stand ist?«

Norbert zuckte mit den Schultern. »Ich werde zurzeit nur vertröstet. Aber augenscheinlich haben auch Sie Kummer?«

Nervös rührte Estrella in ihrem Kaffee, dann schaute sie ihn an. Sie sah sein gutmütiges Gesicht mit ausgeprägten Lachfältchen um die jetzt sorgenvoll blickenden Augen. Sein Haar war nicht völlig ergraut. Flüchtig bemerkte sie die Tendenz zu einem leichten Bauchansatz. Seine Figur hatte sie vorhin in ihrer Aufregung nicht so recht wahrgenommen. Er fing ihren Blick auf und schmunzelte. Auch in ihren ausdrucksvollen Augen zeigte sich nun der Anflug eines Lächelns. Über ihnen schwangen sich in sanftem Bogen dunkle, dichte Augenbrauen, zwischen denen sich jetzt eine steile Zornesfalte andeutete.

»Ich habe fast die ganze Nacht hinter einem Kopiergerät verbracht.«

»Wie bitte?« Er glaubte, sie falsch verstanden zu haben.

»Nein, nein, es stimmt«, versicherte sie rasch. Und in wütenden Worten schilderte sie die Ereignisse der letzten Nacht. Sprachlos hörte er ihr zu.

Als sie geendet hatte, meinte er empört: »Das ist eine bodenlose Frechheit! Eine Unverschämtheit! Und Sie haben ihm wirklich das Dreckwasser ins Gesicht geschüttet?«

»Was sollte ich tun? Ich musste mich wehren.«

»Das nenne ich mutig! Sie müssen den Kerl wegen versuchter Vergewaltigung anzeigen!« Und als die Kellnerin interessiert aufhorchte, fügte er leiser hinzu: »Ich kann Ihnen natürlich dabei behilflich sein, ich meine, falls es sprachliche Schwierigkeiten geben sollte.«

Aber Estrella schüttelte den Kopf. »Als wir heute zusammenstießen im Treppenhaus, ich kam gerade vom Personalchef. Er hat mir gar nicht zugehört, sondern gesagt, dass Herr Wenderick eine angesehene Person ist und Ehefrau und zwei erwachsene Kinder hat. Und ich soll überlegen, ob ich ihn nicht ermutigt habe.« Dann schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Nur weil ich mich gestern freundlich unterhalten habe mit ihm in der Kunsthalle, er kann doch nicht denken, dass alles erlaubt ist!«

»Sie hatten ihn zufällig in der Kunsthalle kennengelernt?«

»Nein, er ist auch Vorsitzender von der Geschäftsstelle in der Kunsthalle, und ich reinige dort zweimal in der Woche.« Und dann erklärte sie ihm, dass sie auf den Nebenjob als Reinigungskraft angewiesen sei, um ihren einjährigen Aufenthalt in Berlin zu finanzieren, jetzt aber gekündigt habe.

»Ich möchte mein Deutsch etwas verbessern in einem Sprachkurs an der Uni. Die Firma in meiner Heimat, bei der ich bisher gearbeitet habe, musste viele Mitarbeiter entlassen, auch mich. Wenn der Sprachkurs hier zu Ende ist, werde ich mich bei einer Reiseagentur bewerben.«

»Ihr Deutsch klingt doch schon ganz gut«, beeilte sich Norbert, zu versichern.

Aber Estrella wehrte lächelnd ab. »Ganz gut ist nicht gut. Ich muss es besser lernen. Ich hatte früher in der Schule schon Deutschunterricht. Das hilft etwas. Aber meinen Akzent hört man sicher sehr.«

»Das ist doch gerade reizvoll. Sind sie Spanierin?«

»Ich komme aus Barcelona, ich bin Katalanin!«, stellte sie klar.

»Aha, verstehe.« Dann schaute Norbert auf die Uhr. »Ich befürchte, ich muss los, sonst gibt es Ärger zu Hause. Meine Frau wartet nicht gerne mit dem Essen auf mich. Sie hat diese Woche Spätdienst und für uns beide gekocht.«

»Ach ja, die Deutschen sind immer so pünktlich! Und sie essen Punkt zwölf Uhr, nicht wahr?« Zum ersten Mal sah Norbert sie jetzt lachen. Wie alt mochte sie sein? Sicher nicht mehr ganz jung. Er schätzte sie auf Mitte vierzig, vielleicht auch etwas älter.

»Wie wird es jetzt für Sie weitergehen? Bei der SüdBank haben Sie ja gekündigt.«

»Ich werde schon etwas finden. Vielleicht als Verkäuferin. Wenn der Sommerkurs zu Ende ist, gehe ich zurück nach Barcelona.«

Norbert gab ihr seine Handynummer. »Rufen Sie mich bitte an, falls Sie doch Hilfe bezüglich einer Anzeige brauchen.«

Doch Estrella schüttelte energisch den Kopf. »Die SüdBank und der Herr Wenderick sind für mich gestorben.« Ihre Worte unterstrich sie mit einer eindeutigen Geste. »Aber es ist eine gute Idee, wenn wir in Kontakt bleiben. Ich möchte erfahren, ob Sie betrogen wurden oder ob alles in Ordnung geht.« Aus ihrer Tasche holte sie einen Stift und schrieb auf den Rand der Serviette. Norbert las den Namen Estrella Cardona und dahinter eine Handynummer. Dann bezahlte er die beiden Kaffee, und sie verabschiedeten sich mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben.

 

Freunde

Der Timer klingelte und zeigte ihm an, dass die Kartoffeln fertig waren. Holger Grafe schlurfte von der kleinen Terrasse der Berliner Altbauwohnung zurück in die Küche. Das Alleinsein bekam ihm nicht. Seit seine Frau vor fünf Jahren verstarb, fühlte er sich verloren, ihm fehlte ein Stück Lebensfreude. Und wie an so vielen anderen Tagen wusste er auch heute wiedermal nichts Rechtes mit sich anzufangen. Zum Glück wohnten seine beiden Freunde Norbert und Alexander in der Nähe. Seit sie alle drei in Rente waren, sahen sie sich öfter als die Jahre zuvor. Ein paar Mal hatten sie versucht, ihn aus seiner Lethargie zu reißen. »Holle, warum malst du nicht mehr? Fang doch einfach wieder an! Jetzt, wo du als Rentner Zeit dazu hättest.« Und jedes Mal hatte Holger daraufhin gleichgültig mit den Schultern gezuckt und erwidert: »Wozu, die Wände hängen voller Bilder.«

Das stimmte. Im Flur, im Wohnzimmer und Schlafzimmer, ja selbst in der Küche hingen Gemälde aus einer Schaffensperiode von mindestens drei Jahrzehnten. Für die Malerei hatte er sich immer interessiert und in seiner Freizeit früher gerne und oft gemalt oder gezeichnet. Aber seit Hannahs Tod fehlte ihm der Antrieb dazu und generell wohl auch die Energie und der Unternehmungsgeist.

Holger hatte gerade am Küchentisch Platz genommen, als es an der Tür klingelte. Unwillig ließ er das Essen stehen und schlurfte zur Tür. Aber dann hellte sich seine Miene auf.

»Nobbe, komm rein! Du hast sicher schon gegessen. Was gab’s denn Gutes?«

Aber Norbert winkte ab. Er sah nicht glücklich aus. »Ich glaube, ich habe ein Problem.«

»Doch hoffentlich nicht mit Christa?«

»Noch nicht, aber es könnte eins werden.« Und mit knappen Worten informierte er den Freund über das unbefriedigende Gespräch in der SüdBank und seine Befürchtungen, dass da gründlich etwas schiefgelaufen sei.

Holger schnitt ein Stück von dem Schnitzel ab und brummte: »Wie sieht denn die Wohnanlage aus? Du hast sie dir doch bestimmt schon irgendwann mal in natura angeschaut.«

»Nein, leider nicht. Ich hatte den geplanten Gebäudekomplex und die Grundrisse der Wohnung nur auf dem Papier gesehen. Es sah alles prima und sehr ansprechend aus.« Für einen Moment war Holger sprachlos. Seine Gabel mit dem Stück Schnitzel hing in der Luft.

»Willst du damit sagen, dass du noch nie dort gewesen bist?«

Norbert gab unwillig zu, dass er sich auf die ansprechenden Bilder im Hochglanzprospekt verlassen hatte. Außerdem fühlte er sich damals zu einer schnellen Entscheidung gedrängt, da angeblich kaum noch Wohnungen verfügbar wären.

»Na ja, und der nächste Weg an den Bodensee nach Hagnau ist es ja von hier aus auch nicht gerade«, versuchte er, sich zu rechtfertigen.

Verständnislos sah Holger seinen Freund an. »Mensch Nobbe! So naiv kann doch keiner sein!«

Norbert seufzte »Wenn etwas schiefgegangen sein sollte, weiß ich gar nicht, wie ich es Christa beibringen soll. Letztendlich hatte ich sie damals zum Abschluss des Kaufvertrages überredet. Du kennst sie ja. Sie wird mir Vorwürfe machen.«

»Na, das dürfte ja jetzt die kleinste Sorge sein. Wollen wir mal Sascha anrufen? Vielleicht hat der eine Idee.«

 

Am späten Nachmittag trudelte Alexander, genannt Sascha, mit seinem Rennrad ein. Er trug es die wenigen Stufen hinauf bis zur Wohnung im Hochparterre.

»Du glaubst jetzt aber nicht, dass du es bei mir im Flur abstellen kannst?«, empfing ihn Holger, um ihn aber dennoch gleich darauf mitsamt dem Rad hineinzulassen.

Dr. Alexander Niermeyer war sichtbar der fitteste der drei Freunde; er unternahm etliches dafür und pflegte, begleitet vom gutmütigen Spott der beiden anderen, beständig seine Eitelkeit. Mit der sportlichen, hochgewachsenen Figur, dem jungenhaften Lächeln und dem kurzen Haarschnitt würde man nicht annehmen, dass er bereits fünfundsechzig war. Seinen Eintritt in den Ruhestand hatte er noch nicht so recht verkraftet. Nach wie vor betreute er Doktoranden, genauer gesagt Doktorandinnen, und erschien zwei- bis dreimal wöchentlich im Institut. Verheiratet war er nie und würde sich auch nicht binden wollen.

Jetzt stand er im neongelben Fahrradoutfit und leicht verschwitzt in Holgers Flur.

»Wo brennt’s Leute?«

Und Norbert schilderte zum zweiten Mal seine Sorgen und Befürchtungen. Mit den Worten: »Vorwürfe kannst du dir sparen, die hat Holle mir schon gemacht«, beendete er die Darlegung der Fakten.

Sascha runzelte die Stirn: »Das klingt ja wirklich nicht gerade beruhigend. Wie wäre es, wenn wir mal zu dritt dort am Bodensee auftauchen und uns die Lage vor Ort anschauen würden?«

»Aber ohne Christa«, warf Norbert sofort ein.

»Natürlich ohne Christa. Sie muss doch sowieso während der Woche arbeiten, und am Samstag sind wir wieder zurück. Als Begründung kannst du ihr ja sagen, dass wir dort eine Radtour machen«, schlug Sascha nicht ohne Hintergedanken vor.

Norbert grinste schief und deutete auf seinen Bauch. »Das glaubt sie mir nie!«

Auch Holger äußerte Bedenken: »Wir könnten doch sowieso nicht drei Räder auf dem Fahrradträger transportieren.«

»Die kann man theoretisch vor Ort ausleihen. Mein Rennrad nehme ich jedenfalls mit.«

Weitere Fragen gab es vorerst nicht, und man einigte sich darauf, dass Sascha die beiden Freunde morgen in aller Frühe mit dem Auto abholen würde.

 

Etwas verschlafen stiegen Holger und Norbert am nächsten Morgen mit ihren Reisetaschen zu.

Vor ihnen lagen laut Routenplaner eine Strecke von 760 Kilometern und eine Fahrzeit von reichlich sieben Stunden. Staus und Pausen nicht eingerechnet.

Hinter Bayreuth fuhren sie auf einen Parkplatz und vertraten sich die Beine. Wortlos übergab Sascha den Autoschlüssel an Holger. In der Höhe von Nürnberg nahmen sie ein spätes Mittagessen ein. Danach fuhr Norbert den Rest der Strecke. Erst kurz vor siebzehn Uhr erreichten sie Hagnau.

Aber für die weite Anreise wurden sie belohnt. Der Ort lag idyllisch zwischen Weinbergen und dem Bodensee. Norbert hatte für sie ein familiengeführtes kleines Hotel direkt an der Seestraße gebucht. Wie in alten Zeiten teilten sie sich ein Zimmer. In diesem Fall war es eher eine große Junior Suite denn ein normales Hotelzimmer. Holger bevorzugte die Couch, die beiden anderen die komfortableren Betten. Vom Balkon aus bot sich ihnen ein sensationeller Ausblick auf den See.

Sascha streckte sich und breitete die Arme weit aus. »Jungs, hier könnte ich bleiben. Wenn du wirklich hierherziehen solltest, Nobbe, dann musst du mit mir als Dauergast rechnen.«

»Nichts lieber als das, aber das Örtchen, in dem die Wohnanlage steht, liegt ja mindestens 30 km von hier entfernt. Für heute reicht es aber erst einmal. Ich schlage vor, wir suchen uns jetzt eine gemütliche Gaststätte mit Blick aufs Wasser.«

Schon bald fanden sie ein Restaurant direkt am See. Das frühlingshafte Wetter war warm und mild, und so wählten die Freunde einen Tisch auf der Terrasse.

»Ihr seid heute Abend meine Gäste«, verkündete Norbert. »Und danke nochmal, dass ihr so spontan mitgekommen seid!«

»Was heißt hier mitgekommen. Wärst du denn alleine überhaupt gefahren?« Norbert gab freimütig zu, dass ihm dies schwergefallen wäre, zumal Christa auf keinen Fall dabei sein sollte. Dann bestellten sie und schoben alle Bedenken und Befürchtungen erst einmal weit von sich. Als der Kellner die Hauptspeisen brachte, widmeten sie sich schweigend ihren Tellern. Nur hin und wieder ließ einer von ihnen eine anerkennende Bemerkung zum Essen oder zu der herrlichen Landschaft fallen.

Bei einer Flasche Wein ließen die drei Freunde dann später auf dem Balkon den Abend ausklingen. In der einbrechenden Dunkelheit sahen sie weit entfernt am gegenüberliegenden Ufer auf der Schweizer Seite die Lichter der ihnen unbekannten Ortschaften.

Norbert seufzte: »Das alles könnte so schön sein. Aber ich befürchte, dass es morgen eine böse Überraschung geben wird. Nein, eigentlich keine Überraschung, sondern die Bestätigung meiner schlimmsten Vorahnungen.«

»Nobbe, nun male mal den Teufel nicht an die Wand!«

 

Bittere Gewissheit

»Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Sascha zweifelnd.

»Ja ganz sicher, zwischen Beuren und Lellwangen. Hier ist ja weiter nichts.« Fassungslos schauten sie auf die Bauruine. Ein Neubau, der aber offensichtlich vor Jahren abgebrochen und nie fertiggestellt wurde, lag vor ihnen. Deutlich waren die Absätze, die einmal als Terrassen geplant wurden und die begonnenen Treppenhäuser zu erkennen. Auf dem öden Gelände wucherte Gestrüpp. Das verwahrloste Baugelände war mit einem mittlerweile verrosteten Drahtzaun abgesichert. Nachfragen bei Anwohnern der benachbarten Orte bestätigten Norberts Befürchtungen: Hier wurde vor reichlichen zehn Jahren mit dem Bau einer Wohnanlage begonnen, in der altersgerechte Wohnungen mit großzügigen Terrassen und Balkonen entstehen sollten. Aber nach drei Jahren ging der Bauträger in Konkurs, und übrig blieb diese unansehnliche Bauruine.

Norbert fehlten die Worte, er war verzweifelt.

Sascha klopfte ihm tröstend auf die Schulter. »Jetzt hast du zumindest Gewissheit. Wir müssen nun mal überlegen, wie es weitergehen soll.« Schweigend liefen die drei Freunde zum Auto zurück.

»Und wie könnte es deiner Meinung nach weitergehen?«, fragte Norbert gereizt. »Der Kundenberater hat mir ja bereits gesagt, dass die SüdBank da ohnehin nichts machen kann, weil sie mit dem Bauträger nichts zu tun hätte.«

»Das wollen wir doch erst einmal sehen. Du lässt dir gleich Anfang nächster Woche einen Termin bei der Bank geben, aber diesmal zu einem Gespräch mit dem Chef. «

Die restlichen beiden Tage verbrachten die Freunde wie geplant in Hagnau. Doch die entspannte Stimmung des ersten Abends, als sie in der Gaststätte saßen und später vom Balkon ihres Zimmers die grandiose Aussicht auf den Bodensee genossen, war endgültig dahin. Sascha zumindest versuchte das Beste aus dem Aufenthalt herauszuholen und stieg auf sein Rennrad.

Zwei Tage später, es war ein Freitag, traten sie in aller Frühe die Rückfahrt an.

 

»Na, der Ausflug zu dritt ist dir wohl nicht bekommen? Du hast dich doch hoffentlich nicht bei den Radtouren übernommen!«, lästerte Christa und bestückte den Geschirrspüler. Schon die ganze Zeit während des Abendessens fiel ihr auf, wie wortkarg Norbert war, aber er begründete die gedrückte Stimmung mit der langen Autofahrt und seiner Übermüdung. Ein paar Mal war er drauf und dran, Christa alles zu beichten, entschied sich aber letzten Endes dagegen. Im Gegensatz zu der Euphorie, mit der er damals den Vertrag abgeschlossen hatte, war sie von Anfang an skeptisch und misstrauisch. Letztendlich behielt sie mit ihren Vorbehalten Recht und würde ihm nun mit Sicherheit seine Gutgläubigkeit vorwerfen. Ihre Eigenheiten und Launen kannte er mittlerweile bestens. Über vierzig Jahre waren sie miteinander verheiratet.

Als er sie damals kennenlernte, war sie ein zurückhaltendes junges Mädchen mit braunen Augen und dunklen Locken. Ein paarmal noch hatten sie sich gesehen, doch bald darauf wieder aus den Augen verloren und erst drei Jahre und fünf Kilo später wiedergetroffen. Aus dem stillen, schüchternen Mädchen war mittlerweile eine selbstbewusste Frau geworden. Es waren ihr Lächeln und die dunklen Augen, die ihn sofort wieder in ihren Bann zogen. Ein halbes Jahr später heirateten sie. Kinder hatten sie keine, und so begann Christa zunehmend und sehr zu seinem Verdruss ihre ausgeprägten pädagogischen Ambitionen auf ihn zu richten. »Wo willst du denn hin? …Warum hast du noch nicht …? Was machst du da eigentlich?«, waren Fragen, denen Norbert gerne aus dem Weg ging. So gesehen graute ihm vor dem kommenden Ruhestand seiner Frau.

Und nun also zeichnete sich ein weiteres, ernsthaftes Problem ab. Beschuldigungen waren das Letzte, was er momentan ertragen würde. Nein, da musste er jetzt alleine durch und versuchen, die Angelegenheit wieder ins Reine zu bringen.

 

Gleich am Montagmorgen rief Norbert bei der SüdBank an und bat um einen Termin, diesmal bei dem Leiter der Bank.

Am Mittwochmorgen empfing ihn ein gutaussehender, wortgewandter Herr und stellte sich als Kai Wenderick vor.

Wenderick? Den Namen hatte Norbert vor kurzem aber in einem ganz anderen Zusammenhang gehört.

Höflich hörte er sich Norberts Anliegen an. Kai Wendericks Tonfall war verbindlich, und seine Miene drückte Verständnis aus. »Ich verstehe Sie vollkommen, Herr Lange. Glauben Sie mir, wenn ich eine Lösung parat hätte, würde ich sie Ihnen unverzüglich anbieten. Aber leider …«, und hierbei hob Wenderick bedauernd die Hände, »… kann unsere Bank Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich rate Ihnen dringend, gegen die Baugesellschaft zu klagen. Aber da die Firma bereits vor Jahren in den Konkurs ging und die Gesellschaft de facto nicht mehr existiert, sehe ich ehrlichgesagt wenig Chancen auf einen Erfolg.«

Norberts letzte Hoffnung schwand dahin. Mit einem Anflug von Verzweiflung warf er ein: »Letztendlich hat aber der Kundenberater Ihrer Bank mir zu dieser Anlage geraten. Sicher gibt es doch eine Art Versicherungsfonds, um derart getäuschte Kunden zu entschädigen.«

Herrn Wendericks bis dahin freundlicher Ton wurde um eine Nuance schärfer. »Leider nein, Herr Lange. Die Beratung erfolgte damals über eine Tochterfirma. Es handelte sich um eine ausgelagerte Beratungsgesellschaft, die schon vor Jahren aufgelöst wurde. Unsere Bank ist hierfür nicht zuständig und haftet demnach auch nicht für Ihren Verlust.« Für Herrn Wenderick war die Angelegenheit damit erledigt und das Gespräch beendet. Nicht aber für Norbert. Ungebremst verschaffte er nun seinem Ärger Luft.

»Das kann ja wohl nicht wahr sein! Damals überredete mich Ihr Mitarbeiter zur Zahlung in diesen Fonds, und nun lassen Sie mich als Kunden im Regen stehen! Ich werde Ihrer Bank gegenüber Haftungsansprüche geltend machen!«

Wenderick hatte sich unterdessen erhoben. In kaltem Ton erklärte er: »Das steht Ihnen natürlich frei. Sie werden aber keinen Erfolg haben. Wie ich Ihnen bereits darzulegen versuchte, war der Kundenberater kein Mitarbeiter unserer Bank. Ich kann Ihren Ärger durchaus verstehen, aber wir sind für diesen Fall nicht zuständig.« Innerhalb von Sekunden war sein Lächeln zu einer eisigen Miene gefroren. Jede weitere Bemerkung seines Gegenübers glitt an ihm ab.

Eine Minute später fand sich Norbert auf dem gepflegten Korridor der Chefetage wieder. Beim Anblick des tadellos gereinigten Fußbodens fiel ihm plötzlich das Gespräch mit der Katalanin ein. Sie war es, die den Namen Wenderick zum ersten Mal genannt hatte. Aber unterdessen arbeitete sie nicht mehr hier in der Bank. Wenn Norbert ihr damals eine leichte Übertreibung bei der Schilderung des Geschehenen unterstellt hatte, so glaubte er ihr nun uneingeschränkt. Die freundliche Verbindlichkeit war eine Maske, unter der sich ein knallharter, vermutlich sogar gefährlicher Typ verbarg.

Wie mochte es der temperamentvollen Katalanin jetzt gehen? Irgendwo hatte Norbert noch die Serviette mit ihrem Namen und der Handynummer.

Momentan hatte er keine Lust, nach Hause zu gehen. Und bei dem Gedanken an das unausweichliche Gespräch mit Christa und dem anschließenden Disput bekam er Kopfschmerzen. Er wählte Saschas Handynummer und kurz darauf die von Holger.

Eine Stunde später saßen alle drei in dessen Küche.

»Es ist ja noch nicht aller Tage Abend, Nobbe!«, versuchten die beiden Freunde, ihn zu trösten.

»Irgendeine Möglichkeit, die Bank für den entstandenen Verlust haftbar zu machen, muss es doch geben. Ein Bekannter von mir ist Anwalt. Ich werde ihn heute Abend anrufen und deinen Fall schildern«, versprach Sascha. Die drei verabredeten sich für den nächsten Tag zur gleichen Zeit wieder bei Holger in der Wohnung.

Aber es war keine gute Nachricht, die Sascha am darauffolgenden Tag überbrachte. Der Anwalt sagte zwar zu, sich den Fall nochmal genauer anzuschauen, wies aber fairerweise daraufhin, dass nur wenig Hoffnung auf eine aussichtsreiche Klage bestünde. Als Gründe nannte er die Kaufberatung durch eine externe Beratungsgesellschaft und dass die rechtlichen Ansprüche womöglich verjährt wären. Die Aussichten auf eine Haftung seitens der Bank seien denkbar schlecht.

Auf Saschas Mitteilung folgte ein bedrücktes Schweigen. Schließlich erhob sich Holger und schlurfte zur Kaffeemaschine. Aber auch der sich bald darauf verbreitende aromatische Duft trug nicht wesentlich zur Hebung der Stimmung bei.

Norbert nahm einen Schluck Kaffee und monierte: »Es ist schon eine Schande, dass die Bank keinerlei Entgegenkommen für falsch beratene Kunden zeigt. An Geld kann es doch nicht fehlen, wenn sich die SüdBank eine Kunsthalle leisten kann. Sie soll ja angeblich Wendericks persönliche Leidenschaft sein. Dafür gibt er offensichtlich gerne Geld aus.«

»Na ja, das Geld dafür kommt sicher aus einem ganz anderen Topf. Aber woher weißt du eigentlich, dass die Kunsthalle seine Leidenschaft ist? Habt ihr euch etwa darüber unterhalten?«

»Nein, natürlich nicht.« Und Norbert erzählte von der Begegnung mit Estrella und davon, dass sie Wenderick in der Kunsthalle antraf, als sie dort putzte. »Sie ist übrigens eine gebürtige Katalanin und kommt aus Barcelona. In Berlin wohnt sie nur für ein Jahr, um ihre Deutschkenntnisse aufzubessern.«

Die beiden anderen grinsten: »Hast du Christa von ihr erzählt?« Statt einer Antwort tippte Norbert mit dem Zeigefinger unmissverständlich an seine Stirn. Dann meinte Sascha: »Es kann ja nichts schaden, wenn ich mir die Kunsthalle mal anschaue.«

»Seit wann interessierst du dich denn für Kunst?«, wollte Holger wissen.

»Ich bin einfach neugierig geworden, was dort so ausgestellt wird«, meinte er ausweichend. Damit war das Thema vorerst erledigt. Abschließend wandte sich Sascha an Norbert: »Ich gebe dir auf jeden Fall die Telefonnummer des Anwalts. Vielleicht hat er doch noch eine Idee, wie du an dein Geld kommst. Aber die Sache wird sehr langwierig werden. Irgendwann musst du mit Christa darüber sprechen.«

Am Abend surfte Sascha ein wenig im Internet und fand heraus, dass am kommenden Donnerstag um neunzehn Uhr in der Kunsthalle der SüdBank eine Ausstellungseröffnung stattfinden würde. Kurzentschlossen griff er zum Telefon. »Holle, kommst Du mit?«

 

Eine Idee

An dem Donnerstagabend betraten beide die Kunsthalle und schoben sich durch das dichte Gedränge.

Holger griff nach einem Flyer. »Worum geht es heute eigentlich?«

»Du hast dich wohl überhaupt nicht informiert?«, meinte Sascha grinsend. »Es geht um Papiercollagen und Farblithografien von Georges Braque. Ausgestellt sind der Neuerwerb einer Lithografie und einige Leihgaben aus Privatbesitz und vom Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster. Eine Menge Vogelbilder sind hier in der Ausstellung zu sehen. In Braques Spätwerk nimmt das Bildthema Der Vogel im Flug eine zentrale Bedeutung ein.«

Verblüfft schaute Holger seinen Freund an. »Wieso interessiert dich das? Bist du jetzt unter die Ornithologen gegangen?«

»Ehrlichgesagt interessiert mich hier nur ein Vogel, nämlich dieser Wenderick, der sich offensichtlich als Kurator präsentiert. Ich bin gespannt, wie er aussieht.« Saschas Bemerkungen gingen in den einsetzenden Klavierklängen unter. An einem Flügel, den er bis dahin nicht bemerkt hatte, saß ein junger Mann und spielte ein lyrisches Stück von Mendelssohn Bartholdy. Nachdem der letzte Ton verklungen war, trat ein gutgekleideter Herr nach vorne, er mochte Mitte fünfzig sein, und sprach ein paar einleitende Worte.

»Das muss er sein«, raunte Sascha seinem Freund zu.

»Der ist das? Auf mich macht er einen ausgesprochen kultivierten Eindruck.«

Sascha schaute nochmal auf den Flyer. »Das muss er aber sein. Außer einer Frau Dr. Uta Ruland und ihm wird hier keiner weiter sprechen.« Als er den mahnenden Blick eines anderen Gastes auffing, verstummte er. Die Begrüßungsrede zog sich nach seinem Ermessen endlos lange hin.

Schließlich beendete Kai Wenderick die Ausführungen mit den Worten: »Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Betrachten der zauberhaften Werke von Georges Braque. Frau Dr. Uta Ruland wird Ihnen eine kurze Einführung zu dieser Ausstellung und zur Geschichte unserer neuerworbenen Farblithografie geben.« Frau Ruland trat hervor. Weitere Ausführungen folgten. Fasziniert schaute Sascha zu ihr hin.

Gerade zitierte sie den Künstler mit den Worten: »Ich suche nicht die Überspanntheit, die Spannung genügt mir«, und betonte, dass Georges Braque ein Künstler der eher leisen Töne sei aber gleichwohl die Kunst revolutioniert habe. Neben Picasso und Matisse gehöre er zu den Pionieren der Moderne des 20. Jahrhunderts.

Holger beobachtete seinen Freund von der Seite und lästerte: »Sicher ist sie etwas älter als deine Doktorandinnen.« Aber Sascha überhörte die ironische Bemerkung. Wie gebannt beobachtete er die Rednerin und sog ihre Worte förmlich auf. Ihre Stimme hatte einen sanften Klang. Das leicht gewellte Haar trug sie offen. Und es war nicht gefärbt, denn zwischen dem dunkelblond glaubte Sascha, ein paar silbern schimmernde Haare zu erkennen. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie war schlank und zierlich, die auffällige Brille, die sie bei ihrem Vortrag trug, betonte ihre intellektuelle Ausstrahlung. Dadurch wirkte sie ein wenig distinguiert und unnahbar. Vermutlich lebte sie allein und ließ niemanden näher an sich heran.

»Wie alt schätzt du sie?«, flüsterte Sascha.

»Vielleicht fünfzig oder knapp darüber«, raunte Holger zurück. Diesmal handelte er sich den ärgerlichen Blick eines neben ihm stehenden Gastes ein. Schließlich beendete Frau Dr. Ruland ihren Vortrag. Abschließend spielte noch einmal der junge Pianist. Nachdem der letzte Ton und der Applaus verklungen waren, lud Herr Wenderick die Gäste zu einem Glas Wein und einem kleinen Imbiss ein.

Saschas Blick folgte Frau Dr. Ruland. Was er dann bemerkte, mochte er kaum glauben. Und es gefiel ihm nicht. Herr Wenderick legte den Arm um ihre Taille und küsste sie flüchtig. Sascha musste sein Vorurteil, dass sie niemanden an sich heranließe, revidieren. In seinen Augen war ihre aparte Ausstrahlung somit entzaubert. Ausgerechnet Wenderick! Enttäuscht wandte er sich ab.

Holger und er ließen sich in der Menge zu dem kleinen Buffet treiben, und jeder nahm ein Glas Rotwein. Dann betrachteten sie die ausgestellten Werke, insbesondere die neuerworbene Farblithografie. Nach einer halben Stunde reichte es Sascha.

»Kommst du noch mit auf ein Glas Bier? Außerdem habe ich heute Abend noch nichts Vernünftiges gegessen.« Bereitwillig ließ sich Holger überreden, und beide suchten eine nahegelegene Gaststätte. Kurz darauf betraten sie ein volles Lokal, fanden aber trotzdem bald einen freien Tisch.

Nachdem sie bestellt hatten und die Getränke gebracht wurden, fragte Sascha: »Was hältst du nun von diesem Kai Wenderick? Im Prinzip waren wir doch vor allem seinetwegen da, um ihn uns mal genauer anzuschauen. Was ist dein erster Eindruck von ihm?«

Holger nahm einen Schluck Bier und meinte nachdenklich: »Er wirkt keineswegs unsympathisch. Außerdem scheint er sehr redegewandt und kunstverständig zu sein. Aber hast du mal seine Augen beobachtet, wenn er lacht? Sie lächeln nicht mit, sie bleiben wachsam, beobachtend, irgendwie hart. Kurz und gut: Ich glaube, es würde wenig Sinn machen, ihn nochmal um einen Gesprächstermin zu bitten. Der würde Nobbe wieder eiskalt abservieren.«

Sascha stimmte ihm zu. Dann fragte er unvermittelt: »Wie haben dir eigentlich die Bilder von Braque gefallen?«

Holger zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Sie sind nicht so ganz mein Fall.«

Aber zu seiner Überraschung kam Sascha nun so richtig in Fahrt und begann in ironischem Ton zu dozieren. »Empfindest du nicht auch die Ästhetik, die bildnerische Aura der Stillleben? Wenn er zwei, drei Gegenstände in reduzierten Farbtönen miteinander in Beziehung setzt, folgt er damit fast einer mathematischen Logik. Und in seinem grafischen Spätwerk schafft er mit den Vogelbildern eine beeindruckende Beziehung zwischen Bewegung und Raum.«

Holger deutete einen Applaus an. »Ich gratuliere dir zu deinem Kurzzeitgedächtnis. Du gibst komplette Passagen aus Frau Dr. Rulands Einführungsrede fast wortwörtlich wieder. Wieso machst du dich über sie lustig? Ich dachte, sie gefällt dir.«

»Im Prinzip schon, aber sie ist Wendericks Geliebte und fällt damit aus meinem Interessenbereich.«

»Da wird sie sich aber grämen!«, zog Holger ihn auf.

Aber Sascha ging nicht auf diese Bemerkung ein, sondern fuhr mit seinen Betrachtungen fort. »Trotzdem finde ich, dass Georges Braques Bilder leicht zu fälschen wären.«

»Du musst es ja wissen!«

Mit einem hintergründigen Lächeln ergänzte Sascha: »Und gerade deshalb gefallen mir seine Werke.«

Jetzt glaubte Holger, sich verhört zu haben. In diesem Augenblick kam der Kellner und brachte das Essen, nachdem er sich entfernt hatte, forderte er: »Den Zusammenhang musst du mir erst einmal erklären!«, und ergänzte nach zwei, drei Sekunden mit einem schiefen Lächeln: »Du willst mir jetzt doch nicht zu verstehen geben, dass es dir ein Leichtes wäre, einen Braque zu fälschen?«

»Ich spreche nicht von mir.«

»Sondern?« Sascha schwieg. Sein Blick ruhte unmissverständlich auf seinem Freund. »Das ist jetzt nicht dein Ernst!« Doch als Sascha nichts erwiderte, ahnte Holger, dass er es genau so meinte. »Sag jetzt bitte nicht, ich soll ein Bild fälschen, damit wir es dann diesem Wenderick zum Kauf anbieten können, sozusagen als Entschädigung für Nobbe! Vergiss es.« Doch Sascha zuckte nur mit den Schultern und griff zum Besteck. Auch Holger widmete sich jetzt seinem Steak, stellte aber nochmal klar: »Du kannst nicht ernsthaft erwarten, dass ich einen Braque fälsche.«

In beruhigendem Ton erwiderte Sascha: »Nein, ich dachte eigentlich auch nicht an einen Braque ...«. Diesmal wartete der andere einfach ab, bis sein Freund weitersprach. »… sondern an einen Picasso.«

»Geht in Ordnung.« Entspannt aß Holger weiter. Er wusste, dass Sascha mitunter zu sarkastischen Bemerkungen und makabren Späßen neigte. Aber ein paar Augenblicke später fragte er in bemüht beiläufigem Ton: »Warum eigentlich einen Picasso und keinen Braque?«

»Wenn du Nobbe zugehört hättest, würdest du von alleine darauf kommen.«

»Rede bitte nicht in Rätseln. Ich habe keine Lust auf ein Quiz beim Essen.« Holgers Worte klangen genervt und deuteten Sascha an, dass er die Geduld seines Freundes lange genug strapaziert hatte. Bereitwillig ließ er sich deshalb auf eine Erklärung ein.

»Dir ist sicher bekannt, dass es beim Verkauf eines Kunstwerkes außer auf den Namen des Künstlers und der Qualität des Bildes auch auf eine lückenlose Provenienz ankommt. Ein bis dahin unbekanntes Werk kann nicht plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Die früheren Besitzverhältnisse müssen eindeutig geklärt sein. Und das wäre für uns im Fall eines Georges Braque äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich.«

Obwohl Holger den letzten Satz nicht ernst nahm, ergänzte er in provokantem Ton: »Bei einem Picasso wäre das natürlich viel einfacher.«

Aber Sascha erwiderte nur: »Kommt drauf an.«

Demonstrativ legte Holger sein Besteck beiseite und verschränkte die Arme. »Jetzt machst du mich wirklich neugierig.«

Verstohlen warf Sascha einen Blick in den Raum. Schon das allein und dessen ernste Miene waren Holger Beweis genug, dass sein Freund offensichtlich etwas Unlauteres im Schilde führte. Dieser Zug an ihm war höchst ungewöhnlich. Der Lärmpegel in der Gaststätte hatte unterdessen einen Level erreicht, der ein unerwünschtes Mithören ausschloss. Trotzdem senkte Sascha seine Stimme, als er erklärte: »Im Prinzip brachten mich erst die Braque-Ausstellung, Braques enge Verbindung zu Picasso und die Tatsache, dass Nobbe eine Katalanin aus Barcelona kennengelernt hat auf die Idee.«

Holger schaute ihn verständnislos an. »Abgesehen davon, dass du nicht von mir verlangen kannst, einen Picasso zu fälschen: Was hätte die Katalanin denn mit der Provenienz des Bildes zu tun?«

»Erst einmal nichts, da müssten wir natürlich nachhelfen.« Während Holger gleichmütig wieder nach Messer und Gabel griff und sein Steak zu Ende aß, beeilte sich Sascha, zu erklären: »Dir dürfte ja bekannt sein, dass Picasso eine Zeit lang in Barcelona gelebt hat. Deshalb kam ich ja erst auf den Gedanken, dass wir Norberts Bekanntschaft mit der Katalanin nutzen könnten, um eine fiktive Verbindung zu dem Maler herzustellen.«

Bis hierhin hatte Holger seinem Freund zumindest zugehört. Aber nun fragte er zu Recht: »Warum sollte ausgerechnet sie uns bei einem Betrug helfen wollen?«

»Wenn die Geschichte, die sie Norbert erzählt hat, wirklich so stimmt und nicht übertrieben ist, muss sie diesen Wenderick abgrundtief hassen. Und das dürfte für sie Grund genug sein, ihm ordentlich eins auswischen zu wollen.«

Zumindest ließ sich Holger auf Saschas Gedankenspiel ein und spann den Faden weiter. »Nur mal angenommen, wir würden die Sache tatsächlich durchziehen. Denkst du nicht, dass wir die Geschichte mit der Provenienz auch alleine hinkriegen würden?«

»Eben nicht. Wir müssten mit einem Kaufbeleg nachweisen, wo und wann wir das Bild zu welchem Preis erworben haben. Am einfachsten wäre, es hätte sich seit Jahrzehnten in Familienbesitz befunden. Der Künstler könnte doch zu seinen Lebzeiten ein Werk verschenkt haben. Da bietet sich eine fiktive Bekanntschaft mit Picasso geradezu an. Sicher hat die Katalanin Vorfahren, die zu seiner Zeit in Barcelona gelebt haben. Und was das Künstlerische betrifft, Holle, da würde ich mich voll und ganz auf dich verlassen.«

Nach einem kurzen Schweigen meinte Holger lakonisch: »Du traust mir ja eine Menge zu.«

»Natürlich, Holle! Du hast dein Leben lang gemalt. Deine Wände hängen voller Bilder, und sie sehen professionell aus!«

Aber Holger schüttelte den Kopf. »Ich meine das nicht unbedingt künstlerisch, sondern vor allem moralisch. Bis jetzt habe ich mir nichts Ernsthaftes zuschulden kommen lassen, und so sollte es auch bleiben. Davon einmal abgesehen habe ich jahrelang keinen Pinsel mehr in die Hand genommen. Seit Hannah verstorben ist, habe ich nicht mehr gemalt oder gezeichnet, das weißt du doch. Und außerdem eigne ich mich nicht als Fälscher. Hast du mal daran gedacht, was passieren würde, wenn die Sache aufflöge? Wir wandern alle in den Knast!«

Jetzt sprach Sascha so beruhigend und überzeugt, dass Holger geneigt war, ihm weiter zuzuhören. »Das wird nicht geschehen, Holle. Außer deinen malerischen Fertigkeiten, die du natürlich wieder reaktivieren müsstest, wäre der Dreh- und Angelpunkt, wie vertrauenswürdig die Katalanin ist und ob sie überhaupt mitmachen würde. Nobbe müsste sich also nochmal mit ihr treffen und ihr vorsichtig auf den Zahn fühlen ohne unsere Idee offenzulegen.«

»Es ist deine Idee«, stellte Holger klar. Sein Freund überging diesen Einwand und redete, so als wäre die Sache längst beschlossen, einfach weiter.

»Wenn sie also bereit und geeignet wäre, mit uns zusammenzuarbeiten, könnten wir uns eine Provenienz ausdenken.«

Holger schwieg dazu. Schließlich fragte er: »Und wie wollen wir das Nobbe beibringen?«

»Morgen früh, wenn Christa arbeitet, rufe ich ihn an, und wir treffen uns dann wieder bei dir.«

Mit einem hintergründigen Lächeln meinte Holger: »Ich befürchte bald, du möchtest aus meiner Küche einen konspirativen Treffpunkt machen.«

Sascha grinste. »Da ist was dran.«

 

Ein konkreter Plan

Am nächsten Vormittag saßen die Freunde in Holgers Küche beisammen.

Nachdem Sascha in groben Zügen den Plan erläutert hatte, fragte Norbert verunsichert: »Ganz abgesehen davon, ob Holle so etwas hinbekäme: Wie soll ich denn Frau Cardona die Sache vortragen? So gut kenne ich sie doch gar nicht, eigentlich überhaupt nicht.« Doch hierzu hatte Sascha offensichtlich schon einen Plan.

»Du rufst sie einfach an, fragst unverbindlich wie es ihr geht und erwähnst dann beiläufig, dass du durch die SüdBank nun tüchtig in der Klemme stecken würdest. Stimmt ja auch. Und dann schlägst du ihr nach einigem Bla Bla spontan vor, sich mal wieder auf einen Kaffee zu treffen. Als Begründung kannst du ihr ja sagen, dass du nichts Näheres am Telefon erzählen möchtest. Auch das wäre nicht gelogen. Mit deinem Charme dürfte es dir doch nicht schwerfallen, die Katalanin zu einem Kaffee zu überreden!«, versuchte Sascha, seinen Freund ein wenig herauszulocken. »Und dann bringst du sie so nach und nach aber unauffällig auf die Idee mit dem Picasso. Es muss so aussehen, als wäre es ihr Einfall.«

Norbert entgegnete barsch: »Ganz sicher ist Frau Cardona nicht blöd!«

»Natürlich musst du es sehr geschickt und klug einfädeln, Nobbe.«

Er kannte Saschas Methoden, ihn einzufangen, und reagierte darauf mit einem schiefen Lächeln. Trotzdem bat er nach ein paar Augenblicken: »Jetzt klärt mich bitte erstmal ganz genau auf, wie die Sache mit Picasso und Barcelona im Detail zusammenhängt.« Erfreut nickte Sascha ihm zu, und Holger griff nach seinen Notizen.

»Ich habe in Kurzform mal etwas aus Picassos Biografie und dessen Zeit in Barcelona herausgesucht.«, begann er und las von einem Blatt ab: »Picasso wurde 1881 in Málaga geboren, siedelte dann mit seinen Eltern und den beiden Schwestern im Herbst 1895 nach Barcelona über, weil sein Vater dorthin als Professor an die Kunstakademie berufen wurde. Von einigen Unterbrechungen abgesehen lebte Picasso dort bis April 1905, danach zog er nach Paris. Im Juni 1910 kehrte er kurz zurück, reiste aber bald darauf weiter nach Cadaqués ans Mittelmeer.«

Holger bemerkte, wie Norbert sich unruhig auf dem Stuhl bewegte, deshalb fuhr er eilig fort: »Im Mai 1913 kam er zur Beerdigung seines Vaters. Dann hielt er sich nochmal im Oktober 1926 zu einem Interview für die La Publicidad in Barcelona auf. Nach den Sommerferien im Jahr 1933 kam er mit seiner Frau Olga und ihrem gemeinsamen Sohn Paul in die Stadt, um Verwandte und alte Freunde zu besuchen, und fuhr im September nach Paris zurück. Soviel ich weiß, ist Picasso aus politischen Gründen nie wieder nach Barcelona zurückgekehrt. Nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter im Januar 1939, da zwei Wochen nach ihrem Tod die Stadt von Francos Truppen eingenommen wurde. So, das wär’s fürs erste.«

Sascha enthielt sich jedes Kommentars, und Norbert rollte mit den Augen.

»Wie soll ich mir das alles merken?«

»Du musst nur wissen, dass Picasso in der Zeit von 1895 bis 1905, von einigen Unterbrechungen abgesehen, in Barcelona lebte. Alle anderen Aufenthalte waren nur kurz. Er ist also im zarten Alter von vierzehn Jahren mit seiner Familie dorthin gezogen und ist, als er vierundzwanzig war, dann endgültig weg.«

Sascha fasste zusammen. »Nun kommt es darauf an, ob Frau Cardona Familienangehörige hatte, die zu dieser Zeit in Barcelona lebten und ob eine Begegnung mit dem Maler theoretisch überhaupt möglich gewesen wäre.«

»Ich bezweifle, dass sie überhaupt mitmacht.«, entgegnete Norbert ein wenig ungehalten. Für ein paar Augenblicke sahen ihn die beiden anderen schweigend an.

Er verstand es als Vorwurf und erhob sich. »Okay, ich rufe sie nachher an und melde mich wieder bei euch.«

 

Sie trafen sich in dem gleichen Café gegenüber der SüdBank, in dem sie das erste Mal gesessen hatten.

»Normalerweise trinke ich keinen Wein am Vormittag«, erklärte Estrella, ließ sich aber von Norbert zu einem Glas überreden. Die Kellnerin brachte den Kaffee und zwei Gläser Silvaner. Nachdem er sich erkundigt hatte, wie es ihr gehe und ob sie etwas Neues gefunden hätte, erzählte sie, dass sie jetzt nachmittags stundenweise im Lager eines Einkaufscenters arbeite.

Dann berichtete Norbert von der enttäuschenden Entdeckung vor Ort in der Nähe des Bodensees und Kai Wendericks vernichtender Abfuhr.

Estrellas Augen blitzten vor Zorn, und ihr Gesicht glühte. »Es ist wirklich eine Unverschämtheit, dass er Sie so … wie sagt man es im Deutschen?  … abserviert! Ich hasse diesen Menschen! Ich würde ihn umbringen, wenn ich könnte!«, stieß sie wütend hervor.

»Na ja, vielleicht nicht gleich umbringen«, lenkte Norbert beschwichtigend ein. »Wenn ich nur eine Idee hätte, wie man ihm schaden, ihn mal so richtig abkassieren könnte! Aber leider fällt mir dazu nichts ein. Ich weiß einfach zu wenig über diesen Herrn.« Gedankenverloren rührte er in seinem Kaffee und gab sich den Anschein, als überlege er. Da von Estrellas Seite keine Äußerung zu dem Thema folgte, wagte Norbert den nächsten Vorstoß. »Hatten Sie nicht mal erwähnt, dass er auch so etwas wie der Kunstbeauftragte der Kunsthalle sei?«

Estrella nickte. »Ja, er kümmert sich um das Kaufen von Bildern. Und er hat eine Geliebte, die Bilder für die Ausstellungen aussucht. Ich habe sie auch schon in der Kunsthalle gesehen.«

Sinnierend meinte Norbert: »Vielleicht könnten wir Wenderick auf diesem Gebiet eins auswischen.«

»Ihn wegen der Geliebten erpressen?«, fragte sie erstaunt.

»Nein, nein, ich meine auf der Kunststrecke.«

»Sie wollen ein Bild aus der Galerie stehlen?« Durch den Genuss des Weines hatte Estrella gerötete Wangen und sprach mit erhobener Stimme. Erschrocken bat Norbert sie, etwas leiser zu reden, und bestellte Mineralwasser und zwei Espressi.

»Nein, Frau …«. Für einen Moment war ihm ihr Name entfallen.

»Estrella Cardona«, half sie weiter. »Aber nennen Sie mich doch einfach Estrella.« Aus ihrem Munde und mit der spanischen Aussprache Estreya klang ihr Vorname weicher und melodischer, als Norbert ihn sich vorgestellt und ausgesprochen hätte.

»Gerne. Ich bin Norbert.« Er sah jetzt etwas verlegen aus. Mit dem Rest Silvaner stießen sie an. Oh je, wenn Christa mich hier sähe! waren seine Gedanken, und augenblicklich stieg ein Schuldgefühl in ihm auf. Aber es währte nicht lange. Die Kellnerin schaute mit einem vielsagenden Lächeln zu ihnen herüber. Norberts nächster Gedanke war: Hier können wir nicht bleiben! Laut fragte er: »Wollen wir dann bald gehen, irgendwo anders hin?«, und deutete augenrollend mit dem Kopf in Richtung der Kellnerin.

Estrella nickte zustimmend. »Sie denkt, wir sind ein heimliches Liebespaar«, platzte sie laut lachend heraus. Jetzt errötete auch Norbert. »Ist es dir peinlich, wenn du hier gesehen wirst mit mir? Immerhin du hast eine Ehefrau.«

Aber er verneinte und versicherte verlegen, dass es sich gerne mit ihr unterhalte. Nachdem sie das Mineralwasser und die Espressi getrunken hatten, winkte er die Kellnerin heran und zahlte.

»Warum hast du es jetzt so eilig?«

»Das erzähle ich dir draußen, wenn wir ein Stück weit weg sind. Wir müssen hier nicht in der Nähe der SüdBank in diesem Café sitzen. Es wäre doch zu blöd, wenn plötzlich Herr Wenderick mit seiner Liebsten auf einen Kaffee hereinkäme und uns hier zusammen sehen würde.« Das Argument zog, und Estrella erhob sich eilig. Nachdem sie das Café verlassen hatten, ergänzte er: »Außerdem schien die Kellnerin recht neugierig zu sein. Ich habe nämlich eine Idee. Aber die ist nicht für fremde Ohren bestimmt.« Augenblicklich war ihr Interesse geweckt. Mit zügigen Schritten steuerten beide auf einen kleinen Park zu und nahmen auf einer Bank Platz. Jetzt sehen wir erst recht wie ein Liebespaar aus, dachte Norbert und kam schnell wieder auf das Thema Galerie zurück.

»Ein Bild können wir nicht stehlen, das würde nicht funktionieren«, begann er und fuhr dann zögerlich fort: »Aber wie wäre es, wenn wir ihm eine Fälschung für seine Galerie verkaufen würden?«

Sie sah ihn zweifelnd an. »Was soll das für eine Bild sein? Und wer könnte es malen?«

Norbert log: »Vorhin im Café fiel mir ein, dass mein alter Schulfreund ziemlich gut malen kann. Wenn es uns irgendwie gelingen würde, diesem Wenderick eine Fälschung für teures Geld anzudrehen …«

Estrella schaute ihn mit großen Augen an. »Aber das ist ja noch viel komplizierter als ein Bild zu stehlen! Und wer soll es Wenderick verkaufen? Doch nicht du?«

Norbert schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Er kennt mich ja. Und du kämst selbstverständlich auch nicht in Frage.«

»Soll dein Malerfreund ihm das Bild persönlich verkaufen?«

»Nein. Aber wir sind drei alte Schulfreunde. Der dritte, Sascha, ist sehr redegewandt, und Wenderick kennt ihn nicht. Aber ich habe ja noch gar nicht mit meinen Freunden darüber gesprochen. Vielleicht können wir die Sache auch gleich wieder vergessen.« Norbert schwieg ein paar Sekunden und überlegte angestrengt, wie er jetzt unverfänglich auf Picasso und Estrellas Heimatstadt Barcelona käme.

»Welchen Künstler könnte dein Freund fälschen?«, fragte sie interessiert.

Norbert zuckte mit den Schultern. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Es wäre auf jeden Fall sehr gewagt. Denn selbst wenn ihm eine gute Fälschung gelingen würde, sagen wir mal eine Zeichnung oder ein Gemälde im Stil von Picasso, wäre da noch die Sache mit der Provenienz.« In kurzen Worten erläuterte er das Problem und gab zu Bedenken, dass Picasso die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich gelebt hätte, aber er, Norbert, leider keinen Franzosen kenne, der für eine fiktive Bekanntschaft mit dem Maler in Frage käme und im Besitz eines Gemäldes sein könne.

Er ließ Estrella Zeit, über das Gesagte nachzudenken. Die Wirkung des Alkohols schien nachgelassen zu haben, zumindest war sie tief in Gedanken und schwieg.

Endlich kam die von Norbert erhoffte Bemerkung. »Aber ich weiß, dass Picasso auch in Barcelona gelebt hat. Und ich komme aus Barcelona.« Norbert sah erstaunt auf. Seine Überraschung war schlecht gespielt.

»Ich wusste gar nicht, dass er auch dort war!« Und nach einer kleinen Pause fragte er vorsichtig, ob er ihr seine beiden Schulfreunde vorstellen dürfe. Estrella hatte nichts dagegen.

Plötzlich schaute sie erschrocken auf die Uhr. »Oh, die Vorlesung fängt in zehn Minuten an, das schaffe ich nie!« Hastig verabschiedete sie sich und drehte sich, während sie davoneilte, kurz um. »Wir rufen uns an, ja? Adéu!«

 

Das Team

Am darauffolgenden Vormittag saßen die drei Freunde, diesmal aber in einem anderen Café und warteten auf Estrella.

Holger schaute auf die Uhr: »Na wo bleibt denn deine schöne Spanierin?«

»Erstens ist sie nicht meine Spanierin und zweitens hatte sie betont, dass sie Katalanin sei. Ich glaube, auf diesen Unterschied legt sie Wert. Und drittens ist es erst kurz nach elf Uhr«, stellte Norbert klar.

Nach einer weiteren Viertelstunde Wartezeit wurde auch Sascha ungeduldig. »Ich befürchte, die Katalanin hat uns versetzt oder du hast dich bezüglich des Treffpunktes missverständlich ausgedrückt.« Aber in diesem Moment schwang die Glastür auf und eine dunkelhaarige, attraktive Frau mittleren Alters kam herein. Suchend glitt ihr Blick über die wenigen Gäste. Als sie die drei Herren sah, schritt sie lächelnd auf sie zu und warf schwungvoll ihre Tasche auf den freien Stuhl am Vierertisch. Eilig hatten sich die Freunde zur Begrüßung erhoben. Norbert und Holger registrierten, wie Sascha seine, wie sie es nannten, Balzhaltung einnahm: herausgestreckte Brust und leicht zur Seite geneigter Kopf. Wie ein balzender Gockel, dachten sie verärgert. Wenn er es denn besäße, würde er auch noch sein Gefieder spreizen.

Estrella gab allen die Hand. »Entschuldigung, wenn ich etwas zu spät bin, aber die Bahn war gerade weg. Einfach fortgefahren, ohne mich!«, erklärte sie lachend.

»Aber das macht doch nichts«, versicherten die drei Freunde.

»Estrella, ich möchte dir gerne Herrn Dr. Alexander Niermeyer und Herrn Holger Grafe vorstellen.« Und mit einer galanten Handbewegung wies er auf die Katalanin. »Und das ist Frau Cardona. Sie kommt aus Barcelona.«

Sascha lachte: »Wir wussten noch gar nicht, dass du reimen kannst, Nobbe!« Nachdem der Kellner an den Tisch kam und weitere Bestellung abgegeben wurden, wandte sich Norbert an seine beiden Freunde.

»Ich habe euch ja bereits erzählt, dass Estrella ebenso wie ich allen Grund hat, Wenderick zu hassen. Und da kamen wir beide gestern auf eine Idee.« Nach einem flüchtigen Blick in Richtung des Kellners und der anderen Gäste, die ein paar Tische weiter entfernt saßen, schilderte Norbert mit gedämpfter Stimme seinen beiden Freunden genau die Geschichte, die sie sich zu dritt zwei Tage zuvor ausgedacht hatten. Dabei vermied er es, sie anzuschauen. Sascha hatte sichtlich Mühe, ernsthaft zuzuhören, und Holger betrachtete konzentriert seine Hände.

»Sie lachen?«, bemerkte Estrella an Sascha gewandt. »Sie finden die Idee – absurd?«

»Ein bisschen schon.«

»Sicher es kommt es darauf an, wie geschickt der Maler ist und wie gut die Provenienz ausgedacht wird.« Ihr Blick wanderte zwischen Sascha und Holger hin und zurück; sie wusste nicht, wer von den beiden der Künstler und wer der Mittelsmann sein würde. Der Kellner brachte die Kännchen Kaffee und den Cappuccino.

Nachdem er wieder gegangen war, meinte Estrella seufzend: »Es ist nicht einfach, eine Provenienz zu erfinden. Picasso hat gelebt in Barcelona um 1900. Da war die Mutter von meiner Großmutter erst sechzehn Jahre alt. Sie hieß Teresa und ist geboren 1884. Sie war also noch etwas zu jung um eine Geliebte von Picasso zu sein.«

»Sie muss ja nicht unbedingt seine Geliebte gewesen sein, sondern nur sein Model«, warf Norbert ein.

Aber Estrella lachte: »Bestimmt waren alle Modelle von ihm auch seine Geliebte! Und warum sollte er sonst ein Bild schenken, wenn er das Modell nicht auch geliebt hat?« Dieser Logik hatten die Freunde nichts entgegenzusetzen.

Jetzt meldete sich Holger zu Wort. »Rein zufällig habe ich vor kurzem eine Biografie über Picasso gelesen.« Wieder gelang es Sascha nur mit Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Unbeirrt fuhr Holger fort: »Daher weiß ich, dass er bis 1905 größtenteils in Barcelona gelebt hat und erst dann nach Paris ging. Zu dieser Zeit war er also vierundzwanzig und Frau Cardonas Urgroßmutter einundzwanzig Jahre alt. Da könnte es doch theoretisch zwischen den beiden gefunkt haben.«

»Sie sind bestimmt der Künstler?«, vermutete Estrella.

Holger gab sich bescheiden. »Na ja, zumindest habe ich eine Zeitlang sehr viel gemalt.«

Sascha kam jetzt auf einen weiteren heiklen Punkt zu sprechen. »Die Frage wäre außerdem, wie wir an Wenderick herankommen und ihm das Bild andrehen könnten.«

Holger und Norbert waren der Meinung, dass dies eher beiläufig geschehen und der Verkauf des Bildes nicht im Vordergrund stehen solle.

Doch ihr Freund entgegnete: »Wie stellt ihr euch das vor? Soll ich mich etwa von ihm finanziell beraten lassen und nebenbei erwähnen, dass ich jemanden kenne, der einen Picasso hat? Nein, das würde nicht funktionieren.«

»Und außerdem müssen Sie immer lachen! Doch, ich habe es gesehen. Dann glaubt Ihnen Wenderick sowieso kein Wort.«

Für einen Moment fühlte Sascha sich ertappt. »Aber wenn es darauf ankommt, kann ich sehr ernst sein«, beteuerte er mit treuherzigem Blick und musste wieder grinsen. Estrella hatte noch eine andere Idee, die ihm sehr entgegenkam.

»Vielleicht sprechen Sie lieber mit Frau Ruland. Sie berät ihn für die Ausstellungen in der Kunsthalle und sie ist seine Freundin.«

Schon längst hatte Sascha im Internet herausgefunden, dass sie als Kunsthistorikerin an der Uni einen Lehrauftrag hat. Zuversichtlich meinte er: »Dann werde ich einen Weg finden, diese Frau Dr. Ruland kennenzulernen. Aber noch wichtiger ist, dass Holle etwas Vernünftiges hinkriegt.«

»Wer ist Holle? Ich kenne nur eine Frau Holle aus dem deutschen Märchen.«

Sascha schlug vor: »Wenn es Ihnen recht ist, können wir uns gerne mit den Vornamen und mit Du anreden. Wir werden ja noch viel miteinander zu tun haben. Also ich bin Alexander, genannt Sascha, und unser Malerfreund heißt Holger. Wir sagen aber meist Holle zu ihm. Nobbe kennen Sie … kennst du ja schon.« Er schaute nach dem Kellner, um Wein zum Anstoßen zu bestellen.

»Das Du nehme ich gerne an, aber Wein für mich am Vormittag bitte lieber nicht. Dann rede ich immer zu laut und werde rot«, erklärte sie rasch, Norbert konnte es bestätigen. »Und ich heiße Estrella.« Sie sprach ihren Namen mit jenem weichen, melodischen Klang aus, den er schon am Tag zuvor aus ihrem Munde gehört hatte.

Unterdessen hatten die anderen Gäste bezahlt und das Café verlassen. Somit konnten sie sich jetzt ungestört und bedenkenlos zu ihrem Plan austauschen.

Sascha fuhr fort: »Vor allem kommt es darauf an, Holle, ob du dir die Sache überhaupt zutraust.«

Dieser hatte die Angelegenheit bereits sorgfältig durchdacht. »An ein Ölgemälde würde ich mich auf keinen Fall wagen. Das wäre zu riskant, weil zu viel bedacht werden müsste: Außer der Handschrift des Malers müssen die Farbpigmente stimmen. Leinwand und Keilrahmen sollten ebenfalls das richtige Alter haben, sonst würden die Experten das Bild schon bald als Fälschung erkennen. Aber bei einer Zeichnung wäre das weitaus schwieriger bzw. fast unmöglich. Natürlich würde ich nur altes Papier verwenden und mich im Vorfeld intensiv mit Picassos Arbeiten beschäftigen. Die Strichführung muss stimmen.«

Nach ein paar Augenblicken fasste Sascha zusammen: »Zum einen müsste Holle also nicht nur eine sehr gute, sondern perfekte Zeichnung gelingen. Zum anderen wäre genau zu überlegen, wie ich an Frau Ruland herantrete, um sie auf das vermeintliche Picasso-Werk aufmerksam zu machen. Alles muss glaubhaft und schlüssig wirken.«

»Ich sehe da noch ein weiteres Problem«, gab Norbert zu bedenken. »Wenn Wenderick nun die Eigentümerin, also Estrella, persönlich kennenlernen will?«

»Genau das müssen wir verhindern«, stimmte Sascha zu. »Schon deshalb ist es wichtig, dass alles über Frau Dr. Ruland läuft.« Er fing Holgers ironischen Blick auf und fühlte sich durchschaut. Doch dann fuhr er ungerührt fort. »Es kann ja nichts schaden, wenn sie Estrella kennenlernt. Im Gegenteil, das macht die Sache glaubhafter. Und falls Wenderick sie auch sehen will, dann ist Estrella eben gerade verhindert, krank oder verreist. Aber wie gehen wir nun generell vor? Wollen wir erst einmal abwarten, was Holle zustande bringt?«

Aber der hatte einen anderen Vorschlag. »Wir sollten beides parallel laufen lassen. Ich werde mich auf die Zeichnung vorbereiten und ein paar Skizzen anfertigen, und du, Sascha, versuchst dich, an Frau Ruland heranzumachen. Das sollte dir doch nicht schwerfallen, oder?«, fügte er mit einem süffisanten Lächeln hinzu. Doch der ignorierte diese Bemerkung.

»Ich habe allerdings noch keine Idee, wie ich das unauffällig anstellen könnte.«

»Wobei die Betonung auf unauffällig liegt«, spielte Holger auf das mitunter machohafte Gehabe seines Freundes an. Dieser hatte die Spitze verstanden und lächelte boshaft zurück.

 

Erste Versuche

»Ich frage mich wirklich, was du den ganzen Tag so treibst«, nörgelte Christa wieder einmal an ihm herum, als sie am zeitigen Nachmittag von ihrem Dienst nach Hause kam. »Wenigstens das Frühstücksgeschirr hättest du in den Geschirrspüler räumen können. Und die Abfälle hast du auch nicht runtergebracht.« Wütend stellte sie ihre Tasche ab. »Außerdem hatte ich dich gebeten, die Wäsche aus der Maschine herauszunehmen, wenn sie fertig ist.« Norbert nahm den Abfallbeutel und brachte ihn weg.

Als er etwas außer Atem vom Treppensteigen wieder vor ihr stand, meinte sie: »Wir müssen mal über unseren Urlaub reden. Ich sitze ja im Reisebüro an der Quelle. Aber du könntest dir ruhig auch mal Gedanken darüber machen, wo wir dieses Jahr hinwollen.«

Bereitwillig setzte sich Norbert an seinen Rechner und surfte ein wenig im Internet. Dabei kam ihm der Einfall, mal nachzuschauen, wann und welche Vorlesungen Frau Dr. Ruland hielt. Er sah, dass sie unter anderem Vorträge zur Kunstgeschichte im Rahmen des Seniorenkollegs anbot, immer dienstags und donnerstags um zehn Uhr. Gleich nachher würde er Sascha darüber informieren. Als Christa nochmal die Wohnung verließ, nutzte er die Gelegenheit und rief seinen Freund an. Und prompt teilte der ihm mit, dass er sich online im Seniorenkolleg angemeldet hätte und morgen, am Donnerstag, die erste Lehrveranstaltung besuchen würde. Die Vorlesungsreihe lief bereits, aber es wäre durchaus möglich, auch jetzt noch einzusteigen.

Frustriert stellte Norbert fest, dass sein Freund wiedermal alles besser wusste und wie so oft einen Schritt voraus war. Außerdem ärgerte es ihn, dass Sascha heute Vormittag bei dem Treffen mit Estrella die Gelegenheit genutzt hatte, um mit ihr zu flirten. Deshalb gefiel ihm die Idee, ihn auf Frau Dr. Ruland anzusetzen.

Christa kam vom Einkauf zurück und riss ihn aus seinen Gedanken. »Hattest du eigentlich mal in der Stube staubgesaugt?«

»Ja, habe ich«, versuchte er es mit einer Notlüge.

»Sieht aber nicht danach aus.«

Norbert fühlte, wie Wut in ihm aufstieg. Mit für ihn ungewohnter Schärfe blaffte er zurück: »Ich möchte nicht ständig von dir gegängelt werden. Lass mich doch einfach mal in Ruhe!« Beleidigt zog sich Christa daraufhin ins Schlafzimmer zurück und fing an, den Kleiderschrank aufzuräumen. Norbert nahm kurzerhand seine Jacke und verließ die Wohnung. Eine halbe Stunde später klingelte er bei Holger.

»Du kommst wie gerufen. Ich habe schon mit ein paar Skizzen begonnen. Wenn du sie mal sehen möchtest?«

Ratlos schaute Norbert auf die Blätter. »Willst du meine ehrliche Meinung hören?«

»Natürlich.«

»Irgendwie sieht alles dilettantisch aus.« Bevor Holger etwas erwidern konnte, klingelte es noch einmal. Sascha stand mit seinem Rennrad an der Tür.

»Na, da wären wir ja alle wieder beisammen!« Dann begutachtete auch er die Arbeiten. »Du siehst, meine Begeisterung hält sich in Grenzen, Holle. Sowas können wir auf keinen Fall anbieten. Wenderick und Frau Ruland lachen sich krank, wenn sie das sehen.«

»Dass ihr euch da mal nicht täuscht.« Holger stand gelassen auf und holte einen dicken Wälzer einer zweibändigen Ausgabe zu Picassos Werken hervor. »Hier, Band 1, Junge Kunst 1898-1901. So hat er damals gemalt. Seht euch mal die Federzeichnung mit Aquarell und Buntstift an. Sie ist 1903 in Barcelona entstanden, Angel Fernández de Soto au café. Oder hier, ein Portrait seiner Schwester Lola, Zeichenkohle und Buntstift auf Papier, um 1899 in Barcelona...«

Sascha unterbrach ihn: »Lass mal gut sein, Holle. Wir sehen, du hast dich bemüht … im Rahmen deiner Möglichkeiten. Aber irgendwie wirken die Skizzen dilettantisch und verkrampft. Sieh doch mal, wie schwungvoll Picasso die Federzeichnung ... Dingsbums au café hingekriegt hat, alles mit einer Linie durchgezogen. Da sehe ich ehrlichgesagt himmelweite Unterschiede zu deinen Strichen.«

Die sehe ich ja genauso, aber ich bin eben nicht Picasso«, erwiderte Holger gereizt.

Norbert klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. »Lass dir Zeit, Holle. Und wenn es gar nichts wird, wäre das auch nicht so schlimm.«

»Was sind denn das für Töne, Nobbe?«, tadelte Sascha.

Doch Norbert zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob wir da nicht zu viel riskieren. Wenn der Betrug rauskommt …«

»Er wird nicht rauskommen. Holle wird noch üben. Die Figuren können doch ruhig etwas krumm und schief sein, Hauptsache die Linie stimmt, oder?« Er bekam keine Antwort. Ein paar Augenblicke lang starrten alle drei auf Holgers Skizzen. Dann entschied Sascha: »Egal, wir ziehen die Sache durch. Es ist doch toll, dass Estrella mitmacht! Und das ist schließlich eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen unseres Planes. Morgen gehe ich in Frau Dr. Rulands Vorlesung, und dann sehen wir weiter.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich und verschwand samt seinem Rennrad wieder.

Norbert und Holger blieben alleine zurück.

»Du, Holle, ich habe einfach kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Sag doch einfach, dass du es nicht hinkriegst. Das kann dir doch keiner verdenken oder übelnehmen, auch Sascha nicht.«

Aber offensichtlich war Holgers Ehrgeiz plötzlich geweckt. »Nein, so leicht gebe ich nicht auf, nicht nach ein paar mehr oder weniger missglückten Skizzen. Denk doch mal daran, Nobbe, wie dich Wenderick und die Bank abserviert haben. Und stell dir dann unseren Triumph vor, wenn er auf den falschen Picasso reinfällt und ordentlich was dafür zahlt. Mindestens das Geld für deine in den Sand gesetzte Altersvorsorge sollte da schon rauskommen. Außerdem fängt die Sache gerade an, mir Spaß zu machen.«

 

Während bei Norbert zu Hause Eiszeit herrschte, Christa war noch immer beleidigt und verbrachte den Abend mit einer Kollegin im Kino, versuchte Sascha sich auf den morgigen Tag vorzubereiten. Er suchte nach sinnvollen Fragen, mit denen er nach der Vorlesung an Frau Ruland herantreten und sie in ein Gespräch verwickeln könnte. Ihr Vortrag beinhaltete unter anderem die Werke des Impressionismus und der Moderne.

Nach einer halben Stunde gab er auf. Stattdessen suchte er im Internet nach etwas Brauchbarem zu Georges Braque. Warum sollte er nicht einfach bei einer zwanglosen Plauderei mit ihr an den Galerie-Besuch anknüpfen? Er würde sich da ganz auf seine Intuition und seinen Charme verlassen.

 

Am nächsten Morgen klingelte es bei Holger kurz vor um neun. Sascha stand vor der Tür. »Stör ich dich beim Frühstück? Aber ich brauch dringend noch was zu Georges Braque. Hast du mal einen Katalog oder ein paar geistreiche Fragen?«

Holger sah seinen Freund entgeistert an. »Warum um alles in der Welt hast du mich denn nicht vorher angerufen? Ich hätte in Ruhe was rausgesucht. Und überhaupt, wie siehst du denn aus?«

»Wie sehe ich denn aus?«, fragte Sascha argwöhnisch.

»Wie ein auf jung getrimmter eitler alter Gockel!«

Beleidigt schaute er in den Spiegel der Flurgarderobe. »Was ist an meinem Outfit nicht in Ordnung?«

»Lass den albernen Schal weg. Und kein Mann trägt solch eine Sonnenbrille! Warum hängst du dir den Pullover eigentlich über die Schulter?«

Sascha reichte es. »Soll ich etwa so wie du herumlaufen? Mit einer geriatriefarbenen Weste, dieser beigen, typischen Altherrenbekleidung?«

Aber Holger fuhr ungerührt fort: »Und wenn ich dir noch einen gutgemeinten Rat geben darf: Fang nicht wieder an, plump herum zu flirten, wenn du mit der Kunsthistorikerin sprichst. Es würde nicht gut ankommen. Du machst dich damit nur lächerlich.«

»Danke, Holle, das baut mich richtig auf!«, erwiderte er aufgebracht. »Aber lass mal, ich komme schon alleine klar. Ich nehme an, du bist einfach unzufrieden mit dir und deinen verkümmerten Malkünsten.«

Wütend verließ er die Wohnung und ließ die Tür laut ins Schloss fallen. Holger setzte sich wieder an den Tisch und fing an zu zeichnen. Es war seine nunmehr achte Skizze.

 

Sascha war noch immer verärgert, als er mit dem Auto in Richtung Campus fuhr. Es war ein Fehler, dass er vorher bei Holger vorbeigeschaut hatte und überhaupt mit dem Auto unterwegs war. Endlich hatte er einen Parkplatz gefunden. Er musste sich beeilen. Den Schal, die Sonnenbrille und den Cashmere-Pullover ließ er im Wagen zurück.

Der Hörsaal war nur mittelmäßig besetzt. Sascha schaute sich um; in der ersten Reihe war fast alles frei. Dort wählte er einen Platz direkt vor dem Rednerpult, denn er hatte vor, schon während der Vorlesung den Blickkontakt zu ihr aufzunehmen. Sie sollte auf ihn aufmerksam werden.

Dann betrat Frau Dr. Ruland den Hörsaal. Nachdem das Klopfen zur Begrüßung verklungen war, begann sie mit ihren Ausführungen. Sie trug die auffällige, ein wenig extravagante Brille, die sie schon zur Ausstellungseröffnung in der Kunsthalle getragen hatte. Hin und wieder setzte sie diese ab und hielt sie spielerisch in den Händen.

Das Thema interessierte Sascha nicht, genaugenommen langweilte er sich. Holger wäre der richtige Zuhörer, aber das war ja nun leider nicht möglich.

Um die Zeit zu überbrücken, gab er sich seinen Betrachtungen zu Frau Dr. Rulands Outfit hin. Was sie wohl unter dem feminin geschnittenen Kleid trug? Manchmal lugte ein schmaler Träger aus dem Ausschnitt hervor. Jetzt wandte sie sich zum Whiteboard um. Unter dem dünnen Stoff ihres Kleides zeichneten sich kaum sichtbar, aber für Sascha dennoch erkennbar, die Konturen des Slips ab. Er stellte sich vor, dass sie einen Tanga trüge.

Nach endlosen eineinhalb, aber für Sascha doch recht erbaulichen Stunden deutete Frau Rulands Tonfall auf das baldige Ende der Vorlesung hin. Während des ganzen Vortrages hatte sie nicht ein einziges Mal in seine Richtung geschaut.

»Für weitere Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung«, hörte er sie sagen.

Aus den Reihen hinter ihm meldeten sich zwei, drei Senioren zu Wort. Dann packte Frau Ruland ihre Unterlagen zusammen, und die Zuhörer verließen nach und nach den Saal. Es wurde Zeit für Saschas Auftritt. Nachdem er sich an den Klappsitzen der ersten Reihe vorbeigeschlängelt hatte, ging er mit einem gewinnenden Lächeln auf sie zu. So genau wusste er noch nicht, wie er das Gespräch eröffnen sollte. Er hatte während ihres Vortrages ohnehin kaum zugehört. Und offensichtlich rechnete Frau Dr. Ruland jetzt auch nicht mehr damit, angesprochen zu werden. Mit leicht erstauntem Blick schaute sie ihn an. Sascha kam etwas umständlich auf Georges Braque und seine filigranen Vogelbilder zu sprechen und betonte, wie sehr ihn die Ausstellungseröffnung in der Kunsthalle beeindruckt habe.

»Schön, dass Ihnen die Bilder gefallen. Sie kennen ja sicher die Öffnungszeiten. Leider habe ich jetzt gleich einen Termin und bin etwas in Eile.« Mit einem entschuldigenden Lächeln verabschiedete sie sich.

Abgeblitzt. Sie ließ ihn wie einen lästigen Studenten stehen. Wie ein hilfloser Trottel kam er sich vor.  Der erste Eindruck war immer entscheidend und in diesem Fall vergeigt. Sascha wurde wütend auf sich selbst. Und auf Holle. Hätte der ihn heute Morgen nicht so verunsichert, wäre er in der jetzigen Situation viel souveräner aufgetreten. Frustriert verließ Sascha das Gebäude der Kunsthochschule und lief zu seinem Wagen. Zu Holger wollte er auf keinen Fall. Also fuhr er zum Institut, um dort mal wieder nach dem Rechten zu sehen und sich nebenbei ein paar Streicheleinheiten zu holen. Die würde er mit Sicherheit bekommen. Denn seine Doktorandinnen hatten ihre Promotionsarbeiten längst noch nicht beendet und waren weiterhin auf ihn angewiesen.

 

Auch am darauffolgenden Dienstag saß Sascha wieder in der ersten Reihe im Hörsaal. Frau Dr. Ruland hatte ihn sofort erkannt, als er nach der Vorlesung auf sie zuging. Doch diesmal steckte in ihrem Lächeln eindeutig eine Spur Ironie, schlimmer noch: Sascha glaubte, so etwas wie Nachsicht zu erkennen. Nach wenigen Worten verabschiedete sie sich höflich aber mit Nachdruck von ihm.

Am Nachmittag trafen sich die drei Freunde wieder in Holgers Wohnung.

»Na, wird doch langsam.«, meinte Norbert wohlwollend mit einem Blick auf dessen vielleicht zwanzigste Zeichnung. »Und wie sieht’s bei dir aus, Sascha?« Dieser zuckte nur vage mit den Schultern.

Wenig hilfreich meinte Holger: »Vielleicht bist du auch einfach nicht ihr Typ.« Es war eine schlichte Vermutung, doch Sascha fühlte sich getroffen. Es kam nicht oft vor, dass er bei Frauen so sang- und klanglos abblitzte. Aber augenscheinlich war Frau Dr. Uta Ruland gegen seinen Charme immun.

 

Angespannt saß Sascha zwei Tage später wieder in ihrer Vorlesung. Er fühlte sich unter Druck. Wie würde es weitergehen, wenn er auch diesmal eine Abfuhr erhielt?

Das Klopfen der Zuhörer riss ihn aus seinen Gedanken. Die Vorlesung war zu Ende, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Noch bevor er sich aus der ersten Reihe gezwängt hatte, packte Uta Ruland ihren Laptop ein und verließ den Hörsaal.

Am frühen Nachmittag war das Kundenrestaurant nur spärlich besetzt. Von einem der Tische weit hinten im Raum winkte Holger. Norbert steuerte auf den abgelegenen Platz zu.

»Was meinst du, ob er diesmal Erfolg hatte? Sonst wird es eng. Wir müssten uns dann eine neue Strategie überlegen.« In diesem Moment steuerte Sascha auf den Tisch zu. Den fragenden Blicken seiner Freunde wich er aus.

Begütigend meinte Norbert: »Schwamm drüber, wir sind eben alle nicht mehr die Jüngsten.« Und nachdem er Saschas betroffene Miene bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Wobei du von uns dreien eindeutig am jugendlichsten wirkst, wenn ich das mal so sagen darf. Kein Mensch würde dich auf fünfundsechzig schätzen.« Misstrauisch schaute Sascha ihn an, entdeckte aber in Norberts Gesichtszügen nicht die geringste Spur von Ironie.

Holger hingegen unterdrückte ein Grinsen, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars. »Leute, ich glaube, es geht voran. So langsam krieg ich die Sache hin. Hier, schaut mal.« Er holte sein Tablet hervor und zeigte ihnen ein paar Aufnahmen der letzten Skizzen.

Diesmal hatte Sascha nichts auszusetzen. »Alle Achtung, Holle! Ich würde sofort glauben, dass sie von Picasso sind. Oder hast du da was abfotografiert?«

Unbemerkt von ihnen war Estrella an den Tisch herangetreten und schaute Holger von hinten über die Schulter.

»El señor Picasso número dos! Soy muy impresionado!«, rief sie lachend, ihre dunklen Augen blitzten übermütig dabei. »Und wie sieht es bei dir aus, Sascha, hattest du Erfolg bei Frau Ruland?« Verlegen schüttelte er den Kopf. »Nicht so schlimm, wir werden eine neue Taktik überlegen. Ich glaube, Frau Ruland ist eine sehr kühle Frau.« Sie hatte es als Ermutigung gemeint, aber Sascha traf die Bemerkung umso härter.

Schnell wechselte er das Thema. »Würde sie dich eigentlich wiedererkennen? Sie hat dich doch bestimmt in der Kunsthalle beim Reinigen gesehen.«

Aber Estrella verneinte. »Sie hat nicht auf mich geachtet, sie hat nur einen Blick für Wenderick und die Bilder gehabt.«

Norbert kam aus dem Selbstbedienungsbereich mit einem Tablett, vier Sektgläsern und drei Piccolo zurück. »Wir sollten auf Holgers künstlerischen Erfolg anstoßen.«

»Und auf eine Reise nach Barcelona!« Als die Freunde sie überrascht anschauten, erklärte Estrella: »In der kommenden Woche werde ich für ein paar Tage in Barcelona sein. Kommt ihr mit? Ich könnte euch die Stadt zeigen, und Holle könnte sich ein paar Original-Zeichnungen anschauen im Museu Picasso, und außerdem könnten wir nach altem Papier suchen.«

Holger und Sascha zeigten sich spontan begeistert, doch Norbert meinte seufzend: »Und wie soll ich das Christa beibringen?«

»Mensch, Nobbe, du kannst doch nicht immer und ewig unter ihrem Pantoffel stehen«, regte sich Sascha auf.

Aber Estrella entschied: »Christa kommt mit.«

»Wie sollte das funktionieren? Christa darf nichts von unserem Plan erfahren.«

»Sie wird nichts davon mitbekommen. Ich werde mich um sie kümmern, wenn ihr Papier aussucht oder ins Museu geht.« Als Norbert und die beiden anderen dazu schwiegen, erklärte sie mit einem entwaffnenden Lächeln: »Macht euch keine Sorgen, Christa und ich werden gut auskommen miteinander, und ich werde sie ablenken.«

Etwas umständlich kam Norbert zuhause auf die Barcelona-Reise zu sprechen und druckste herum, dass Sascha eine katalanische Mitarbeiterin habe, die in der nächsten Woche für ein paar Tage nach Barcelona müsse. Er würde sie gerne begleiten, da er die Stadt kennenlernen wolle. Aber alleine mit ihr könne Sascha wegen des Geredes im Institut nicht reisen.

»Seit wann kümmert sich dein Freund um das Geschwätz der anderen?«, unterbrach ihn Christa. »Oder willst du mir nur zu verstehen geben, dass du mitfliegen willst?«

»Nein, nein, und schon gar nicht ohne dich. Aber ich sollte mich doch um einen Kurzurlaub für uns beide kümmern. Wie wäre es, wenn wir einfach mitkämen?«, fragte er, um gleich darauf absichtsvoll zu bemerken: »Aber vergiss es. So kurzfristig würdest du doch sowieso keinen Urlaub bekommen und noch schnell die Flüge buchen können.« Damit hatte er Christas Ehrgeiz geweckt.

»Mach dir mal um meinen Urlaub keine Sorgen. Das kriege ich schon irgendwie hin. Und was die Buchung der Flüge betrifft: Wozu arbeite ich denn in einem Reisebüro? Das wäre ja gelacht!«

Norbert gab sich freudig erstaunt. Noch glücklicher wäre er allerdings, wenn sie ihn alleine mit Estrella und seinen beiden Freunden fliegen ließe.

 

Barcelona

Jetzt Anfang Mai lagen die Temperaturen in Barcelona bei angenehmen zwanzig Grad.

»Nachher im Hotel hau ich mich erstmal hin. Irgendwie bin ich kaputt.«

»Wovon denn, Norbert? Du hast doch heute noch gar nichts gemacht, außer warten und rumsitzen!« Christa schien unerbittlich; schon nach der Busfahrt vom Flughafen zum Plaça de Catalunya war ihr Unternehmungsgeist wieder geweckt.

Aber Estrella meinte verständnisvoll: »Ihr könnt euch nachher alle noch ausruhen ein wenig und die Koffer auspacken. Um neunzehn Uhr ich hole euch ab von Hotel.« Sie selbst würde in den kommenden Tagen in ihrem eigenen kleinen Appartement wohnen, das sie allerdings mit der jungen Frau teilen müsse, in deren Wohnung sie zurzeit in Berlin untergebracht war.

Das Hotel lag im Eixample, einem vornehmen Viertel mit zahlreichen Bauwerken des Modernisme, des katalanischen Jugendstils. Obwohl ihre Hotelzimmer weit oben im fünften Stockwerk lagen, war der Straßenlärm selbst durch die geschlossenen Fenster deutlich vernehmbar. Nicht zu Unrecht befürchtete Norbert, dass die Geräusche sie nachts nicht einschlafen ließen.

»Wir hätten Ohrstöpsel mitnehmen sollen.« Wortlos holte Christa ein Päckchen Ohropax aus ihrer Kosmetiktasche und warf es auf Norberts Bett.

Auf seinen verwunderten Blick hin meinte sie trocken: »Was glaubst du denn, wie ich sonst dein Schnarchen aushalte?«

Im Zimmer nebenan hatten die beiden Freunde ganz andere Probleme.

»Ich kann nicht im Doppelbett neben dir schlafen«, bekundete Holger.

»Jetzt wirst du komisch«, giftete Sascha zurück. »Mensch Holle, stell dich nicht so an! Wir haben ja immerhin zwei getrennte Matratzen und kein französisches Bett.«

»Trotzdem, es stört mich«, beharrte er. Wütend begann Sascha die Betten auseinanderzurücken.

»Beim Zelten früher hatte es dir doch auch nichts ausgemacht!«

»Das war etwas ganz anderes!« Zwischen den Betten war jetzt ein Spalt von dreißig Zentimetern.

»Reicht das dem Herrn?!«

Schweigend packten beide ihre Koffer aus, und Sascha streckte sich danach auf seinem Bett aus.

Er musste eingeschlafen sein, denn ein Klopfen ließ ihn aufschrecken. Norbert stand in der Tür und erklärte, dass Estrella unten in der Lounge auf sie wartete. Es war schon neunzehn Uhr. Zehn Minuten später brachen alle zu einem kleinen Rundgang im Eixample auf.

Nicht weit vom Hotel entfernt wies Estrella sie auf zwei sehenswerte Gebäude von Antoni Gaudí hin: die Casa Batlló mit ihrer markanten, mit bunten Mosaiksteinen verzierten Fassade und die Casa de Milà mit den geschwungenen Balkonen und den skurrilen Schornsteinen und Lüftungsschächten. Estrella wusste zu berichten, dass dieses Gebäude zu Gaudís Zeiten vor allem Spott und Ablehnung hervorgerufen hatte. Wegen der langen Bauzeit wurde es von der Bevölkerung Barcelonas auch La Pedrera, der Steinbruch, genannt.

Vom lauten, dichtbefahrenen Passeig de Gràcia führte Estrella ihre Gäste auf die parallel verlaufende Rambla de Catalunya. Im dichten Gedränge der Passanten kamen sie nur langsam voran. Zudem wurden sie immer wieder von Gauklern und Musikanten abgelenkt und hielten mehrmals inne, um die Auslagen der Straßenhändler anzuschauen. Endlich bogen sie in eine ruhigere Seitenstraße ein.

»Eigentlich treffen sich die Barceloner nicht vor einundzwanzig Uhr zum Essen. Aber wir suchen jetzt ein gemütliches Restaurant.« Zielgerichtet steuerte sie auf ein kleines Lokal zu.

»Hier gibt es sicher auch Tapas?«

»Ja, auch. Aber Tapas sind ein spanisches Gericht. Typisch für Katalonien sind Fische, Meeresfrüchte und Eintöpfe.«

Beim Betreten des Restaurants wehte ihnen ein Duft von heißem Olivenöl und köstlichen Gewürzen entgegen.

»¡Hola! Somos cinco personas«, wandte sich Estrella an den Kellner.

»Por favor.« Er führte sie zu einem Sechsertisch an der Fensterfront, die auf einen begrünten Innenhof zeigte. Die bis zum Boden reichenden hohen Fenster waren weit geöffnet und ließen die milde Frühlingsluft herein.

»Hast du mit dem Kellner Katalanisch gesprochen?«

»Nein, es war Spanisch. Nur sechzig Prozent der Bevölkerung in Barcelona sind Katalanen. Der Rest ist zugewandert aus Spanien oder dem Ausland.« Als der Kellner die Speisekarten gebracht hatte, schauten alle etwas ratlos hinein.

»Lasst mich eine Empfehlung machen«, schlug Estrella vor. »Wir nehmen als Getränke Mineralwasser und eine Flasche Rosé aus der Region. Und als Vorspeisen können wir pa amb tomàquet, gegrilltes Gemüse und Gambas mit allioli nehmen. Dann wir wählen die Hauptspeisen.« Die Getränke und die Vorspeisen wurden bald gebracht. Estrella hatte unterdessen die Hauptgerichte ausgesucht.

»Typisch für die katalanische Küche sind eine Mischung aus Fisch und Fleisch, wir nennen es Mar i Muntanya, das heißt Meer und Berg.« Nachdem der Kellner die Bestellungen aufgenommen hatte, meinte sie: »Ich schlage vor, morgen am Nachmittag besuchen wir die Sagrada Familia, die berühmte Basilika von Gaudí. Jeder Tourist muss sie gesehen haben.«

»Und was machen wir am Vormittag?«, wollte Christa wissen.

»Ihr müsst etwas ohne mich unternehmen. Ich besuche meine Großmutter.«

»Was?«, kam es fast gleichzeitig von Sascha, Holger und Norbert. Niemand von ihnen hatte damit gerechnet, dass Estrellas Großmutter noch lebte. Sascha schaffte es immerhin, die unpassende Betonung dieses Wortes rechtzeitig in einen bewundernden Ausruf zu wandeln.

Mit Sicherheit hatte Estrella die unterschwellige Befürchtung, ihre Großmutter könne die erfundene Provenienz durch ihre Aussage gefährden, herausgehört. Denn sie erklärte gleich darauf mit einem traurigen Lächeln: »Sie ist leider dement. Ich glaube, sie kann mich verstehen, aber sie sagt immer nur sí sí. Großmutter ist jetzt 96 Jahre alt.«

»Wo wohnt sie eigentlich?«

»In einer Seniorenresidenz. Sie liegt am ehemaligen Hafen unten am Meer.« Bisher hatten sie nie darüber gesprochen, ob von Estrella weitere Verwandte lebten. Als Norbert vorsichtig danach fragte, verneinte sie. Dann wechselten sie das Thema.

»Ihr könnt morgen Vormittag für die Stadtbesichtigung den Bus mit hopp off hopp on nehmen. Es gibt zwei Linien, die rote und die blaue. Sie fahren durch verschiedene Stadtteile von Barcelona. Und am Nachmittag, sagen wir um fünfzehn Uhr, treffen wir uns direkt vor der Westfassade der Sagrada Familia, sie heißt Passionsfassade. Ich gebe Sascha noch meine Handy-Nummer, für alle Fälle.« Norbert hatte sie bereits und war sichtlich erleichtert, dass Estrella nicht darauf zu sprechen kam. Wie auch hätte er es Christa gegenüber begründen können?

Nach einer angemessenen Zeitspanne kamen die Hauptgerichte, und alle gaben sich schweigend dem Genuss der köstlichen katalanischen Küche hin.

Es wurde ein entspannter Abend, aber da Christa mit in der Runde saß, ließ man das entscheidende Thema selbstverständlich aus.

 

Der Gedanke daran, die kommenden Tage größtenteils getrennt von den anderen und alleine mit Christa zu verbringen, drückte Norberts Laune erheblich. Er bedauerte, dass er kaum in Estrellas Nähe sein könnte und befürchtete zudem, dass Sascha die Situation schamlos für sich ausnutzen würde.

Schon den ganzen Vormittag über fühlte er sich von Christa zur Eile gedrängt. »Wenn ich schon einmal hier bin, möchte ich auch so viel wie möglich sehen«, war ihr Argument, und prinzipiell gab er ihr Recht. Doch er hätte sich gerne mehr Zeit genommen. Sascha und Holger hatten sich schon beizeiten abgesetzt und erkundeten das Barri Gòtic zu Fuß. Mit Sicherheit saßen sie jetzt in einem der Straßen-Cafés und genossen das frühsommerliche Wetter. Norbert beneidete sie von ganzem Herzen.

Selbst der nachmittägliche Besuch der Sagrada Familia besserte seine Stimmung kaum, obwohl sie die Besichtigung gemeinsam mit Estrella unternahmen. Die anderen waren begeistert von der riesigen Basilika mit der floralen Ornamentik, den Türmen und den unterschiedlich gestalteten Fassaden.

Aber Norbert nörgelte rum: »Die Kräne verderben den Gesamteindruck! Und die ganze Kirche erinnert mich irgendwie an eine getröpfelte Sandburg. Alles am Rande des Kitsches.«

»Kulturbanause!«, war Christas einziger Kommentar hierzu.

»Norbert hat Recht«, sprang Estrella ihm bei. »Die Kirche ist eine ewige Baustelle, sie wird wohl nie fertig. Ihr werdet sehen, oben auf den Türmen bringen Bauarbeiter neue Schmuckelemente an, aber sie haben nur noch wenig mit dem Stil von Gaudí zu tun.«

Aber von dem riesigen hellen Innenraum mit dem hohen Gewölbe und den steinernen Säulen war selbst Norbert beeindruckt.

»Wir können jetzt mit dem Fahrstuhl nach oben fahren und dort die Spitzen von den Türmen ansehen. Von oben haben wir auch einen herrlichen Blick auf die Stadt.«

 

Erst nach zwei Stunden waren sie wieder draußen auf dem begrünten Vorplatz. Norbert ließ sich auf eine der Bänke fallen.

»Irgendwie bin ich jetzt pflastermüde.«

Christa zeigte keinerlei Verständnis. »Da ziehe ich doch morgen lieber mit Holger durch die Stadt.«

Aber der reagierte erschrocken und beeilte sich zu erklären: »Sonst gerne, Christa, wirklich, aber ich möchte mir morgen in Ruhe das Picasso-Museum ansehen.« Estrella rettete die Situation und hakte sich bei ihr unter.

»Wir beiden Frauen könnten morgen ein paar Geschäfte anschauen, mal ohne die Männer. Und abends treffen wir uns alle wieder in dem gleichen Restaurant.« Den anderen war es mehr als Recht, und auch Christa war von der Idee angetan.

»Aber heute Abend würde ich gerne mal in ein Restaurant in der Barceloneta mit Blick aufs Meer gehen«, schlug sie vor.

»Das können wir gerne machen. Aber im Strandviertel Barceloneta sind viele Restaurants für Touristen gemacht. Ihr dürft euch nicht wundern, wenn dort das Essen schlechter ist und teurer. Wie sagt man im Deutschen?«

»Abzocke?«

Und so war es denn auch. Die Freisitze waren überfüllt, es war laut, das Essen kam spät, schmeckte bei weitem nicht so gut wie in dem kleinen, etwas abgelegeneren Restaurant und war viel teurer. Zudem wurden Getränke in Rechnung gestellt, die sie nicht bestellt hatten. Man war sich einig, das nächste Mal wieder in dem gemütlichen Lokal vom Abend zuvor einzukehren.

 

Der nächste Tag gestaltete sich dann eher nach Norberts Geschmack. Er würde ihn mit seinen Freunden verbringen und bedauerte nur, dass Estrella nicht dabei war. Sie war mit Christa unterwegs, und er wusste seine Frau in ihrer Gesellschaft bestens aufgehoben. Für den einen Tag zumindest würde sie ihn nicht gängeln und dominieren. Störfaktor Christa. Und augenblicklich schämte sich Norbert dieses Gedankens.

 

Das Museu Picasso in der Carrer Montcarda hatten sie mit Hilfe des Stadtplanes bald gefunden. In diesem Viertel lebte Picassos Familie zwischen 1895 und 1905, hier lagen die Schule der Schönen Künste, in der er die Ausbildung absolvierte, seine Ateliers und die Vergnügungslokale, die er mit den Freunden damals aufsuchte.

Als Holger, Sascha und Norbert die lange Schlange der Wartenden vor dem Museum sahen, war aller Enthusiasmus erst einmal dahin. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich einzureihen.

»Wir hätten zeitiger vom Hotel aufbrechen sollen, aber ihr konntet euch ja nicht vom Frühstücksbuffet trennen«, nörgelte Holger. Sascha verkniff sich eine gehässige Bemerkung und schob stattdessen die beiden Freunde in der weiterrückenden Reihe nach. Eine halbe Stunde später standen sie endlich im Eingangsbereich des Museums.

»Du wirst dir ja die Zeichnungen wesentlich genauer und mit anderem Blick anschauen als wir. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns trennen und in zwei Stunden zu einer Pause in der Cafeteria treffen.« Saschas Vorschlag war den anderen beiden Recht, und so zog Holger alleine los.

An den Gemälden lief er zügiger vorbei, obwohl sie ihn ebenso interessierten. Umso genauer studierte er dafür die Zeichnungen und Radierungen.

Als sie zwei Stunden später alle gemeinsam in der Cafeteria saßen, gestand Norbert: »Ehrlichgesagt reicht es mir jetzt.«

»Mir eigentlich auch«, stimmte Sascha ihm zu. Die beiden ließen Holger im Museum zurück und waren sich schnell einig, den Nachmittag gemütlich anzugehen.

»Für heute bitte keine weiteren Strapazen«, bat Norbert und schlug vor, in einem der Straßencafés etwas zu trinken. Nachdem sie dos cervezas bestellt hatten, erörterten sie den Stand der Dinge.

»Für Holger ist es bestimmt sehr wichtig, ein paar Originale ganz aus der Nähe zu sehen. Aber die nächste Frage wäre nun: Wo bekommen wir das passende Papier her?«

»Es müsste mindestens einhundert Jahre alt sein. Wir werden Estrella fragen, wo es hier so etwas geben könnte.«

Schweigend genossen sie ihr kühles Bier und schauten ein wenig dem Treiben auf der Straße zu. Nach einer halben Stunde winkte Sascha nach dem Kellner, und bald darauf begaben sie sich in das Gewühl der Gassen, die zum ehemaligen Hafen hinunterführten. Aber entsprechende Läden, in denen es Papier geben könnte, fanden sie dabei nicht. Etwas missgestimmt und erschöpft kamen sie gegen neunzehn Uhr im Restaurant an. Wie erwartet waren sie dort die Ersten.

Ebenso hatte sich Holger, nachdem er zwei weitere Stunden im Museum verbracht hatte, erfolglos auf die Suche nach Papiergeschäften begeben. Aber was er fand, waren nur Artikel für den allgemeinen Bürobedarf. Kurz nach neunzehn Uhr betrat er das Restaurant. Dort saßen Norbert und Sascha schon beim Bier und schauten ihm erwartungsvoll entgegen.

»Die Papiersuche gestaltet sich schwieriger als gedacht«, meinte Holger resigniert. Als kurz darauf die beiden Damen eintrafen, unterbrachen sie augenblicklich alle weiteren Diskussionen zu ihrer erfolglosen Suche.

Nachdem sie die Getränke und Vorspeisen gewählt hatten, erzählte Estrella: »Christa und ich haben heute viele Geschäfte angesehen, aber nichts gekauft. Und am Nachmittag haben wir meine Großmutter besucht.« Die Freunde wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. »Großmutter hat sich sehr gefreut«, beteuerte Estrella, als sie Saschas argwöhnischen Blick auffing.

Nach einem umfangreichen Essen und dem Genuss von reichlich Wein schlenderten sie ein wenig durch die abendlichen Straßen. Bald kamen sie in das dichte Gewühl eines Abschnittes der Ramblas.

»Passt gut auf eure Taschen auf«, ermahnte Estrella. »Hier in dem Gedränge wird viel gestohlen.«

Sascha gelang es, sie ein wenig beiseitezunehmen. »Hast du eine Idee, wo wir geeignetes Papier kaufen können?«

»Ja, morgen suchen wir Geschäfte für Künstlerbedarf«, erwiderte sie leise. Norbert und Christa empfahl sie, den Parc Güell zu besuchen. Bevor er etwas erwidern konnte, stieß Sascha ihn an. Er verstand: Bei der Suche nach dem Papier sollte Christa nicht dabei sein. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder mit ihr alleine loszuziehen.

Es war schon spät, als sie sich von Estrella verabschiedeten. Eine dreiviertel Stunde später betraten Sascha und Holger ihr Zimmer. Wie bereits den Tag zuvor hatte der Zimmerservice die beiden Betten wieder zusammengeschoben.

Sascha grinste, und Holger regte sich auf. »Die begreifen es einfach nicht. Morgen früh lege ich einen Zettel hin.«

»Und was willst du draufschreiben? Was Spanisches? Oder dachtest du eher an eine Zeichnung mit zwei getrennten Betten?«, stichelte Sascha.

Mit einem vernichtenden Blick blaffte Holger: »Ich schreibe: Please keep beds separate. Was denn sonst.«

Ohne weiteren Kommentar begann er wieder umzuräumen.

 

Am nächsten Vormittag quälten sie sich zu dritt durch das Gewühl der Altstadt. In erster Linie schauten sie nach Läden für den Künstlerbedarf. Nach zwei Stunden vergeblicher Suche schienen sie in einem der Geschäfte Glück zu haben. Der Verkäufer bat sie, nach der Mittagspause zurückzukommen. In der Zwischenzeit wolle er in seinem Lager nach alten Papierbeständen schauen.

Zum Mittagessen steuerte Estrella diesmal zielgerichtet den Mercat de la Boqueria an, den bekanntesten und größten Markt Barcelonas. Über Wurstwaren, Schinken, Obst und Fisch bis hin zu lebenden Meerestieren war hier alles zu finden. Es war sehr laut, farbenfroh und roch, je nach den Auslagen, an denen sie vorüberkamen, nach Fisch oder exotischen Gewürzen. Bald schon hatte Estrella eine Theke ausgesucht, an der sie drei freie Plätze fanden. Sascha bestellte ein Gericht mit Meeresfrüchten und Holger entschied sich für einen katalanischen Eintopf; dazu wählten sie einen Weißwein aus der Region aus, der durch seine strohgelbe Farbe auffiel. Das Aroma war fruchtig und erinnerte ein wenig an Bergkräuter. Bei der Zubereitung der Speisen sahen die Gäste von ihren Barhockern aus zu, wie die beiden Köche mit lauten Zurufen und übertriebener Geschäftigkeit agierten.

 Estrella meinte lächelnd: »Es ist alles etwas Show und für Touristen gemacht.«

Das Essen war, wie mit eigenen Augen gesehen, frisch zubereitet und schmeckte hervorragend.

»Und jetzt eine Siesta«, seufzte Holger, als sie ihre Mahlzeit beendeten und jeder von ihnen, außer Estrella, noch ein zweites Glas Wein bestellt hatte. Aber sie mahnte zum Aufbruch.

»Wir gehen zurück zu dem Laden, und dann muss ich mich verabschieden für heute. Ich treffe noch Freunde.«

Der Verkäufer erkannte sie gleich wieder. Er hatte seine alten Papierbestände herausgeholt und zeigte ihnen einen kleinen Stapel leicht vergilbten Papiers. Holger griff nach einem der Blätter.

»Wann wurde es ungefähr hergestellt?«

Estrella übersetzte, als der Verkäufer erklärte: »Sie sind aus einer ganz alten Produktion übriggeblieben, von 1958.«

Sascha und Holger schauten sich unschlüssig an. Wohl mehr, um den Händler nicht zu enttäuschen, denn aus Überzeugung entschieden sie sich zum Kauf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739449906
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Fälschung Kunstdelikt Barcelona Enttäuschung Coup Gaunerstory Romantik Picasso Kunstfälscherkrimi Liebe Krimi Thriller Spannung Cosy Crime Whodunnit Liebesroman

Autor

  • Katharina Kohal (Autor:in)

Eine Prise Humor, ein Schuss Romantik und mitunter ein Hauch Fernweh; das sind die Zutaten für ihre Kriminalromane. Katharina Kohal lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Mit dem Eintritt in den Ruhestand entdeckte sie ihre Lust am Schreiben neu und veröffentlichte seither:
„Ein fast perfektes Team“, „Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus“, „Mehr als ein Delikt“, „Eine mörderische Tour“, „Cyber Chess mit tödlicher Rochade", „Verstörende Erinnerung“ und „Mosel, Morde und Miseren“.

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Titel: Ein fast perfektes Team