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Das hatte ich mir anders gedacht

Ich und die anderen Kurzgeschichten

von Frank Otte (Autor:in)
105 Seiten

Zusammenfassung

Alltäglich Absurdes, Anrührendes und Unglaubliches in 33 Kurzgeschichten. Humor: knochentrocken. Dialoge: messerscharf. Stories: mitten aus dem Leben - und auch mal daneben - gegriffen. Ob misslungene Streiche, Arztbesuche, Vater-Tochter-Beziehungen, Mord und Rache, Sex und Unfälle, Ruhrpottcharme und Bayernkolorit...diese Short Stories haben es in sich.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ich

Wer bin ich? Vielleicht bin ich du. Oder du bist ich. Es könnte aber auch keiner von uns du oder ich sein. Du kannst etwas ich sein und ich kann etwas du sein. Jeder von uns beiden könnte sich in den Geschichten wiederfinden.

Viel Spaß beim Lesen.

Alles eine Frage der Erziehung

Es war Samstag. Mein mittlerweile traditioneller Vater-geht-mit-Tochter-einkaufen-Tag. Meine Dreijährige freute sich die ganze Woche darauf. Samstag war, neben Sonntag, der einzige Tag, an dem ich Zeit für sie hatte. Keine Arbeit, keine Überstunden, kein spät nach Hause kommen und das Kind schläft schon. Nein, diese Samstage waren mir heilig. Und das Einkaufen mit ihr machte richtig Spaß. Im Gegensatz zu manch anderem Kind jammerte meine Tochter nicht beim Einkaufen, sie bettelte nicht und freute sich an der Kasse über den Kinderriegel, den ich ihr kaufte. Mein Kind war lieb. Ein Vorzeigekind eben.

Was mich aber beim Einkaufen nervte, waren überforderte Mütter mit schreienden Kindern, welche sich nach Möglichkeit noch auf den Boden warfen, um bei Mutter den eigenen Willen durchzupressen. Aufsteigendes, bettelndes Kindergeschrei war nichts für meine empfindlichen Ohren. Diese kleinen Bälger waren für mich ein Grund, den Laden schnellstens, notfalls auch ohne Einkauf, zu verlassen.

Aber einmal ging es nicht anders. Ich musste Einkaufen, zum Ladenwechsel war es zeitlich schon zu spät. Wegen solcher Terrorkinder hatte ich an diesem Samstag schon den Aldi, Lidl, Edeka und Netto verlassen. Es blieb nur noch ein Laden übrig, wenn ich dort nichts kaufte, würde die Küche kalt bleiben.

Kaum im REWE, fiel sie mir schon auf. Laut „Kevin, lass das!“ rufend warnte sie die ganze Kundschaft vor ihrem Kind. Kevin war ein kleiner rundlicher Junge, welcher alles, was er mit seinen speckigen Fingern zu greifen bekam, in den Einkaufswagen seiner Mutter beförderte. Diese packte die Sachen mit einem: „Kevin, lass das“ oder „Nein, Kevin“ wieder in das Regal. Der kleine dicke Kevin schrie dann jedes Mal wie am Spieß. Das nervte, zumal es ein ununterbrochenes Ritual zwischen Mutter und Kind war.

Ich versuchte, mich mit meinem Einkauf zu beeilen. Meine Tochter saß fröhlich brabbelnd, mit dem Einkaufszettel in der Hand, im Einkaufswagen und hatte Spaß. Wenigstens sie hatte welchen. Schnell suchte ich die Sachen auf meinem Einkaufszettel zusammen. Immer den durchdringenden Ton von Kevin und seiner Mutter im Ohr. Allmählich stieg in mir Aggression auf. Ein deutliches Warnsignal, dass ich schnellstmöglich aus dem Laden raus musste. Dummerweise war ich kurz vor der Kasse etwas unkonzentriert, so dass es dem dicken Kevin, mitsamt seiner gestressten Mutter, gelang, vor mir zu stehen. Jetzt begann das Finale.

Der dicke Kevin griff nach den Überraschungseiern im Kassenregal und legte eines davon auf das Kassenband.

Mutter sagte: „Nein, Kevin! Lass das!“, und legte das Ei wieder weg. Der dicke Kevin nahm es und legte es wieder auf das Kassenband. Die gleiche Szene nochmal.

Mutter sagte: „Nein, Kevin! Lass das!“, und legte das Ei wieder weg.

Kevin drehte jetzt richtig auf und schrie wie irre: „Ich will aber!“

Die Mutter entnervt: „Nein, Kevin, das gibt es jetzt nicht!“

Kevin schrie unbeeindruckt weiter, stampfte mit den Füßen, warf sich auf den Boden und kreischte: „Ich will aber!“

Jetzt wurde Mutter lauter: „Kevin, es reicht! Es gibt jetzt kein Überraschungsei!“

Mit Mühe und Not kam sie dem Bezahlen näher. Kevin heulte und kreischte und man sah, dass es in der Mutter kochte.

Das war mein Moment.

„Oh, schau mal, Ü-Eier“, sagte ich zu meiner Tochter. „Möchtest du eins?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wirklich nicht? Du magst sie doch so gerne.“

Sie schüttelte wieder den Kopf und sagte: „Nein.“

„Egal“, erwiderte ich und legte drei Überraschungseier auf das Kassenband.

„Du bekommst trotzdem eins. Und weil du so lieb bist, noch zwei dazu.“

Kevin sah mich mit großen Augen an und schrie: „Mama, ich will auch zwei Ü-Eier!“ Tränen schossen über sein Gesicht, er stampfte wütend mit den Füßen. Seine Mutter blickte mich hasserfüllt an, als sie ihren tobenden Sohn Richtung Ausgang zerrte. Ich zuckte mit den Schultern und rief ihr hinterher:

„Alles eine Frage der Erziehung.“

Romantik

Romantisch soll es sein. Romantisch, unter diesem Begriff verstehen Männer etwas anders als Frauen. Romantisch ist der flimmernde 67-Zoll-LED-Bildschirm beim Spiel Schalke gegen Dortmund nach dem 1:1 von Daniel Caligiuri in der 18. Minute. Wenn das Fernsehlicht die Bierflasche auf dem Tisch diffus durchleuchtet und die Chips in einer surrealen Farbe widerspiegeln. Das ist romantisch. So wie für mich jetzt.

Für Susi, meine frisch eroberte Freundin, ist Romantik der ganze andere Schnickschnack. Eine Flasche Rotwein, sanfte Musik, Kerzenlicht und Kuscheln auf dem Sofa.

Rotwein ist in Ordnung, Kuscheln auch. Aber Kerzenlicht? Nein! In meinem ganzen Haushalt gibt es keine einzige Kerze. Und es wird auch nie eine geben. Nie, nie, niemals! Ich weiß nur noch nicht, wie ich es Susi sage. Ob ich es ihr überhaupt sage. Ein Mann spricht nicht über Ängste. Aber Kerzen und Romantik gehören bei einer Frau nun mal zusammen.

Also streife ich durch den Supermarkt und suche irgendetwas, womit man Romantik auch ohne Kerzen hinbekommt.

Für meine erste große Liebe, Beate, wir waren beide 15, wollte ich es romantisch machen. Meine Eltern waren ausgegangen und ich hatte somit sturmfreie Bude. Kerzen oder genauer gesagt Teelichter sollten mein Zimmer romantisch erstrahlen lassen. 100 Stück verteilte ich. Die meisten stellte ich auf den Boden. Den Rest auf die Fensterbank, das Regal und den Schreibtisch. Beate war begeistert. Es war sehr romantisch und wir machten das, was man als 15-Jährige so macht, wenn niemand da ist und die Romantik einen befällt. Irgendwann wurde es uns in meinem Zimmer zu warm und wir gingen ins Wohnzimmer, wo es deutlich kühler war. Die Kerzen ließ ich brennen. Falls man an dem Abend nochmal Romantik bräuchte. Mit der Zeit wurde auch das Wohnzimmer recht warm, sogar irgendwie heiß. Auch vernahm ich plötzlich ein sanftes Knistern. Das machte mich etwas stutzig, zumal Beate und ich Dinge machten, die das Hitzegefühl erklären konnte, aber nicht das Knistern, da wir keine Chips aßen. Die Hitze und das seltsame Knistern kamen aus dem Flur. Unter der Tür zu meinem Zimmer sah ich ein Flackern wie im Kamin. Scheiße, mein Zimmer brannte! Die Teelichter mussten so heiß geworden sein, dass sich der Teppich entzündet hatte und dann der Rest. Dieser Rest war schließlich die ganze Wohnung. Bis die Feuerwehr eintraf.

Seitdem habe ich Panik bei Kerzen und Teelichtern. Und jetzt will Susi Romantik, mit Kerzen oder Teelichter. Gedimmtes Licht reicht ihr nicht. Wäre sie nicht so eine Traumfrau, hätte ich gesagt: „Gibt keine Kerzen und tschüss.“ Das ist aber auf Dauer auch keine Lösung. Es wird doch wohl noch irgendetwas auf diesem Planeten geben, was keine Kerze ist, aber trotzdem bei Frauen ein romantisches Gefühl auslöst. Wenn schon kein flackernder LED-Fernseher dann vielleicht eine Taschenlampe? Mit SOS-Blinklicht, in dezentem Warmweiß? Oder ein Hello-Kitty-Nachtlicht für die Steckdose.

Oh, was ist denn das da? Elektrische Teelichter. 1,29 € das Stück. Nicht schlecht, elektrisch dürfte nicht schief gehen. Ich sollte es mal nicht gleich übertreiben und nur drei mitnehmen. Werde aber trotzdem noch in den Baumarkt gehen und einen Feuerlöscher kaufen. Man weiß ja nie.

Hausmann

Ich gehöre zu der Sorte Ehemänner, die im Haushalt nicht gerade, sagen wir mal, hyperaktiv sind. Eigentlich bin ich recht tolerant gegenüber Unordnung, rumliegender Kleidung, stehen gelassenem Schmutzgeschirr. Eine Eigenschaft, mit der ich gut leben kann. Ich! Aber nicht meine Frau. Sie ist gegenüber meiner Unordnungstoleranz recht intertolerant. Manchmal sogar recht penetrant intolerant. Sie reist mich aus meiner Komfortzone und nötigt mich mit lauten Worten zur Hausarbeit. Gut, ich mache sie dann irgendwie zu meiner Zufriedenheit, selten zu ihrer.

So richtig bemühe ich mich eigentlich nur, wenn wir Besuch haben. Besonders wenn meine Schwiegermutter oder noch besser Freundinnen von ihr da sind.

Mein Timing ist so perfekt, dass ich oft gerade Geschirr spüle, sobald der Besuch eintrifft. Hätte es auch vorher geschafft, aber das Lob der Besucher, was ich doch für ein fleißiger Ehemann bin, geht runter wie Öl. Ganz theatralisch hole ich dann noch die Wäsche aus dem Keller und sollte das niemand bemerken, so sorge ich mit einem lauten: „Schatz, soll ich die Wäsche auch sortieren und falten?“, dafür, dass alle anwesenden meinen Fleiß auch mitbekommen. Meine Frau beteuert jedes Mal, dass ich das nur mache, wenn Besuch da ist, ansonsten sei ich stinkefaul. Zu mindestens meine Schwiegermutter glaubt ihr das nicht und betont immer, was für einen tollen Vorzeigeehemann meine Frau doch hat. Und außerdem kann es doch nicht sein, dass der arme Mann nach der Arbeit auch noch die Hausarbeit machen muss. Ich weiß genau, dass sich meine Frau jedes Mal darüber ärgert. Aber egal. Meine kleine Rache für ihr Nörgeln und Gängeln gönne ich mir. Also räume ich bei Besuch immer auffällig unauffällig irgendwelche Sachen weg, die nicht dort sind, wo sie hingehören. Gelegentlich habe ich sie sogar selbst hingestellt, bevor der Besuch eintrifft, um sie dann wegräumen zu können.

Um noch einen draufzusetzen, bearbeite ich die Nebenzimmer mit dem Staubsauger. Meine Frau fordert mich dann jedes Mal auf, das bleiben zu lassen. Aber ich sauge gnadenlos weiter. Mit Bügeln beeindrucke ich unseren Besuch ebenfalls. Natürlich stelle ich das Bügelbrett so auf, dass man mich auch wahrnimmt. Ich habe einen kindlichen Spaß daran, dass mich alle loben und andere Männer so etwas nie machen würden. Meine Frau wird nicht müde zu beteuern, dass das nur Show ist und ich nur so aktiv bin, um zu beeindrucken. Natürlich glaubt ihr niemand, da ich ja gerade das Gegenteil beweise. Wenn der Besuch gegangen ist, bin ich immer fix und fertig von der vielen Hausarbeit.

Aber manchmal frage ich mich, ob meine Frau mich durchschaut hat und nur deshalb Besuch einlädt, damit ich mal wieder etwas im Haushalt mache.

Man sieht sich immer zweimal

Etwas verloren stehe ich am Gleis 22 im Münchner Hauptbahnhof. Mein Schädel dröhnt, mir ist übel. Die blöde Halskrause, die man mir im Krankenhaus verpasst hat, nervt. Sie ist warm und der Hals juckt. Ich nehme eine von den Tabletten, welche mir der Arzt mitgegeben hat. Die Durchsage am Bahnsteig kündigt die Einfahrt des ICE nach Dortmund an. Verdammt lang her, dass du mit der Bahn gefahren bist, denke ich. Nach kurzem Suchen finde ich meinen reservierten Platz in einer Vierer-Sitzgruppe. Mir gegenüber setzt sich eine Frau, schätzungsweise in meinem Alter. Ihre linke Hand ist eingegipst. Ihr Gesicht kommt mir von irgendwoher bekannt vor, mir will aber nicht einfallen woher. Sie zu fragen, wäre mir peinlich. Der Zug setzt sich in Bewegung. Sobald er München verlassen hat, nimmt er richtig Fahrt auf.

In meiner Kindheit sind meine Eltern mit uns immer mit der Bahn in den Urlaub gefahren. Meistens mit Nachtzügen, damit wir Kinder schlafen und nicht quengeln.

Der ICE rast durch die Landschaft.

In meiner Erinnerung an früher fuhren die Züge nicht so schnell. Mein Vater machte manchmal während der Fahrt das Fenster vom Zugabteil zum Lüften auf, damit der Rauch seiner Zigarette abziehen konnte. Zum Glück ist heute in den Zügen Rauchen verboten. Bei Tempo 235, welches der ICE gerade fährt, würde hier mehr als nur der Rauch aus dem Wagon gesogen.

Die Frau mir gegenüber schaut etwas gequält aus dem Fenster. Die Gipshand scheint sie genauso zu stören wie mich meine Halskrause. Der ICE hält in Ingolstadt. Keine fünf Minuten später setzt er sich auch schon wieder in Bewegung.

Auf unseren Urlaubsreisen damals waren die Aufenthalte länger. Oft ist mein Vater ausgestiegen und hat auf dem Bahnsteig am Kiosk etwas gekauft. Bier für sich, Cola für Mutter, Fanta für uns Kinder und Schokolade für alle. Mutter hatte jedes Mal Angst, dass der Zug ohne unseren Vater abfuhr. Aber er hat es immer geschafft, wieder rechtzeitig einzusteigen.

Ich nehme noch die Fahrt aus dem Nürnberger Bahnhof wahr und wache bei der Einfahrt in den Bahnhof von Aschaffenburg wieder auf. Die Frau gegenüber schläft.

Ich muss schmunzeln. Hier in Aschaffenburg hatte mein Vater vor einigen Jahren begriffen, dass die Züge nicht mehr 10 bis 20 Minuten am Gleis stehen und auf die Weiterfahrt warten. Meine Eltern wollten mich damals in meiner Studentenwohnung in München besuchen und nahmen den ICE von Dortmund aus. In Aschaffenburg hielt der Zug. Mein Vater sagte zu Mutter, dass er schnell etwas zum Trinken und Essen am Kiosk holen würde, so wie früher. Mutter wollte ihn davon abhalten, aber Vater meinte, sie solle sich nicht so anstellen, der ICE hatte hier immer 15 Minuten Aufenthalt.

Er stieg aus und ging schnellen Schrittes zum Kiosk. Meine Mutter sah noch seinen erstaunten Blick, als sich der Zug in Bewegung setzte. In diesem Augenblick wurde meinem Vater bewusst, dass sich die Bahn in den 20 Jahren seiner letzten Fahrt gewandelt hat. Vater stand am Kiosk und sah dem ICE hinterher der einfach ohne ihn, aber mit seiner Frau abfuhr. Mutter versuchte den Zugbegleiter zu überreden, dass der Zug wieder umdreht, um Vater einzusammeln. Vater versuchte, die Dame am Info-Schalter zu überreden, dass der Zug am nächsten Bahnhof unbedingt auf ihn warten sollte und er mit dem Taxi so schnell wie möglich zum Würzburger Hauptbahnhof fahren würde, um dort wieder einzusteigen. Beide Bemühungen blieben ohne Erfolg. Der Zug konnte weder umdrehen noch konnte er in Würzburg auf die Ankunft meines Vaters warten. Dafür nahm die Dame am Info-Schalter mit dem Zugbegleiter im ICE Kontakt auf und stellte daraufhin meinem Vater einen Ersatzfahrschein aus. Mit meiner Mutter habe ich dann 2 Stunden im Münchner Hauptbahnhof auf meinen Vater gewartet, welcher mit dem nächsten Zug eintraf. Mutter hielt ihm noch auf dem Bahnsteig eine kräftige Standpauke.

In Limburg Süd wacht die Frau mir gegenüber auf. Ich grüble, wieso sie mir bekannt vorkommt. Sie reibt sich mit der rechten Hand über den Gips.

„Tut’s weh?“, frage ich, um ein Gespräch anzufangen.

„Ja, etwas.“

„Wie ist das passiert?“

„Ach, wissen Sie“, sagt sie, „eine blöde Geschichte.“

Sie war bei einer Freundin in München zu Besuch gewesen und wollte abends mit ihrem Auto zurück nach Dortmund fahren.

„Gut, vielleicht war ich etwas zu schnell unterwegs, vielleicht auch etwas unkonzentriert.“

Aber plötzlich stand da an der grünen Ampel ein Auto. Sie dachte, der fährt, aber er stand. Sie versuchte zu bremsen, war aber voll in den Wagen reingefahren. Dabei hatte sie sich die Hand gebrochen. Ihr Auto war ein Totalschaden. Der Typ in dem anderen Wagen war noch kurz ausgestiegen und dann umgefallen. Mit dem Rettungswagen wurde er ins Krankenhaus gebracht.

„Blöd gelaufen“, sage ich.

„Kann man so sagen“, entgegnet Sie.

Dann schweigen wir.

Kurz vor Montabaur fragt mich die Frau: „Und? Was ist mit Ihnen passiert?“

„Ach, wissen Sie, eine blöde Geschichte.“

Und so erzählte ich ihr, dass ich mir in der Allianz-Arena das Spiel Bayern München gegen Barcelona angesehen hatte und abends noch mit meinem Auto zurück nach Dortmund fahren wollte. Gut, vielleicht war ich etwas unkonzentriert, vielleicht auch etwas zu langsam an der Ampel angefahren, als plötzlich von hinten ein Wagen voll in meinen fuhr. Etwas benommen war ich noch ausgestiegen, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Erst im Rettungswagen bin ich wieder zu mir gekommen.

„Schleudertrauma. Muss jetzt die nächsten Tage diese Halskrause tragen. Mein Wagen ist Totalschaden“, beende ich meine Erzählung.

„Blöd gelaufen“, sagt sie.

„Kann man so sagen“, entgegne ich.

Dann schweigen wir.

Bei Siegburg/Bonn fragt mich die Frau:

„Was für einen Wagen fuhren Sie?“

„Einen Peugeot 308“, antworte ich.

Nach dem Bahnhof Köln/Bonn Flughafen frage ich zurück:

„Wo war denn Ihr Unfall?“

Sie überlegt kurz und antwortet dann: „Kreuzung Ackermannstraße und Schleißheimer Straße.“

Wir schauen uns beide an und sagen gleichzeitig:

„Ach du Scheiße, Sie sind das gewesen!“

Bis zum Düsseldorfer Hauptbahnhof schweigen wir uns betreten an. Dann sage ich:

„Wir hätten von vornherein mit dem Zug fahren sollen.“

„Wäre besser gewesen. So schlecht ist Zugfahren nicht“, entgegnet sie.

Ich stimme ihr zu. Nach dem Essener Hauptbahnhof fragt sie mich, ob wir uns mal auf einen Kaffee treffen sollen. Das würde mich freuen, aber erst wenn ich die blöde Halskrause los bin und sie ihren Gips. Bei der Fahrt aus dem Bochumer Bahnhof tauschen wir unsere Handynummern. In Dortmund steigen wir beide aus und gehen zum Taxistand. Beim Abschied schauen wir uns verlegen an. Hände schütteln, umarmen oder doch einfach nur tschüss sagen?

„Ich könnte jetzt schon einen Kaffee gebrauchen“, sage ich stattdessen.

„Ja, ich auch“, entgegnet sie strahlend.

Zusammen gehen wir zurück in den Bahnhof.

Schuhe

„Ich habe keine passenden Schuhe zu meinem Kleid.“ Sie steht vor unserem sechs Meter langen Kleiderschrank. Was heißt hier unser Kleiderschrank, eigentlich ist es ihrer. Mir sind nur noch ungefähr 1,50 Meter zugeteilt. Am Anfang war es noch gerecht, drei Meter für jeden. Ein Jahr später hatte ich nur noch 2,50 Meter.

„Du hast doch noch Platz bei dir!“

Und schwupp, hing die erste Jacke von ihr in meinem Bereich. Im Laufe der Zeit wurde meine Zone immer mehr annektiert. Meine Sachen rückten enger zusammen und arrangierten sich mit ihrem kleineren Lebensraum.

„Können wir bei mir nicht eine Regalreihe für Schuhe reinmachen?“

Klar doch, der Schrankboden war ja voll davon. Also noch eine Regalreihe 3,50 Meter lang für Schuhe eingebaut.

„Du, mein Kleid ist so lang. Das hängt voll in den Schuhen. Ich hänge es bei dir mit rein.“ Und schwupp, wurde der Lebensraum meiner Kleidung wieder ein bisschen weniger. Mein Einwand, dass mein Bereich mittlerweile sehr voll war und ich kaum noch Platz für meine Klamotten hatte, konterte sie mit:

„Du musst halt mal deinen Schrank aufräumen. Dann hast du auch wieder Platz.“

Ich räumte dann auch auf. Ihren Bereich! Als sie sah, was ich von ihren Klamotten als Altkleider betrachtete, war ich froh, dass wir keine Waffen im Haus hatten. Ich glaube aber, dass ich seitdem meinen Tinnitus habe. Das Geschrei von ihr war sehr, sehr laut.

„Aber Schatz, das hast du seit Jahren nicht mehr angehabt“, versuchte ich meine Auswahl zu begründen.

„Aber es ist noch gut“, war die Antwort.

Es folgte ein schlimmer Ehekrach, mit Kapitulation meiner Seite und Erfüllung von Reparationszahlungen in Form von noch mehr Klamotten. Welche anschließend sofort die Besatzungsmacht in meiner Zone verstärkten. Seitdem haben meine Sachen nur noch ein Territorium von knapp ein Meter fünfzig. Und jetzt wieder diese Kampfansage.

„Ich habe keine passenden Schuhe zu meinem Kleid.“

Nein, bei gut 200 Paar Schuhen in einer mittlerweile 2 mal 4,50 Meter langen Reihe, kann ich verstehen, dass ihr genau zu diesem Kleid noch ein Paar fehlt.

„Dann zieh halt Flip-Flops an“, sage ich salopp und bemerke erst dann dieses gefährliche kämpferische Funkeln in ihren Augen.

Zu spät.

Nicht ohne mein Smartphone

Brutal schlägt mir das Tageslicht auf die Augen. Ich ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Keine gute Idee, Atemnot. Anscheinend habe ich nicht mehr geduscht, bevor ich mich hingelegt habe. Der Schädel dröhnt. Ich taste nach meinem Smartphone, um auf Facebook zu sehen, ob ich gepostet habe, wann und wie ich nach Hause kam. Mein Schädel sagt mir, dass ich stark alkoholisiert gewesen sein muss, aber an mehr fehlt mir die Erinnerung. Ich bin gezwungen aufzustehen, da meine Finger nirgendwo in der Nähe mein Smartphone ertasten. Auch auf die visuelle Art ist es nicht zu finden. Das gibt es doch nicht. Wo habe ich das blöde Ding hingelegt? Rasterartiges Absuchen der Wohnung. Kein Treffer. Smartphone unauffindbar. Ich gehe zu meinem PC. Starte die Software „Mein Handy finden“.

Warten – endlich erscheint auf dem Bildschirm eine Karte mit einem Punkt. Es soll sich in Essen befinden, Rüttenscheider Straße.

Ok, ich bin hier in Gelsenkirchen, ca. 25 km von meinem Smartphone entfernt. Ich schaue noch schnell auf Facebook, ob ich wenigstens noch gepostet hatte, wo ich zuletzt war. „Frida Discotheque“. Kann mich nicht erinnern, was ich da gemacht habe. Sehe mir meine Facebook-Bilder an. Habe drei attraktive Frauen im Arm. Keine von denen kenne ich.

Poste noch eben: „Filmriss ist scheiße.“ Dann mache ich mich auf den Weg, um mein Smartphone aus Essen zu holen. Drucke noch schnell den letzten Aufenthaltsort von dem Handy aus und gehe hinaus auf die Straße. Ich Depp hätte mir auch noch die Wegbeschreibung ausdrucken sollen. Mein Versuch, ins Haus zu kommen, scheitert kläglich. Schüssel in der Wohnung vergessen. Gerne würde ich posten: „Kater ist auch scheiße.“

Ich laufe zur Bushaltestelle. Wann fährt bloß der nächste Bus? Ohne meine ÖPNV-App bin ich ahnungslos. Versuche den rudimentären analogen Busfahrplan zu entschlüsseln. Der Bus kommt zum Glück, bevor ich verzweifle.

Während der Fahrt gehen mir zwei Fragen durch den Kopf. Frage eins: Wieso Essen, Rüttenscheider Straße? Und frage zwei: Bin ich im richtigen Bus?

Frage zwei beantwortet sich von selbst. Aber erst in Dorsten. Also 14 km in der falschen Richtung. Dort versuche ich es mit verbaler Kommunikation, um diesmal den richtigen Bus zu bekommen. Der 15-jährige Bengel schaut mich erstaunt an.

„Ey, Alter, woher soll ich das wissen? Haste kein Google dabei?“

Nein, habe ich nicht. Liegt irgendwo in Essen. Die 20-jährige Tussi, welche ich frage, ob sie mal eben in ihrem Smartphone nachsehen könnte, wie ich hier weiterkomme, pflaumt mich gleich an.

„Ey, hau ab! Bist du pervers, oder was? Haste kein eigenes Smartphone?“

Fühle mich hilflos und alleine gelassen. Mit Smartphone würde ich jetzt posten: „Rettet mich.“

Ein Rentner nimmt sich meiner Problematik an. Er zückt etwas aus der Tasche, was er „Kursbuch“ nennt, blättert ein paarmal vor und zurück und gibt mir die notwendige Information. Buch, eine tolle Sache. Etwas altmodisch, etwas unhandlich, aber es brachte ein Ergebnis. Wahnsinn.

Auf der Fahrt nach Essen kommt Langeweile in mir auf. Mit meinem Smartphone könnte ich jetzt Township spielen. Stückchenweise kommt Erinnerung zurück. Nebulös meine ich mich zu erinnern, dass ich mich über meine Dating-App verabredet hatte. Aber ohne Smartphone sehe ich keine Chance, mich an die Frau zu erinnern. In meinem Kopf finde ich weder Bild noch Name. Würde gerne: „Alkohol tötet Gehirnzellen“, posten.

Der Bus erreicht sein Ziel in Essen, ich noch nicht. Ohne meine Navigations-App habe ich keine Ahnung, wie es weiter zur Rüttenscheider Straße geht. Ziellos laufe ich los und hoffe, dass mir hier irgendwas bekannt vorkommt. Die Menschen, welche mir begegnen, starren alle gebannt auf ihre Smartphones. Ich muss höllisch aufpassen, dass mich niemand umrennt. Ohne meine Fußgänger-Kollisionswarn-App lebe ich gefährlich. Ohne mein Smartphone bin ich für die anderen unsichtbar.

Das ziellose Laufen ist kein guter Plan. Auf meiner Fitness-App wären mir wenigstens 1.000 Fit-Points gutgeschrieben worden, aber ohne die App ergibt Laufen weder Sinn noch macht es Spaß. Nehme also wieder meinen Mut zusammen, um einen Menschen nach dem Weg zu fragen. Eine ältere Dame kreuzt meine Bahn.

„Hallo! Entschuldigen Sie! Können Sie mir …?“

„Nein, ich gebe Ihnen nichts. Gehen Sie arbeiten!“, unterbricht mich die Dame barsch. „Aber ich möchte doch nur …“, rufe ich ihr verzweifelt hinterher. Sie schüttelt den Kopf und verschwindet in eine Seitenstraße. Am liebsten würde ich auf ihrem Facebook-Profil einen Shitstorm entfachen. Blöde Kuh. Zweiter Versuch, Herr, mittleren Alters.

„Entschuldigung, ich hätte da eine Frage …“

„Nein! Ich kaufe nichts!“

„Ich möchte nichts verkaufen. Ich wollte nur was fragen.“

„Ich beantworte keine Fragen, brauche kein Zeitungsabo, rette keine Tiere, bin im ADAC und möchte auch nicht mit Ihnen über Gott reden“, sagt er, während er einfach an mir vorbeiläuft.

So ein Arsch. Kann man hier keinen mehr einfach nach dem Weg fragen? Diesen Gedanken denke ich so laut, dass ihn ein Hermes-Bote mit Migrationshintergrund mitbekommt, der gerade eine Lieferung in ein Haus bringt.

„Na, Alder, wo ist Problem?“

Endlich einer, der mir zuhören möchte. „Voll krasser Scheiß, ey“, sagt er, nach dem ich ihm meine Geschichte erzählt habe.

„Hast du große Glück, Mann, nächschte Lieferung muss isch Rüttenscheider Straße. Weist was, nehm disch mit.“

Er lässt mich an Hausnummer 1 auf der Rüttenscheider Straße aussteigen, wünscht mir viel Glück und gibt mir den Hinweis, dass die Straße 3,2 km lang ist und bis zur Hausnummer 325 geht. Und das, ohne in Wikipedia nachzulesen. Genial der Kerl. Da stehe ich jetzt. Weiterhin planlos. Klingel ich an jedem Haus und frage nach meinem Smartphone. Oder rufe alle 50 Meter, ob jemand mein Smartphone gefunden hat. Jetzt erstmal Hunger und ich gehe in den erstbesten Supermarkt. Überlege, was mir meine Foodplanning-App in dieser Situation zum Essen vorschlagen würde. Bin unentschlossen, was ich kaufen soll. Entscheide mich für eine Dose Red Bull und eine Packung Knoppers. Koffein und ein gesundes Frühstück zum späten Nachmittag. Hab genau das Richtige gefunden.

Lege an der Kasse einen 10-Euro-Schein hin. „Ne jetzt, oder?“

Die Kassen-Matrone schaut mich vorwurfsvoll an.

„Was jetzt?“, frage ich zurück.

„Bargeld?“, sagt sie mit fragendem verächtlichem Unterton. „Nicht wirklich, oder?“

„Wieso? Wo ist das Problem?“

„Ich habe schon eingegeben, dass Sie bargeldlos bezahlen, so wie alle anderen Kunden auch! Und jetzt kommen Sie mir mit Bargeld.“ Ich wende ein, dass ich gerade nur über Bargeld verfüge.

„Wie? Haben Sie etwa kein Smartphone mit Near-Field-Communication und Cash-App?“ Könnte kotzen. Ja, habe ich. Aber irgendwo in irgendeinem scheiß Haus, auf dieser scheiß Straße, wahrscheinlich bei irgendeiner scheiß Tussi, die mich besoffen nach Hause geschickt hat. Versuche, diesen Gedanken im Geiste netter zu formulieren, bevor mein Hirn das Sendesignal an meinen Mund freigibt. Versuch gescheitert. Schreie die Kassen-Matrone an. Diese beugt sich zu dem Mikrofon an ihrer Kasse und spricht hinein:

„Reginaaaa, bitte an Kasse 3. Hier will jemand Barzahlung“, tönt es durch den Laden. Und dann kommt Regina auf mich zu. Ein Traum von Frau. Hohe Stiefeletten mit Pfennigabsatz, endlos lange Beine, aufregend kurzer enganliegender Rock, schmale Taille, runde pralle Brüste, lange glatte schwarze Haare und … ein Gesicht, das mir plötzlich bekannt vorkommt.

Scanne meinen Gedächtnisspeicher ab. Treffer! Sie ist eine von den drei Frauen mit mir auf dem Facebook-Foto von letzter Nacht.

Ihre Begeisterung hält sich zu meiner Überraschung in Grenzen, als sie mich sieht. Nachdem der Bezahlvorgang geregelt ist, deutet sie mir mit einer Kopfbewegung an, dass ich ihr ins Büro folgen soll.

„Was machst du hier?“, raunzt sie mich an. Irritiert schaue ich sie fragend an.

„Hey, das war eine einmalige Sache. Das hat ein One-Night-Stand so an sich und du tauchst hier so einfach auf. Woher weißt du eigentlich, wo ich arbeite? Stalkst du mich etwa? Du bist so was von krank!“

Würde, wenn ich könnte, jetzt posten:

„Versteht einer die Frau?“ Entgegne aber stattdessen kleinlaut:

„Mein Smartphone ist weg. Soll hier irgendwo auf dieser Straße sein.“

Halte ihr dabei das Blatt mit dem Handy-Suchergebnis hin. Jetzt ist sie kleinlaut. Regina meldet sich bei ihrer Kollegin ab und macht früher Feierabend.

Wir fahren zu ihrer Wohnung in der Rüttenscheider Straße. Auf dem Weg dorthin updatet sie meinen Erinnerungsspeicher.

Ihre Freundin hatte sich mit mir über die Dating-App zu einem Blind Date in der Diskothek verabredet. Da ich ihr allererstes Date über die App war, hatte sie vorsichtshalber noch zwei Freundinnen mitgebracht. Man weiß schließlich nie, was für ein Typ da wirklich aufkreuzt. Die Check-Your-Date-App sagte aber, dass Regina und ich besser zusammenpassen würden. Also nahm Regina mich mit zu ihr nach Hause. Dort tranken wir ein paar Gläser Wein und landeten in ihrem Bett.

Kann mich leider nicht daran erinnern.

Wir probierten einige Stellungsvorschläge der Kamasutra-App aus.

Blöd, kann mich immer noch nicht erinnern. Frage, wie ich so war im Bett.

„Scheiße!“, ist die Antwort.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137194
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Mord Rache Sex Kurzgeschichten Arztgeschichten Vater-Tochter-Beziehungen Humor

Autor

  • Frank Otte (Autor:in)

Frank Otte wurde in Gladbeck geboren. Nach der Schulzeit absolvierte er eine Ausbildung zum Betriebsschlosser und später zum Maschinenbautechniker. Mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern lebt Frank Otte seit 20 Jahren in einem schwäbischen Dorf in Bayern. Neben seiner Tätigkeit als Konstrukteur schreibt er Kurzgeschichten. Er ist Mitgründer der Ulmer Autorengruppe SPEG.
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Titel: Das hatte ich mir anders gedacht