Lade Inhalt...

Der Fischer von Sal

von Amelie Maria Winter (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Nachdem ihr Verlobter aus Zeitgründen den gemeinsamen Urlaub auf den Kapverden absagt, beschließt die junge Sandra aus Trotz, ihren Urlaub allein dort zu verbringen. Was als harmloser Urlaub gedacht war, entwickelt sich nach und nach zu einem prickelnden Liebesabenteuer, als Sandra auf der Insel Sal den verführerischen Fischer Manuel kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Doch die aufregende Romanze stürzt Sandra schon bald in ein Gefühlschaos, als sie erfährt, dass Manuel bereits in festen Händen ist und David sie mit ihrer besten Freundin betrügt. Und dann trifft Sandra auch noch ihren früheren Freund Oliver auf Sal.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Der Fischer von Sal

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Der Fischer von Sal

Amelie Maria Winter

Roman

Impressum:

Titel: Der Fischer von Sal

2. überarbeitete Auflage

Texte: Copyright © 2018 Amelie Maria Winter

Das kleine Atelier, Literatur- und Kunstverlag

Anna Margareta Windheim, Spitalgasse 5a

D-91438 Bad Windsheim, www.dka-literatur.de

Fotos: © 2018 Das kleine Atelier

Umschlaggestaltung © 2018 Das kleine Atelier

Gesamtgestaltung: © 2018 Das kleine Atelier

Druck: CPI Buchbücher.de GmbH, D-96158 Birkach

ISBN 978-3-947275-01-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de und in der Bayerischen Staatsbibliothek unter www.bsb-muenchen.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Inhalt:

Nachdem ihr Verlobter aus Zeitgründen den gemeinsamen Urlaub auf den Kapverden absagt, beschließt die junge Sandra aus Trotz, ihren Urlaub allein dort zu verbringen.

Was als harmloser Urlaub gedacht war, entwickelt sich nach und nach zu einem prickelnden Liebesabenteuer, als Sandra auf der Insel Sal den verführerischen Fischer Manuel kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt.

Doch die aufregende Romanze stürzt Sandra schon bald in ein Gefühlschaos, als sie erfährt, dass Manuel bereits in festen Händen ist und David sie mit ihrer besten Freundin betrügt. Und dann trifft Sandra auch noch ihren früheren Freund Oliver auf Sal …

Über die Autorin:

Anna Margareta Windheim schreibt unter dem Autorennamen »Amelie Maria Winter« ihre Romane und Erzählungen. Sie wurde in den Wirren des 2. Weltkrieges 1941 geboren. Ihre musisch begabten Eltern weckten schon früh ihr Talent für Musik, Zeichnen und Malen. Freunde auf der ganzen Welt und Reisen in viele Länder der Erde geben ihr die Inspirationen für ihre Romane und Erzählungen. Besuchen Sie auch ihre Homepage und erfahren Sie mehr über sie und ihre Bücher.

Kapitel 1

Aschermittwoch

Sandra lehnte sich in den Sitz zurück. Draußen vor dem Fenster des ICE raste die Schwärze der Nacht vorbei, die nur ab und zu von schwachen Lichtblitzen unterbrochen wurde – kleine, verträumte Bahnhöfe, an denen der Zug nicht anhielt.

Die schmale, bleiche Sichel des zunehmenden Mondes versuchte, durch die tief hängenden, grauen Schneewolken zu spähen, aber nur ein schwacher Lichtschimmer ließ ahnen, wo er seine stille Bahn zog. Bald würde der Mond verblassen und in die Tiefe des langsam heller werdenden Horizontes versinken, wenn der Tag anbrach.

Sandra fuhr nach Düsseldorf zum Flughafen, um ihren lang ersehnten und wohlverdienten Urlaub zu nehmen. Drei Wochen voll Sonne, Sand und Meer erwarteten sie auf den Kapverdischen Inseln, die sie sich dafür ausgesucht hatte. Sie hoffte, dieses kleine, unberührte Paradies – wie es in den bunten Urlaubsmagazinen und Reiseprospekten angepriesen wurde – auch so vorzufinden, um einmal vom Stress des Alltags und auch etwas von David, ihrem »So-gut-wie«-Verlobten, Abstand zu nehmen, und sich über ihre weitere Zukunft endlich einmal klare Gedanken zu machen, um diese dann auch nach ihrer Rückkehr in die Tat umzusetzen. In die Tat? Sandra runzelte etwas ihre Stirn und schloss die Augen. Sollte sie sich jetzt darüber Gedanken machen? Nein! Sie setzte sich wieder gerade in den Sitz, der schon einige Spuren des häufigen Gebrauchs trug, zog ihren kurzen Rock energisch über die Knie und verwarf ihre Gedanken – nein – jetzt nicht darüber nachdenken ‒ zuerst kommt einmal der Urlaub und dann werden wir sehen!

Im Zug war es kühl, um nicht zu sagen etwas kalt, und ihr blassrosa Chanelkostüm mit den hübschen Fransen an der kurz geschnittenen Jacke und an den Ärmeln kam ihr jetzt fast zu sommerlich vor. Sie fröstelte ein wenig und es war gut, dass sie noch an eine langärmelige Bluse gedacht hatte!

Warum nur hatte sie auf dieses Kostüm bestanden! Sie fuhr doch nicht zu einer Tagung, eine lange Hose mit bequemen Schuhen wäre wirklich besser gewesen. Zumal sie den warmen Mantel bei David gelassen hatte, der sie zum Bahnhof gebracht hatte.

Aber was sollte sie mit einem Wintermantel auf den Kapverdischen Inseln – bei fünfundzwanzig bis dreißig Grad!

Ihr hatte der Karneval nicht viel ausgemacht, wohl aber einigen Mitreisenden, die zusammengekauert oder schräg lang gestreckt in ihren Sitzen lagen und schliefen. Sandra musste lächeln, als sie das nicht zu überhörende Schnarchen von der Sitzbank hinter ihr vernahm.

Sie holte sich die Illustrierte, die sie sich noch schnell am Bahnhof gekauft hatte, aus ihrer Tasche und blätterte etwas lustlos in den mit Werbung voll bedruckten Seiten, mit spärlichen Artikeln über Frau, Mann und Welt, las ein bisschen, aber es interessierte sie nicht ein Artikel wirklich. Nichts, was sie ansprach, vieles war zu allgemein und oberflächlich, nichts, wofür sie sich im Augenblick wirklich interessieren konnte. Für Kreuzworträtsel fehlte ihr im Augenblick die Lust und »Sudoku« liebte sie nicht besonders. Sie wollte nur weg aus dem grauen Deutschland, weg vom matschigen und schon schmutzigen Schnee an den Straßenrändern und den am Morgen noch gefrorenen Straßen. In drei Wochen, wenn sie dann wieder aus dem Urlaub zurückkäme, so hoffte sie, würde das Wetter bestimmt etwas besser sein.

Die zwei Stunden Fahrtzeit waren schnell vergangen, als sie den Aufruf über den Lautsprecher hörte:

»Nächste Haltestelle ‒ Düsseldorf Flughafen!«

Der Zug hielt etwas abrupt im Bahnhof. Sandra nahm ihren Koffer und die kleine Reisetasche, stieg aus und lief mit den anderen Passagieren die Treppe hinauf zum Shuttle, das den Bahnhof mit dem Flughafen verband. Rasselnd setzte sich die kleine Hochbahn in Bewegung und schüttelte bei jeder kleinen Kurve die Passagiere durch. Der Flughafen kam ihr am frühen Morgen verschlafen und grau vor. Das etwas trostlose Wetter trübte die Sicht. Die dunklen Gebäude mit noch wenig erhellten Fenstern und die schwarz glänzenden Asphaltstraßen trugen auch nicht gerade zur Erheiterung bei. Bei der Haltestelle B stieg sie aus und befand sich mitten in der großen Abflughalle. Sie hatte noch Zeit bis zum Einchecken und setzte sich deshalb an die Theke des runden Bistros, das sich zentral in der Mitte der Halle befand und gerade jetzt geöffnet wurde.

Sandra war durch die lange Fahrt nun doch etwas übermüdet, da auch ihr Schlaf in dieser Nacht kurz gewesen war, und bestellte sich einen Pott Kaffee und ein Croissant. Es war frisch gebacken, noch warm, und der Kaffee war heiß und erstaunlich gut. Der Kaffee machte sie wieder etwas munter und so hatte sie genügend Zeit, die Menschen zu beobachten, die durch die Halle hasteten, die Kofferkulis vor sich herschiebend oder nachziehend, nach Schaltern und Mitreisenden suchend.

Schräg gegenüber von ihr lag ein junger Mann schlafend auf einer Bank und hielt vorsorglich die Bänder seines Seesacks um die Hand geschlungen, damit er ihm nicht gestohlen werde.

An einem Schalter drängten sich ein paar türkische Familien mit ihren Kindern, die zum Teil noch im Kinderwagen saßen und die Mütter mit ihren Quengeleien auf Trab hielten.

Die Frauen trugen durchweg lange, bis zum Boden reichende Mäntel und bunte Kopftücher. Sie hatten viel Gepäck dabei, das nicht nur in Koffern, sondern auch in einfachen Kartons verpackt war, die mit dicken Kordeln verschnürt waren.

»Bestimmt fliegen sie zu einem Heimaturlaub in die Türkei«, dachte Sandra und trank langsam ihren Kaffee aus. Sie zahlte fünf Euro für ihr Frühstück und ging zum TUI-Schalter um einzuchecken. Sie hatte einen Flug mit der »TUI-fly« gewählt und im Reisebüro hatte man ihr ein Hotel mit Halbpension für drei Wochen ausgesucht und gebucht.

Der Flieger startete pünktlich um acht Uhr fünfzehn zum Flug nach Sal in ihren lang ersehnten und verdienten Urlaub.

Da das Flugzeug nur wenig besetzt war, bot ihr die Stewardess, nachdem Sandra gefragt hatte, im hinteren Teil des Fliegers eine ganze Sitzreihe für sie allein an. Wunderbar! So konnte sie ihre Beine hochlegen und noch etwas Schlaf nachholen. Aber ein freundlicher Steward holte sie schon bald wieder sanft aus ihrem Schlummer zurück und servierte ihr ein kleines Frühstück.

Schon bald lagen unter der jetzt aufreißenden Wolkendecke die noch schneebedeckten, schroffen Gebirge und Berge der Pyrenäen in gleißendem Weiß und tiefblauen Schatten. Sie sah durch das kleine Fenster, auf dem sich außen kleine Eiskristalle gebildet hatten, unter sich die karge Landschaft Spaniens zwischen den einzelnen, weißen Wolken hindurch langsam vorbeiziehen. Nach einiger Zeit kam schon die Küste in Sicht und sie flogen über den wolkenlosen Atlantik in Richtung Kanarische Inseln.

Sandra holte sich ihr kleines Büchlein »Langenscheidts Portugiesischer Sprachführer« heraus und versuchte, sich einige Wörter und Redewendungen einzuprägen. Durch ihre guten Spanischkenntnisse konnte sie ziemlich viel davon verstehen.

Aber die Aussprache! Das waren ja die reinsten Zungenbrecher! Ob sie wohl damit zurechtkam? Aber es machte ihr Spaß, die Redewendungen der portugiesischen Sprache zu studieren, um damit die lange Flugzeit etwas zu verkürzen. Aber ihr blieb ja immer noch ihr ausgezeichnetes Englisch und auch vielleicht ihr gutes Spanisch. Die würden ihr hoffentlich über die drei Wochen, die vor ihr lagen, weiterhelfen, dachte sie.

Die sechs Stunden Flugzeit vergingen dann doch schnell für sie, da sie mit dem Studieren einzelner Wörter viel Zeit verbrachte. Wenigstens »bitte« und »danke« wollte sie sich vielleicht einprägen. Und natürlich auch »Bom Dia« – Guten Tag!

Nach einem Mittagessen, es gab Hühnchen oder Pasta ̶ wie üblich bei TUI – verschiedene Getränke und in einem Pappbecher Kaffee, gab der Kapitän schon bald bekannt, dass sie bereits im Sinkflug seien und in zwanzig Minuten auf Sal, der Insel mit dem internationalen Flughafen, landen würden.

Das Flugzeug stieß durch die dichter werdenden, grauen Wolken und dann tauchte direkt unter ihr zwischen kleinen, weißen Wölkchen die Insel Sal auf.

Sandra sah hinab auf eine braune, fast baumlose Landschaft, durch die sich eine breite Straße wie eine Schlange wand.

Sie sah die Wellen mit weißen Schaumkronen gegen die schroffen, rotbraunen Vulkanfelsen branden, die sich mit kleinen, hellgelben Sandstränden abwechselten.

Der Flieger umrundete in einem großen Bogen die Insel, die immer näher kam, und unter ihr, auf der Südspitze der Insel, lag der Ort Santa Maria, das Touristenzentrum der Insel Sal mit bunten Häusern, großen Hotels, mit verzweigten Straßen und engen Gassen. Nach einem langen Sandstrand sah sie flüchtig in einer Bucht eine lang gezogene Ansiedlung mit weißen Häusern liegen.

Der Flieger flog immer tiefer über die braune, mit tiefen, rissigen Furchen durchzogene Vulkanerde mit einer spärlichen Begrünung, wenigen Pflanzen, ein paar niedrigen Sträuchern und vom Wind gebeugten, halb verdorrten Akazien.

Auf der rechten Seite tauchten schnell die Flughafengebäude auf. Die Landebahn kam in Sicht und Sandra konnte die Landung auf dem kleinen Bildschirm verfolgen.

Das Flugzeug setzte etwas unsanft mit einigen holprigen Hüpfern auf und rollte über das ganze Flugfeld, um dann in einer weit gezogenen Kehre wieder zurück zum Terminal zu fahren, und rollte dann langsam aus.

Endlich!

Ihr Urlaub konnte beginnen!

Wie hatte sie sich gefreut, als es ihr endlich geglückt war, David davon zu überzeugen, dass sie unbedingt einmal Urlaub brauchte. Einmal weg vom Verlag ‒ und wenn es auch ohne David wäre. Und so war es auch gekommen. Sie flog allein – und er blieb im Verlag.

Zuerst war sie sehr verärgert gewesen, aber jetzt, da sie aus dem Flugzeug blickte und den sonnigen Tag sah, freute sie sich. Sie würde sich ihren Urlaub wegen solch einer Sturheit Davids nicht verderben lassen!

Sie war selbstständig genug, was sie ihm schon oft bewiesen hatte. Er würde auch einmal drei Wochen ohne sie im Verlag zurechtkommen müssen.

Kapitel 2

Die Mittagshitze von Cabo Verde schlug ihr voll ins Gesicht und der starke Wind zerzauste ihre langen, blonden Haare, als sie die Gangway hinunterging.

Ein großer Bus brachte sie zusammen mit den anderen Fluggästen zum Flughafengebäude und sie las über den Eingangstüren »Aeroporto Internacional Amilcar Cabral«. Sie hoffte, sich diesen Namen merken zu können, um nachzufragen, wer diese Person ist oder war oder was er bedeutete.

Der kleine, mit Stricken abgeteilte Raum vor der Passkontrolle war schnell voll mit den Reisenden, die sich langsam, Taschen schiebend, durch den abgeteilten Raum wie eine Schlange wanden. Es war stickig heiß, kein Luftzug oder Ventilator war hier zu spüren und Sandra sehnte sich jetzt nach einer kühlen Dusche.

Ein Stimmengewirr mit für sie unverständlichen Sprachen drang an ihr Ohr und so konnte sie nur einzelne Worte, teils in Deutsch, aber auch in Italienisch verstehen. Der Rest war für sie nur ein graues Murmeln. Es ging nur schrittweise voran und sie musste über eine halbe Stunde an der Passkontrolle warten, bis sie endlich an der Reihe war und ihren Reisepass mit dem Visum vorlegen konnte.

Der dunkelhäutige Beamte schaute in seinen Unterlagen nach, verglich umständlich ihr Gesicht mit dem Reisepass, prüfte sorgfältig das Visum, stempelte dann endlich das Ankunftsdatum in den Pass und gab ihn zurück.

Sandra bedankte sich mit einem gehauchten »Obrigada!«, das sie schon im Flugzeug als eines der wichtigsten Worte gelernt hatte und das ganz einfach »Danke« hieß.

Der Beamte blickte sie kurz an und lächelte.

Gott sei Dank fand sie schnell ihren Koffer auf dem Laufband und ging zum Ausgang, wo schon ein junger, dunkelhäutiger Mann mit einem Schild wartete, auf dem »TUI«, »Morabeza« und »Odjo d’Água« stand, um sie und einige Fluggäste mit einem Bus nach Santa Maria zu ihrem Hotel zu bringen.

Der kleine Bus war schnell voll besetzt und so konnten sie bald abfahren, vorbei am Flughafengelände mit den grauen Öltanklagern, auf der breiten vierspurigen Autostraße, die sie schon vom Flugzeug aus gesehen hatte. Über die braune, karge Landschaft hinweg sah sie jetzt wieder das in der Sonne glitzernde Meer direkt vor sich liegen, bis ihr der nächste felsige Hügel schon wieder die Sicht verdeckte.

Sie fuhren durch einen Kreisverkehr, dann durch einen zweiten, an dem die Ansiedlung Murdeira mit den weißen Häusern und Villen lag, die sie auch schon kurz zuvor aus dem Flugzeug gesehen hatte.

Sandra war etwas erstaunt. Kilometerweit sah sie nur Sand, Steine, Felsen und Wüste, riesige Palmen mit halb vertrockneten Blättern, die vereinzelt in schmalen, etwas grünen Tälern standen. Nur ein paar bräunlich grüne, kleine Pflanzen versuchten zu überleben und schmiegten sich in die kleinen Gräben, die die Straße begleiteten. Akazien mit spärlichen Blättern, die ihre halbverdorrten Zweige mit dem Wind bogen, standen am Rand der lang gezogenen Straße, die einmal etwas leicht bergauf und dann wieder bergab und in leichten Kurven verlief.

Ein paar verblichene, schon verschlissene Fahnen mit einem bereits unleserlichen Aufdruck blähten sich im starken Wind. Sie entdeckte eine kleine, weiße Kirche rechts auf einer leichten Anhöhe, die von einer hohen, weißen Mauer umgeben war, bevor die Straße den Hang hinunterlief, schon wieder auf den nächsten Kreisverkehr zu. Zur linken Seite der Straße hatte man einen hohen, blau gestrichenen, viereckigen Turm gebaut.

»Das könnte ein Wasserspeicher sein«, dachte sie, womit sie auch recht behielt, wie sie später erfuhr.

Die Insel breitete sich nun flach aus und in der Ferne sah man schon die ersten Häuser von Santa Maria, dem eigentlichen Touristenzentrum der Insel Sal.

Der ständig wehende Wind blies feinen, weißen Sand vor sich her, der die graue Asphaltstraße mit einer leichten Sandschicht bedeckte, die durch die überholenden Autos immer wieder hochgewirbelt, in kleinen Kreisen gedreht und fortgeblasen wurde.

Auf der rechten Seite, etwas weiter im baumlosen, steinigen Gelände, stand eine Anlage, die wie ein riesiges Gewächshaus mit mehreren Abteilungen aussah. Davor, in einer kleinen Gartenanlage, waren kleine Palmen, spitze Agaven und andere niedrige Pflanzen schön in Reih und Glied angepflanzt.

Sandra ließ sich später erklären, dass man hier Gras für den ersten Golfplatz auf den Kapverden zöge. Es kämen jetzt viele Engländer und Iren auf die Kapverden, um auf Sal Häuser und Apartments für den Urlaub und als Investment zu kaufen. Das sei auch der Grund, weshalb man einen Golfplatz baue. Engländer, so sagte man ihr, brauchten unbedingt ihren Golfplatz, sonst wäre es kein Urlaub für sie! Bei diesen unsinnigen Behauptungen musste Sandra lächeln. Diese Vorstellung von Engländern hatte sich erstaunlicherweise sehr gut in den Köpfen der Ferienanbieter in der ganzen Welt festgesetzt.

Ein langer, grüner Bauzaun begleitete nun die staubige Straße und durch eine Einfahrtslücke sah sie im Vorbeifahren riesige Bagger, Schieber und LKWs, die hier die Erde bewegten, Berge von Sand auftürmten und breite Fahrrinnen schoben.

Am Ende des Bauzaunes führte ein einfacher aus Maschendraht die Begrenzung fort und Sandra sah schon einzelne Rohbauten von Häusern, die gerade im Entstehen waren, mit rostigen Eckpfeilern, die wie durchsichtige Kamine in den Himmel ragten.

»Vila Verde« konnte sie auf einem riesigen, viel versprechenden, bunten Plakat mit schön gemalten Villen, azurblauen Swimmingpools und grünen Palmen lesen. Hier würde das »Paradise For The Rest Of Your Life« für Touristen entstehen, wie es angeboten wurde, und Sandra fragte sich, wo dann das »unberührte Paradies« aus den bunten Reisekatalogen bleiben würde, wenn die vielen Fremden die kleine Insel eines Tages überschwemmten.

Auf der rechten Seite tauchten schemenhaft in weiter Ferne, unwirklich, fast wie eine Fata Morgana in der Wüste, spitze Türmchen und gezackte Zinnen auf – das Hotel »RIU-Funana«. Eigentlich hatte sie hier ihre drei Wochen Urlaub verbringen wollen, aber ausgerechnet in der Zeit, in der sie ihre lang verdiente Auszeit nehmen konnte, war das »RIU« ausgebucht.

So hatte sie sich für das Hotel »Odjo d’Água« in Santa Maria entschieden, das nach Angaben des Reisekatalogs direkt am Meer liegen sollte, allerdings hatte sie auch da nur noch eine Suite buchen können. Es schien, als sei die kleine Insel Sal voll von sonnenhungrigen Touristen – Sandra lächelte – so wie sie, die auch dem schmuddeligen Wetter in Deutschland oder auch in anderen Ländern entflohen waren und sich jetzt sehr auf die Sonne und das Meer freuten.

Santa Maria kam jetzt näher und sie sah überall neue Häuser, die auch noch zum Teil im Rohbau waren.

Viele fleißige Helfer waren hier am Bauen und Sandra erinnerte sich an Fuerteventura, der einst so schönen Sandinsel, die jetzt durch die vielen Hotels und Wohnanlagen verbaut wurde.

Am Ortseingang hielt der Bus vor einer Straßensperre an. Ein Polizist kam zum Fahrer, erklärte ihm etwas und deutete auf die nächste Gasse, die nach links führte.

Sandra rieb sich erstaunt die Augen.

Viele Menschen auf der gesperrten Straße waren wie zum Karneval verkleidet und als der Fahrer sein Seitenfenster geöffnet hatte, drangen laute Sambamusik und Trommelwirbel in den Bus. Heute – am Aschermittwoch?

Das musste sie sich erklären lassen. Vielleicht konnte sie sich das bunte Treiben später etwas näher ansehen. Konnte man so einfach als Frau allein hier zum Karneval auf die Straße gehen ‒ ohne Begleitung? Bis jetzt hatte sie von diesen Inseln im Atlantik noch wenig gehört. Die Menschen und deren Bräuche und Sitten waren ihr noch fremd. Der Tourismus war erst im Aufbau und sie wusste nicht, wie Fremde hier auf den kleinen Inseln aufgenommen wurden. Sie würde sich erkundigen.

Der Bus rumpelte durch eine schlechte Seitenstraße, die durch das Verlegen der neuen Abwasserkanäle aufgerissen und nur wieder schlecht gepflastert worden war. Auch hier sah sie vereinzelt bunt gekleidete Kinder, die sich zum Teil auch maskiert hatten, damit man sie nicht erkennen sollte. Ein paar Erwachsene liefen über die Straße, wohl zur Hauptstraße, wo Sandra diesen Karneval vermutete. Vorbei ging es an einigen kleinen Restaurants, Souvenirläden, vorbei an dunkelhäutigen Männern, Frauen in bunten Gewändern, die ihre Kinder mit bunten Tüchern auf den Rücken gebunden hatten und auf dem Gehsteig sitzend Bananen, Papaya und verschiedene Gemüse feilboten.

Bis jetzt war Sandra noch nicht ganz überzeugt vom »unberührten Paradies«. Was sie da eben im Vorbeifahren gesehen hatte, sah eher wie eine riesige Baustelle aus und gleich daneben alte, schlecht gepflegte Häuser und sie fragte sich, wann diese Häuser hier alle fertig sein würden und wer sie dann wohl kaufen wollte.

Die Häuser in den Seitenstraßen waren für ihre Begriffe schmutzig und sahen sehr baufällig aus. Überall lagen Abfälle und viele Plastiktüten und die Menschen, die auf den Stufen zu ihren Häusern saßen, machten nicht gerade einen sehr freundlichen oder zufriedenen Eindruck.

Aber sie hoffte, dass der Strand, das Meer und die Sonne sie dafür entschädigten und dass Santa Maria nicht nur aus diesen niedrigen, alten und manchmal schon zerfallend aussehenden Häusern bestünde. Sie nahm sich vor, viel zu fotografieren, vor allem hoffte sie auch, ein paar Eindrücke des brasilianisch anmutenden Karnevals einfangen zu können, um sie mit nach Hause zu nehmen.

Sie würde gleich im Hotel danach fragen, denn die südamerikanischen Rhythmen hatten sie angesteckt, da sie gerade diese Musik besonders liebte, und sie freute sich zum ersten Mal richtig auf ihren Urlaub.

David fiel ihr plötzlich ein. Vielleicht würde er sich noch entschließen können, endlich einmal auszuspannen, um eventuell auch ein paar Tage hierherzukommen und wenn es auch nur über eines der Wochenenden gewesen wäre. Wenn er nur nicht immer so stur wäre!

David! Es würde sicher auch ihrer bereits etwas lasch und nachlässig gewordenen Beziehung guttun, wenn sie hier unter der Sonne vielleicht wieder eine stärkere Zuneigung fänden, weit weg vom Verlag und von der Hetze des Alltags. Es war alles so zur Gewohnheit geworden. Man arbeitete zusammen und man ging zusammen aus zum Essen, zu Veranstaltungen, Festen und Einladungen, meistens um Weiteres über den Verlag zu besprechen oder um neue Geschäftspartner kennenzulernen.

Es waren meistens auch die gleichen Gastgeber, die gleichen Gäste, die gleichen Interessen und die gleichen höflichen Gespräche und Floskeln, das allgemeine »Blabla« der sogenannten feineren Gesellschaft, manchmal ehrlich, aber auch oft nur so dahin geredet oder gar unverhohlen gelogen, bei all dem sich Sandra meistens langweilte und sich schon auf ihr kleines Zuhause freute, wenn dann endlich die ganze Party wieder einmal zu Ende war und sie gehen konnten.

Sollte das ihr zukünftiges Leben sein? Eine Heirat, die vielleicht nur aus der Sicht des Verlages geschlossen wurde, um sie als geschätzte Arbeitskraft behalten zu können?

David sprach in letzter Zeit sehr selten direkt über Liebe. Liebte er sie noch, wie er ab und zu beteuerte?

»Natürlich liebe ich dich, mein Schatz, und wir werden doch bald heiraten!« Es klang aber für sie immer sehr förmlich und höflich in ihren Ohren. Mehr war es nicht oder zumindest nicht mehr viel!

Sandra staunte über sich selbst, dass sie solche Gedanken hatte. Was war nur los mit ihr? War sie sich selbst ihrer Liebe nicht mehr so sicher? Oder war es vielleicht nicht genug Liebe, um ein ganzes Leben damit ausfüllen zu können? Genügten harmonisches Zusammensein und gegenseitiges Achten – oder vielleicht besser gesagt – gemeinsames Arbeiten, um glücklich zu sein? Sie waren doch einmal verliebt gewesen – oder etwa nicht? Was war es, was sie bei David hielt? War es wirklich Liebe oder war es einfach ein sicherer Arbeitsplatz, war es schon Bequemlichkeit, sich nicht nach etwas Neuerem, etwas wieder Aufregenderem umsehen zu wollen?

Sie wurde aber rasch wieder aus ihren Gedanken gerissen, als der Bus nach einigem Vor- und Zurückfahren am Ziel angelangt war. Der freundliche Fahrer suchte ihren Koffer und sie gab ihm einen Euro als Trinkgeld, den er freudig nahm und sich herzlich bedankte.

Sie hatte im Reisebüro gehört, dass man auf den Kapverden auch mit Euro bezahlen könne, das sei aber offiziell nicht erlaubt. Aber die Bevölkerung schere sich nicht so sehr um diese Gesetze und so bekomme man ab und zu auch wieder Euromünzen als Wechselgeld zurück. Zwei Hotelangestellte trugen ihren Koffer und die des deutschen Ehepaares, das noch mitgekommen war, durch einen gepflegten, gepflasterten Innenhof mit hohen Palmen und vielen Grünpflanzen in die Empfangshalle des Hotels.

Die Eingangstür zur Rezeption lag unter einer Arkade und es war etwas dunkel, aber angenehm kühl. Sandra atmete ein wenig auf, als sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Die drückende Hitze des Mittags machte ihr nun doch etwas zu schaffen. Sie musste noch etwas warten und so schaute sie sich in der Halle etwas um.

Von den Wänden starrten sie viele hölzerne, afrikanische Masken an, teils lächelnd, teils bösartig mit riesigen Zähnen, dicken Lippen und hohem Kopfputz. Kleine, handgewebte Teppiche, Töpfe und Krüge, die unter einem großen Spiegel standen, rundeten die Dekoration ab.

Sie sah Bilder von einheimischen und afrikanischen Malern, die vom Festland kamen, die sie etwas befremdeten, waren sie doch trotz sichtbarer Herkunft zum Teil sehr modern in bunten, oft grellen Farben gehalten.

Nachdem das Ehepaar seinen Zimmerschlüssel erhalten hatte, bekam auch Sandra den ihren und ein Hotelangestellter trug ihren Koffer wieder hinaus und ging zum Nebenhaus des Hotels.

Ein reich verziertes, schmiedeeisernes Tor schloss das Gebäude und diesen Wohnbereich von der Straße ab. Dahinter führte eine breite Außentreppe hinauf zum ersten Stock, wo ihre Suite direkt über der Treppe unter Arkaden lag.

Kleine Tische und Stühle standen vor den Eingängen im Schatten und luden zum Verweilen ein.

Der junge Mann öffnete die Tür und trug ihren Koffer hinein. Sandra bedankte sich wieder mit einem Euro, denn sie hatte ja noch kein Geld umtauschen können. Dazu hatte sie noch Zeit genug.

Auch hier war es angenehm kühl im Zimmer.

Die beigefarbenen, gestreiften Vorhänge waren zum Schutz gegen die Sonne zugezogen und dämpften angenehm das helle Licht des Tages. Die geräumige Suite war einfach und zweckmäßig, aber doch sehr hübsch eingerichtet. Eine Couch, verwandelbar in ein weiteres Bett, mit zwei kleinen Sesseln aus Rattan und sandfarbenen Polstern umrahmten einen runden, niedrigen Glastisch. Auf der linken Seite befand sich ein Schreibtisch, auf dem bunte Prospekte und hauseigenes Briefpapier in einer schwarzen Mappe mit der Hoteladresse lagen. Daneben stand ein breiter Hocker, auf den sie jetzt zuerst einmal ihren Koffer ablegte und öffnete.

Sandra ging in das Schlafzimmer. Dunkelblaue Vorhänge tauchten das Zimmer in ein angenehmes Licht. Über dem breiten Doppelbett, über dem eine blaue Tagesdecke in der gleichen Farbe der Vorhänge ausgebreitet war, drehte sich leise ein Ventilator.

Sie schaute in das Badezimmer. Auch hier war die Einrichtung einfach, aber sauber. Sie nahm schnell eine kühle Dusche und ruhte sich zuerst einmal etwas auf dem bequemen Bett aus, bevor sie ihren Koffer und die Reisetasche auspackte, um alles ordentlich im Einbauschrank zu verstauen.

Sie öffnete etwas die Vorhänge im Wohnraum und schaute hinaus. Hinter grünen Kakteen, rot blühenden Hibiskusbüschen und riesigen Fächerpalmen konnte sie auf gleicher Höhe gegenüber der Straße ein kleines Schwimmbad sehen. Am Pool standen weiße Liegen, die nur zum Teil besetzt waren.

Und durch große, in allen Farben von weiß bis orange, rosa, rot und purpurfarben blühenden Bougainvilleasträuchern sah sie wieder das Meer in der Nachmittagssonne glitzern. Kleine Fischerboote und ein paar einmastige Segelschiffe dümpelten verstreut im flachen Wasser in der Nähe des Ufers und in der Ferne entdeckte sie einen großen Dreimaster. Es war erstaunlich ruhig. Der Lärm der Straße wurde durch das Hotel abgeschirmt.

Sandra verspürte Durst und sie wagte sich hinaus, um die Umgebung zu erkunden und auch, um nach dem »Aschermittwochs-Karneval« hier in Santa Maria zu fragen. Ein freundlicher Hotelangestellter zeigte ihr den schmalen Weg zwischen den Büschen zu einer kleinen Bar, an der sie sich einen Orangensaft mit vielen Eiswürfeln bestellte. Der Barkeeper presste die Früchte frisch aus und reichte ihr das Glas mit einem Trinkhalm und einer Serviette. Die Bar war oberhalb eines kleinen Strandes aufgebaut und bestand zum größten Teil aus Holz, hatte aber so ziemlich alles, was man zur Erfrischung wünschte. Auch kleine Snacks wurden angeboten, wie Sandra in der kleinen Getränkekarte lesen konnte.

Sandfarbene, einladende Sonnenschirme waren im Sand vor ihr fest verankert und einige Gäste lagen in der prallen Sonne des Nachmittags auf den gelb bezogenen Sonnenliegen, um sich die lang ersehnte Urlaubsbräune zu holen. Eine kleine, dicke, aus groben Steinen gehauene Mauer schützte den hauseigenen Sandstrand vor dem Wind, der wieder ziemlich heftig blies.

Sie sah, dass der schmale Weg, den sie gekommen war, weiter zu einer tiefer gelegenen Terrasse führte, die mit klobigen Holzstühlen, einfachen, weißen Tischen und gelben Sonnenschirmen möbliert war, und weiter zu einer Treppe, auf der man nach oben auf eine große Sonnenterrasse und zum überdachten, nach zwei Seiten zum Meer hin offenen Restaurant gelangen konnte.

Das Restaurant des Hotels war auf einem großen Felsen gebaut, der schroff direkt ins Meer reichte, und es sah aus wie ein riesiges, gestrandetes Schiff mit seinen runden, kleinen Fenstern und rot-weißen Rettungsringen am unteren, gemauerten Teil des Gebäudes. Ein in Blau und Weiß gehaltenes Mosaik aus glänzenden Fliesen mit einem zweimastigen, alten Segelschiff zierte die Mauer am unteren Eingang.

Sandra fragte den Barkeeper auf Englisch nach den Frühstücks- und Essenszeiten und da der junge Kapverdier ein gutes Englisch sprach, unterhielt sie sich etwas mit ihm und erfuhr so einiges über das Hotel und die Stadt Santa Maria, und dass auf Sal immer am Aschermittwoch der Karneval in Santa Maria sei. Am Faschingsdienstag seien die geschmückten Wagen und die Sambagruppen am Abend in Espargos, der Hauptstadt der Insel Sal, wo auch die Verwaltung ihren Sitz habe. Dann kämen sie am nächsten Tag hierher.

Ob man als Frau auch allein zum Karneval in die Straßen gehen könne, um eventuell zu fotografieren, wollte Sandra wissen und ob es nicht gefährlich sei – so allein? Nein, der Kellner beruhigte sie lächelnd, am Tag sei das kein Problem. Sie solle sich immer in den breiten Hauptstraßen aufhalten, aber am Abend solle sie doch lieber im Hotel bleiben bei all dem Trubel in den Straßen, setzte er hinzu. Außerdem seien bestimmt schon einige Männer betrunken und sie wolle doch nicht angepöbelt werden, wenn man sähe, dass sie allein sei. Aber es seien auch viele Polizisten auf den Straßen, die für Ordnung sorgten, und auch viele Europäer, da sei es am Tag bestimmt nicht gefährlich für sie.

Sandra atmete etwas auf. Sie würde es wagen, sich unter die tanzende, dunkelhäutige Menschenmenge zu mischen. Der Rhythmus der Sambamusik hatte sie angesteckt und ein heiteres Gefühl machte sich in ihr breit. Der junge Mann erzählte ihr auch, dass sie am Abend, wenn es dämmere und dunkel würde, nicht mehr ins Meer schwimmen gehen solle, da die Köche abends oft einige Küchenabfälle auf der anderen Seite des Restaurants ins Meer würfen und damit oft die Haie anlockten. Man könne sie dann, wenn man auf dem Rundgang der Terrasse stehe, im flachen Wasser sehen. Es wären zwar nur kleine Haie, aber man sollte es trotzdem nicht wagen, ihnen zu begegnen. Sandra schauderte etwas bei dem Gedanken, dass sie beim Schwimmen von Haifischen angegriffen werden könnte, aber der Barkeeper winkte ab.

Hier sei kein Fall an den Stränden bekannt, dass große Haie Menschen angegriffen hätten. Hier gäbe es genug Fische für sie zu fressen und die ganz großen seien weit draußen im Meer und kämen nicht in Strandnähe. Auch Quallen gäbe es hier im stets bewegten Meer nicht, nur im Hafen von Palmeira gäbe es ab und zu kleine, durchsichtige Quallen, die bei Berührung starke Schmerzen hervorrufen würden. Aber da würde sie ja sowieso nicht baden, da sei das Wasser für sie viel zu schmutzig und nur die Kinder und ab und zu ein paar Halbwüchsige würden sich da im Hafenwasser abkühlen.

Sandra war dankbar für die Information, die sie von diesem freundlichen Mann erhielt und schaute auf ihre Armbanduhr.

»Was, schon sechs Uhr? Und noch so hell?«

Fragend schaute sie den Barkeeper an.

Der lächelte nur: »Lady, es ist erst vier Uhr hier auf den Kapverden. Sie haben vergessen, ihre Uhr um zwei Stunden zurückzustellen!«

Natürlich! Wie konnte sie das vergessen! Bei Normalzeit im Winter betrug der Zeitunterschied zwei Stunden und wenn die Sommerzeit in Deutschland begann, dann waren es drei Stunden. Sie hatte also noch Zeit, den Nachmittag und den Karneval in Santa Maria anzuschauen und zu genießen.

Sandra bezahlte und bedankte sich noch einmal für die freundliche Auskunft. Sie wollte sich beeilen und in die Stadt gehen, um das bunte Karnevalstreiben mitzuerleben.

Sie hörte schon von Weitem die aufreizende Sambamusik und ging dem Lärm und dem Trommelwirbel nach, wo ihrer Meinung nach am meisten los sein müsste. Sie hatte recht. Bereits in der zweiten breiten Straße sah sie einen langen Zug mit bunt gekleideten, jungen Frauen, Mädchen und Jungen, die zum Rhythmus der Musik in Formationen tanzten. Jede Gruppe der jungen Tänzer war gleich in grellbunte, glitzernde Kostüme gekleidet und diese wogende Menschenmenge faszinierte Sandra.

Sie holte ihren Fotoapparat heraus und begann, Szene um Szene einzufangen, sie konnte gar nicht genug davon haben. Auf der gegenüberliegenden Seite standen ein paar Kinder, die in Fantasiekostüme gekleidet waren und schon kräftig im Sambarhythmus hüpften und tanzten.

»Wie bei uns zu Hause!«, dachte Sandra, »Zauberer, Prinzessinnen, Chinesen!«

Schreckliche Hexen und sogar einen Indianer und einen Cowboy sah sie im Gewühl. Auch viele Erwachsene hatten sich verkleidet und sich auch zum Teil maskiert, damit man sie nicht erkennen konnte.

Schon wieder zogen neue Sambagruppen vorbei. Hübsche, schwarzhaarige Mädchen jeden Alters und junge Frauen in ihren bunten, glänzenden, kurzen Röckchen tanzten unermüdlich im Rhythmus der Musik und ihr zulächelnd vorbei. Jede Altersgruppe hatte gemeinsame Farben und die Tänzer und Tänzerinnen hüpften und drehten sich ohne Pause im gleichen Rhythmus zu den Klängen einer ohrenbetäubenden Sambamusik, die teils von Musikern »live« gespielt wurde und zum Teil auch aus großen Lautsprechern von vorausfahrenden Wagen schallte und die auch die Zuschauermenge so richtig aufheizte.

Dann kamen reich geschmückte Wagen und Sandra meinte fast, in Brasilien zum Karneval in Rio zu sein, so schön und sorgfältig waren einige der Wagen geschmückt. Auf einem großen Lastwagen hatte man ein großes Schiff aufgebaut, auf dem eine hohe, riesige Tribüne stand. Eine breite, weiße Treppe führte hinauf zu einer kleinen Plattform. Darauf stand ein junges Paar, ganz in Weiß und glitzerndem Silber gekleidet. Die junge Frau war sehr spärlich bekleidet und hatte riesige, weiße Federn auf dem Kopf, die die dunkle Schönheit ihrer makellosen Figur und ihres Gesichtes voll zur Geltung kommen ließen. Vor diesem Wagen gingen ein paar Männer mit langen Stangen, die die Elektrokabel, die tief über der Straße hingen, nach oben anhoben, damit die Wagen mit ihren hohen Aufbauten ohne Gefahr darunter durchfahren konnten.

»Undenkbar in Deutschland!«

Sandra schüttelte den Kopf, aber sie war begeistert und ließ sich von der Musik und der Heiterkeit des Volkes anstecken. Die bunten Wagen wechselten sich wieder ab mit Musikanten, die mit ihren Trommeln und Trompeten einen höllischen Lärm machten und viele lärmende Kinder hinter sich nachzogen.

Ein großer Wagen war als Schiff mit einem großen Segel geschmückt und auf dem nächsten hatte man einen riesigen, blauen Fisch aus Pappe montiert, bei dem nicht genau zu erkennen war, ob er nun ein Wal, ein Delfin oder ein Hai sein sollte. In ihm standen junge Männer um ein kleines Fass Bier und schenkten kräftig aus.

Kinder hatten sich als Erwachsene mit angeklebten Bärten, alten Hüten und Pfeifen verkleidet. Sie standen auf einem flachen Wagen, in dessen Mitte ein Aufbau war, der wie eine Mühle oder so etwas Ähnliches aussah. Auf dem Wagen lagen ein paar vollgefüllte Säcke und der Wagen war mit einem weißen Pulver bestreut. Es sah im ersten Augenblick wie glitzernder Schnee aus. Sandra erfuhr später, dass dies ein Wagen aus Pedra de Lume gewesen war, einem kleinen Fischerdorf, wo die große Saline lag, und das »weiße Pulver« war ganz einfach grobes Meersalz aus eben dieser Saline.

Sandra wurde erneut von dem Trubel mitgerissen und sie merkte gar nicht, wie sie sich langsam von der Hetze der vergangenen Wochen befreite. Sie stand fröhlich in der singenden und tanzenden Menschenmenge mittendrin und schoss Foto um Foto, bis sie zum Schluss bemerkte, dass sie sich wahrscheinlich ziemlich weit vom Hotel entfernt hatte.

Hoffentlich fand sie wieder zurück!

Sie zupfte einen Polizisten am Ärmel und fragte nur: »Hotel Odjo d’Água?« Der Polizist verstand sofort und erklärte ihr den Weg genau, was sie aber nicht verstand und so deutete er zur nächsten Querstraße, dann mit dem linken Arm nach links und dann mit drei Fingern nach rechts. Sandra verstand – also, zuerst nach links die Straße entlang und dann die dritte Straße rechts ‒ und sie beeilte sich, ins Hotel zu kommen.

Mittlerweile war es schon halb sieben Uhr abends geworden. Die Sonne stand schon tief und färbte das Meer und den Himmel in Orange, Rot und Violett. Sie machte schnell noch ein paar Fotos vom tiefroten Meer und der untergehenden Sonne. Es wurde nicht nur langsam dunkel, sondern – wie sie bemerkte – ziemlich schnell, weshalb sie sich beeilte, um sich für das Abendessen umzuziehen. Die Bilder würde sie später in ihren Laptop laden und dann ansehen, was sie so alles an Eindrücken eingefangen hatte.

Die Stille im Zimmer tat ihr gut. Nur ab und zu hörte sie etwas Musik, Trommelwirbel und schrilles Lachen von Frauen. Der Karneval fing erst so richtig am Abend an und dauerte bei manchen bis in die frühen Morgenstunden.

Sie wählte für den Abend eine langärmelige Bluse und eine weiße, lange Hose, da Emilio, der Barkeeper, sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es im Februar am Abend immer noch etwas kühl sei und das Abendessen im offenen Restaurant serviert würde.

Als sie sich umgezogen hatte, blickte sie durch die nachtblauen Vorhänge des Schlafzimmers nach draußen.

Hinter dem Hotel standen dicht gedrängt die Hütten der Armen, die mit Wellblechdächern versehen und vereinzelt auch mit Ziegeln gedeckt waren. Spärlicher Rauch stieg aus einigen Kaminen der Häuser auf.

Es war Zeit zum Abendessen – auch für die Einheimischen. Ein paar Kinder heulten, bis sie von ihrer Mutter lautstark zurechtgewiesen wurden und es etwas ruhiger wurde.

Sie hatte bis acht Uhr noch etwas Zeit und so studierte sie die bunten Prospekte, die Exkursionen zum Fischen und »Whalewatching« anboten, Fahrten nach Pedra de Lume in die Saline und nach »Buracona«, einem großen, tiefen Loch im Felsen am Strand, in das zu einer bestimmten Tageszeit die Sonne direkt hinein schien und in das das Wasser mit weißen Schaumkronen durch einen mit dem Meer verbundenen, unterirdischen Tunnel bei Flut mit voller Wucht hineinfloss. Und man konnte auch auf einem Segelschiff oder auf einem Katamaran Segeltouren für einen halben oder einen ganzen Tag unternehmen. Sie konnte schwimmen gehen oder auch nur ganz einfach faul in der Sonne oder in einem Liegestuhl liegen und den Urlaub genießen. Sie hatte drei Wochen Zeit! Ein Prospekt lud zum Surfen und Kiteboarding ein, Schnupperstunden und auch Tauchkurse konnte man belegen. Sandra würde es nicht langweilig werden bei dieser Fülle von Angeboten. Aber zuerst wollte sie sich etwas erholen und die Sonne, den Strand und das Meer ein paar Tage lang in Ruhe genießen.

Sandra ging kurz nach sieben Uhr ins Restaurant. Der Kellner bot ihr einen Platz an einem Tisch für vier Personen direkt an der Brüstung über dem Meer an, da die anderen Tische schon besetzt waren.

Ein hölzerner Rundlauf um das Restaurant herum ermöglichte den Blick ins Meer und war frei für jeden, der am Strand entlang wandern wollte. Der freie Zugang zum Strand musste möglich sein, so das Gesetz. Die Tische waren in Rot, Orange und Gelb mit einer weißen Mitteldecke eingedeckt. Die Stühle waren gepolstert und aus solidem Holz gefertigt. Direkt neben Sandras Tisch befand sich eine rund gemauerte Wand, die mit einem riesigen Haifischkopf mit weit aufgerissenem Maul und schrecklichen, langen Zähnen bemalt war. Dahinter standen Fischbecken, in denen ein paar größere Fische schwammen. Arme Fische! Sie waren bestimmt keine Ausstellungsstücke!

Sandra bestellte sich ein Mineralwasser und genoss das erste Abendessen auf der großen, überdachten Terrasse des Hotels.

Es gab gegrilltes, weißes Fischfilet mit Pommes frites und etwas gekochtem Gemüse. Es schmeckte ihr ganz vorzüglich und sie genoss den kühlen Abendwind, der vom Meer her kam.

Eine große, hufeisenförmige Bar mit ebenfalls hölzernen Barhockern rundete das gute Gesamtbild des Restaurants ab. Über der Bar stand »LIVEMUSIC – EVERY DAY – FROM 19:00 TO 00:00”. Die Musiker waren noch nicht da, aber auf den Kapverden nahm man das wohl mit der Pünktlichkeit nicht so genau!

Das deutsche Ehepaar aus dem Bus kam jetzt auch ins Restaurant und setzte sich zu ihr. Sie unterhielten sich angeregt über die Insel und deren Sehenswürdigkeiten, da das Ehepaar nun schon zum sechsten Mal seinen Urlaub auf den Kapverden verbrachte.

»Sie werden sehen, es gefällt Ihnen hier bestimmt!«, erklärte der Mann. »Sie werden diese Insel lieben lernen, denn die Einheimischen sind ein sehr freundliches Volk. Sie werden immer wieder hierherkommen, viele Jahre lang, um die Sonne und das Meer zu genießen.«

Und seine Frau setzte hinzu: »Sie müssen die ganze Insel erkunden und alles sehen, nicht nur Santa Maria, das Hotel und den Strand. Sie müssen auch nach Espargos, der Hauptstadt, fahren oder nach Palmeira mit dem Hafen, wo die Fischer ihren frischen Fang vom Meer bringen. Und auch auf das Meer hinaus und …«

Ihr Mann unterbrach sie: »Immer langsam und der Reihe nach, meine Liebe, ‒ wie lange werden Sie denn hier bleiben?«

»Ich werde für drei Wochen hier sein und ich möchte schon gerne die Insel kennenlernen. Aber wie?«

»Das ist ganz einfach. Es werden hier Touren mit den ‚Alugueres‘, den kleinen Bussen oder mit kleinen, offenen Lieferwagen, die auf der Ladefläche zwei Sitzbänke haben, angeboten. Da können Sie mitfahren und die ganze Insel erkunden.«

»Oder Sie fliegen auf eine andere Insel«, unterbrach ihn nun seine Frau. »Auch da können Sie gemeinsam mit anderen Gästen eine Rundreise machen. Es sind zwar kleine Inseln wie zum Beispiel Fogo mit einem heute noch tätigen Vulkan, aber es gibt immer etwas zu sehen und zu erleben!«

Die beiden waren richtig begeistert. Und Sandra nahm sich vor, viel zu unternehmen.

Sie unterhielten sich noch gut und es war schon spät, fast schon dreiundzwanzig Uhr, als Sandra zurück in ihre Suite ging, um noch schnell die Bilder aus der Kamera in den Laptop zu laden. Sie hatte herrliche Fotos gemacht und sah noch einmal das bunte Treiben in ihren Gedanken vorbeiziehen und hörte noch die Klänge der heißen Sambarhythmen.

Ihr kam die Idee, David anzurufen, und sie hatte schon ihr Handy in der Hand, aber im letzten Augenblick bemerkte sie, dass es ja bereits Mitternacht geworden war und in Deutschland war es schon zwei Uhr morgens, da wollte sie David bestimmt nicht mehr aufwecken. Das hatte keine Eile und auch noch bis morgen Zeit.

Sandra ging ins Bad und nahm eine kühle, erfrischende Dusche, zog ein fliederfarbenes, mit einem kleinen Delfin verziertes Nachtshirt an und legte sich auf das Bett.

Jetzt lag sie allein hier und versuchte, sich vorzustellen, was wohl David zu Hause jetzt machte – aber natürlich – er schlief ja schon! Sandra schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

Klack, klack! – Klack, klack! Der Ventilator über ihrem Bett drehte sich langsam und gab bei jeder Umdrehung einen leisen Knacks von sich.

Die Kühle, die von oben kam, gab ihr eine leichte Frische und sie deckte sich mit der dünnen Decke zu, die unter dem Überwurf gelegen hatte.

Der Tag lief noch einmal vor ihr ab – klack, klack! – der Flug – die vielen Eindrücke vom Karneval – klack, klack! – die vielen Menschen – das Hotel – ihr Zimmer – klack, klack! – »was macht David ohne mich?« – Klack, klack! Der Ventilator drehte sich unaufhörlich.

Jetzt war es ihr genug. Sie konnte einfach nicht einschlafen und gab dem »blöden« Ventilator die Schuld. Sie stand auf und drehte das Ding ab. Jetzt war es endlich still im Raum. Sie hörte noch einmal ein paar Schreie und Lachen, ein Motorrad fuhr knatternd vorbei, ein Autofahrer hupte ein paar Mal.

Ein paar Häuser weiter bellte ein Hund die weiße Sichel des Mondes an, die wie eine kleine Schüssel am Himmel lag und ab und zu von kleinen, dunklen Wolken verdeckt wurde.

Dann schlief Sandra endlich ein.

Kapitel 3

Donnerstag

Sie kamen vom Meer und ihre Gesichter waren nicht von Freude gezeichnet. Ruhe herrschte in den Booten, denn der Fang war weniger als gering gewesen und er reichte gerade für die Familien der Fischer. Es gab heute nichts zu verkaufen – wieder kein Geld für die täglichen Dinge des Lebens – wie so oft in Pedra de Lume.

Manuel sprang aus dem ersten Boot, als es im kleinen Schutzhafen von Pedra de Lume ankam, und machte es am Kai fest. Auch den Fischern in den anderen Booten half er. Sein Vater reichte ihm die Plastiktüte mit ein paar kleinen Fischen, die für ihn und seine Familie bestimmt waren. Die Fischer hatten sich die geringe Ausbeute geteilt.

»Bring sie zu Mama, damit wenigstens die Kinder und die Frauen etwas haben!« Er war enttäuscht.

»Morgen wird es wieder besser werden. Morgen wird der Wind nicht mehr so stark sein, die Wellen nicht mehr so hoch und die Fische kommen wieder mehr nach oben, du wirst schon sehen!«, ermunterte Manuel seinen bedrückten Vater. Sie zogen gemeinsam die Netze an Land, um sie trocknen zu lassen. Ein Boot hatte durch den hohen Wellengang ein großes Loch in eines der feinmaschigen Netze für den Makrelenfang gerissen, das wieder repariert werden musste. Das Meer war heute zu stürmisch gewesen.

»Geh nur, Manuel, ich mache das schon! Ich bleibe gleich hier, denn ich habe ja Zeit und kann das Netz sofort wieder reparieren.«

Sein Vater blieb am Kai zurück und Manuel ging zum langen Steinhaus, in dem seine Eltern und seine kleine Familie wohnten. Er lief durch das kleine Fischerdorf, das im Nordosten der Insel lag, und betrachtete die Häuser. Was waren sie doch alt und schäbig! Die Dächer waren oft nur mit Wellblech gedeckt und viele davon hatten schon Löcher durch den Rost bekommen. Die salzige Meeresluft nagte an allen Teilen der alten Häuser, deren Fenster oft zerbrochen und schon grau und undurchsichtig waren. Die meisten dieser Fenster waren mit einfachen Holzläden verschlossen, damit die Sonne die Wohnungen nicht zu sehr erwärmte, und man hatte auch die zerbrochenen Fensterscheiben entfernt. Man brauchte hier keine Glasscheiben. Die waren auch viel zu teuer.

Niemand im Ort hatte Geld, um die oft schon baufälligen Häuser einigermaßen wieder herzurichten. Wozu auch! Sie gehörten ja nicht den Fischern selbst, sie gehörten einem reichen Mann, einem Italiener, den sie selbst nicht einmal kannten. Denn man sagte, dieser reiche Mann habe das Dorf Pedra de Lume der Inselverwaltung oder dem Staat abgekauft und baue nun in den nächsten Jahren für alle Familien neue Häuser mit Elektrizität und fließendem Wasser, mit Toiletten und Duschen. Und er baue auch eine neue Schule für die Kinder in Pedra de Lume.

Aber man erzählte sich auch, dass dann das alte Fischerdorf und die verrostete Salinenanlage, die doch einige Traditionen hatten, abgerissen würden und es entstehe eine ganz neue Stadt, eine riesige Wohnanlage für reiche Ausländer, mit einem Hafen für die Jachten der Reichen, mit weißen Villen, Palmen, Swimmingpools und einem Golfplatz für die Engländer.

Dann bekämen die Frauen Arbeit in den vornehmen Häusern und die Männer in den Straßen und Grünanlagen, die gepflegt werden mussten, und allen gehe es dann viel besser als vorher – so hatte man es ihnen schon versprochen.

Schöne Worte! ¬– Aber jetzt?

Jetzt brauchte man das Geld, das die Männer zu verdienen suchten, indem sie fast täglich mit ihren kleinen Booten auf das oft stürmische Meer hinausfuhren um zu fischen oder indem sie kleine Arbeiten als Gehilfen annahmen, die nicht viel einbrachten. Manuel hing diesen trüben Gedanken nach, als er im Hafen die alten, verrosteten Schiffe betrachtete, die man aufs Festland gezogen hatte, die niemand mehr brauchte und niemand entsorgte. Sie lagen da, bis sie auseinanderfielen. Das wichtigste Innenleben der kleinen Kähne und Motorboote hatte man schon längst entfernt und wieder verwendet.

Zwischen den niedrigen, grauen Steinhäusern lagen alte Autos oder auch nur noch das, was von ihnen übrig geblieben war – ohne Fensterscheiben, ohne Räder, zum Teil ausgebrannt – niemand räumte sie weg. Auch nicht die Teile alter, verrosteter Fahrräder oder Haushaltsgegenstände. Niemand wollte das alte Gerümpel mehr haben. Wohin sollte man es auch bringen? Die Insel war klein und eine Schrottverwertung gab es nicht. So blieb alles einfach liegen, bis es auseinanderfiel. Der tägliche Müll wurde hinter die Häuser geworfen und streunende Hunde und Katzen suchten nach Abfällen zum Überleben. Ab und zu wurde dann alles von der Inselverwaltung gesammelt und auf einer großen Müllhalde im Osten der Insel wurde dann das noch verbrannt, was man verbrennen konnte. Und der Rest? Er blieb wieder liegen, dort wo kein Fremder, kein Tourist ihn sehen konnte. An manchen Tagen, wenn es leicht regnete, überzog ein feiner Ruß die kleine Insel, was zwei- oder dreimal im Jahr vorkam, und der Wind blies das Regen-Ruß-Gemisch über die Insel bis in den Süden, bis nach Murdeira und auch Santa Maria, und überdeckte die weißen Häuser und die Gartenanlagen mit einem hässlichen Grau und rußfettigen Schlieren.

Manuel blickte die kleine Anhöhe hoch, wo die verrostete und nicht mehr brauchbare Anlage zur Salzaufbereitung stand. Hier wurde früher, als sein Vater noch jung war, das Salz aus der Saline gemahlen und in Säcke abgefüllt. Ja, früher ging das reine Meersalz noch nach Europa und auch nach Übersee, nach Amerika, aber jetzt war alles kaputt und verfiel langsam. Niemand hatte mehr Bedarf und so war es nur eine Frage der Zeit, bis von der alten Tradition nichts mehr übrig blieb. Keiner wollte das eigentlich so kostbare Meersalz mehr haben. Der Transport war viel zu teuer geworden, um es nach Europa in Containern zu verschiffen, geschweige denn in Flugzeuge zu verladen. So wurden nur noch ab und zu ein paar Salzfelder in dem versunkenen Krater mit Meerwasser gefüllt, um Salz für die Inseln herzustellen.

So war das Dorf auch scheinbar so nach und nach in Vergessenheit geraten. Niemand kümmerte sich groß um das langsam aussterbende Dorf, denn die Söhne von Pedra de Lume versuchten, ins Ausland zu gehen, nach Amerika oder nach Europa, um dort ihr Glück zu machen und um damit ihren armen Familien in der Heimat helfen zu können.

Einige Touristen kamen ab und zu hierher und fanden das kleine Dorf und den Hafen »romantisch«. Sie machten Fotos zur Erinnerung und gaben der kleinen Schule am Anfang des Dorfes manchmal kleine Geschenke, Filzstifte, Kugelschreiber und auch ab und zu etwas Geld.

Das lange, niedrige Haus, in dem Manuel mit seinen Eltern und noch sieben anderen Familien wohnte, lag am Rande der kleinen Siedlung. Seine Mutter Maria würde wieder eine Kerze in die kleine Kirche bringen, um die »Heilige Mutter Maria« um einen guten Fischfang zu bitten. Denn die gläubige Frau hoffte immer noch, dass ihr inniges Flehen von ihr erhört werde.

Die kleine Kirche zeigte auch schon große Spuren der Verwitterung. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe, aber das Salz des Meeres, das sich auch im Erdreich befand, zog nach oben in das alte Gemäuer und umrahmte das schmutzige Weiß des Gebäudes mit einem grauen, hässlichen Sockel. Die blau gestrichene Tür und die einfachen Fensterläden hingen schon leicht schief in den Angeln und hatten eine dringende Reparatur nötig.

Der katholische Pfarrer, der ab und zu in die kleine Seelengemeinde kam, um die Messe zu lesen, konnte sich auch nicht um die Sanierung der Kirche kümmern. Auch hatte er nicht die Mittel dazu und der Papst und die »Heilige Kirche« waren weit weg.

»Heilige Maria, Mutter Gottes, hilf uns und steh uns bei!« Manuel schickte ein kleines Stoßgebet zur Kirche empor. Vielleicht hörte doch jemand seine Bitte?

Seine beiden Kinder Fernanda und Sandro kamen ihm lachend entgegen. Er kniete sich auf die staubige Straße, um sie zu umarmen und zu küssen. Sie waren sein Alles!

»Hast du heute keine Schule?«, wollte Manuel von Fernanda wissen, da sie schon seit September in die erste Klasse ging, eben in diese kleine Schule am Anfang des Dorfes, und strich ihr die langen schwarzen, leicht gelockten Haare aus dem Gesicht.

»Nein, die Lehrerin ist heute in Espargos und hat Besprechung mit den anderen Lehrern und unserer Frau Direktorin, da haben wir heute den ganzen Tag schulfrei!«

Sie freute sich offensichtlich und der kleine Sandro mit seinen vier Jahren setzte hinzu:

»Und Nanda spielt mit mir, ja?«

Sandro konnte »Fernanda« noch nicht richtig aussprechen und so nannte er sie schlicht »Nanda«, das war einfacher.

Manuel hielt Sandro fest, der schon wieder weglaufen wollte, um zu spielen, und mahnte die beiden:

»Hört gut zu! Geht nicht auf die Straße und auch nicht ans Meer oder zum Hafen, da ist es zu gefährlich für euch – versprecht ihr mir das?« Manuel war besorgt.

Die beiden Kleinen nickten eifrig und hüpften lachend neben ihm her. Er war stolz auf seine beiden Kinder und er hätte gerne eine kleine, richtige Familie gehabt, die auf nichts verzichten müsste. Er hätte auch gerne mehr Geld gehabt, um auch für Elena, seiner Verlobten, besser sorgen zu können.

Aber das Geld, das er aus Amerika mitgebracht hatte, als er bei seinem Bruder Dany in Boston gewohnt und dort im Hafen gearbeitet hatte, war schon längst aufgebraucht. Es hatte ihn nach fünf Jahren wieder in die Heimat gezogen, dahin, wo seine kleine Familie und seine Eltern wohnten und auf ihn warteten. In dieser langen Zeit hatte er es sich nur einmal leisten können, nach Hause zu fliegen, und es war ihm sehr schwergefallen, wieder nach Amerika zurückzumüssen, aber die Familie brauchte das Geld dringend und so verzichtete er auf vieles.

Elena hatte das Glück, bei seinen Eltern wohnen zu dürfen, denn ihre Eltern waren bereits verstorben. Wenn eine Frau hier nicht verheiratet war und auch noch zwei Kinder hatte, war es schwer für sie, irgendeine Bleibe zu finden, wenn sie nicht bei ihren Eltern wohnen konnte. Und wer keine Arbeit und kein Geld hatte, der hatte nichts – rein gar nichts!

Es war nichts Besonderes, wenn junge Mädchen mit fünfzehn Jahren oder noch früher schon ein Kind bekamen, das Wort »Aufklärung« schien hier ein Fremdwort zu sein. Aber wer dachte schon daran, wenn in den heißen Nächten oder nach einem Discobesuch die jungen Burschen den Mädchen heiße Worte ins Ohr flüsterten und alles versprachen und nichts hielten, nachdem das »Unglück« passiert war? Diese Mädchen konnten froh sein, wenn sie etwas Geld vom Vater ihres Kindes bekamen, falls dieser Arbeit hatte und nicht gleich auf eine andere Insel oder ins Ausland verschwand, wo man ihn nicht so leicht finden konnte. Auch das kam vor, wenn auch die meisten Väter stolz zu ihren Kindern standen und für sie sorgten. Eine Heirat kam in den meisten Fällen nicht in Frage. Es war ganz einfach zu teuer, einen eigenen Hausstand zu gründen, eine eigene Wohnung einzurichten und Miete zu bezahlen. Woher sollte das Geld kommen, wenn man keinen festen Arbeitsplatz hatte – wer sollte das alles bezahlen? Es gab keine Unterstützung von staatlicher oder kommunaler Seite her, man musste sehen, wo man bleiben konnte.

Aber Elena hatte Glück gehabt und war zufrieden. Hatte sie doch einen Mann, der für sie sorgte, und zwei liebe Kinder. Auch die Großeltern halfen ihr und passten auf die Kinder auf, wenn sie eine kleine Anstellung, manchmal nur für kurze Zeit, in einem Haushalt in Murdeira bei den Europäern oder in einem Hotel in Santa Maria hatte. So trug auch sie ab und zu etwas zum Unterhalt der Familie bei. Für europäische Verhältnisse war der Verdienst natürlich sehr wenig, aber für Elena waren eintausend Escudos am Tag – ungefähr neun Euro – schon viel Geld. Konnte man doch dafür die Familie wieder ein paar Tage lang mit Reis und etwas Gemüse versorgen.

Und wenn Manuel ein paar Fische brachte oder wenn er für einen Freund, der einen Aluguer, einen Kleinbus, besaß, Touristen über die Insel fuhr, was auch etwas Geld einbrachte, war die Tafel für die kleine Familie schon reich gedeckt. Manchmal konnte er auch für ein paar Tage im Hafen in Palmeira bei den Containerschiffen helfen. Aber um diese Arbeit rissen sich viele, allein schon die Männer aus Palmeira – es war immer ein Kampf, für ein paar Stunden schwere Arbeit etwas Lohn zu erhalten.

Aber man war ja nicht anspruchsvoll.

Manuel fand immer einen Weg, etwas Geld zu verdienen, wenn es auch manchmal heimlich war und Elena nichts davon wissen durfte, so war es doch nicht außerhalb des Gesetzes. Er würde nie etwas stehlen oder sonst schlimme Dinge tun. Aber er war ein gut aussehender, junger Mann und hatte Chancen bei den europäischen Frauen, von denen manche nicht nur wegen Sonne und Strand auf die Kapverden flogen. Auch hier gab es schon den berüchtigten »Sex-Tourismus«, der langsam in alle schönen Gegenden der Welt einzog.

Und es gab willige Frauen, die es auf ein kleines Abenteuer mit einem gut gebauten, dunkelhäutigen Mann abgesehen hatten. Einige waren großzügig, luden die jungen Männer zum Essen und vielleicht auch zu etwas mehr ein. Manchmal bekamen sie dafür etwas Geld und manch einer verdiente sich ein bisschen Geld mit seinen Liebesdiensten und seinem schönen Körper.

Manuel nahm gerne etwas Geld an, wenn er einer Europäerin allein die Insel zeigen konnte, aber er war nie bereit, sich auf ein kurzes Abenteuer einzulassen. Das war er seiner Familie schuldig und er dachte nicht daran, Elena zu betrügen. Manuel wollte am Nachmittag wieder nach Santa Maria fahren, um seine Freunde zu treffen, und auch, um vielleicht eine Arbeit zu finden. Vielleicht konnte er wieder Touristen über die Insel mit dem Aluguer fahren und ihnen die wenigen Schönheiten und Sehenswürdigkeiten der Insel zeigen und erklären.

Es waren ja zurzeit sehr viele Ausländer auf Sal, die den Winter im kalten Europa hinter sich gelassen hatten, um hier die Sonne und das Meer, in dem man auch im Winter baden konnte, zu genießen.

Oft konnte er Gäste aus dem Hotel »RIU« fahren, da bekam er immer ein gutes Trinkgeld und manchmal war es sogar mehr, als er als Lohn für das Fahren des Aluguers erhielt. Sein gutes Englisch machte es ihm möglich. Das war ein großer Vorteil für ihn. Mit seinen beiden Kindern an der Hand lief er das kurze Stück zum langen Steinhaus. Seine Mutter öffnete und er gab ihr die wenigen Fische.

»Mehr ist es nicht«, sagte er etwas müde. »Aber ich fahre jetzt nach Santa Maria und sehe zu, ob ich bei Aristides Arbeit bekomme. Er hat immer Touristen zu fahren. Vielleicht hat er heute auch etwas für mich!«

Er wusch sich in dem kleinen Hinterhof das Salz und den Schweiß von seinem Körper, rasierte sich schnell und nahm etwas von dem herb duftenden Rasierwasser, das er vor einigen Wochen von einer Touristin geschenkt bekommen hatte, aus der untersten Schublade der schon etwas wurmstichigen Kommode.

Diese Frau hatte wohl an einige intime Stunden mit ihm gedacht, denn ihr Angebot war mehr als deutlich gewesen, aber Manuel hatte höflich abgelehnt. Flirten ja, ab und zu auch einmal mit einer netten Frau zum Tanzen gehen oder ein Mittagessen nicht ausschlagen, das machte Manuel des Öfteren, weil auch oft etwas Geld für seine Kinder abfiel, aber für mehr konnte er sich nicht überreden lassen. Er erzählte dann immer von seinen Kindern und seiner Frau, wie er Elena stolz nannte, wenn es etwas eng für ihn wurde. Das machte die meisten Touristinnen doch etwas vorsichtiger. Mit eifersüchtigen, einheimischen Frauen wollten sie nun doch nichts zu tun haben.

Am liebsten fuhr er mit älteren Ehepaaren oder auch mit einer Gruppe Frauen und Männer über die kärgliche Insel. Die wenigen Sehenswürdigkeiten waren schnell besichtigt, aber man konnte doch bei der einen oder anderen Stelle eine kleine Rast einlegen. Manuel bekam dann gerade von solchen freundlichen Menschen immer ein gutes Trinkgeld zusätzlich.

Viele dieser Touristen fragten ihn auch nach seinem Leben, ob er Frau und Kinder habe und wie viel er so auf der Insel verdiene. Sie wunderten sich immer, wie wenig man auf Sal verdiente und konnten nicht verstehen, dass man mit so wenig Geld leben und noch eine Familie ernähren konnte.

»Geh mit Gott und er beschütze dich!«, rief ihm seine Mutter nach, als er zur staubigen Hauptstraße ging, um sich nach einer Fahrgelegenheit umzusehen.

Domingo, sein Freund, nahm ihn in seinem Taxi mit. Manuel war froh, musste er doch nichts bezahlen, da Domingo Gäste in die Saline gefahren hatte und sie wieder am Spätnachmittag abholen sollte. So musste er nicht bis Espargos laufen, was auch schon manchmal der Fall gewesen war. In Espargos stieg er in den Aluguer nach Santa Maria.

Hoffentlich gab es Arbeit für ihn!

Kapitel 4

Donnerstag

Tschilpende Spatzen vor dem Fenster weckten Sandra frühzeitig am Morgen. Sie öffnete leise und behutsam die Vorhänge, aber die kleinen Lärmemacher entdeckten schnell die Bewegung hinter dem Fenster und flogen davon.

Sie hatte gut geschlafen – aber erst, als sie den Ventilator mit seinem »Klack – klack!« abgestellt hatte, der sich über ihrem Bett gedreht und bei jeder Umdrehung dieses leise Knacken von sich gegeben hatte. Sie brauchte keinen Ventilator in der Nacht; es war im Februar nachts noch ziemlich kühl in den Zimmern. Es war noch nicht ganz hell. Zwei Katzen fauchten und balgten sich draußen vor dem Fenster in einem Hinterhof der ärmlichen Hütten und weckten ein paar Hunde auf, sodass das Morgenkonzert komplett war. – Santa Maria erwachte.

Kurz vor acht Uhr ging Sandra vom Gästehaus hinüber zur überdachten Terrasse, wo das Frühstück serviert wurde. Für Gäste war es wahrscheinlich noch sehr früh, da die Kellner mit dem Tischdecken noch nicht ganz fertig waren und auch auf dem Buffet noch einiges fehlte.

Sandra ließ sich Zeit, genoss zuerst einmal den herrlichen Ausblick von der Terrasse aus auf das Meer und setzte sich dann an einen schon weiß eingedeckten Tisch am Rande des großen, offenen Raumes, der wie eine große, überdachte Veranda gebaut war und nach zwei Seiten hin eine schöne Aussicht auf das Meer und den weiter entfernt liegenden Strand bot.

Es wurde ein interkontinentales Frühstücksbuffet angeboten und Sandra frühstückte ausgiebig und lange – ja, sie hatte Zeit!

Sie wollte mittags nur etwas Obst essen, das sie sich gleich heute Morgen kaufen wollte, und tauschte nach dem Frühstück an der Rezeption erst einmal zwanzig Euro in Escudos um. Dann ging sie zurück in ihre Suite, nahm ihren Strohhut und ihre Kamera und lief durch das breite, alte Steintor in Richtung Sandstrand.

Keine Touristen – keine Surfer – keine Liegestühle und Sonnenschirme, die man mieten musste – der Strand war am heutigen Morgen nach dem Karneval noch menschenleer und niemand störte diesen wunderbaren Augenblick der Einsamkeit! Sie war begeistert! Ein weißgelber Sandstrand, das blaugrüne Meer und die schäumende Brandung lagen vor ihr! Und darüber wölbte sich ein unendlich tiefblauer Himmel! Ein paar kleine Wölkchen, wie kleine Schäfchen auf einer großen Weide verteilt, zogen langsam, vom Wind getrieben über das Meer dahin.

Hier würde sie sich richtig erholen und einmal die ganze Last und den Stress des Berufs für drei Wochen von den Schultern fallen lassen können.

Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet!

Seit sie für David und dessen Vater arbeitete, hatte sie noch keinen Urlaub gehabt – manchmal nur einen Tag oder auch zwei, aber das war schon alles gewesen. Es genügte gerade, um die wichtigsten Dinge, wie nötige Einkäufe, zu erledigen, Ämter aufzusuchen und ab und zu auch einmal einen Bummel mit ihrer Freundin Angelika zu machen und in dem kleinen Café, das sich unten am kleinen Flusslauf befand, einen Cappuccino zu genießen, ein bisschen zu plaudern über alle möglichen und unmöglichen Dinge. Dann ging es schon wieder weiter mit der Arbeit. Und die war nicht wenig! Im Verlag gab es immer sehr viel zu tun.

Sandra zog ihre weißen Sandalen aus, band sie zusammen, hängte sie an ihren schmalen Gürtel, den sie über ihrer Hose trug, und lief durch den feinen Sand am Strand entlang.

In einiger Entfernung sah sie den alten Steg, an dem wohl früher die größeren Segelschiffe angelegt hatten und der jetzt noch den Fischern als Landeplatz für ihre kleinen Boote diente, wenn sie vom Meer mit ihrem Fang zurückkamen. Wie sie erkennen konnte, war er mit einem Bauzaun versperrt und einige Männer arbeiteten auf dem Steg. Ein paar Arbeiter in blauen Overalls räumten die bunten Überreste des gestrigen Karnevals vom Strand und dem sandigen Weg entlang der Häuser und Gartenmauern weg.

Auch auf den Kapverden ging die Arbeit nach dem Karneval weiter, so, wie es auch in Deutschland war, und keiner hatte länger Zeit zum Feiern.

Sandra drehte sich um, um das Hotel zu fotografieren, und ein heftiger Windstoß blies ihr den Strohhut vom Kopf und verwirrte ihre blonden Haare. Die Männer lachten und sie lachte mit ihnen und versuchte, das verflixte, dahinrollende Ding wieder einzufangen. Den Strohhut würde sie beim nächsten Strandbesuch bestimmt im Hotel lassen, er war zwar hübsch, aber nicht unbedingt tauglich für den kapverdischen Wind, der hier ständig blies. Für diesen war er wahrlich nicht geeignet. Ein einfaches Tuch würde auch ein guter Schutz gegen die Sonne sein.

Sie fand ein paar kleine, bunte Muscheln am Strand und steckte sie in ihre Hosentasche. Lea würde sich bestimmt darüber freuen und sie suchte eifrig beim Spazierengehen nach noch mehr.

Das kleine Café im Haus vor dem Bauzaun hatte schon geöffnet, hatte aber noch keine Gäste. Die Bediensteten saßen gemeinsam an einem Tischchen und unterhielten sich bei einer Tasse Kaffee – wohl über den Karneval und über ihre Erlebnisse während des bunten Treibens.

Vor dem Café, auf einer niedrigen, steinernen Mauer saß ein junger Afrikaner in einem bunten, längs gestreiften Gewand und sprach sie an: »Good morning! – Inglés? – Español? – Du deutsch?«

Sie musste lachen und sagte ganz automatisch:

»Ja, ich komme aus Deutschland!«

»Oh, Deutschland viel schön!«

»Warst du schon dort?«

»Nein, sagen wunderschön. Ich habe Freund, arbeiten viel in Deutschland – jetzt ich weiß sprechen Deutsch mit schöne Frau – ich Geschenk für dich!«

Er zog umständlich ein kleines Kettchen aus Glasperlen mit einer kleinen Muschel in der Mitte aus seiner Hosentasche: »Für dich – nur Geschenk!«

Sandra zögerte zuerst ein wenig, aber dann ließ sie es sich umhängen und bedankte sich.

»Sehr wunderschön! ‒ Hast du ein Euro für mich?«

Er machte eine eindeutige Bewegung, indem er seine Hand zum Mund führte:

»Für ein Bier – ja – du hast?«

»Aha, daher weht der Wind!«, dachte Sandra und lachte. »Zuerst nichts verkaufen wollen – nur schenken ‒ und dann Geld!«

Aber sie gab ihm bereitwillig einen Euro und er bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung.

»Willst du sehen mein Shop? Dort sein viele schöne Souvenirs für dich, wenn gehen nach Deutschland!«

»Nein, danke, vielleicht später!«, antwortete Sandra ihm freundlich noch schnell beim Umdrehen und verließ den Strand und den Steg.

Sie ging langsam über den sandigen, freien Platz, auf dem einmal ein Gebäude gestanden haben musste, was man an den restlichen Steinmauern sehen konnte, hinüber zur Straße. Auf der anderen Seite der Straße sah sie ein Geschäft mit zwei großen, weit geöffneten Türen. An der Seite stand auf zwei Holzbalken rechts und links des Eingangs in großen Buchstaben »CYBER« und »SHARK« geschrieben.

Ein Internet-Café mit angeschlossenem Geschäft für Bekleidung, Souvenirs und mit allerlei nötigem und unnötigem Zubehör für kaufwillige Touristen lud zum Eintreten ein. Es kam ihr zwar etwas dunkel vor, aber da, wie sie bemerkte, auch Europäer ein- und ausgingen, wollte sie sich das Geschäft merken, um ihre E-Mails zu senden oder ihre ankommende Post zu lesen, da, wie sie gesehen hatte, in ihrem Hotelzimmer und auch im Hotel kein Internetanschluss vorhanden war.

Ein bisschen Kontakt zur Heimat musste schon sein!

Sie lief weiter die Straße entlang und schaute sich die Menschen und Geschäfte an. Ein paar Kinder kamen auf sie zu und lachten sie scheu an. Sandra lächelte zurück und strich einem der kleinen Jungen über sein krauses, schwarzes Haar. Dieser schaute sie von unten mit seinen großen, weißen Augen in seinem kleinen, dunklen Gesicht an und fragte:

»Euro?«, und hielt seine kleine Hand auf.

Was sollte sie machen? Sie konnte doch den Kindern kein Geld geben. Oder sollte sie ihnen lieber ein paar Süßigkeiten kaufen, da gegenüber eine Frau mit einem kleinen Stand saß, in dem sie Bonbons, Kaugummi und Zigaretten anbot.

Sie drehte sich noch einmal zu den Kindern um – aber da waren sie schon fort und standen bei einem europäischen Ehepaar, dessen Mann sich schon in die Hosentasche griff, um ihnen vielleicht etwas Geld zu geben.

Afrikaner in ihren bunten, langen Gewändern boten ihr Sandbilder, Kettchen, Armreifen und afrikanische Masken an, die sie über die Schultern und über den Armen trugen.

In den schmalen, oft schmutzigen Seitenstraßen sah sie die Menschen vor ihren ärmlichen Häusern sitzen. Die meisten Häuser sahen ziemlich baufällig aus und die Fenster waren mit Holzbrettern verschlossen, sodass es innen dunkel sein musste.

An beiden Seiten der Straße gab es viele Souvenirläden mit diesen Sandbildern, schrecklichen Haifischgebissen, Kettchen aus Haifischzähnen, aufgeblasene, getrocknete Kugelfische, bunte Glaskettchen mit Muscheln oder Kokosnussschalen, T-Shirts mit »Cabo Verde«-Aufdruck und vielerlei Krimskrams, was man als Andenken nach Hause mitnehmen konnte. Und es gab viele Immobiliengeschäfte, die mit bunten, großen Plakaten zum Haus- und Apartmentkauf einluden.

Ein baumlanger Afrikaner in einem bunten, langen Gewand und einem gestrickten Käppi auf dem Kopf kam direkt auf sie zu. Er lachte sie an mit einem freundlichen »Good morning Lady, you are English, Italiana, du sein deutsch?«

»Oh, nicht schon wieder!«, dachte Sandra und wehrte den Mann lächelnd ab: »Nein, danke, ich kaufe nichts!«

»Du nichts kaufen musst bei mir, ich verkaufen nichts. Du deutsch, du schöne Frau. Ich sprechen auch Deutsch.«

Er schüttelte lachend den Kopf und hob seine langen Arme zum Himmel.

»Ich bin Mamadu, ich will dir nichts verkaufen. Ich war schon in Deutschland, in Hamburg – arbeiten dort zwei Jahre lang. Ich hier immer sehr aufpassen auf schöne Frauen aus Europa, damit nichts passieren. Hier nicht immer gut – auch nicht in der Nacht!«

Er fügte noch wie beruhigend hinzu:

»Wenn du brauchen Hilfe, fragen nach Mamadu, er kommt. Alle Menschen hier kennen Mamadu. Er kennt ganze Insel. Ich sein ehrlich und gut! Du brauchst keine Angst haben! Wenn du brauchst Fremdenführer auf der ganzen Insel, ich gehen immer mit vielen Gästen aus Europa und fahren mit Aluguer und zeigen dir alles, du willst sehen.« ‒ »Mit gut Preis und ganz billig!«, setzte er noch verschmitzt lächelnd hinzu. Er reichte ihr seine große, schwarze Hand und Sandra gab ihm ganz automatisch die ihre.

»Ja, danke, Mamadu!«

Jetzt aber nur weg von hier!

Sie drehte sich schnell um und stolperte über den schlecht gepflasterten Gehsteig – direkt in die Arme eines jungen Mannes, der sie gerade noch auffing, sie fest an sich zog und sie für eine kurze Zeit in seinen starken Armen festhielt. Ein Knopf seines halb offenen Hemdes kratzte sie an der Wange und der Duft seines Rasierwassers ließ sie eine kleine Weile verharren. Sie war etwas verwirrt, als er sie leicht von sich schob und sie mit blitzenden Zähnen in seinem braun gebrannten Gesicht anlachte und fragte:

»Everything okay? «

»Yes, I’m okay. – thank you! «

Sandra löste sich entschlossen aus seinen Armen und betrat schnell den nächsten Souvenirladen, nur um wieder zu sich zu kommen. Was war da gerade gewesen? Sie war mächtig erschrocken, als sie stolperte. Wie hätte das ausgesehen, wenn sie vor diesem jungen Mann auf die Knie gefallen wäre! Nicht auszudenken!

Sie konnte deutlich fühlen, dass es ihr plötzlich heiß im Nacken und im Gesicht wurde. Er hätte bestimmt gelacht und mit ihm vermutlich die Einheimischen, die die kleine Szene mit angesehen hatten. Sandra fasste sich an den Kopf! Warum war sie denn auch so dusselig gewesen und war gleich davongelaufen? Ihr hatte doch niemand etwas getan!

Nicht einmal beim Karneval hatte man sie angesprochen, geschweige denn belästigt! Sie hätte sich vielleicht etwas besser bedanken müssen, als nur mit einem kurzen »Mir ist nichts passiert, danke!«

Und dieser Duft! Was war das für ein Duft gewesen? – Sie glaubte noch immer, diesen Duft zu riechen, und sie bemerkte lächelnd, dass noch etwas davon an ihrer Bluse haftete.

Sie dachte wieder an Mamadu. Aber was hatte dieser Mamadu gesagt? »Ich aufpassen – hier nicht immer gut – nicht in der Nacht!«

Wohl auch nicht gut am Tag, zumindest was die Straßen und Gehsteige betraf! Aber in der Nacht? Schöner Empfang! An so etwas hatte sie noch gar nicht gedacht! War es denn wirklich so gefährlich hier für eine europäische Frau, die hier allein Urlaub machte, nachts auf die Straße zu gehen?

Sie suchte etwas ziellos zwischen den Masken und kleinen Statuen nach etwas Besonderem, besah sich mit einem schnellem Seitenblick nach draußen angestrengt die Armreifen, Kettchen und kleinen Handtaschen aus Kokosnussschalen, wie ihr der eifrige Verkäufer erklärte. Sie bemerkte, dass ihre Finger leicht zitterten, als sie eine der kleinen Taschen in die Hand nahm. Sie war die Einzige am frühen Morgen in dem kleinen Shop, so hatte der Verkäufer reichlich Zeit für sie und er war sehr bemüht, sie für eine Kleinigkeit zum Kaufen zu gewinnen. Aber sie bedankte sich nur freundlich und verließ wieder das kleine Geschäft. Das hatte noch Zeit!

Der herbe und doch samtweiche Duft des Parfums begleitete sie immer noch und sie meinte fast, den starken Druck seiner Arme noch auf ihrem Rücken zu spüren. Sie sah sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass der junge Mann nicht mehr da war – oder doch noch da war? Zu dumm auch – über den Gehsteig zu stolpern!

Na ja, es war nicht gerade das schönste Pflaster, das sie je gesehen hatte, bemerkte sie nun und nahm sich vor, etwas besser auf die Straße und die Gehsteige aufzupassen. Sie versuchte, sich an dieses lachende Gesicht zu erinnern. So braun gebrannt wie er war, war er bestimmt schon einige Zeit auf den Kapverden. Vielleicht arbeitete er hier? Vielleicht war er Engländer, Portugiese oder Italiener – oder? Sie verwarf ihre Gedanken. Egal was für ein Landsmann er war, Hauptsache war doch gewesen, dass sie nicht direkt vor ihm auf die Knie gefallen war. Nicht auszudenken!

Zum Einkaufen von Souvenirs hatte sie jetzt noch keine Lust und außerdem hatte sie noch Zeit. Es war ja erst der zweite Tag auf Sal und drei Wochen waren eine lange Zeit. So schlenderte sie langsam die Straße entlang zu ihrem Hotel zurück. Sie wollte sich am Nachmittag am Pool etwas ausruhen und ein bisschen lesen. Doch der Gedanke an diesen Mann holte sie immer wieder ein und sie versuchte wiederholt, sich an das Gesicht des Mannes zu erinnern.

Aber hier kam es ihr fast so vor, als würden viele der jungen Männer, die ihr entgegenkamen, alle gleich aussehen. Nur der Duft lag noch schwach in ihrer Erinnerung, ein angenehmes Gefühl nach Frische und doch wie Samt auf der Haut.

Ach ja, das hätte sie doch fast vergessen, sie musste noch David anrufen. Das wollte sie am Abend nachholen. Er machte sich vielleicht Sorgen um sie! Machte er das? Auf alle Fälle sollte er wissen, dass sie gut angekommen war.

Gegenüber einer Bäckerei, aus der es verführerisch nach frischen Brötchen duftete, kaufte sie bei einer der Frauen, die dort auf dem Gehsteig unter bunten Sonnenschirmen saßen und Körbe und Kartons mit verschiedenem Gemüse und Obst vor sich auf die Straße gestellt hatten, vier Bananen und eine kleine Papaya.

Die Frauen boten ihr alles an, was sie hatten, aber Sandra verstand leider nichts davon und wehrte lächelnd ab. So bezahlte sie zweihundert Escudos und wusste nicht, ob das nun viel oder wenig war. Im Bäckerladen erstand sie noch zwei frisch gebackene Hefeschnecken mit Kokosstreuseln, bevor sie durch eine schmale Gasse zu ihrem Hotel zurückging. Ihr kleines Mittagsmahl hatte sie schnell eingenommen und sie entschloss sich, zum Schwimmbad zu gehen, ein bisschen zu schwimmen, um sich danach in die Sonne zu legen. Ein wenig Sonne konnte ja nicht schaden.

Sie hatte fast die Zeit vergessen und bemerkte plötzlich, dass sie schon ganz allein am Pool unter ihrem Sonnenschirm lag. Sie hatte ein wenig geschlafen. Ihre Armbanduhr hatte sie in der Suite gelassen, doch durch den Sonnenstand und den jetzt leicht kühlen Wind konnte sie doch erahnen, dass es schon auf den Abend zuging. Da ihr ein wenig kalt war, stand sie auf und schlang ihr großes Badetuch um ihren schlanken Körper. Sie ging zurück in ihre Suite, zog sich um und lief hinüber ins Restaurant zum Abendessen, obwohl sie noch viel Zeit hatte. Sandra bestellte sich eine Cola, setzte sich an denselben Tisch wie am Vorabend und hoffte, dass das Ehepaar sich wieder zu ihr setzen würde.

Die beiden kamen auch und erzählten von ihren heutigen Erlebnissen. Sie waren auf einem Boot gewesen, das hinaus auf das Meer gefahren war, damit die Touristen die Wale und die Delfine beobachten konnten. Und sie hatten tatsächlich in der Ferne zwei Wale gesehen. Delfine schwammen zeitweise neben dem Boot als Begleitung mit, obwohl – wie der Kapitän erklärt hatte – es nicht immer sicher sei, dass man diese Tiere sähe. Sie hatten eben Glück gehabt, weil das Meer verhältnismäßig ruhig gewesen sei.

»Sie müssen das auch einmal machen. Es gibt hier auch ein Boot mit einem Glasboden. Da kann man oft viele bunte Fische sehen, wenn das Boot über die seichteren Gewässer fährt«, meinte die Frau und ihr Mann ergänzte:

»Ja, wir waren auch schon auf dem Schiff. Aber Sie müssen vom Steg aus in ein Schlauchboot steigen, das Sie und die anderen Gäste zum Boot bringt. Das ist zwar ein bisschen unruhig, aber nicht gefährlich, aber Sie bekommen eine Schwimmweste zur Sicherheit, falls doch einmal das Boot umkippt. Aber wie schon gesagt, das ist nur zu Ihrer Sicherheit, es passiert bestimmt nichts. Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Die Männer sind da sehr vorsichtig und helfen Ihnen beim Einsteigen.« Er lächelte Sandra zur Beruhigung an.

Ja, vielleicht würde sie das einmal tun. Sie hatte ja noch viel Zeit, um ihren Urlaub so richtig zu genießen.

Nach dem Abendessen und einer angenehmen Unterhaltung ging Sandra zurück in die Suite. Sie war ein bisschen müde geworden bei all dem Geplauder und legte sich auf die Couch – und schlief ein. Sie erwachte spät, als es schon fast Mitternacht war – wieder zu spät, um David anzurufen.

»Ja, morgen – morgen werde ich ihn anrufen und ihn fragen, ob er kommen will. Morgen ist auch noch ein Tag«, dachte sie und gähnte, während sie ins Badezimmer ging. Und außerdem ̶ warum hatte David noch nicht angerufen? Ihr kleines Handy hatte sie doch immer eingeschaltet bei sich! Und mit ihrem D2-Anschluss war sie auch auf den Kapverden erreichbar. Hatte er keine Sehnsucht danach, ihre Stimme zu hören?

»Ich lasse ihn einfach ein bisschen warten«, entschied sie und lächelnd sagte sie zu sich:

»Verschieben wir es auf morgen!« Verschieben wir es auf morgen, so, wie es der letzte Satz von Scarlett in dem Film »Vom Winde verweht« gewesen war.

»Verschieben wir es auf morgen!«

Kapitel 5

Freitag

Sandra hatte gut geschlafen, denn es war nachts angenehm kühl – auch ohne den knackenden Ventilator. Sie wollte heute nach Espargos, der Hauptstadt der kleinen Insel, fahren und wollte sich vorher in der Rezeption nach den Möglichkeiten einer Fahrt erkundigen.

Die junge Frau an der Rezeption erklärte ihr, wie man mit dem Aluguer fahren könne. Das seien kleine Busse mit acht bis zwölf Plätzen, die durch die Straßen führen und die Leute mitnähmen. Man brauche sie nur anzuhalten, um mitgenommen zu werden. Das sei auch nicht so teuer wie ein Taxi. Natürlich sei es auch möglich, mit einem Taxi zu fahren.

»Manche von ihnen haben schon die Aufschrift ‚Taxi‘, aber viele noch nicht und die Autos haben vielerlei Farben. Manchmal sagt ein Fahrer, sein Auto sei ein Taxi, um sich ein bisschen Geld zu verdienen. Aber wenn die Polizei ihn erwischt, dann ist er für einige Zeit seinen Führerschein los.«

Die freundliche Dame fügte noch hinzu: »Also ist es besser, wenn schon ‚Taxi‘ auf dem Auto steht, das ist dann am sichersten. Und von hier nach Espargos darf der Fahrer nicht mehr als 600 Escudos verlangen. Sie müssen aber immer erst nach dem Preis fragen und dann ein bisschen handeln. Viele Taxifahrer können auch etwas Englisch.«

Sandra bedankte sich für die Auskunft.

»Und wenn Sie mit einem Aluguer fahren«, ergänzte die Frau noch, »steigen Sie nicht in einen Bus ein, in dem noch niemand oder vielleicht nur zwei oder drei Personen sitzen. Diese Fahrer fahren dann solange in Santa Maria herum bis der Bus voll ist und das kann manchmal, wenn nicht viel los ist, eine halbe Stunde dauern. Gehen Sie besser gleich bis zur Bank ‚BCA‘ am Anfang von Santa Maria, da stehen die Busse und Sie sehen, welcher schon ziemlich voll ist, den nehmen Sie dann.«

»Und ich kann da einfach einsteigen, auch wenn ich allein bin, ohne Begleitung?«, fragte Sandra etwas ängstlich.

Aber die Frau beruhigte sie: »Ja, sicher, da passiert Ihnen nichts. Sie sind das erste Mal auf den Kapverden, auf unserer Insel?«

»Ja, und ich kenne mich noch nicht so gut aus und ich möchte auch wieder heil ins Hotel zurückkommen!«

Die Frau beruhigte Sandra lachend:

»Gehen Sie nur, mit unseren Alugueres passiert Ihnen nichts. Und wenn Sie aussteigen wollen, dann sagen Sie einfach ‚stopp‘ und bezahlen den Fahrer. Das kostet einhundert oder zweihundert Escudos, je nachdem wie weit Sie fahren«, fügte sie noch ergänzend hinzu.

Und ein älterer Herr mit schon grauen Haaren, der wie sie aus Deutschland gekommen war, erklärte ihr noch:

»Und wenn Sie ein Handy mit dabei haben, können Sie auch einheimische Telefonnummern anwählen, und zwar ohne Vorwahl. Das ist zwar ein bisschen teurer, aber doch nicht so teuer wie ein neuer Mobiltelefonanschluss hier, den Sie vielleicht nie mehr brauchen und der auch verfällt, wenn Sie nicht dauernd hier sind.«

»Sie haben doch ein Handy?«, fragte er noch.

Ja natürlich, das hatte Sandra und sie schrieb sich gleich die Telefonnummer des Hotels auf. Man konnte ja nicht wissen, ob man sie einmal brauchte. Sandra lief die Straßen entlang, die sie nun schon etwas kannte, wie empfohlen bis zur Bank »BCA«, die sie schon am Tag vorher gesehen hatte, und sah gegenüber am Straßenrand die kleinen Busse stehen. Als sie über die Straße ging, wurde sie gleich mit einem »Espargos – Espargos!« empfangen und stieg in das erste Auto ein, das schon gut besetzt war. Aber es wurde erst doch noch einmal eine Runde durch Santa Maria gefahren, damit auch alle Plätze belegt waren. Am Flughafen hielt der kleine Bus an, weil einige Fahrgäste ausstiegen, und Sandra stieg auch aus und bezahlte den Fahrer mit zweihundert Escudos.

Sie hatte sich entschieden, doch noch etwas mehr Geld umzutauschen, und suchte im Flughafen nach einer Bank. Sie hatte Zeit. Gleich um die nächste Ecke, in der Nähe des Ausgangs des Flughafens sah sie die Bank »BCN« und trat ein. Eine junge, hübsche Frau sprach sie mit einer leicht heißeren, kehligen Stimme auf Englisch an. Sandra tauschte erst einmal einhundert Euro um und die beiden Frauen kamen ins Gespräch, da die Kapverdierin ein ausgezeichnetes Englisch sprach.

»Ich bin im Augenblick nur hier, um die neuen Angestellten in dieser Filiale in die Arbeit einzuweisen, und arbeite sonst in Praia in dieser Bank in der Verwaltung, auf der Insel Santiago. Dort lebe ich mit meiner Familie. Wir haben zwei Mädchen. Sie sind acht und fünf Jahre alt. Mein Name ist Zenaida!«, und reichte Sandra die Hand.

»Ich heiße Sandra und komme aus Deutschland. Ich bin erst zwei Tage auf der Insel – zum ersten Mal auf den Kapverden und überhaupt zum ersten Mal in Afrika. Es ist alles noch ein bisschen fremd und neu für mich, aber das Wetter hier ist fantastisch!«, und sie setzte noch hinzu:

»Und ich hoffe auch, viel über die Inseln und ihre Bewohner zu erfahren, nicht nur die Sonne und den Strand zu genießen. Ich möchte auch wissen, wie die Einheimischen leben, wenn ich in einem fremden Land bin! Vielleicht können Sie mir ein bisschen dabei helfen?«

Sandra freute sich über die unverhoffte Gelegenheit, sich mit einer Einheimischen unterhalten zu können, und lud Zenaida spontan zu einem Kaffee in Espargos ein.

Ja, Zenaida hatte etwas Zeit.

»Mein Flieger geht erst heute Abend zurück nach Praia und jetzt in der Mittagspause können wir nach Espargos fahren. Am besten, wir gehen ins ‚Bom Dia‘!«

Das war gleich die Gelegenheit, Espargos kennenzulernen. Sie fuhren mit einem Taxi nach Espargos, das gleich neben dem Flughafen lag und stiegen vor dem Café »Bom Dia« aus. Das kleine Restaurant war um die Mittagszeit gut besetzt und sie fanden gerade noch einen kleinen Tisch im Schatten einer großen Akazie an der Mauer unter einem Sonnenschirm. Hier trafen sich die Einheimischen in der Mittagspause und auch für die Touristen war es ein beliebter Ort und Treffpunkt.

Das Café »Bom Dia« kannte einfach jeder. So war es auch jetzt. Viele Stimmen schwirrten um sie herum und sie hörte englische, italienische und auch deutsche Worte und natürlich auch das für sie unverständliche Creoulo.

Sie bestellten sich zwei Cappuccini und hatten sich viel zu erzählen. Sandra kam es auf einmal vor, als würde sie Zenaida schon lange kennen, so angenehm war es, mit ihr zu plaudern. Zenaida erzählte von sich, von José, ihrem Ehemann, und von ihren beiden Mädchen, Nádia, die Ältere mit dem langen, schwarzen Haar und von Sasha, die weiß wie eine Europäerin war und blonde Locken hatte, da die Vorfahren von Zenaida und José zum Teil Engländer und Portugiesen gewesen waren und ab und zu der europäische Teil wieder zum Vorschein kam. Zenaida erzählte von den Inseln und auch von der Armut vieler Leute und Sandra bekam einen ersten Eindruck vom Leben der Einheimischen und auch von ihren Sorgen.

Sandra betrachtete die junge Frau. Sie hatte ihre langen, dunkelbraunen, leicht lockigen Haare hochgesteckt und sah ganz wie eine »Business-Frau« aus. Ihr fein geschnittenes Gesicht war europäisch, nur der dunkle Teint und ihre vollen, schön geschwungenen Lippen verrieten den afrikanischen Teil und ihre kapverdische Herkunft. Ihre leicht heißere Stimme hatte für Sandra einen besonderen Reiz und das Lachen der Frau steckte sie an.

»Aber jetzt müssen Sie mir auch etwas von Ihnen berichten. Ich rede und rede und weiß noch gar nichts von Ihnen«, unterbrach Zenaida ihren Redefluss und fügte noch hinzu:

»Woher kommen Sie aus Deutschland? Aus dem Süden oder dem Norden? Ist es da jetzt kalt? Und liegt da noch Schnee? Ich kenne Schnee, weil meine beiden Brüder in Boston wohnen. – Ach, ich erzähle ja schon wieder von mir!«

Sie hielt lachend inne und sah Sandra fragend an. Sandra berichtete nun von sich, von Deutschland und von ihrem Beruf. Sie erzählte auch von ihrem Verlobten und dass er keine Zeit gehabt habe, um mit ihr auf die Insel Sal zu fliegen.

»Das ist aber sehr traurig!« Zenaida war überrascht. »Sie sind dann ganz allein hier. Ist das nicht ein wenig langweilig?«

»Vielleicht kommt er das nächste Mal mit«, beeilte sich Sandra wie eine kleine Entschuldigung einzufügen, »denn ich bin sicher, ich werde noch öfter auf diese Insel fliegen. Sie gefällt mir sehr gut. Vor allem sind es die Sonne und der Strand, der hier noch nicht so überfüllt ist wie auf anderen Ferieninseln.«

Sie vertieften sich so ins Gespräch, dass sie fast die Zeit vergaßen, bis ein bunt gekleideter Afrikaner über die Mauer hinweg sie ansprach und ihnen seine Waren anbot.

»Hier verkaufen die Afrikaner vom Festland, die meistens aus Senegal kommen, ihre Waren und Souvenirs und bieten sie auf der Straße an«, sagte Zenaida zu Sandra. »Wenn Sie etwas kaufen möchten, dann müssen Sie etwas handeln. Das ist hier so üblich.«

Der junge Mann hatte bunte, lange Gewänder über dem Arm, die Sandra sehr gut gefielen, und nach einigem freundlichen Handeln entschied sie sich für einen Kaftan in hellblau mit vielen kleinen, bunten, aufgedruckten Fischchen und Muscheln. Er bedankte sich mit einem:

»Vielen Dank, mein Name ist Samba. Ich habe auch noch andere Souvenirs«, gab er ihr in einem etwas gebrochenen, aber gut verständlichen Englisch zu verstehen, rollte das Kleid zusammen und übergab es Sandra.

»Möchten Sie noch andere Souvenirs sehen?«

Aber für heute war das erste »Souvenir« genug. Vielleicht ein anderes Mal, gab sie Samba zu verstehen.

Aber jetzt war es leider Zeit für Zenaida, wieder in die Bank zurückzugehen, damit sie den Flieger noch rechtzeitig erreichen konnte, und sie schlug Sandra vor, sie doch in Praia zu besuchen, sie würde sich sehr freuen. Sie gab ihr eine kleine Karte mit ihrem Namen und Bankadresse und schrieb auf die Rückseite ihre private Telefonnummer.

»Ruf mich an, wenn du nach Praia kommst, dann nehme ich mir frei und zeige dir die Insel!«

Sandra freute sich sehr über diese unverhoffte Bekanntschaft. Sie versprach, nach Praia zu fliegen, und wollte dann vorher Zenaida anrufen. Zenaida umarmte Sandra beim Abschied und gab ihr spontan auf jede Wange einen flüchtigen Kuss.

»Das macht man so bei uns auf Cabo Verde, wenn man sich mag, so – glaube ich – wie wir zwei – oder?«

Ja, Sandra mochte diese Frau und drückte Zenaida fest an sich. Sie freute sich schon jetzt auf ein Wiedersehen!

Sandra spazierte noch ein bisschen durch die Hauptstraße von Espargos und sah sich die Menschen und die kleinen Läden an. Die Türen standen überall offen und so konnte sie hineinschauen und sehen, was angeboten wurde. Sie sah in ein Geschäft hinein und bemerkte, dass es von Chinesen geführt wurde. Sie lief die kleine Seitenstraße, die etwas abschüssig war, hinab und fand auf der rechten Seite ein kleines Schreibwarengeschäft, danach folgten eine Boutique und ein »Beauty-Shop«. Die Straße schien auf das Ortsende hinauszugehen und Sandra ging weiter über die holprigen Pflastersteine.

Am Ende der Straße fand sie zur linken Seite ein nach vier Seiten offenes Gebäude mit steinernen Verkaufstheken. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass auf dem Stein Fleischstücke lagen und daneben war ein großer schwarzer Rinderkopf platziert und glotzte sie aus den toten Augen an. Die Zunge hing halb aus dem Maul und Sandra schüttelte sich ein wenig. Auf der anderen Seite lagen große Fische, ausgenommen und ohne Köpfe – Thunfische! Die Händler sprachen sie an, aber leider verstand sie kein Wort und wehrte nur lächelnd ab. Nein, hier wollte sie bestimmt nichts kaufen. Fliegen schwirrten umher und ein paar Hunde saßen vor dem Verkaufsstand und warteten auf einen Knochen, den sie vielleicht von den Händlern hinter der Theke zugeworfen bekämen.

Sandra ging zurück, bis sie wieder zur Hauptstraße kam und lief nach links bis zu einem etwas erhöhten Platz mit Bäumen und Bänken. Dahinter befand sich eine kleine, in Blau und Weiß gestrichene Kirche. Hier saßen Frauen in bunten Gewändern mit ihren Pappkartons und Körben am Straßenrand auf dem Gehsteig und hielten ihre Waren feil. Goldgelbe Bananen, noch etwas grüne Orangen, Tomaten, Gurken, Salat und noch viel Gemüse mehr und auch große Papaya hatten sie anzubieten.

Eine der Frauen, die lange, goldene Ohrringe trug, sprach auf sie ein und deutete auf ihr Gemüse in einem der Kartons. Aber Sandra wehrte lachend ab. Gemüse konnte sie nicht brauchen und auf Bananen hatte sie im Augenblick keinen Appetit. Sie dachte daran, wieder nach Santa Maria zurückzufahren.

Als am Gehsteig neben ihr ein Taxi – mit Aufschrift! – hielt und der Fahrer sie fragte, ob sie ein Taxi brauche, stieg Sandra kurz entschlossen ein, um zurück nach Santa Maria zu fahren. Der Fahrer sprach auch etwas Englisch, sodass Sandra ihm sagen konnte, wohin er fahren solle. Während der Fahrt erzählte der Fahrer ein bisschen von Santa Maria und stellte sich vor:

»Ich heiße Domingo und wohne in Espargos. Das Taxi gehört nicht mir, aber wenn Sie ein Taxi brauchen, freue ich mich, wenn Sie meine Telefonnummer anrufen. Ich bin dann gleich da!«, fügte er noch geschäftstüchtig mit einem Lächeln hinzu.

»Sind Sie schon lange hier?«, fragte er zwischen seinen Erzählungen und Sandra sagte ihm, dass sie erst angekommen sei und noch fast drei Wochen hier auf Sal bleiben werde.

Domingo erzählte auch ein bisschen von den kleinen Läden mit vielen Souvenirs, meistens aus Senegal und Gambia, da kämen viele der Händler her. Sie solle aber am Abend nicht in das afrikanische Viertel links der Hauptstraße gehen, wie er sich ausdrückte, besonders nicht allein und eben auf keinen Fall am Abend.

Da war es wieder! Nicht am Abend allein auf die Straße gehen und nicht in das afrikanische Viertel links jenseits der Hauptstraße gehen! Aber Sandra würde sowieso nicht dahin gehen. Sie hatte doch gesehen, wie diese Straßen aussahen und wie die Männer auf den Stufen der Häuser saßen oder an den Wänden lehnten und die Menschen im Bus betrachtet hatten, als sie am Aschermittwoch durch diese engen Gassen fahren mussten.

Vielleicht war es gar nicht so schlimm und die Männer hatten die Fahrgäste nur aus lauter Langeweile und einfach aus Neugier betrachtet. Aber sie würde sich vorsehen und die leisen Mahnungen der kapverdischen Einheimischen beachten.

Nein, sie würde sich auch am Tag nicht allein dorthin wagen. Und schon gar nicht bei Nacht! Was sollte sie auch dort!

Domingo setzte sie am Eingang zum Hotel ab. Sandra lief durch den schmalen Gang nach oben in das Restaurant und bestellte sich Spaghetti mit Garnelen in einer hellen Sahnesoße, die ihr vorzüglich schmeckten. Sie hatte jetzt doch richtig Hunger bekommen und von einem Cappuccino allein wird man bekanntlich nicht satt.

Danach ging sie zurück in ihre Suite, machte es sich auf der breiten Couch bequem und las ein bisschen in dem Buch, das sie sich noch schnell am Flughafen gekauft hatte. Die Kühle des Zimmers tat ihr gut. An die Hitze des Tages musste sie sich erst noch gewöhnen.

Es war schon am späten Nachmittag, als sie sich entschloss, zum Internet-Shop »Shark Zone« zu gehen, um nach ihren neuen E-Mails zu sehen. Sie lief am Strand entlang und kam an einem Restaurant vorbei, das sehr gut besetzt war.

»Hier muss es gutes Essen geben«, dachte sie und wollte sich das Restaurant »Barracuda« merken. Sie hatte es gestern am Morgen gar nicht bemerkt, so sehr war sie vom Meer und dem Strand begeistert gewesen. Viele neue Nachrichten hatte sie nicht. David hatte geschrieben! Jetzt fiel es ihr wieder ein!

»Ach, du meine Güte – ich habe ja David ganz vergessen! Sicher ist er jetzt beleidigt, weil ich nicht angerufen habe«, dachte sie und öffnete die Mail.

Aber auch hier ließ sie der Verlag nicht los. David schrieb kurz: »Liebe Sandra, ich hoffe, du bist gut angekommen und es gefällt dir auf der Insel. Warum hast du mich noch nicht angerufen? Gefällt es dir soooo gut und ist es soooo schön? Wir haben jetzt den großen Auftrag mit Meesters aus Holland abgeschlossen. Da gibt es viel Arbeit, wenn du wieder zu Hause bist. Sonst gibt es nichts Neues. Es ist noch sehr kalt.

Viele Grüße auch von Lea und Vater – Dein David.«

Kein »Alles Liebe« – »vermisse Dich« – oder »Küsse bis bald«. Das Mindeste, was sie erwartet hatte, wären ein paar persönliche Zeilen gewesen. Hatte er denn nur seine Arbeit im Kopf? Sandra war enttäuscht. Wo war die Liebe geblieben? Solch nüchterne Zeilen hatte sie wahrlich nicht erwartet.

Ihre Freundin Angelika hatte ihr auch geschrieben:

»… erhole dich gut und genieße die Sonne, lass die Seele baumeln und amüsiere dich mal richtig! Denk einmal drei Wochen lang nicht an Deutschland, denn hier ist es verdammt kalt! Wir haben hier so ein richtiges Schmuddelwetter. Wie ist es bei dir? Kannst du im Meer schwimmen? Was machst du so den ganzen Tag? Und ist es dir nicht langweilig, so ganz allein? Schreib doch mal, ob die Männer hübsch sind! Wie sehen sie aus? Gibt es dort auch eine Disco? Also, du weißt, wenn es dir zu langweilig wird, dann ruf mich an, ich könnte jetzt auch eine Woche Urlaub gut brauchen. Dann könnten wir zwei viel unternehmen und uns amüsieren! Hast du ein schönes Zimmer? Kann ich da auch mit wohnen, wenn ich komme? Ich freue mich, wieder von dir zu hören! Liebe Grüße Deine Angie!«

Die ewig »männersuchende« Angie! Mit ihren vierundzwanzig Jahren hatte sie immer noch Disco und hübsche Männer in ihrem Kopf. Und sie war immer auf der Suche nach einem Abenteuer oder auch nach einem Mann.

Sandra musste zugeben, dass sie das im Augenblick nicht besonders interessierte. Wozu auch? Sie brauchte Erholung und kein Abenteuer.

Außerdem hatte sie ja schon einen Mann für die Zukunft – und das war David.

David! – Füllte er ihre Sehnsucht nach Liebe aus?

Wo war sie denn schon wieder mit ihren Gedanken? Sie würde in nächster Zeit über alles sehr gründlich nachdenken müssen und hatte jetzt dazu die beste Gelegenheit.

Aber sie schrieb aus Spaß an Angie zurück:

»Hier auf der Insel gibt es alles – von schwarz bis weiß, Touristen aus vielen Ländern, Einheimische und Afrikaner, die vom Festland herüberkommen, Hübsche und Hässliche, Dicke und Dünne, schlanke, junge und vor allem schöne Frauen und sehr attraktive Männer. Sicher ist auch etwas für dich dabei! Das Meer und die Sonne sind wunderbar! Hier in Santa Maria haben wir einen herrlichen Sandstrand, wo ich die Sonne und die Ruhe genießen kann. Meine Suite liegt neben dem Hotel in einem separaten Gästehaus und ich habe einen herrlichen Blick auf das Meer.

Nächste Woche werde ich dir mehr berichten. Komm doch für eine Woche nach Sal! Es ist einfach wunderschön hier und du kannst dich auch einmal ausruhen. Du kannst auch bei mir wohnen. Ich habe ein breites Doppelbett. Da haben wir zwei viel Platz. David wollte ja leider nicht mitkommen, er hat ‚immer zu viel Arbeit‘, wie er sich meistens ausdrückt, dann komm doch wenigstens du für ein paar Tage, dann bin ich nicht so allein! Ich würde mich freuen!

Liebe Grüße – Deine Sandra.«

Und an David schrieb sie kurz, so kurz, wie auch seine E-Mail gewesen war: »Lieber David, ich bin gut angekommen und mir geht es gut. Ich erhole mich wunderbar. Ich rufe dich heute Abend an.

Liebe Grüße an alle – Sandra.«

»Ob Angie wohl kommen wird? Sie wollte doch schon immer einmal mit mir auf die Reise gehen, um Urlaub zu machen. Na, ich bin gespannt, was sie mir schreibt. Vielleicht kommt sie?«

Mit diesen Gedanken schlenderte Sandra langsam zurück zum Hotel. Sie entschloss sich, im »Mateus« noch einen Cappuccino zu trinken und setzte sich außen an einen kleinen, freien Tisch in die warme Abendsonne, um die vorübergehenden Menschen und die auf dem großen Platz daneben besser beobachten zu können. David konnte warten!

Aber sie nahm sich dennoch vor, ihn am Abend anzurufen, und zwar diesmal bestimmt und auch nicht wieder, wenn es schon zu spät für Deutschland war.

An einem kleinen Tisch, direkt an der Hauptstraße saß Manuel mit seinen Freunden. Sie tranken Cola und unterhielten sich. Er hatte heute wieder keine Arbeit bekommen. Aber für morgen hatte Aristides ihm Arbeit versprochen. Er konnte dann wieder Touristen mit dem Aluguer seines Freundes fahren und ihnen die wenigen Sehenswürdigkeiten der Insel zeigen.

Als Sandra sich setzte, betrachteten sie die blonde, junge Frau und Manuel drehte sich kurz zu ihr um. Er sah sie nur einen Augenblick an. Das war doch diese blonde Frau, die ihm gestern in die Arme gefallen war! Das musste er gleich seinen Freunden erzählen.

»He, diese blonde Frau, die sich gerade hingesetzt hat, ist mir gestern buchstäblich in die Arme gefallen, weil sie auf dem Gehsteig gestolpert ist. Mann – sie hätte sich fast vor mich hingekniet!« Er lachte und drehte sich noch einmal kurz um. Ja, sie war es!

»Schaut doch nicht gleich so deutlich zu ihr hinüber! Das fällt doch auf, wenn ihr sie so anstarrt! Ja, wie ich es gerade gesagt habe, es ist diese Lady, die ich gestern gerade noch aufgefangen habe, sonst wäre sie vor mir auf die Knie gefallen«, wiederholte Manuel noch einmal und seine beiden Freunde lachten hellauf.

»Sie ist hübsch«, stellte Armando, der eine mit dem Kraushaar, fest. »Französin oder Engländerin vielleicht?«

»Oder eine aus Deutschland?«, ergänzte der andere.

»Weiß ich nicht«, entgegnete ihm Manuel, »sie hat nur gesagt, dass ihr nichts passiert sei, und hat sich bedankt.«

»Mehr nicht? – Und du hast sonst nichts gesagt?«

»Nein, wozu auch!«

»Du hättest sie doch fragen können, woher sie kommt.«

»Warum?«

»Na, so hübsch wie sie ist …«

»Konnte ich nicht, sie lief ja gleich weg – in einen Souvenirladen hinein.«

»So hübsch!«, staunte Armando noch einmal.

»Und du hast nicht gewartet, bis sie wieder raus kam? Das war wieder einmal typisch für dich. So eine Gelegenheit lässt man sich doch nicht entgehen. Aber der Manuel …«

»Nein! Wozu auch! Was soll denn diese Fragerei?«

Manuel war ein bisschen verärgert. Im Nachhinein, jetzt, als er die blonde Frau heimlich betrachtete, dachte er sich das auch. Hätte er sie ansprechen sollen? Aber er drehte sich schnell wieder um, als er bemerkte, dass Sandra zu ihnen herüber sah.

»Sie kann auch Amerikanerin oder eine Deutsche sein, die sind doch so reich und haben hier oft auch Häuser, wo sie den Winter verbringen, wenn es in Amerika oder in Deutschland kalt ist«, setzte Armando noch hinzu und betrachtete die »blonde Lady« noch einmal eingehend, da er sie direkt in seinem Blickfeld hatte.

»Die wäre so richtig was für mich«, meinte Paulo, der sie auch genau betrachten konnte. »Sie scheint allein zu sein. Was meint ihr? Soll ich mal rüber zu ihr gehen?«

»Was für dich? Dass ich nicht lache!«, entgegnete ihm Armando. »Du mit deinem Bierbauch und deinen krummen Beinen, du bist nicht gerade der Schönste, dass du bei so einer schönen Frau landen könntest. Du schaffst es ja nicht einmal, hier auf der Insel eine Freundin zu finden!«

»Solche Frauen suchen sich hier oft einen schwarzen Boy aus Senegal oder sonst wo aus Afrika. Ich habe schon welche am Strand gesehen«, meinte Paulo und grinste.

»Ja, einen schwarzen, schlanken Boy – aber nicht dich!«

»Jetzt macht aber mal Schluss mit dem Geschwätz!«

Manuel stand auf und wollte gehen.

»Bleib doch da!«, beschwichtigte ihn Paulo. »Wenn du meinst, du kannst es besser, dann versuche es doch einmal bei ihr. Vielleicht bekommst du eine gehörige Abfuhr oder gar eine Ohrfeige! Du hast doch Talent zum Flirten, das kennen wir doch! Geh doch mal rüber zu ihr und spreche sie an! – Los!«

»Hör mal«, entgegnete jetzt Manuel, »ich bin nur freundlich und höflich zu den Touristen und ich kann Englisch, das ist ein großer Vorteil für mich, das wisst ihr doch ganz genau!«

»Ja, und immer ganz besonders höflich zu den Frauen – ‚auf Englisch‘ – pass nur auf, dass Elena das nicht erfährt! Ich wette, du schaffst es nicht, du weißt ja nicht, wo sie wohnt, du musst ihr höchstens hinterherlaufen. Ich wette mit dir zweitausend Escudos, dass du es nicht schaffst!«

Paulo grinste Manuel an.

»Von mir bekommst du auch zweitausend, aber da musst du schon als Beweis eine schöne, blonde Locke bei ihr abschneiden, sonst gilt die Wette nicht!«, setzte nun auch Armando gewichtig hinzu. Das war eine Wette unter Freunden!

»Ach, lasst mich doch in Ruhe!« Manuel war jetzt richtig verärgert.

»Also, wir wetten zusammen fünftausend! Los – schlag ein!«

Das war das letzte Wort von Paulo und Manuel schlug kurzerhand ein. Fünftausend Escudos konnte er gut brauchen und er kannte die schöne Frau ja fast schon. Vielleicht würde sie ihn auch wiedererkennen und er könnte ihr die wenigen Sehenswürdigkeiten von Sal zeigen und dann ‒ na ja, es würde sich zeigen! Ja, er könnte ihr ganz einfach erklären, dass er das Geld für seine Kinder brauche, was ja stimmte. Vielleicht – wenn er sie wieder sähe – könnte er ihr diese blödsinnige Wette erklären. Vielleicht würde sie den Spaß auch mitmachen – den mit der Locke abschneiden – dann bekäme er die Fünftausend, dachte sich Manuel.

Und ihm kamen dabei auch wieder sehr seine Kinder in den Sinn, die immer etwas zum Anziehen oder auch nur ein paar einfache Sandalen vom Chinesen brauchten.

Aber sie könnte auch mit einem Freund oder gar einem Ehemann hier sein, dann bekäme er nichts. Aber es war ja eine einseitige Wette gewesen und Manuel hatte dabei nichts zu verlieren.

Sie waren so in ihr Gespräch und über die Wette vertieft und hatten ihre Köpfe zusammengesteckt, sodass sie gar nicht bemerkten, dass die schöne, blonde Lady aufgestanden und gegangen war.

»Jetzt ist sie weg! Verflucht! Wo ist sie nur hingegangen?«

Die Drei schauten ganz verdutzt drein und Manuel grinste: »Wenn das Schicksal es will, dann werde ich sie wieder treffen, wir werden sehen!« Damit verließ Manuel die beiden nun endgültig.

»So eine blöde Wette!«, dachte er. »Sie ist bestimmt nicht allein hier. Wie kann ich mich nur auf so etwas einlassen! Na ja, ich kann wenigstens nichts dabei verlieren!«

Aber er dachte doch immer wieder an die blonde Frau und hatte ihr Gesicht noch ganz deutlich vor sich, als er sich am späten Nachmittag auf den Weg nach Hause machte. Und es war noch ein langer Weg bis nach Peda de Lume.

Gleich nach dem Abendessen ging Sandra zurück in ihr Zimmer und rief David an: »Hallo David – ich bin es, Sandra!«

»Hallo Sandra! – Ich habe gedacht, du rufst mich früher an!« Ein leichter Vorwurf war in Davids Stimme zu hören. »Ich habe dir schon eine E-Mail geschrieben.«

»Ich habe sie heute gelesen«, erwiderte Sandra und sie bemerkte auch sehr wohl die Art seiner Stimme. »Ich habe dir auch schon zurückgeschrieben. Es tut mir leid! Ich habe leider keinen Internetanschluss in meinem Zimmer und im Hotel. Ich muss erst in ein Internetcafé gehen, um nach meinen Mails sehen zu können. Wann fängst du mit dem neuen Auftrag von Meesters an?«

»Ach, schon wieder nur das Geschäftliche, gibt es denn nichts anderes mehr zwischen uns beiden?«, dachte sich Sandra und wollte schon weiter erzählen.

Aber David fuhr gleich fort: »Ich denke, dass wir in ungefähr drei Wochen soweit sind, dann bist du ja wieder zurück und kannst dich dann wieder so richtig in die Arbeit stürzen.«

Sandra überlegte kurz und dann hatte sie einen Vorschlag: »Vielleicht könntest du doch noch für eine Woche nach Sal kommen. Es ist sehr schön hier und ich habe eine Suite bekommen mit viel Platz, das Hotel liegt direkt am Meer und man kann jeden Tag schwimmen gehen. Du kannst auch surfen oder tauchen, das machst du doch so gerne, es gibt so viele Möglichkeiten hier. Komm doch, bitte, du brauchst doch auch einmal ein bisschen Erholung und Abstand vom Verlag!«

David zögerte etwas, aber dann meinte er etwas gedehnt: »Nein, das geht leider nicht. Ich habe noch so viel vorher zu erledigen – nein, meine Liebe, das geht leider nicht! Aber erhole dich gut und pass auf dich auf – ja?«

Sandra war enttäuscht: »Schade, aber wenn es nicht geht – dann machʼs gut, ich rufe dich wieder an – oder du kannst auch anrufen! Ich habe auch schon an Angelika geschrieben, vielleicht hat sie eine Woche Zeit. Tschüss David – bis bald!«

Sie legte ihr Handy enttäuscht zurück auf den Tisch. Sie öffnete ihren Laptop und speicherte die Bilder vom leider geschlossenen, alten Steg und dem Haus davor, vom Strand und dem Meer mit seinen vielen kleinen Schiffen und Fischerbooten in einen neuen Ordner »Kapverden«.

Eigentlich hatte sie ihn mitgenommen, um in den Abendstunden vielleicht etwas zu arbeiten und um die kleine Geschichte zu Ende zu schreiben, die sie noch am Montag angefangen hatte. Aber jetzt nahm sie sich vor, das nicht zu tun. Zu Hause im Verlag hatte sie Zeit genug dafür. Sie hatte jetzt Urlaub! Ein bisschen Trotz kam in ihr hoch und sie fühlte sich auf einmal wie ein kleines Kind, dem man einen Wunsch nicht erfüllt hatte, und sie hätte am liebsten auf dem Boden aufgestampft und irgendeinen schlimmen Ausruf getan – aber was sollte es! Er konnte nicht kommen – er wollte nicht – und sie würde den Urlaub allein verbringen, wie so oft auch die wenigen Tage, die sie in ihrer kleinen Stadt verbracht hatte.

Zum Wegfahren war es immer zu kurz gewesen. Und Erholung? Na ja! Vielleicht würde sie später einen kleinen Bericht über die Insel Sal schreiben, aber auch das hatte noch Zeit. Vielleicht aber auch würde sie überhaupt nichts tun, auch dann nicht, wenn es ihr hier zu langweilig werden würde. Denn Sandra hatte gesehen, dass in ihrem Hotel mehr ältere Ehepaare als junge Leute wohnten.

»Also«, sagte sie zu sich, »ich mache jetzt, was ich will – und damit basta!«

Kapitel 6

Samstag

Sandra trat hinaus unter die schattigen Arkaden vor ihrer Suite und ging langsam die Steinstufen hinunter. In der Mittagszeit brannte die Sonne am wolkenlosen Himmel heiß hernieder, weshalb sie eine dünne, weiße Batistbluse mit langen Ärmeln angezogen hatte. Dazu trug sie eine orangefarbene Hose im Matrosenstil. Gegen die Sonne hatte sie sich ein weißes Kopftuch umgebunden.

Ihr Strohhut war ihr ja am Donnerstag nach dem Karneval schon einmal vom Kopf geflogen und sie war lachend am Strand hinterher gelaufen, um ihn wieder einzufangen. Den wollte sie bei diesem Wind nicht mehr aufsetzen. Sandra wanderte gemächlich am Strand entlang.

Sie hatte doch gestern ganz in der Nähe, direkt am Strand dieses Restaurant entdeckt, das schon am Spätnachmittag gut besetzt gewesen war, und sie dachte, das müsste gutes Essen haben, wenn – so wie sie gesehen hatte – so viele Europäer dort gesessen hatten.

Am Strand gab es vereinzelt etwas Grünflächen, natürlich kein Gras, es waren kleine, niedrige Strandpflanzen, die vom Tau des Meeres lebten, der sich des Nachts auf sie herabsenkte und sie sanft benetzte, und die sich fest im Sand verankert hatten. Ihre kleinen Blättchen waren weich und saftig, von einem hellen Grün und mit dunkelroten Rändern umsäumt. Sandra hatte das Gefühl, als liefe sie über einen dicken, weichen Teppich, als sie darüber ging, und sie wollte schon ihre Sandalen ausziehen, um dieses samtweiche Grün unter ihren nackten Füßen zu genießen, aber ein paar bunte Glasscherben, die in der Sonne blitzten, hielten sie nun doch davor ab.

Hier lagen Urlauber locker verstreut auf ihren Badetüchern und sonnten sich nach einem Sprung ins kühle Meer in der grellen Mittagssonne, bestimmt nicht gut für die Haut der Europäer.

»Aber man will ja schließlich braun gebrannt aus dem Urlaub wieder nach Deutschland kommen«, dachte sie und lächelte. Bei Ihrer hellen Haut und den blonden Haaren musste sie da schon etwas vorsichtiger sein. Lieber nicht so braun sein, dafür aber eine gesunde Haut behalten, das war ihre Devise.

Lachende Kinder, nur mit Badehosen bekleidet, spielten mit einem kleinen, braunweiß gefleckten Hund und versuchten immer wieder, ihn ins seichte Wasser zu locken. Aber die Wellen schreckten ihn ab und so bellte er nur den Kindern hinterher, die ins Wasser liefen, bis die an den Strand rollenden Wellen sie fast umwarfen und sie wieder in den nassen Sand zurück spülten.

Sie erreichte das Restaurant und stieg die rotbraun gefliesten Stufen hinauf. Das »Barracuda« war auch heute zur Mittagszeit ziemlich gut besetzt, aber sie bekam noch einen Platz an einem kleinen Tisch in einer Ecke der überdachten Terrasse und hatte einen herrlichen Blick auf das tiefblaue Meer und auf das bunte Treiben, das hier am Strand herrschte. Die Tische und Stühle waren einfach, aus dunklem, festem Plastik und sie waren sauber.

Auf den Tischen lagen Platzdeckchen aus schmalen Bambusstäben, die mit bunten Fäden verwebt waren. Eine Menage mit Essig, Öl, Salz und Pfeffer stand auf dem Tisch. Ein kleiner Blumenstrauß, zwar nur aus bunten Plastikblumen gesteckt, rundete den guten Gesamteindruck ab.

Die freundliche Bedienung brachte ihr die Speisenkarte und fragte, was sie zu trinken wünsche.

»Sumo de Manga, por favor – Mangosaft, bitte!”

»Mango Juice!”, bestätigte die freundliche Frau in Englisch.

Ein paar Worte, nur das Wichtigste wie »Guten Tag«, »bitte und danke« hatte Sandra schon gelernt, als sie im Flugzeug in den endlos scheinenden sechs Stunden ein kleines Büchlein studiert hatte, das die nötigsten Redewendungen beinhaltete. Es war sozusagen ein »Schnell-Reiseführer« für Touristen.

»E um água pequeno – und ein kleines Wasser«, fügte sie schnell noch hinzu.

»Mineral water with gas?«, fragte die Bedienung zusätzlich.

»No, without gas – thank you!”

Schön, die Bedienung konnte etwas Englisch und Sandra war froh, dass sie sich nicht mit dem schwierigen Portugiesisch abmühen musste. Sie las die in Portugiesisch und Englisch geschriebene, kleine Speisenkarte und fand »Gegrillten Tintenfisch«. Den wollte sie probieren. Als sie ihre Bestellung aufgegeben und vom Saft getrunken hatte, fand sie noch genügend Zeit, auf das unendlich blaue Meer zu blicken. Kleine Fischerboote und ein paar weiße Jachten schaukelten sanft auf den Wellen, die zum Strand hin mit weißen Schaumkronen ausliefen. Hinter dem großen Landungssteg, der mit dem Bauzaun verschlossen war, dümpelte das große Segelschiff mit den drei Masten, das sie schon gestern gesehen hatte, vor Anker im tieferen Wasser. Vor ihr auf dem weißen Sandstrand lagen kieloben vereinzelt bunte Fischerboote. Sie entzifferte den Namen des am nächsten liegenden, in Blau und Weiß gestrichenen Bootes und las »NHA TERRA«. Die Sprache war ihr fremd, aber vielleicht konnte sie am Abend in ihrem Hotel jemanden fragen, der sicher das Creoulo der Einheimischen verstand.

Ein verliebtes Pärchen im Schatten des Bootes neckte sich und die beiden lachten einander an. Ihre braunen Körper hoben sich trotz des Schattens vom weißen Sand des Strandes gut ab.

Im tiefen Sand spielten junge Männer mit wohlgeformten Körpern in bunten Bermudahosen und barfuß mit einem Ball. Ein junger Mann hatte seine Knie unter einen Balken geklemmt, der im Sand verankert war, und trainierte seinen Körper, indem er auf und nieder wippte und die Hände hinter dem schwarzen Lockenkopf verschränkt hielt.

Sein muskulöser, schwarzer Körper glänzte in der Mittagssonne vom Schweiß der Anstrengung.

Sandra sog die vielfältigen Eindrücke förmlich in sich hinein und genoss die Kühle des Schattens und die leichte Brise auf der nach drei Seiten hin offenen Terrasse.

Das Serviermädchen brachte das Essen. Sandra hatte mit »Batatas« – Kartoffeln ‒ bestellt, die sich als Pommes frites entpuppten. Auf einem Salatblatt lagen je eine Scheibe Tomate und Gurke als Garnitur. Es schmeckte ihr ganz vorzüglich. Der Tintenfisch war zart und angenehm gewürzt.

Das Mädchen, das abservierte, fragte, ob sie gerne noch ein »sobre mesa« – einen Nachtisch haben möchte und Sandra entschloss sich für »banana flambé«, eine in Butter, Zucker und Zimt gebratene Banane mit einem ordentlichen Schuss Rum flambiert.

Ein schwarzer Händler tauchte neben ihr außerhalb der Terrasse auf und bot mit einem »Hello, Lady!« seine Waren feil. Einfache Sandalen und bunte Tücher. Er fing an, die Tücher über seine Schulter und seinem Arm auszubreiten, und lachte Sandra an. Nein, danke, sie wollte jetzt nichts kaufen und wehrte freundlich ab. Dazu hatte es auch noch Zeit.

Sie blickte wieder hinüber zum Boot, wo die beiden Verliebten immer noch im Schatten lagen und sich neckten, sich lachend ansahen und sich zärtlich streichelten und scheu küssten.

Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie genau in diesem Augenblick das vermisste, was sie vor sich sah – diese Zärtlichkeit und diese liebevollen Berührungen, kleine Küsse und verlangendes »An-sich-ziehen«, wie es nur Verliebte tun können! Wann hatte David sie zum letzten Mal so zärtlich umarmt und geküsst? Es fiel ihr nicht ein. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass all diese Liebkosungen schon so lange her waren, sodass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte? Ihre Beziehung war im letzten Jahr scheinbar schon etwas abgeflacht und mehr schon zur Gewohnheit geworden.

Man liebte sich, das war doch klar – oder?

Man sagte es auch ab und zu und man wollte ja auch im nächsten Jahr heiraten.

Man wollte – man sollte – man könnte!

Wenn sie mit David zusammen war, manchmal in ihrem kleinen Apartment, aber meistens doch in seiner großen Villa, die er sich mit seinem Vater und seiner Tochter Lea teilte, sprachen sie meistens über das Geschäft und über finanzielle Dinge. Sie gingen am Abend aus zum Essen und sie schliefen meistens danach miteinander – ab und zu – und wie ihr jetzt auffiel – in letzter Zeit immer seltener, immer in dieser Reihenfolge, und sie musste lächeln. David empfand diese Art zu lieben als »sehr schön und zufriedenstellend« und fragte sie selten, ob sie etwas und was sie dabei empfände. Auch das war schon zur Gewohnheit geworden!

»Wie ein altes Ehepaar!«, dachte sie und fragte sich unwillkürlich, ob sie noch auf dem richtigen Weg sei, mit David eine Ehe einzugehen. Wollte sie das wirklich? Und wie würde es dann sein, wenn sie einmal »ein altes Ehepaar« sein würden? Wäre dann die körperliche Liebe gestorben? Oder würde es dann immer noch aufregend sein, sich zu berühren und zu küssen? Sie kannte keine »alten, sich noch liebenden und sich zärtlich berührenden Ehepaare« und wenn diese dann so wären, dann könnte sie das bestimmt nicht sehen und deshalb nicht beurteilen! Allein zu sagen, dass man sich liebt, das würde Sandra nicht genügen, auch nicht im Alter. Aber was ist schon alt? Fünfzig – sechzig – oder gar siebzig oder älter? Wie würde es dann sein? Würde sie es überhaupt mit David so lange aushalten, wenn es nur noch ein »Nebeneinander-her-Leben« gäbe? Ohne Zärtlichkeit – ohne Berührungen? Sie verstand sich gut mit seiner zehnjährigen Tochter Lea und auch ihr Chef, Alexander Klarfeld, ihr wohl zukünftiger Schwiegervater, mochte sie sehr mit ihrer ungezwungenen Art mit Menschen umzugehen. Er schätzte ihre Arbeit im Verlag und ihre Zuverlässigkeit sehr und brachte dies auch oft zum Ausdruck.

»Wenn wir Sie nicht hätten!«, sagte er oft, er konnte sich einfach nicht an das »Du« gewöhnen, obwohl sie es doch schon öfter und immer wieder aufs Neue vereinbart hatten. Er war ein Herr der »alten Schule«, wie man es so gerne nannte, und er war immer höflich und rücksichtsvoll. David war da manchmal ganz anders! Manchmal fast wie ein grober Klotz! Ja, ihr Chef sähe sie sehr gerne als seine Schwiegertochter. Nun saß sie hier allein, weil David nicht einmal eine Woche Zeit hatte, um endlich einmal etwas Abstand vom Verlag zu nehmen und vielleicht auch, um ihre Liebe etwas aufzufrischen. Auch das verlockende Angebot, auf den Kapverden surfen zu können oder zu tauchen – wie es die bunten Kataloge versprochen hatten – hatte ihn nicht reizen können. Allein schon Sandras Idee, in den Urlaub zu fliegen, einmal auszuspannen und einmal nicht an das Geschäft und den Verlag zu denken – das schien ihm fast absurd und es hatte fast einen kleinen Kampf gegeben, bis Sandra sich hatte durchsetzen können und dann eben allein geflogen war. Ein solches Unverständnis für die Firma hatte er ihr fast eine ganze Woche nachgetragen wie eine beleidigte Diva. Sandra hatte ihn einfach schmollen lassen und damit Zeit gehabt, sich alle Urlaubsziele anzusehen und sich etwas auszusuchen.

Liebte sie ihn noch?

Sie verwarf sofort den Gedanken und wollte es im Augenblick auch gar nicht wissen. Oder liebte David sie noch? Nur mit Rosen oder Orchideen konnte man Liebe allein doch nicht ausdrücken. Da halfen auch keine schönen Schmuckstücke, die er ab und zu von seinen Kurzreisen mit nach Hause brachte und wieder einmal über langweilige Sitzungen und schwierige Verhandlungen berichtete. Sie hatte manchmal das Gefühl, dass sie in David nicht mehr hineinblicken konnte. Ihre kleinen Zärtlichkeiten prallten sehr oft einfach an ihm ab, so wie »jetzt nicht« – »später« – »bitte, nicht hier im Betrieb« – und so weiter. Dabei wusste doch jeder im Verlag, dass sie zusammen gehörten und heiraten wollten.

Sie hatte ihn ja schon einmal einen »Gefühlsmuffel« genannt, aber sie hatte nur ein kleines, flüchtiges Lächeln dafür von ihm bekommen – mehr nicht!

Warum nur waren ihre Gefühle nicht mehr so tief, wie sie es von Anfang an erhofft hatte? War alles schon so abgeflacht? Sie kannten sich doch erst zwei Jahre! Hatte er vielleicht eine andere Frau kennengelernt? David? – Nein, das glaubte Sandra auf keinen Fall. David ging doch viel zu sehr in seinem Verlag auf und hatte dazu bestimmt keine Zeit. Wann sollte er denn …? Auch war er nicht der Mann, den man sich als Macho oder Frauenverführer vorstellen konnte. Er hatte keine große, erotische Ausstrahlung, wie sie Oliver gehabt hatte!

Ja, Oliver, ihre erste Jugendliebe! Aber wäre sie mit ihm glücklich geworden? Mit Oliver – mit seiner großen, unberechtigten Eifersucht, die er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zeigen musste? Also – weg auch mit solchen Gedanken! Aber Sandra hatte jetzt noch viel Zeit, um über ihre Beziehung nachzudenken. Sie wollte hier auf den Kapverden einen erholsamen Urlaub mit Sonne, Strand und Meer verbringen, ohne viel an zu Hause zu denken.

Plötzlich sah sie in Gedanken wieder das Gesicht des Mannes vor sich, der sie auf der Hauptstraße gerade noch aufgefangen hatte, als sie auf dem Gehsteig zu stürzen drohte. Ob sie ihn noch einmal wieder sah? Sandra versuchte, sich an ihn zu erinnern, aber es war nicht leicht. Sie konnte sich nur schwach an sein Gesicht erinnern, aber etwas in seinen Augen hatte sie unsicher gemacht. Aber sie konnte sich noch an seine starken Arme erinnern und konnte sie fast noch fühlen. Und an noch etwas konnte sie sich erinnern ‒ an den feinen Duft seines Parfums oder Rasierwassers.

Das würde sie sofort wieder erkennen. Es war ein warmer, weicher Duft gewesen, den sie gerne etwas länger eingeatmet hätte.

Sie wischte sich kurz über die Stirn, verwarf gleich auch diese Gedanken und schalt sich selbst eine dumme Gans, überhaupt an so etwas zu denken! Sie war zum Erholen und Ausspannen hierhergekommen und nicht, um ein Liebesabenteuer zu erleben.

Sandra wurde durch das Serviermädchen aus ihren Gedanken aufgeschreckt, das sie höflich fragte, ob sie noch etwas zu trinken wünsche. Sandra bedankte sich, bezahlte und legte ein Trinkgeld auf den kleinen Teller, auf dem die Rechnung gelegen hatte. Dann ging sie wieder in Richtung Strand.

Die Sonne brannte jetzt für sie fast unerträglich heiß in der Mittagszeit hernieder, weshalb sie sich entschloss, in ihr Zimmer zu gehen, um sich etwas auszuruhen. Sie zog sich im Schlafzimmer aus, legte sich auf das breite Bett, fühlte die angenehme Kühle der weißen Bettlaken und verfiel bald in einen leichten Schlaf.

»Sie müssen einmal etwas unternehmen! Waren Sie denn überhaupt schon einmal in Santa Maria, in einem Café oder Restaurant oder vielleicht schon beim Tanzen?«

Es war die Frau des deutschen Ehepaares, das jetzt, am Nachmittag zu den Liegestühlen gekommen war, die Sandra ansprach. Jetzt war die Temperatur schon etwas angenehmer und unter den Sonnenschirmen war die Luft schön kühl. Eine leichte Brise wehte vom Meer herüber und brachte den salzigen Duft des Ozeans mit sich.

Sandra lag am Pool auf einer gelben Liege unter einem hellen Sonnenschirm und versuchte, in diesem Buch zu lesen, das sie noch schnell am Flughafen in Düsseldorf gekauft hatte.

»Wollen Sie mit uns heute Abend ins ‚Pirata‘ gehen? Das ist die Disco an Anfang von Santa Maria. Sie haben sie bestimmt schon von außen gesehen – oder waren Sie auch schon drinnen?«

Die Frau redete fortwährend auf sie ein, bis ihr Mann sie leicht an ihrem Kleid zupfte: »Sei nicht so neugierig, meine Liebe, du lässt die junge Dame ja gar nicht zu Wort kommen!«

»Oh, Entschuldigung! Aber ich habe gedacht, Sie sind vielleicht allein hier und wir kennen uns auf Sal sehr gut aus. Denn wir waren ja schon sehr oft auf Sal.«

»Ja«, entgegnete Sandra, »ich bin allein hier, um einmal richtig auszuspannen, und ich komme gerne mit, denn nachts allein durch die Straßen gehen – das möchte ich wirklich nicht!«

Sie dachte dabei auch an die eindringlichen Worte Mamadus, dankte ihr und versprach, einmal heute Abend mit ihnen zusammen ins »Pirata« zu gehen.

»Aber vor dreiundzwanzig Uhr kann man da nicht hingehen, da ist noch nichts los! Wir warten dann am einfachsten auf Sie an der Rezeption um elf!«, ergänzte ihr Ehemann, der noch einmal aus seinem Liegestuhl aufgestanden war. Ja, warum nicht, ein bisschen Abwechslung konnte ja nicht schaden. Sandra war auf den Abend gespannt und freute sich schon. Musste sie doch nicht allein gehen, denn sie hörte immer noch Mamadus Worte: »… und nicht in der Nacht!«

So hatte sie eine sichere Begleitung.

»Ach ja, damit es einfacher ist – ich heiße Heinrich – und das ist meine Frau Adele!«, stellte er sich noch vor.

»Ich heiße Sandra und ich freue mich, heute Abend mit Ihnen in die Disco zu gehen!«

»Was heißt hier: mitgehen! Wir laden Sie für heute Abend ein. Sie sind heute Abend unser Gast, weil wir Sie so nett finden und Sie so allein sind!«

Gott sei Dank hatten sie Sandra nicht nach Ehemann oder Familie gefragt, aber das würde wahrscheinlich noch kommen. Was sollte sie dann den beiden netten Leutchen erzählen?

»Ja, ich bin verlobt, aber mein Verlobter hat leider keine Zeit!« So etwa? Oder: »Nein, ich bin ganz allein hier und habe keinen Freund!« Auch Unsinn.

Also abwarten, wonach sie fragen würden.

Die Hauptstraße von Santa Maria war an diesem Abend sehr belebt. Viele Touristen schauten sich die kleinen Souvenirläden an, die auch noch in der Nacht geöffnet hatten, oder sie saßen vor den kleinen Restaurants unter großen Sonnenschirmen, die auch in der Nacht aufgespannt blieben, beim Essen und Trinken und unterhielten sich. Souvenirhändler mit bunten Sonnenbrillen und großen Armbanduhren, die sie auf eine große Styroporplatte gesteckt hatten, boten überall ihre Waren feil. Spärlich bekleidete und geschminkte, mit viel Schmuck behängte, junge Frauen standen an den Straßenecken und warteten vermutlich auf »Kundschaft«.

Ja, auch hier war das älteste Gewerbe der Welt vorhanden und manch ein einsamer Tourist nahm die Gelegenheit zur käuflichen Liebe wahr. Man war ja schließlich weit weg von zu Hause. Hier kannte man sich nicht. Man sah sich höchstens ein oder zwei Wochen lang, weil man im selben Hotel wohnte und sich ab und zu an den Frühstückstischen oder beim Abendessen begegnete. Es war wie überall in den Ländern, die viel für Touristen zu bieten hatten, eben nicht nur Sehenswürdigkeiten, ob das nun Mallorca, Dominikanische Republik oder einfach nur die Kapverden waren – es schien überall gleich zu sein.

Heinrich und Adele nahmen Sandra in ihre Mitte, als wollten sie sie beschützen. Sandra musste lächeln. Sie kam sich vor wie die kleine Tochter, auf die man aufpassen musste. Aber sie ließ es sich gerne gefallen.

Und schon bald waren sie vor der hell beleuchteten Disco angekommen. Sandra hatte die Disco ja schon am Tag, als sie mit dem Bus vorbeigefahren war, gesehen. Die Eingangstüren erinnerten sie an das Gefängnis aus »Der Graf von Monte Christo« mit seinen verrosteten Eisengittern und darüber schien der erste Stock wie eine Burg mit vier Kanonenlöchern zu sein, aus denen die Kanonen hervorschauten. Über dem Eingang hing ein altes, schon halb zerfallenes Segelschiff mit einem zerfetzten Segel. Rechts und links des Schiffes waren zwei Flaggen, mit schaurigen Totenköpfen und einem riesigen Schwert bemalt, angebracht. Das Ganze machte bei Nacht durch die grellen Spotlichter, die aus den Palmen strahlten und durch die schwache, restliche, bunte Beleuchtung einen schrecklichen Eindruck, was wohl der Sinn der ganzen Aufmachung sein sollte. Nur die Palmen mit ihren großen Fächern und die gelb gestreiften Sisalpflanzen vor der Disco ließen jetzt in der Nacht das Gebäude etwas freundlicher erscheinen.

Sie liefen die braunen Holzplanken hinauf, die rechts und links mit starken Schiffstauen abgesichert waren, zum Eingang, wo zwei große, muskulöse Türsteher sie begrüßten und Heinrich erhielt die Eintrittskarten.

Eine davon gab er Sandra mit der Bemerkung:

»Normalerweise bekommen Sie für jeden Drink, den Sie sich hier bestellen, einen Stempel auf das Kärtchen und dann müssen Sie hier,« er deutete auf den Mann gleich hinter dem Eingang, der hinter einem kleinen Tisch saß, »hier also müssen Sie dann bezahlen, bevor Sie gehen, sonst lässt man Sie nicht hinaus! Aber, wie schon gesagt, wir bezahlen heute Abend für Sie und sagen Sie uns nur ruhig, was Sie gerne trinken möchten. Und wenn Sie sich etwas zu trinken holen, dann nehmen Sie einfach meine Karte. Ja?«

Sandra bedankte sich freundlich und sie betraten die Disco, die so dunkel war wie die Straße davor. Nur ein paar einzelne, kleine Scheinwerfer und Spotlichter, die auf die Tanzfläche bunte Kreise und Herzen malten, beleuchteten die Disco etwas und Sandra versuchte, sich erst einmal in dem großen Raum zu orientieren. Sie gingen am Kassierer und der dahinter aufgebauten Wand vorbei und nach links zur Bar. Sie war hufeisenförmig und einigermaßen gut beleuchtet. Es war noch nicht viel los, es war sozusagen noch »sehr früh am Abend«, weshalb auch nur zwei Männer und eine Frau hinter der Theke standen und die Getränke einschenkten.

»So, jetzt bestellen wir uns zuerst einmal etwas zu trinken und dann können wir uns an einen der Tische setzen und die Menschen hier beobachten, die hier tanzen, an der Bar sitzen oder auch ganz einfach an uns vorbeigehen. Was trinken Sie?«, fragte Heinrich und Sandra bat ihn um eine Cola mit viel Eis.

Heinrich bekam seine Stempel auf das Kärtchen gedrückt und sie nahmen direkt neben der Tanzfläche an einem der Tische Platz. Es waren einfach gezimmerte Tische und Bänke, die Sandra an Deutschland an ein bisschen »Festzelt« erinnerten, wenn in ihrem Wohnort die Feuerwehr oder der Sängerverein ihre alljährlichen Sommerfeste abhielten. Es war nur noch einfacher.

Die Tische waren erst spärlich besetzt, nur an der Theke und an den runden, groben Tischen, die wie riesige, umgestürzte Kabeltrommeln aussahen und neben der Tanzfläche standen, tranken ein paar junge Männer Bier aus den Flaschen.

Von ihrem Tisch aus konnte Sandra sehr gut den eigentlich etwas zu niedrigen Raum überblicken. Jedoch waren die Gäste und die Bedienungen an der Bar die Einzigen, die man erkennen konnte. Der Rest hüllte sich in ein düsteres Licht, das manchmal von den kreisenden Scheinwerfern aufblitzend kurz erleuchtet wurde. Die bunten Kreise flimmerten durch den ganzen Saal und die noch leise Musik lud zum Tanzen ein. Aber ob Sandra an diesem Abend tanzen konnte? Mit wem? Sie kannte doch niemanden. Vielleicht kamen später ein paar Europäer – vielleicht dann? Heinrich würde wohl nicht mit ihr tanzen wollen. Er war auch schon etwas rundlich, um es gelinde auszudrücken. Sie schätzte das Ehepaar auf ungefähr sechzig bis fünfundsechzig Jahre und diese Art der Tanzmusik war wohl nicht mehr so ganz ihr Stil.

Jetzt sah Sandra auch, dass hinter dieser Wand am Anfang des Saales eine Treppe war, die zu einer kleinen Bühne hinaufführte, auf der der Discjockey sein Reich hatte und seine Scheiben auflegte. Links davon war eine Metallstange, die bis zur Decke reichte, und Sandra konnte sich gut vorstellen, wofür diese gedacht war. Zur vorgerückten Stunde wurden – je nach Wochentag – »Vorstellungen« gegeben, das heißt, hier tanzten spärlich bekleidete Mädchen und zeigten, was sie zu bieten hatten und wie beweglich sie waren. Die Musik war noch gedämpft und angenehm und Sandra wunderte sich. Sie hatte eigentlich laute, heiße Discomusik erwartet, aber das konnte ja noch kommen.

Am Ende des Saales befand sich eine kleine Bühne, die allerdings leer und nicht beleuchtet war. Daneben, ganz im Dunkeln sah Sandra noch eine Tür, die zu den Toiletten führte, wie ihr das Piktogramm darauf zeigte. Sie war halb und diskret mit einem Vorhang verdeckt.

»Na, was sagen Sie jetzt?«, fragte Heinrich in ihre Gedanken hinein. »Gefällt es Ihnen hier? Es ist zwar nicht so schön wie in Deutschland in den Diskotheken, aber es ist im Augenblick die einzige größere Disco auf Sal, in die viele Touristen gehen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783947275014
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Liebesroman Enttäuschung Verzicht Flug Urlaub Liebe Sonne Strand Kapverden Insel Sal

Autor

  • Amelie Maria Winter (Autor:in)

Anna Margareta Windheim schreibt unter dem Autorennamen „Amelie Maria Winter“ ihre Romane und Erzählungen. Sie wurde in den Wirren des 2. Weltkrieges 1941 geboren. Ihre musisch begabten Eltern weckten schon früh ihr Talent für Musik, Zeichnen und Malen. Freunde auf der ganzen Welt und Reisen in viele Länder der Erde geben ihr die Inspirationen für ihre Romane und Erzählungen.
Zurück

Titel: Der Fischer von Sal