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Alrun

Das Mädchen aus dem Moor

von Amelie Maria Winter (Autor:in)
138 Seiten

Zusammenfassung

Wer ist Alrun? Ist Alrun nur verwirrt und einfältig? Oder ist sie berechnend und durchtrieben? Kommissar Simon Becker versucht, hinter das Unglück und das Geheimnis der Geschwister Alrun und Finn zu kommen, und gerät dabei in tiefe Bedrängnis. Besuchen Sie mit Kommissar Becker das Moor mit seinen schwarzen Tümpeln, den abgestorbenen Bäumen, Schilf und Erikasträuchern. Es hat von jeher eine magische Anziehungskraft auf die Menschen. Erleben Sie mit Kommissar Becker die Begegnungen mit Alrun im schaurigen Moor. Erfahren Sie das Familiengeheimnis von Alrun und ihrem Bruder Finn. Und lesen mit Spannung bis zur Entwirrung aller Geheimnisse.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Alrun

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Alrun

Das Mädchen aus dem Moor

Amelie Maria Winter

Roman

Impressum:

Titel: Alrun – Das Mädchen aus dem Moor

Text: © 2019 Amelie Maria Winter

Das kleine Atelier, Literatur- und Kunstverlag

Anna Margareta Windheim, Spitalgasse 5a

D-91438 Bad Windsheim, www.dka-literatur.de

Umschlaggestaltung: © 2019 Das kleine Atelier

Cover-Foto: mit freundlicher Genehmigung aus »pixabay«

Gesamtgestaltung: © 2019 Das kleine Atelier

Druck: SOWA Sp. z o.o., Raszyńska13, 05-500 Piaseczno, Polen

ISBN: 978-3-947275-05-2

Über die Autorin

Anna Margareta Windheim schreibt unter dem Autorennamen Amelie Maria Winter ihre Romane und Erzählungen. Sie wurde in den Wirren des 2. Weltkrieges 1941 geboren. Ihre musisch begabten Eltern weckten schon früh ihr Talent für Musik, Zeichnen und Malen. Freunde auf der ganzen Welt und Reisen in viele Länder der Erde geben ihr die Inspirationen für ihre Romane und Erzählungen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet und in der Bayerischen Staatsbibliothek abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Oh, schaurig ist’s, übers Moor zu geh’n,

wenn es wimmelt vom Heiderauche.

Sich wie Phantome die Dünste dreh’n

und die Ranke häkelt am Strauche.

Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,

wenn aus der Spalte es zischt und singt.

Oh, schaurig ist’s, übers Moor zu geh’n,

wenn das Röhricht knistert im Hauche!

(Annette von Droste-Hülshoff)

Wer ist Alrun?

Ist Alrun nur verwirrt und einfältig? Oder ist sie berechnend und durchtrieben? Kommissar Simon Becker versucht, hinter das Unglück und das Geheimnis der Geschwister Alrun und Finn zu kommen, und gerät dabei in tiefe Bedrängnis …

Kapitel 1

»Ich bin fast der Überzeugung, dass wir noch einmal ganz von vorne anfangen müssen!«

Kommissar Simon Becker schob seinen Bürostuhl zurück und stand auf. Er ging zur großen Glastafel, auf der viele Bilder und Dokumente hingen.

Seine Kollegin Klara trat hinzu und zeigte auf ein etwas verblasstes Foto, das mitten in all den Recherchen hing. Es zeigte einen Mann mittleren Alters mit schütteren, weißgelben und ungepflegten Haaren.

»Der war es!«, sagte sie mit Nachdruck und deutete mit dem Zeigefinger auf das Foto. »Nur er allein kann es gewesen sein!«

Simon schüttelte den Kopf: »Nein, das glaube ich einfach nicht! Sein Alibi ist so klar und felsenfest. Er hat glaubhafte Zeugen, die ihn zur Tatzeit an einem anderen Ort gesehen haben. Er kann nicht der Täter gewesen sein. Wie sollte er denn …«

»Dann haben wir etwas übersehen«, unterbrach ihn Klara. »Wir können doch jetzt nicht noch einmal ganz von vorne anfangen! Die Zeit läuft uns davon!«

Klara ging zum Fenster und öffnete es. Ein Windhauch brachte die frische Morgenluft des Sommers in das kleine Büro und verscheuchte für kurze Zeit den muffigen Papiergeruch.

Sie brachte Simon noch eine Tasse mit heißem Kaffee und setzte sich zu ihm gegenüber an den Schreibtisch, auf dem sich die Aktenmappen rechts und links häuften.

»Wir haben seine DNA und auch die Verkäuferin hat ihn auf dem Foto sofort erkannt«, gab Klara zu bedenken, aber Simon schüttelte sofort den Kopf.

»Er hat ja zugegeben, dass er sehr oft in dieser Bäckerei seine Brötchen am Morgen holt. Da kann er schon mal Spuren von sich hinterlassen haben. Vielleicht hat die Verkäuferin ihn gesehen und ist nun der festen Überzeugung, dass er es gewesen sei.«

Klara stand wieder auf, um das Fenster zu schließen.

»So ein Gestank und so ein Lärm! Ich mach es lieber wieder zu!«, und griff nach dem Hebel.

Der Straßenlärm war auch viel zu laut, als dass man sich hätte gut unterhalten oder diskutieren können. Sie schaute noch einmal kurz hinunter auf die Straße. Auf dem Gehweg auf der gegenüberliegenden Seite schob eine junge Frau einen offenen Kinderwagen mit zwei Kleinkindern. Klara stutzte plötzlich. Sie überlegte kurz, bevor sie das Fenster endgültig schloss. Dann drehte sie sich langsam zu Simon um und lächelte.

»Ich hab’s!«

»Was hast du? – Du hast die Lösung? Na, da bin ich ja mal gespannt!« Simon grinste. Die Lösung!

»Ja, ich habe gerade einen Kinderwagen gesehen!«

»Ja – und?«

»Im Kinderwagen saßen zwei Kinder! Verstehst du? Es waren ZWEI Kinder – es waren Zwillinge!«

Simon runzelte die Stirn: »ZWEI? – Du meinst also, der Täter könnte einen Zwillingsbruder haben? Gleiches Aussehen – gleiche DNA?«

»Ja!« Klara war sehr überzeugt von ihrer Idee.

»Entschuldige bitte!«, widersprach ihr Simon. »Aber der genetische Fingerabdruck – du weißt, was ich meine – kann ja gleich sein. Aber ich habe da so etwas gelesen, dass es jetzt doch noch Unterschiede in der DNA gibt. Aber bitte, frag mich nicht weiter. Es ist also nicht so einfach, wie du es dir vorstellst!«

Klara gab sich noch nicht geschlagen.

»Aber wir können es doch einmal versuchen. Vielleicht finden wir doch noch etwas – oder den zweiten Zwilling, von dem Titschner gar nichts weiß!«, meinte sie noch zusätzlich. »Oder?«

Simon stand auf. Er hatte es plötzlich sehr eilig.

»Dann lass uns gleich noch einmal zu diesem Titschner, oder wie er auch heißt, gehen. Wollen wir doch einmal sehen, ob wir bei ihm noch etwas mehr herausbekommen! Ein Zwillingsbruder! Na, so was! Das wäre allerdings eine Möglichkeit!«

Er zog den Krawattenknoten fest und griff nach seiner Jacke, die an einem einfachen Haken gleich neben der Tür hing. Aber Klara hielt ihn auf.

»Ich glaube, du bleibst jetzt erst mal schön hier sitzen. Du hast jetzt endgültig einmal Pause!«, und drückte Simon sanft auf seinen Stuhl zurück.

»Du kannst dich nicht immer in die Arbeit hineinstürzen, um alles zu vergessen. Ich beobachte dich schon seit Längerem. Simon, so geht das nicht weiter!«

Klara drehte seinen Bürostuhl zu sich herum und sah Simon direkt in die Augen.

»Du brauchst endlich einmal Ruhe. Und vor allem brauchst du einmal Abstand. Ich weiß, du kannst nichts rückgängig machen, aber du kannst dich auch nicht immer nur in die Arbeit verkriechen.«

»Ja, du hast ja recht!« Aber es klang nicht ganz überzeugend, was da aus Simons Mund kam. Es kam nicht aus seinen Gedanken und nicht aus Überzeugung.

Aber Klara ließ nicht locker: »Denk einfach: Jetzt haben wir den Fall gelöst. Klara und die anderen machen nur noch den Rest. Das ist nur noch reine Formsache!«

»Aber …«

»Nichts aber! Ich schlage dir vor, dass du jetzt erst einmal Urlaub machst! Ich denke, so vierzehn Tage oder auch drei Wochen würden dir guttun! Nimm dein Auto und fahr einfach weg. Irgendwohin, wo dich niemand kennt und du dich etwas erholen kannst. Wenn du dann wieder kommst, reden wir über alles noch einmal!«

Simon schwieg. Er schien nachzudenken. Er lockerte wieder den Knoten seiner Krawatte und stand auf.

»Und der Fall hier? Wie?«

»Wir werden ihn lösen. Und wenn es zu schwierig wird, dann können wir dich immer noch anrufen und dich zurückholen – so machen wir das!«

Sie sagte es so überzeugend, sodass Simon keine passende Antwort dafür hatte.

»Du bist ein Schatz!«, sagte er zu Klara und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange. »Ich hatte mir das auch schon überlegt. Und ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, ob ich mich vielleicht in den Innendienst versetzen lasse. Es ist mir zumindest im Augenblick einfach alles zu viel. Das verstehst du doch?«

Klara war zufrieden. Er hatte endlich verstanden!

»Das ist wirklich ein sehr guter Gedanke«, meinte sie und dachte dabei auch daran, dass sie dann mit Simon viel öfter zusammen im Büro sein könnte. Sie mochte Simon sehr. Warum war ihm das noch nicht aufgefallen? War er noch so sehr mit seiner Vergangenheit beschäftigt, dass er es nicht bemerkte? Sie musste abwarten.

Sie setzte sich wieder auf die andere Seite von Simons Schreibtisch, griff kurzerhand unter den linken Stapel Akten, zog ein Blatt Papier hervor und gab es Simon. Er nahm es verblüfft an und las.

»Sieh mal an!«, sagte er dann lächelnd zu ihr, als er sah, was da auf diesem Papier stand.

»Meine liebe Kollegin kann es gar nicht erwarten, bis ich aus dem Haus bin. Ein Urlaubsschein! Na, so was! Ihr wollt mich wohl loswerden – was?«

Klara stand erneut auf und hielt ihm einen Kugelschreiber über den Tisch weg hin: »Komm schon! Unterschreib ihn einfach! Der Chef weiß schon Bescheid!«

Was sollte Simon machen! Er musste im Inneren Klara recht geben. Also unterschrieb er; dann stand er auf:

»Also, dann gehen wir jetzt zu Titschner!«

»Nein, Simon, WIR gehen nicht!« Klara sagte dies mit Nachdruck und sie meinte es sehr ernst.

»DU gehst jetzt ab sofort in Urlaub und WIR, das heißt, die Kollegen und ich machen den Rest!«

Und als Simon doch noch widersprechen wollte, fiel sie ihm gleich mit einem endgültigen »Nein!« ins Wort und lächelte wie siegesgewiss.

Simon gab auf.

Klara meinte es wirklich gut mit ihm.

Kapitel 2

Zwei Tage später fuhr Simon los. Was sollte er noch zu Hause, wo niemand mehr auf ihn wartete? Die Vier-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus am Rande von Hamburg war ihm zu groß geworden. Und trotzdem kam er sich an den langen Abenden, die manchmal kein Ende nehmen wollten, oft beengt und eingesperrt vor.

Klara hatte recht. Ja, er musste etwas in seinem Leben ändern. Er wusste, dass seine Frau Edith nicht mehr zurückkommen würde. Sie hatte die Scheidung eingereicht, weil sie ihm die ganze Schuld am Tod ihrer gemeinsamen Tochter Susanne gegeben hatte. Er war doch nicht schuld gewesen! Wie konnte sie nur so etwas denken! Er selbst hatte fast zehn Wochen lang im Krankenhaus gelegen, bis er wieder einigermaßen hatte gehen können.

Aber auch die psychologische Betreuung im Krankenhaus konnte das Trauma nicht vollständig auflösen.

Susi! Seine über alles geliebte Tochter Susanne! Warum nur war das Leben so grausam gewesen und hatte ihm das Liebste, das er gehabt hatte, genommen? Warum nur war er an diesem Abend noch einmal weggefahren und hatte Susanne unbedingt selbst bis zur Disco fahren wollen? Sie wollte doch allein zu Fuß gehen!

Warum wollte sie bei diesem schlechten Wetter nicht zu Hause bleiben? Es war ein kalter und windiger Januartag gewesen! Warum hatte es plötzlich zu regnen angefangen und ein Blitzeis hatte die Straßen in Sekundenschnelle mit Glätte überzogen?

Warum war dieser Lastwagen in der Kurve zu schnell gefahren und in sein Auto gerast?

Warum – warum?

Aber all sein Grübeln half nichts. Er musste versuchen, wieder in die Wirklichkeit zurückzukommen. Vielleicht irgendwo, wo er allein sein konnte. Ja, und wie Klara zu ihm gesagt hatte: Irgendwohin, wo er allein sein würde und wo ihn niemand kannte.

So fuhr er zuerst einmal gegen Mittag in Richtung Süden, einfach der Straße nach. Er mied die Autobahn und die breiten Straßen. Er fuhr schmale Nebenstraßen, die ihn durch kleine, verträumte Dörfer führten, und ihn mit etwas Abwechslung durch die Landschaft lenkten.

Er machte seine erste Rast in Buchholz in der Nordheide. Er studierte ein Plakat, das zu einem Besuch in den Ferienpark »Center Parcs« in Bispingen einlud. Er dachte schon an die Idee, ein paar Tage dort zu verbringen, verwarf aber den Gedanken wieder. Es war noch Ferienzeit in Deutschland. In diesem Park würden bestimmt noch viele Familien mit Kindern sein. Nein, er wollte irgendwo hin, wo es ruhiger war. So fuhr er zuerst einmal südwärts durch die Lüneburger Heide weiter.

Er sah im Vorbeifahren noch ein paar einzelne, gelbe Getreidefelder und die bereits abgeernteten, braunen Stoppelfelder. Grüne Wiesen wechselten sich mit hellen Birkenwäldchen und kargen Heideflächen ab, die mit niedrigen Wacholdern, vereinzelten Knorpelkiefern und Erikasträuchern bewachsen waren. Das Heidekraut stand in voller Blüte und versuchte, das magere Gras unter einer lila Decke zu verbergen.

Ab und zu standen in den oft mit Hecken abgegrenzten Feldern noch ein paar gelbe Sonnenblumen, die ihre vollen Blütenkränze der Sonne zugewandt hatten und in der Mittagszeit leuchteten.

Neben einer von Birken gesäumten, schmalen Straße sah er einen ausgewiesenen Parkplatz und bog ein. Hier wollte er eine kleine Rast einlegen.

Nur ein paar Autos parkten hier. Er stieg aus und dehnte sich. Ja, hier war es schön, hier könnte er bleiben. Er atmete tief durch und sog den Duft des Sommertages ein. Es gab keinen Straßenlärm und keine Abgase der unzähligen Autos wie in Hamburg. Es war ruhig und friedvoll, wie er es schon seit Langem nicht mehr erlebt hatte. Ob es hier irgendwo ein kleines Gasthaus gab, in dem er übernachten konnte? Er drehte sich um.

Aus der flachen Heidelandschaft tauchte zwischen Kiefern und Birken ein Pferdewagen mit Feriengästen auf. Zwei stämmige, goldfarbene Kaltblutpferde mit geflochtenen, weißen Mähnen und roten Bändern in den Haaren zogen den Wagen und hielten nach einer Kehre an der Seite des Parkplatzes an. Simon wartete geduldig, bis alle Gäste ausgestiegen waren. Dann ging er auf den Kutscher zu.

»Guten Tag!«, begrüßte er den Fahrer, der gerade abgestiegen war, um nach seinen Pferden zu sehen.

»Tach auch!«, sagte der Mann und schüttelte den Kopf. »Heute ist schon Schluss. Sie können morgen wieder mit mir fahren – so ab zehn!«

»Nein, nein!«, beschwichtigte Simon den Mann. »Ich will nicht mit Ihnen fahren. Zumindest heute nicht! Aber können Sie mir vielleicht ein nettes Gasthaus in der Nähe nennen, wo ich übernachten kann? Ich meine, nicht gerade in der Stadt. Vielleicht etwas außerhalb?«

»Jou!«, war die kurze Antwort, aber dann erklärte der Kutscher bereitwillig: »Da fahren Sie mal wieder raus auf die Straße und drüber hinweg. Dann bis zu einem geschotterten Feldweg, der nach rechts geht. Sie sehen den schon. Da steht eine Bank und dahinter sind drei große Birken. Und dann geht’s immer weiter bis zum Wald. Da ist die ‚Einkehr‘ von Friedhelm. Da gibt’s auch was zu essen und Zimmer. Der hat vielleicht noch was frei!«

»Danke schön! Vielen Dank!« Simon freute sich über diese Auskunft. Er war von der Fahrt müde geworden und auch sein Magen hatte sich schon gemeldet. Außerdem war es schon spät am Nachmittag, Zeit für eine gute Tasse Kaffee und vielleicht ein Stückchen Kuchen.

»Ist schon gut!«, winkte der Fahrer ab. »Und wie gesagt: Morgen früh fahre ich dann wieder. Vielleicht kommen Sie mal?«

»Ja, sicher! Und nochmals danke!«

Simon fand schnell den Weg mit der Bank und den Birken und fuhr auf dem holprigen Feldweg auf den Wald zu. Er war gespannt auf die »Einkehr« und auf die Menschen, die er dort vorfinden würde.

Nach einer Kurve sah er das Gasthaus unter riesigen Kastanienbäumen liegen. Das große Haus war aus roten Klinkersteinen mit fast schwarzem Fachwerk gebaut und hatte ein hellrot leuchtendes Ziegeldach. Ein Anbau mit Türen und Fenstern streckte sich zur linken Seite zum Waldrand hin. Davor standen unter den weit ausladenden Kastanienbäumen Sonnenschirme und Tische und luden zum Verweilen ein.

Simon hielt zuerst einmal sein Auto neben dem Feldweg an und stieg aus. »Schön hier!«, murmelte er und ging entschlossen auf das Gasthaus zu.

Unter den Kastanienbäumen standen ein paar Fahrräder und ein Kinderwagen. An den Tischen unter den Bäumen saßen Feriengäste bei Kaffee und Kuchen zusammen und unterhielten sich. Als Simon näher kam, verstummten die Unterhaltungen und die Gäste schauten neugierig zu ihm herüber.

Ein bunter Ball rollte zu ihm her und er hob ihn auf. Ein kleines Mädchen lief auf ihn zu und hob die Arme: »Kann ich den Ball wieder haben?« Da warf ihm Simon den Ball vorsichtig zu. Das Mädchen lächelte ihn etwas scheu an und lief schnell wieder zu den anderen Kindern.

Es war für Simon ein friedvoller Eindruck, wie ihn ein Maler hätte malen können. Ob er hier ein Zimmer fand? Es gefiel ihm hier auf den ersten Blick.

Aus der Tür des Gasthauses kam eine ältere, etwas rundliche Frau auf ihn zu. Sie trug eine weiße, bunt bestickte Bluse und über ihrem langen, schwarzen Rock hatte sie eine blaue Schürze gebunden.

»Guten Tag, Becker«, stellte er sich vor. »Ich suche ein Zimmer. Haben Sie noch etwas frei?«

»Tach auch!« Die Frau gab ihm die Hand. »Ja, wir haben noch etwas frei. Wie lange wollen Sie denn bleiben?«

»Wunderbar! Ich denke, so zwischen zwei und drei Wochen. Es ist so ruhig hier! Und ich bin müde und hungrig!«, fügte Simon noch hinzu. »Ist das möglich?«

»Ja, sicher!«, sagte die Frau. »Ich bin Martha, die Wirtin hier, und da drüben bei dem Holzschuppen, das ist mein Mann, der Friedhelm. Ich freue mich, kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Sie gingen an den Tischen vorbei bis zum Ende des Anbaus. Martha schloss die letzte Tür auf.

»Hier ist noch ein Einzelzimmer frei, kommen Sie!«

Sie traten ein. Das Zimmer war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Man hatte die Wände unverputzt gelassen. Die roten Klinkersteine machten einen gemütlichen Eindruck. Die Balken des Fachwerks waren wie die Fugen weiß gestrichen. In einer Ecke stand ein kleiner Kaminofen und daneben lagen in einem Weidenkorb ein paar dicke Holzscheite.

Vor dem Fenster stand ein kleiner, runder Tisch mit zwei Stühlen. Das Bett an der Seite war aus Holz und hatte blau gemusterte Überzüge und ein dickes Federbett. Ein zweitüriger Schrank neben einer schmalen Tür war mit einer hübschen Bauernmalerei versehen.

»Da ist das Bad«, erklärte ihm Martha und öffnete die schmale Tür. »Wir haben das angebaut, deshalb ist es ziemlich klein. Sie müssen wissen, dass hier früher die Torfstecher gewohnt haben. Die haben ja noch kein Bad gebraucht, so wie wir jetzt.« Sie lächelte Simon an.

»Da genügten schon eine Waschschüssel und eine Kanne Wasser. Um sieben gibt es Abendessen. Sie können mit Fleisch oder ohne haben. Mittags können Sie ein Brotzeitpaket mitnehmen, wenn Sie wegfahren wollen. Sie können es aber auch hier essen. Ach ja, Frühstück machen wir immer von sieben bis neun. Geht auch mal ein bisschen später, wenn Sie mal verschlafen haben!«

»Danke! Wunderschön!« Simon war begeistert. »Hier werde ich bleiben. Ich hole noch schnell meine Sachen aus dem Auto!«

»Ja, machen Sie das. Das Auto können Sie dann im Hof hinter dem Haus abstellen. Da ist Platz genug. Und jetzt – herzlich willkommen in der ‚Einkehr‘!«

Damit ging sie die zwei Stufen am Eingang hinunter, winkte Simon noch einmal lächelnd zu und lief zum Gasthaus zurück.

Simon setzte sich auf das Bett und federte ein bisschen. Das Bett schien gut zu sein. Er streifte seine Schuhe ab, schlug das Federbett zurück und legte sich auf das Bett. Er war müde. Er wäre fast eingeschlafen, hätte er nicht die spielenden Kinder von draußen gehört. Er stand auf und ging zu seinem Auto, um es in den Hof zu fahren. Als er ausstieg, kam ihm ein Mädchen mit dicken, blonden Zöpfen entgegen. Es hatte eine ziemlich ärmliche Kleidung an. Seine strumpflosen Füße steckten in derben Halbschuhen. Es trug einen roten Plastikeimer zur gegenüberliegenden Scheune und lächelte Simon an.

»Hallo!« Simon winkte kurz. Er dachte, es musste wohl die Enkeltochter der Wirtsleute sein. Das Mädchen nickte kurz und verschwand wortlos in der Scheune.

Simon nahm seinen kleinen Koffer und seine Aktentasche und ging zurück. Er sah, dass bereits das Abendessen aufgetragen wurde, und beeilte sich. Die Tische waren alle gut besetzt, nur bei einer einzelnen Frau waren noch zwei Plätze frei. Er fragte höflich, ob er sich zu ihr setzen dürfe.

»Oh ja, bitte sehr!«, antwortete ihm die Frau. »Ich freue mich, wenn Sie mir Gesellschaft leisten. Ich bin nämlich allein hier!«

»Danke! Ich bin auch allein hier!«, antwortete Simon etwas vorschnell, setzte sich und betrachtete die Frau. Sie hatte ein für ihr Alter etwas zu buntes Kleid an. Sie trug Goldschmuck, Ohrringe, eine Halskette und ein dickes Armband. Auch ihre Schminke war etwas übertrieben. Er schätzte die etwas füllige Frau auf ungefähr fünfundvierzig bis fünfzig Jahre.

Allein? Simon wollte sich vorsehen. Er wollte seine Ruhe haben und vor allem kein Anhängsel in den Tagen hier. Er wollte einfach allein sein. So begnügte er sich zuerst, über das Gasthaus und das Essen zu sprechen. Nachdem er gegessen hatte, verabschiedete er sich höflich und ging in das Gasthaus.

Die Wirtin war noch in der Küche. »War alles so in Ordnung?«, fragte sie Simon.

»Ja, danke! Das Essen war sehr gut. Aber ich habe noch eine Frage. Sie haben zu mir gesagt, dass hier früher die Torfstecher gewohnt hatten. Ist hier in der Nähe vielleicht ein Moor?«

»Ja, wir haben hier ein Moor! Wenn Sie den Feldweg bei den Büschen entlang gehen, kommen Sie direkt ins Moor. Kennen Sie das nicht?«

Und nachdem Simon verneinte, fragte sie:

»Ja, wie haben Sie uns denn gefunden? Haben Sie das Schild am großen Parkplatz nicht gesehen?«

»Parkplatz? Ist hier ein Parkplatz? Nein! Ich habe nur den Kutscher getroffen, der hier Feriengäste spazieren fährt. Er hat mir die ‚Einkehr‘ empfohlen.«

»Ach ja, der Klaus, der schickt uns öfter Gäste! Das Moor hier ist wunderschön. Sie können da stundenlang auf einem hölzernen Plankenweg spazieren gehen. Es ist auch etwas verwunschen, vor allem, wenn die Nebel am Morgen und am Abend kommen. Manchmal ist es richtig gespenstisch bei Neumond! Aber in der Nacht sollten Sie da natürlich nicht sein! Früher wurde noch Torf gestochen, heute nicht mehr. Nur der Finn von der alten Kate darf das noch, wenn sich eine Gruppe von Feriengästen anmeldet. Dann zeigt er ihnen, wie das alles hier früher war. Und die Gäste dürfen dann auch ein Stückchen Torf mitnehmen. Das müssen Sie auch einmal sehen!«

Sie setzte ab. Das war eine sehr lange Rede für sie gewesen. Simon bedankte sich und ging an den Tischen entlang zu seinem Zimmer. Die »Dame« winkte ihm zu. Simon nickte kurz und lächelte. Nein, heute nicht mehr!

Er wollte endlich schlafen gehen. Es war ein langer Tag gewesen.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen wachte Simon sehr spät auf. Er hatte so gut geschlafen, dass er im ersten Augenblick gar nicht wusste, wo er sich befand. Nur die Kinder der Feriengäste mit ihrem Lachen und das Tellergeklapper von den Tischen her erinnerte ihn ganz schnell wieder daran, wo er war. Er hatte wunderbar geschlafen!

Die Dame von gestern Abend saß wieder am selben Tisch und winkte ihm zu. Simon wollte nicht unhöflich sein und setzte sich wieder zu ihr.

»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte sie Simon.

»Ja, danke!«, antwortete Simon. »Es ist so wunderbar ruhig hier und die Luft hatte mich müde gemacht.«

»Und die Kinder hier stören Sie nicht? Die sind doch wirklich sehr laut – alle so unerzogen!«, bemerkte die Frau und sah etwas missmutig hinüber zu den Kindern, die unter einer großen Kiefer die Kiefernzapfen auflasen.

»Nein, die Kinder stören mich nicht«, meinte Simon, »sie stören mich überhaupt nicht. Es ist hier eine wunderbare Ruhe und trotzdem ist Leben hier! Die Kinder sind das Leben, das wir brauchen!«

Er verstummte und dachte nach. Ja, das Leben seiner geliebten Tochter Susi war viel zu schnell vorübergegangen. Er konnte sie nicht mehr zurückholen. Er schüttelte leicht seinen Kopf, als wollte er seine trüben Gedanken verscheuchen, und widmete sich seinem Frühstück.

»Haben Sie Kinder?«

Sie ließ sich durch Simons Schweigen nicht beirren und als Simon nicht antwortete, fragte sie noch einmal:

»Haben Sie Kinder?«

»Ich?« – Simon zögerte, aber dann meinte er nur:

»Nein, ich habe keine Kinder.« Das »mehr« ließ er lieber weg, sonst hätte sie noch weiter gefragt.

Aber das war noch nicht alles.

»Darf ich Sie fragen, was Sie so machen? Ich meine, welchen Beruf Sie haben? Ich will ja nicht neugierig sein, aber wenn man so gemeinsam am Tisch sitzt …!«

Sie ging ihm einfach auf die Nerven.

»Ich habe mit vielen Menschen zu tun«, erklärte er ihr.

»Aha! Da sind Sie vielleicht ein Pfarrer oder vielleicht ein Lehrer – oder so?«

Simon lächelte gequält: »Ja, vielleicht!«

Dann war endlich Ruhe – dachte er!

»Was machen Sie denn heute?«

Die Dame war wirklich unerträglich neugierig. Wie konnte er sich ihr nur entziehen, ohne unhöflich zu sein?

Simon hatte wohl gesehen, dass diese Frau längst ihr Frühstück eingenommen hatte. Hatte sie vielleicht auf ihn gewartet? Was sollte er sagen?

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete ihr Simon zwischen einem Bissen und einem Schluck Kaffee. »Vielleicht laufe ich zu dieser Kutsche mit den schönen Pferden da hinüber«, und er zeigte in Richtung der Hauptstraße. »Da kann ich ein bisschen die Heide genießen!«

Die Antwort kam schneller, als er sich das gedacht hatte: »Da könnten Sie mich doch mitnehmen. Sie fahren doch sicher mit Ihrem Auto! Ich habe kein Auto und so weit zu laufen ist schon etwas beschwerlich für mich!«

Sie wartete ab.

»Was für ein Fehler!«, dachte Simon und suchte etwas verzweifelt nach einer passenden Antwort.

»Ich will mal sehen«, meinte er dann freundlich, »vielleicht fahre ich auch heute Morgen hinüber. Dann können Sie mitkommen. Ich sage Ihnen noch Bescheid!«, stand auf und verabschiedete sich höflich.

»Dann bis bald! Ich freue mich schon!«, rief ihm die Frau noch nach.

»Ja, ich mich auch!«, knurrte Simon in sich hinein. Wie konnte er diese Frau nur wieder loswerden? Auf der anderen Seite wollte er ja auch nicht unhöflich sein.

Eine verflixte Situation!

Also nahm er sie nach einer Stunde doch mit zu seinem Auto. Bevor er einstieg, hielt er ihr höflich die Tür auf und stellte sich vor:

»Ich heiße Becker – Simon Becker«, sagte er kurz, schloss die Autotür und stieg auch ein.

»Ich heiße Scherber – Theresia Scherber«, war die Antwort. »Sie können auch Resi zu mir sagen!«

»Danke!«

Die Kutsche stand schon bereit und vier Feriengäste hatten schon darauf Platz genommen. Simon nahm die Gelegenheit wahr, zog den Kutscher nach vorne zu den Pferden und fragte ihn leise:

»Sie kennen mich doch noch von gestern? Danke für den Tipp mit dem Gasthaus. Es ist sehr schön da. Aber kann ich bei Ihnen mit auf dem Kutschbock sitzen?«

Der Kutscher Klaus zog die Augenbrauen hoch: »Wollen Sie nicht bei Ihrer Frau sitzen?«

Simon zwinkerte und flüsterte: »Das ist nicht meine Frau! Sie geht mir auf die Nerven! Bitte, geht das?«

Klaus verstand: »Na, denn mal rauf! Da hinten ist es sowieso schon so eng!«, und grinste.

Und ab ging es zuerst im Schritt und dann im leichten Trab. Die Gäste wurden manchmal richtig durchgeschüttelt, wenn die Pferde auf einer kurzen, geraden Strecke über den oft sehr unebenen Weg die Kutsche im Galopp durch die blühende Heide zogen.

Kleine Gruppen von niedrigen Kiefern wechselten sich mit hellen Birken und auch manchmal mit hohem Gras ab. In einem lichten Birkenwald machten die Pferde eine Rast. Sie wussten schon, wo sie anhalten durften. Zwei der Gäste stiegen aus und auch Simon stieg kurz ab.

Klaus erzählte nun den Gästen alles über die Heide und auch über das Moor, eben das, was er so wusste, und stellte seine beiden Pferde vor: »Das ist der Festus und das ist der Magnus. Sie sind beide von derselben Mutter, nur ist der Festus zwei Jahre älter. Deshalb weiß er auch mehr! Der ist richtig schlau und weiß genau, wo er schnell laufen darf und wo er anhalten kann!«

Die Gäste lachten über das »schlaue« Pferd und der Kutscher schmunzelte und zwinkerte Simon zu.

»Jetzt aber wieder in die Kutsche, meine Damen und meine Herren!«

Damit ging es nach einer Dreiviertelstunde wieder zurück zum Parkplatz.

Frau Scherber fragte natürlich gleich Simon, weshalb er nicht mit in der Kutsche gesessen hätte.

»Ich wollte schon immer einmal auf einem Kutschbock beim Fahrer sitzen und das war heute eine gute Gelegenheit dazu. Es war sehr schön da vorne«, erklärte er und hielt die Autotür auf.

Beim Aussteigen bei der »Einkehr« ließ sie es sich nicht nehmen und meinte: »Wenn Sie wieder einmal irgendwohin fahren, dann dürfen Sie mich auch mitnehmen. Ich würde mich sehr freuen.«

»Ja, vielleicht, wenn ich einmal in die Stadt fahre, dann können Sie mitfahren.«

Simon schwankte zwischen seiner Höflichkeit und seinem Unwillen. Er musste versuchen, sie wieder abzuschütteln. Aber wie? Er würde sich vorsehen und in Zukunft zuerst einmal »die Lage erkunden und ob die Luft rein war«. Dann würde er schnellstens verschwinden. Einfach um die Ecke des Hauses herum und dann schnell in den Wald! Ja, so würde er es machen. Er grinste über seinen guten Einfall und nahm sich vor, dies gleich heute Nachmittag auszuprobieren.

Seine Idee war gut gewesen. Er hatte sich, als Frau Scherber nicht bei den Tischen war, sein Brotzeitpaket in der Küche bei Martha abgeholt. Dann war er schnell durch die Hintertür des Gasthauses und durch den Hof in den angrenzenden Wald gelaufen. Im Birkenwald war es trotz der Sonne am späten Mittag angenehm. Er suchte sich einen Platz zum Sitzen und fand einen umgestürzten, alten Baumstamm, der am Wegrand lag. Hier packte er seine Mahlzeit aus und aß in aller Ruhe.

Er war froh, dass ihn die »Resi« nicht gesehen hatte, als er fortging. Sie war ihm unangenehm, etwas zu aufdringlich und entsprach außerdem überhaupt nicht seinen Vorstellungen einer attraktiven Frau. Außerdem war er nicht auf der Suche nach einer neuen Partnerin.

Er ließ die Ruhe und die Kühle des Waldes auf sich einwirken, als er den schmalen Waldweg mit den zwei Fahrrinnen im Gras entlang wanderte. Nach einer kleinen Biegung sah er plötzlich eine rot-weiße Schranke, die den Weg versperrte. Daneben stand ein Schild mit der Aufschrift: »Privat! Betreten verboten!«

Dahinter sah er ungefähr fünfzig Meter weiter entfernt durch die Birkenstämme hindurch ein dunkelrotes Ziegeldach eines niedrigen Hauses.

Das interessierte Simon. Er umging die Schranke und lief auf das Haus zu. Ein Hund begann zu bellen und Simon hielt an. Ob der Hund an einer Leine festgemacht war? Er wollte vorsichtig sein.

Aber schon kam ihm ein junger, kräftiger Mann entgegen. Er hielt einen Spaten in der Hand.

»Das hier ist Privatbesitz!«, rief ihm der Mann zu. »Können Sie nicht lesen?«

»Entschuldigung!« Simon hob seine rechte Hand wie zum Gruß. »Es hat mich nur interessiert, wieso hier mitten im Wald eine Schranke ist und auch ein Haus steht! Ich gehe ja schon wieder. – Ist der Hund angebunden?«

»Ja, aber wenn Sie nicht gehen, dann lasse ich ihn los! Der mag keine Fremden!« Der junge Mann hob dabei wie drohend den Spaten hoch.

»Na, na! Nicht gleich böse werden«, sagte Simon freundlich. »Ich bin drüben bei Friedhelm einquartiert und bin nur ein bisschen spazieren gegangen. Wohnen Sie hier?«, und er ging noch etwas auf den Mann zu.

Der schaute ihn ziemlich unwillig an: »Ja, aber wir wollen nicht, dass Fremde hierherkommen. Und auch nicht, dass sie das abgebrannte Haus sehen wollen. Die Städter sind alle so neugierig. Die schnüffeln hier nur rum! Die haben hier nichts zu suchen. Verstehen Sie?«

Er ließ den Spaten wieder sinken, stieß ihn mit einem kräftigen Tritt in den Boden und lehnte sich auf den Griff.

»Oh! Ich wusste gar nicht, dass hier ein Haus abgebrannt ist. Ich bin erst seit gestern in der ‚Einkehr‘. Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe.«

Simon drehte sich um und wollte gehen.

»Ja, ist ja schon gut! Aber Sie verstehen uns auch – oder?«, rief ihm der Junge noch hinterher.

Simon bückte sich unter die Schranke um durchzuschlüpfen, dann winkte er noch einmal zurück. Er wollte nicht stören. Er konnte den jungen Mann schon verstehen. Bestimmt hatte er schon viele Gäste und Wanderer abweisen müssen, wenn sie zu neugierig geworden waren und hier »herumschnüffeln« wollten. Menschen wollen immer das »Unglück« der anderen sehen. Er erinnerte sich auch an die vielen Unfälle auf den Straßen und auch an den eigenen, schlimmen Unfall. Und wenn die »Gaffer«, wie er sie nannte, auch noch Fotos machen wollten und die Polizei ihre Mühe hatte, um diese von der Unfallstelle zu verweisen.

»Warum bist du denn so böse gewesen?«

Alrun, seine Schwester, war leise hinter ihren Bruder Finn getreten. Sie hatte im Garten gearbeitet und das Gespräch mit angehört. Durch den Zaun hindurch hatte sie auch gleich den »Fremden« von der »Einkehr« wieder erkannt. Was wollte er hier?

»Ich will hier keinen Schnüffler haben!«, erwiderte Finn etwas unwirsch. »Wer weiß, was der alles wissen will! Und du weißt auch nicht, wo er herkommt! Wir haben schon genug Arbeit hier. Mach mal im Garten weiter! Ich will gleich morgen früh den Honig schleudern. Bei Friedhelm sind viele Gäste. Der wahrscheinlich auch!«, und er deutete über seine Schulter mit dem Daumen in die Richtung, wo Simon, der »Fremde«, gerade zwischen den Birken verschwunden war.

»Du kannst dann ein paar Gläser Honig hinüberbringen. Vielleicht kann ich noch einmal ernten, weil die Heide noch so schön blüht. – Muss mal nach den Bienenstöcken schauen«, murmelte er noch in sich hinein, zog den Spaten mit einem kräftigen Ruck aus dem Boden und ging zum Haus zurück.

Simon lief jetzt, ohne zu überlegen, dass hier vielleicht tiefes Moor sein könnte, quer durch den Wald. Er dachte nach. Er hatte ja wirklich nur freundlich sein wollen. Wer wohl noch mit diesem jungen Mann dort wohnte? Und erst jetzt fiel ihm auf, dass es etwas nach Feuer oder verbranntem Holz gerochen hatte. Warum war das Haus abgebrannt?

Er musste Friedhelm oder Martha fragen. Die wussten bestimmt Bescheid. Er machte noch ein paar schöne Fotos vom lichten Birkenwald, fing die einfallenden Sonnenstrahlen mit seiner Kamera ein und suchte dann den Weg zurück zum Gasthaus. Bis zum Abendessen hatte er noch etwas Zeit und so ruhte er sich in seinem Zimmer auf dem Bett aus.

Beim Abendessen saß am Tisch von Frau Scherber noch ein Ehepaar und Simon war froh, dass er sich nicht wieder zu ihr setzen musste. Deshalb verschwand er nach einem freundlichen Gruß gleich im Gasthaus.

Der Wirt Friedhelm hatte ein bisschen Zeit und so fragte Simon ihn, während er sein Abendessen verzehrte, was er über dieses abgebrannte Haus im Wald wisse.

»Ja«, erklärte Friedhelm, »das war so: Es war im vergangenen Jahr so gegen Ende Februar und es war saukalt, das kann ich Ihnen sagen. Wir wissen das alles auch nicht so genau. Aber die Polizei hat gesagt, dass der Brand vom Herd aus gegangen sei, der in der Küche stand. Vermutlich war ein Funke in die Holzkiste daneben gefallen und hat das Holz in Brand gesteckt. Die Kinder Finn und Alrun haben in der Scheune geschlafen. Denen ist nichts passiert. Die schliefen ja meistens in der Scheune, weil in der alten Kate kein Platz war. Aber der Vater ist dabei umgekommen, weil er in der Küche geschlafen hat – auf dem Sofa!« Friedhelm setzte kurz ab und kratzte sich hinter dem Ohr.

»Da hat man ihn auch gefunden«, erzählte er weiter. »Die Mutter war nicht im Haus und hat dann einen Schlaganfall oder Herzanfall oder so etwas Ähnliches erlitten, als sie aus der Stadt zurückkam. Eines Nachts ist sie dann ins Moor gegangen, so munkelt man hier hinter vorgehaltener Hand. Denn sie war plötzlich verschwunden und man hat sie nie mehr gefunden. Der Hannes, so hat der Vater geheißen, hat viel getrunken und auch den Finn geschlagen. Vielleicht auch seine Frau und auch Alrun. Aber ich will da nichts behaupten. Das Unglück ist schon so groß genug. Und die Leute reden auch so viel. Sie verstehen das, nicht wahr?«

Friedhelm setzte ab und zuckte mit den Schultern: »Ja, so war das!«, stand auf und nahm Simons Bierglas.

»Das war ja für die Geschwister ein furchtbares Unglück, die Eltern mit einem Mal zu verlieren!« Simon war sehr betroffen und fuhr sich über die Augen.

»Möchten Sie noch ein Bier?«, fragte der Wirt freundlich und als Simon nickte, verschwand er hinter dem kleinen Tresen und schenkte ein.

Als er wieder zurückkam, wollte Simon noch mehr wissen. Es interessierte ihn. Er bedauerte die Geschwister, weil sie jetzt allein waren. Wie kamen denn die beiden zurecht? Ob sie wohl genug Geld zum Leben hatten?

»Und jetzt?«, fragte er den Wirt. »Sind die beiden denn ganz allein? Kümmert sich niemand um sie?«

»Doch, doch! Da ist noch eine Tante in der Stadt. Die schaut manchmal nach den Kindern. Dadurch können sie da auch wohnen bleiben. Jetzt leben die beiden Geschwister nur in der Scheune. Da haben sie sich auch neben dem Schlafzimmer eine kleine Küche eingerichtet.

Sie haben ja keine Ziegen und Schafe mehr wie früher. Da ist jetzt Platz genug für die zwei. Wir und noch ein paar andere Familien haben ihnen das Nötigste gebracht, damit sie weiterhin da leben können. Wir haben ihnen auch Strom hinüber legen lassen, den wir für sie bezahlen. Das können wir schon machen. Da war nämlich vorher gar kein Strom, müssen Sie wissen. Die haben da noch Petroleumlampen gehabt und auch keinen Kühlschrank. Das haben sie jetzt. Und der Finn will ja das Haus wieder aufbauen. Er arbeitet sehr fleißig als Handlanger auf dem Bau, bis der Winter kommt.

Er darf auch ab und zu für Touristenführungen im Moor etwas Torf stechen, damit die Menschen sehen, wie das früher gemacht wurde. Den gestochenen Torf darf er dann an die Besucher verkaufen. Es ist natürlich sehr wenig Torf, nur eine Handvoll, mehr darf er nicht stechen, aber er bekommt immer ein gutes Trinkgeld.

Er hat auch ein paar Bienenvölker, die er sehr gut pflegt. Wir haben hier Honig von ihm. Können Sie kaufen! Es ist ein guter Heidehonig. Damit tun Sie den beiden auch zusätzlich etwas Gutes!«

Dann beugte er sich zu Simon und senkte seine Stimme: »Alrun, so heißt das Mädchen, scheint ein bisschen verwirrt zu sein durch das Unglück. Aber ich denke, Alrun ist nicht verrückt. Sie ist nur sehr scheu. Manchmal kann sie bei uns ein bisschen aushelfen, wenn wir sehr viele Gäste haben. Dann hilft sie in der Küche und sie ist sehr fleißig. Dafür geben wir ihr dann etwas zu essen mit nach Hause. Die beiden haben es doch nicht leicht.«

»Ist Alrun das Mädchen mit den blonden Zöpfen?«, fragte Simon den Wirt.

»Ja, das ist sie. Sie spricht aber nicht gern mit den Gästen. Das müssen Sie verstehen, falls sie nicht grüßt. Sie läuft dann immer gleich davon.«

Dann stand Friedhelm auf: »Entschuldigung, ich muss heute noch die Theke sauber machen und Gläser spülen!«, und ging hinter die Theke.

Simons Kriminalsinn war plötzlich geweckt worden. Ob das alles so richtig war? Er sah in Gedanken schon wieder einen »Fall« und überlegte sich, ob er nicht noch mehr darüber erfahren konnte. Niemand kannte ihn hier und wusste somit auch nichts über seinen Beruf.

Er fühlte Mitleid für die Geschwister und nahm sich vor, doch noch einmal zu Finn zu gehen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht konnte er ihnen irgendwie helfen. Wie, das wusste er selbst noch nicht, aber er dachte, das würde sich schon ergeben.

Kapitel 4

Nachdem sich Frau Scherber wieder angeboten hatte, mit ihm auch im Moor spazierenzugehen, hatte er sich durchgerungen, einmal für eine knappe Stunde über den Holzweg mit ihr zu gehen.

Sie hatte unentwegt auf ihn eingesprochen und ihm fast ihr ganzes Leben erzählt. Wie konnte er sie nur wieder loswerden, ohne unhöflich zu sein? So ließ er sie einfach reden und reden und dabei fiel ihr gar nicht auf, dass Simon von sich selbst nichts erzählte.

Zum Glück für Simon zog ein Wetter herauf und in der Ferne hörte er schon ein leises Grollen. Es würde sicher ein Sommergewitter kommen. Deshalb entschlossen sich beide, zum Gasthaus zurückzugehen, was Simon verständlicherweise sehr gelegen kam.

Simon hatte sich zuerst überlegt, am nächsten Tag in die nahe Ortschaft zu fahren. Er war schon sehr früh aufgewacht und entschloss sich nun doch, kurz vor Sonnenaufgang, als noch keine Gäste bei den Tischen waren, einen gemütlichen Spaziergang allein im Moor zu machen. Es war zwar noch kühl und der Himmel war bedeckt. Aber das störte ihn nicht. Er wollte nur allein sein. Allein mit sich und seinen Gedanken.

Der feine Nebel des nahenden Herbstes ließ die Sonne noch nicht durch. Er hatte sich über das noch dunkle Moor gesenkt und hängte sich zwischen das langsam gelb werdende Schilf und die dünnen, abgestorbenen Birken am Rande des schwarzen Sees. Die Wildenten auf dem Wasser hatten ihre Köpfe noch unter ihre Flügel gesteckt und schliefen. Es war ruhig, nur das Schilfrohr wisperte leise, wenn ein feiner Windhauch darüber strich.

Simon lief langsam über die dicken Holzplanken, die mit einem groben, aus dünnen Baumstämmen gezimmerten Geländer zur Sicherheit der Gäste eingefasst waren. Auf dem kleinen Steg über dem schwarzen Wasser blieb er kurz stehen und schaute in das Moorwasser. Er schauderte, als er daran dachte, dass die Mutter der Geschwister hier ins Moor gegangen sein sollte, um ihr unglückliches und sicher auch schweres Leben zu beenden. Was hatte sie hierzu bewegt, solch einen Weg zu gehen? War es ihr trunksüchtiger Ehemann gewesen? Hatte er sie tatsächlich geschlagen – und auch die Kinder? Hatte sie vielleicht auch früher schon einmal an einen Freitod hier im Moor gedacht? Vielleicht auch hatte ihr der Verlust des Hauses und der Tod ihres Ehemanns die endgültige Entscheidung gebracht. Sie hatte ihre unmündigen Kinder einfach allein gelassen. Hatte sie wirklich keinen anderen Ausweg mehr gesehen? Welche Gedanken!

Er ging langsam weiter und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht auf den feuchten Planken auszurutschen, um in den See zu stürzen und dann im Moorwasser zu versinken. Auf solch eine schreckliche Weise wollte er hier sein Leben nicht verlieren.

Undurchsichtige Nebelschwaden zogen an ihm vorbei und ab und zu konnte er das Ufer auf der gegenüberliegenden Seite sehen. Es war gespenstisch um ihn herum und die Stille war fast beängstigend. Die abgestorbenen Birken am Rande des Moores reckten stumm ihre dürren, blätterlosen Äste aus dem Nebel in den grauen Himmel. Der nasse, fast schwarze Holzsteg schien nach einigen Metern in einem undurchsichtigen Grau im Nichts zu verschwinden.

Abrupt blieb er plötzlich stehen. Er meinte, eine Gestalt dicht am Ufer des Sees erkannt zu haben, eingehüllt im Nebel. Was war das? Simon strich sich über die Augen. Da war eine Gestalt, eine Frau mit langen blonden Haaren! Oder war das ein Mädchen? Oder waren es doch nur die Nebelschwaden, die über den See waberten?

In seinen Gedanken lief alles durcheinander:

»Ist das – nein, das kann doch nicht sein! Das ist doch Susi! Das ist doch meine Susi mit ihren langen, blonden Haaren! Susi – wo bist du?«

Er wollte es über den See schreien, nach seiner Tochter rufen, aber er wusste doch, dass seine geliebte Susanne tot war. Sie konnte es nicht sein. Was narrte ihn hier, dass er plötzlich so verwirrt war? Das Moor zog ihn in seinen Bann und die undurchsichtigen, sich drehenden Nebelschwaden verwirrten für einen flüchtigen Augenblick seine Sinne.

Simon konnte es nicht glauben und schloss für kurze Zeit die Augen. Er träumte doch nicht und zwickte sich in die Hand, um zu fühlen, dass er nicht träumte. Nein – er war hellwach! Er zog langsam seine Kamera aus dem Etui. Doch er war nicht fähig, ein Foto zu machen, so gebannt war er von dem, was er da sah!

Der Nebel drehte sich langsam wie in einem Wirbel über dem See und in ihm stand eine schmale Gestalt, die sich langsam wie im Gleichklang zum Nebel drehte. Simon meinte, eine leise Stimme zu hören, ein feines Singen wie von weither.

Die Gestalt schien ihm wie eine verwunschene Fee im fahlen, ersten Morgenlicht zu sein. Die blonden, langen Haare wehten um ihre Schultern und der leichte Wind bauschte ihr dünnes, weißes Kleid auf. Sie schien nackt darunter zu sein. Simon konnte ihre schlanke Gestalt und den Ansatz ihrer kleinen Brüste deutlich erkennen, wenn sich der Nebel ab und zu etwas lichtete. Sie tanzte und drehte sich im Kreise und immer wieder streckte sie ihre Arme in den Himmel, bis ein neu aufkommender, dichter Nebel sie umhüllte, und sie entschwand, so wie sie erschienen war, endgültig seinen Blicken.

War das Wirklichkeit – oder war das ein Traum gewesen? – Was hatte er soeben da drüben am Ufer gesehen? Eine Fata Morgana? Hier im Moor in Deutschland? Unmöglich – oder doch?

Simon stand noch am Geländer angelehnt und starrte fast wie in Trance auf das Ufer gegenüber, wo die lichte Gestalt so schnell wieder verschwunden war. Er hielt die Kamera noch in der Hand und bemerkte, dass seine Jacke und auch die Kamera vom Nebel feucht geworden waren.

»Bin ich verrückt oder sehe ich schon Gespenster?«

Dieses Truggebilde hielt ihn noch fest. War es nur der Nebel gewesen, oder hatte dort wirklich eine Frau mit blonden Haaren getanzt? Er schüttelte den Kopf, verstaute die Kamera wieder im Etui und drehte sich um.

War es wirklich nur seine Einbildung gewesen, weil er sich immer noch so sehr wünschte, seine Tochter könnte wieder bei ihm sein? Ja, so musste es sein.

Sollte er Friedhelm fragen oder vielleicht auch dessen Frau Martha? Vielleicht war es wirklich nur der Nebel und die beiden würden vielleicht heimlich darüber lachen. Er war sich nicht sicher. Sie kannten ja das Moor besser als er. Und bestimmt auch wussten sie viele Geschichten vom Moor zu erzählen.

Jetzt kam auch die Sonne, die den Nebel langsam nach unten gedrückt hatte, aus dem Dunst hervor. Die Tautropfen an den feinen Spinnwebennetzen glitzerten auf einmal wie winzige Diamanten, die man auf einer Schnur aufgereiht hatte. Die Enten auf dem großen Teich fingen an, sich zu putzen, und schlugen kräftig mit ihren Flügeln, um sich zu erwärmen. Simon hörte einen Kuckuck aus dem nahen Kiefernwald rufen – das Moor erwachte langsam aus seinem Schlaf.

Er lief zurück zum Gasthaus, ging noch einmal in sein Zimmer und zog eine trockene Jacke an. Die Tische unter den Kastanienbäumen waren noch nicht besetzt. Niemand sah ihn kommen.

Er nahm sich vor, nichts von dem Erlebten zu erzählen. Niemandem, auch nicht Friedhelm und schon gar nicht Frau Scherber. Was sollten diese von ihm denken. Nein, er entschied, dass er am Nachmittag noch einmal ins Moor gehen würde, um die Stelle zu finden, an der er diese Gestalt gesehen hatte.

Als er Frau Scherber am Kaffeetisch mit dem Ehepaar plaudern sah, fand er die Möglichkeit, an ihnen vorbeizugehen. Er grüßte freundlich, aber es schien, dass »Resi« etwas verstimmt war. Er hatte sich ihrer Meinung nach wohl nicht genug um sie gekümmert, was sie auch gleich der Frau am Tisch erzählte. Simon sah, wie die beiden ihre Köpfe zusammensteckten und dann zu ihm herüberschauten. Er grinste heimlich und freute sich wie ein kleiner Junge, der gerade noch entwischen konnte. Sollten sie doch reden oder tuscheln! Es war ihm egal.

Er fand auch gleich wieder die Stelle auf dem Steg, auf dem er gestanden hatte, da der Himmel jetzt klar war und die Sonne schien. Am Seeufer, dort bei der großen, abgestorbenen Birke, die ihre kahlen Äste in den blauen Himmel reckte, musste diese Gestalt gestanden haben.

Er lief bis zum Ende der Brücke, setzte sich zuerst einmal auf die Planken und ließ seine Beine in der Luft baumeln. Er drehte sich noch einmal nach allen Seiten um. Es war niemand in der Nähe. Dann versuchte er, vorsichtig auf das grasige und bemooste Moor zu treten. Es gluckerte leise und bewegte sich, aber er sank nicht ein. Nach ein paar Schritten jedoch drehte er sich vorsichtshalber um, ging wieder zurück und stieg auf die Holzplanken. Es schien ihm doch etwas zu gefährlich und unheilvoll zu sein.

Er fand nach einer leichten Kurve eine Bank und ruhte sich aus. Er genoss die Wärme und nahm sich vor, noch heute Abend Klara anzurufen. Er wollte unbedingt wissen, ob sie mit dem Fall weiterkamen. Er wollte ihre Stimme hören und ihr erzählen, wie wohl er sich hier fühlte. Simon schloss die Augen, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und lehnte sich zurück. Ja, so hatte er sich seinen ruhigen Urlaub vorgestellt. Gut, dass er hier in der »Einkehr« wohnen konnte. Ihm kam plötzlich der Fall in Hamburg nicht mehr ganz so wichtig vor. Nein, er würde Klara nicht anrufen.

Sie hatte ihm doch gesagt: »Wenn wir nicht weiterkommen, dann rufen wir dich an!« Ja, und so sollte es auch bleiben. Er streckte seine Beine weit von sich und schaute in den wolkenlosen Himmel. –

»Hallo!«

Simon fuhr erschrocken auf und schaute sich um. Hinter ihm zwischen den Kiefern und Büschen stand die Tänzerin von heute Morgen in ihrem weißen Kleid und mit den langen, blonden Haaren. Simon betrachtete die Gestalt erstaunt etwas genauer. Es war ein Mädchen. Es lächelte stumm und sah ihn nur an.

»Wer bist du? – Wie heißt du?«

Und als das Mädchen nicht antwortete, stand Simon auf, drehte sich um und fragte noch einmal:

»Wer bist du? Woher kommst du?«

Das Mädchen lächelte nur, winkte ihm scheu zu und verschwand so schnell, wie es gekommen war, zwischen den Büschen im Moor.

»Lauf doch nicht weg!«, rief ihm Simon hinterher, »ich tu dir doch nichts! – Bleib doch stehen!«

Aber das Mädchen war schon im Moor zwischen den Birken und dann im Gestrüpp und Schilf verschwunden.

Wer war dieses Mädchen?

Woher es wohl kam? – Nur in einem dünnen Kleid, ohne Schuhe – hier mitten im Moor? Das Truggebilde von heute Morgen war Wirklichkeit gewesen. Es war doch durch das Moor gelaufen und war auch nicht eingesunken! Wie war das möglich?

Oder hatte er schon wieder geträumt? Hatte ihn das Moor schon so verhext, wie es manchmal beschrieben wurde, oder war es wieder nur seine Einbildung? Oder waren es seine Wünsche, Susi wiederzusehen?

Nein, er war hellwach. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war Zeit zum Abendessen. Er kehrte um und lief über den Steg zurück zum Gasthaus.

Aber es beschäftigte Simon noch den ganzen Abend. Dieses Mädchen musste sich hier gut auskennen. Aber woher kam es? Ob es diese Alrun war, die mit ihrem Bruder Finn bei dem abgebrannten Haus wohnte? Dieses Mädchen, das er im Gasthaus gesehen hatte, als er ankam? Das konnte er fast nicht glauben. Der Unterschied war zu groß – so meinte er. Dieses Mädchen in seiner derben, ärmlichen Kleidung konnte doch nicht diese anmutige, grazile Tänzerin aus dem Moor sein!

Oder doch?

Sollte er vielleicht doch Friedhelm oder Martha noch einmal fragen? Er würde es sich überlegen.

Kapitel 5

Simon hatte gut gefrühstückt. Es war reichlich gewesen und nun schaute er den Kindern zu, die mit einem bunten Ball spielten. Frau Scherber hatte wohl endlich begriffen, dass er kein »Anhängsel«, wie sie es bezeichnet hatte, wünschte.

»Ich möchte gerne allein sein! Ich bitte Sie höflich, das zu verstehen!«, hatte Simon zu ihr gesagt. Darauf hatte sie sich offensichtlich beleidigt an einen anderen freien Tisch gesetzt. Außerdem saß sie jetzt meistens bei dem älteren Ehepaar, das auch letzte Woche angekommen war, wann immer es möglich war.

Es war Mittwoch, wie er an seinen Fingern abzählte, und er war jetzt schon seit vier Tagen in der »Einkehr«. Er dachte daran, doch noch einmal die Geschwister in der alten Kate zu besuchen, und wollte gerade aufstehen. Da bemerkte er, dass das Mädchen mit den dicken Zöpfen mit einem Tablett auf die Tische zukam, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Es kam mit gesenktem Kopf direkt auf Simons Tisch zu und stellte das Tablett ab. Aber ehe Simon noch fragen konnte, ob es Alrun heiße, blickte es ihn kurz an, legte den Finger auf den Mund, schüttelte leicht den Kopf und lächelte ihn scheu an.

Simon hatte verstanden.

Ja, jetzt wusste er: Dieses Mädchen war Alrun, es war tatsächlich die Tänzerin aus dem Moor.

Er musste unbedingt herausfinden, warum sie im Moor tanzte, warum sie hier so schweigsam war und was es auch mit der abgebrannten Kate und Finn auf sich hatte. Warum trug sie im Moor dieses weiße, durchsichtige Kleid? Es war ihm fast wie ein Nachthemd vorgekommen. So etwas trug man doch nicht am Tag – oder? Sein Kriminalsinn war geweckt. Was steckte dahinter?

Also holte er seine Kamera aus seinem Zimmer, verschwand unbemerkt im Gasthaus und benutzte wieder den Hinterausgang, um in den Wald zu gelangen. Friedhelm hatte verstanden und lächelte wissend, als er an ihm in der Gaststube vorbeiging.

Er wollte die Geschwister nun doch etwas näher kennenlernen. Vielleicht konnte er ihnen helfen? Und vor allem wollte er mehr über Alrun wissen. Sie erinnerte ihn so stark an seine Tochter Susi.

Am liebsten wäre er quer durch den lichten Birkenwald gelaufen, aber als er zwischen den hohen Grashalmen immer wieder auch Schilf entdeckte, ließ er es doch sein. Es war ihm zu gefährlich. Er war schon von der Kate aus unbedacht quer durch den Wald mit den Stellen aus Schilf gelaufen. Das wollte er nun doch nicht wiederholen. So blieb er also auf dem sicheren Waldweg.

Das Moor lockte geradezu mit seinem moosigen Boden seine Besucher, barfuß darüber zu wandern. Die reifen Moosbeeren auf ihren niedrigen Sträuchern glänzten verführerisch wie dunkelrote Korallen und luden ihn ein, näher zu kommen.

Nein, er wollte auf dem Waldweg bleiben. Hier hatte er festen Boden unter den Füßen. Es könnten sich ja auch Kreuzottern im Gras versteckt haben oder irgendwelche andere, kleine Tierchen. So betrachtete er nur vom Weg aus die schöne Glockenheide, die sich mit Wollgras, dessen Blüten wie kleine Hasenschwänzchen aussahen, und kleinen gelben Blumen abwechselte.

Er wurde nicht fertig, all diese kleinen Schönheiten des Moores zu fotografieren. Klara würde sich freuen, wenn sie die Bilder sehen würde.

Klara! Er dachte wieder an Klara. Sie war eine sehr gute Mitarbeiterin und, wie er jetzt feststellte, auch eine wunderbare, verständnisvolle Frau. Sie meinte es wirklich gut mit ihm! Sollte er sie heute Abend einmal anrufen? Nur so – rein privat? Sie würde sich sicher freuen, von ihm zu hören. An den Fall, den das Kommissariat noch zu lösen hatte, dachte er fast schon gar nicht mehr.

Als er wieder die Schranke auf dem Weg umging, schlug der Hund sofort wieder an. Er war sehr wachsam und meldete jeden fremden Besucher. So war es auch dieses Mal. Schon stand der junge Mann mit einer Schaufel in der Hand breitbeinig vor ihm auf dem Weg.

»Sie schon wieder!«, herrschte er Simon an. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht mehr hierherkommen. Wir wollen das nicht!«

»Na, na! Ich will hier nicht rumschnüffeln, wie Sie es das erste Mal gesagt haben. Ich möchte Ihnen erklären, warum ich noch einmal hergekommen bin«, entgegnete Simon und ging noch einen Schritt auf ihn zu.

Sofort fing der Hund wieder zu bellen an. Der Junge drehte sich um: »Sei still und hör endlich auf zu bellen. Komm her und sitz!«, rief er dem Hund zu. Hinter dem hölzernen Zaun war es augenblicklich still. Dann zwängte sich ein schwarzes, großes Etwas zwischen den dünnen Birkenstämmchen hindurch und setzte sich brav neben seinen Herrn. Simon trat einen Schritt zurück.

»Der tut keinem was!«, meinte der junge Mann, »aber das weiß niemand und jetzt nur Sie!«, und er lachte.

Simon betrachtete den Hund. Er war groß und hatte ein zotteliges, etwas ungepflegtes Fell. Seine kleinen Augen verschwanden fast unter den Locken, die zwischen seinen langen Ohren fast bis auf die Nase hingen.

»Das ist Jolle und ich bin Finn«, stellte sich jetzt der Mann mit seinem Hund vor. »Er ist ein guter Wächter und außerdem ist er eine SIE! – Und den«, sagte er zu »Jolle« und zeigte auf Simon, »den kannst du mögen, wenn du willst! Na, geh schon mal hin!«

Jolle schaute zuerst ihr Herrchen an, dann trottete sie langsam zu Simon. Sie beschnüffelte ihn ausgiebig und setzte sich schließlich neben ihn.

»Seh’n Sie, jetzt hat sie schon Freundschaft mit Ihnen geschlossen. Und Sie – wo kommen Sie denn her?«

Na endlich! Das Eis schien gebrochen zu sein. Simon wollte jedoch nicht viel von sich erzählen. Vor allem sollte dieser Finn nicht wissen, dass er Kriminalkommissar in Hamburg war. Es hätte den Verdacht erweckt, dass jetzt die Polizei vielleicht hier wieder suchen und etwas finden könnte – so fern es etwas zu finden gäbe!

»Ich bin aus Hamburg und bin allein hier bei Friedhelm. Wissen Sie ja schon! Ich habe einmal etwas Urlaub gebraucht und bin einfach losgefahren – so immer der Nase nach. Und dann bin ich bei dem Kutscher Klaus gelandet. Der hat mir die ‚Einkehr‘ empfohlen. Ja, und nun bin ich hier. Es gefällt mir hier sehr gut. Man kann sich so richtig erholen!« Simon setzte ab.

Finn betrachtete ihn und dann fragte er:

»Und warum kommen Sie jetzt noch mal hierher?«

»Friedhelm hat mir von Ihrem Unglück erzählt. Ihre Schwester Alrun hilft doch bei Martha in der Küche aus. Ich habe sie schon gesehen. Es tut mir sehr leid, das mit Ihren Eltern, und dass Sie jetzt allein hier leben. Vielleicht kann ich Ihnen ein bisschen helfen, solange ich noch hier bin. Ich will ja noch zwei Wochen in der ‚Einkehr‘ bleiben. Und zupacken kann ich auch, das habe ich schon als junger Mann gelernt.«

Finn betrachtete Simon immer noch etwas misstrauisch. Was sollte er dem »Fremden« sagen. Hilfe konnte er immer brauchen. Aber dass ihm ein völlig unbekannter Mann seine Hilfe anbot, das war neu für ihn.

»Na ja«, meinte er dann schließlich, »ich kann’s ja mal mit Ihnen versuchen. Arbeit gibt’s genug hier. Ich will das Haus wieder aufbauen, versteh’n Sie, damit wir, Alrun und ich, wieder im Haus leben können. Aber es muss erst ausgeräumt und sauber gemacht werden. Das ist keine leichte Arbeit.« Er drehte sich um: »Alrun! – Alrun, komm mal her. Da ist einer, der uns helfen will!«

Es dauerte eine Weile, bis Alrun kam. Sie ging etwas ängstlich auf Simon zu und reichte ihm die Hand.

»Hallo, Alrun, wir kennen uns ja schon von der ‚Einkehr‘, wo du immer hilfst. Du hast so schöne Zöpfe, die gefallen mir. Ich hatte auch einmal eine …«

Simon verstummte. Alrun sah ihn bittend an. Nein, sie brauchte keine Angst zu haben. Er würde nichts von dem Erlebten im Moor erzählen. Vielleicht wusste ihr Bruder Finn das gar nicht?

»Ja«, begann er noch einmal, »ich hatte eine Tochter, die war ungefähr so alt wie du. Aber sie ist gestorben.«

»Warum ist sie denn gestorben?«, fragte Alrun etwas unsicher und schaute ihn an.

»Sie ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es war im Winter und es war sehr glatt auf den Straßen, da ist…«, er stockte und schwieg.

»Oh, das tut mir leid! Wir haben auch keine Eltern mehr. Und du willst uns helfen?« Alrun schien auch verwundert zu sein. »Wie heißt du denn?«

»Ich bin Simon und komme aus Hamburg. Ja, ich möchte euch ein bisschen helfen, solange ich in der ‚Einkehr‘ wohne. Ich brauche ein bisschen Beschäftigung, damit es mir nicht zu langweilig wird.«

Alrun atmete auf. Simon würde sie nicht verraten. Sie lächelte nur scheu und streichelte den Hund.

»Komm, Jolle!«, forderte sie das schwarze Etwas auf. »Wir gehen wieder in den Garten«, und verschwand wieder hinter dem Gartenzaun.

»Wir bauen hier auch etwas Gemüse und Kartoffeln an. Es wächst so einigermaßen«, erklärte Finn, »und wir haben auch ein paar Hühner. Wenn wir die Eier nicht alle aufessen, dann bringen wir sie zu Martha. Dann bekommen wir ein bisschen Geld dafür. Und Honig haben wir auch. Ich habe drüben am Wald, da wo die große Heide beginnt, fünf Bienenkästen stehen. Vielleicht wollen Sie auch etwas Honig kaufen? Mögen Sie Honig?«

»Ja, ich werde mir ein paar Gläser davon mitnehmen. Übrigens – ich heiße Simon!«

»Und ich bin Finn!«, sagte der junge, geschäftstüchtige Mann noch einmal, »kann ich jetzt ‚Du‘ zu dir sagen?«

»Selbstverständlich!« Simon war es recht so.

»Na, dann komm mal morgen früh so um zehn! Dann wollen wir gleich mit der Arbeit anfangen!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783947275052
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Moor Anklage Geheimnis Tänzerin Krimi Verbrechen Heide Liebe Versuchung Gerichtsverhandlung

Autor

  • Amelie Maria Winter (Autor:in)

Anna Margareta Windheim schreibt unter dem Autorennamen „Amelie Maria Winter“ ihre Romane und Erzählungen. Sie wurde in den Wirren des 2. Weltkrieges 1941 geboren. Ihre musisch begabten Eltern weckten schon früh ihr Talent für Musik, Zeichnen und Malen. Freunde auf der ganzen Welt und Reisen in viele Länder der Erde geben ihr die Inspirationen für ihre Romane und Erzählungen.
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Titel: Alrun