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Mördersommer

von W. H. Sarau (Autor:in)
99 Seiten
Reihe: 3 Jahreszeiten, Band 1

Zusammenfassung

Drei gruselig-schaurige Kurzgeschichten aus der Novellensammlung »3 Jahreszeiten«. Epidermis: Der junge Brian führt ein beschauliches Großstadtleben. Er meidet die Gesellschaft um ihn herum so gut es geht, und gibt sich ganz seiner Leidenschaft für Filme hin. All das ändert sich, als die attraktive Elisa neben ihm einzieht … Der Katarakt: Ein langer Heimweg führt zwei Brüder über einen geheimnisvollen See, in dem ein düsteres Geheimnis schlummert … Erntezeit: Peter, ein Schriftsteller, der seine besten Zeiten schon lange hinter sich hat, lebt mit seiner Mutter in einem alten Haus, wo er an seinem nächsten Buch arbeitet. Eines Tages führt ihn sein Weg hinab in die Dunkelheit des weitläufigen Kellers, wo ein uraltes Grauen lauert …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


EPIDERMIS

Der Mond war bereits vor Stunden aufgegangen.

Der fahle Schein der bleichen Scheibe tauchte das Land in silbriges Zwielicht und war gerade hell genug, um der Dunkelheit ein wenig Einhalt zu gebieten.

Während er atemlos durch den Wald lief und die harten Schatten durchschnitt, die die stumm aufragenden Bäume auf den Boden warfen, dankte er Gott dafür, dass er ihn nicht blindlings durch die Finsternis tappen ließ.

Die letzten Tage hatte es ausgiebig geschneit, und der tiefe Schnee erschwerte sein Vorankommen. Jeder Schritt fühlte sich an, als läge eine tonnenschwere Last auf seinen Schultern. Seine Beine schmerzten, und sein Herz pochte wild in seiner Brust. Für einen Augenblick verfluchte er die Art und Weise, wie er sein bisheriges Dasein verbracht hatte. Die Folgen seines dekadenten Lebensstils schienen ihn just in diesem Moment einzuholen, denn schon nach der kurzen Stecke, die er in diesem unwegsamen Gelände zurückgelegt hatte, fühlte er sich der Erschöpfung nahe.

Sein Körper war träge und schwerfällig geworden.

Er konnte es deutlich spüren.

Die noch vor wenigen Jahren kaum sichtbaren Ringe um seine Hüften waren inzwischen zu träge wippenden Schläuchen mutiert, die von der Schwerkraft unbarmherzig nach unten gezogen wurden und seine Haut unangenehm spannten. Seine Muskeln waren weich, gerade noch kräftig genug, um ihn in der Welt dort draußen zehn, vielleicht zwanzig Stufen hoch zu tragen, ohne dass er kurzatmig wurde. 

Die schlimmsten Spuren jedoch hatte sein ausgiebiger Nikotingenuss hinterlassen. Leises Pfeifen während er schlief, ekelhafter Auswurf am Morgen; all das war zu einem festen Bestandteil seines Lebens geworden, aber er hatte es stets mit überheblicher Lässigkeit beiseite gewischt. 

Das Brennen in seinen Lungen während dieser ungewohnten Anstrengung jedoch konnte er kaum noch ignorieren. Der fehlende Sauerstoff, nach dem die schwer arbeitenden Muskeln verlangten, der jedoch durch die verstopften Blasebälge seines Atmungssystems nicht mehr zu seinen Arterien gelangte, vermittelte ihm das Gefühl, als hätte man ein glühendes Brandeisen in seinen Brustkorb getrieben. Alles brannte und schmerzte, und in regelmäßigen Abständen gab er ein bellendes Husten von sich.

Dennoch lief er immer weiter.

Denn all diesen Umständen zum Trotz trieb ihn der Urinstinkt der menschlichen Natur voran: der Wille zu überleben. Dieser hatte den Menschen seit jeher übermenschliche Leistungen entlockt, vor allem in Extremsituationen.

Während er keuchend durch dieses Labyrinth aus Bäumen hastete, arbeitete sein Verstand fieberhaft daran, die Ereignisse der letzten Wochen Revue passieren zu lassen; versuchte verzweifelt zu rekonstruieren, welche Kette unseliger Ereignisse ihn hierher geführt hatte.

Er blieb abrupt stehen und stützte die Arme auf seine Beine.

Sein Brustkorb schmerzte, als hätte er den Zigarettenvorrat eines ganzen Jahres auf einmal in sich hineingesogen, und seine ausgedörrte Kehle kratzte unablässig und verlangte nach Wasser.

Er wandte sich um und blickte den Hang hinter sich hinab.

Die verfluchte Hütte, aus der er vor kurzem entkommen war, lag noch in Sichtweite.

Noch immer suchte der rotgoldene Schein, der aus den Fenstern trat, durch das Gestrüpp hindurch den Weg in seine Richtung.

Obwohl er schweißgebadet war, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

Es hätte in der Tat ein schöner Abend werden können.

Die Voraussetzungen waren mehr als günstig gewesen.

Ein abgelegenes Irgendwo mitten im Nirgendwo. Die behagliche Wärme eines knisternden Kaminfeuers, gutes Essen, teurer Wein und eine Frau, die ohne weiteres als Masturbationsvorlage an den Spindtüren von Fabrikarbeitern hätte prangen können. Jedes romantische Klischee, das natürlich nur den Boden für heißen Sex hätte bereiten sollen, war bedient worden, und unter normalen Umständen hätte dies zu einer hemmungslos ekstatischen Nacht geführt, deren schweißgebadete Umtriebe für immer ein Geheimnis dieser Wälder geblieben wären.

Doch alles war ganz anders gekommen.

Selbst in seinen kühnsten Albträumen hätte er sich kein Szenario vorstellen können wie jenes, das sich noch vor wenigen Minuten dort unten abgespielt hatte.

Er wischte diese Gedanken mit einem Ächzen beiseite und nahm seinen beschwerlichen Lauf wieder auf.

Unmittelbar vor sich erkannte er den schmalen Grat der höchsten Erhebung des Hügels, an dem sich das Ende dieser Tortur vor dem Licht des Mondes abzeichnete.

Hoffnung keimte in ihm auf.

Die Distanz bis zum Ende der Mühseligkeit begann wie eine rückwärts tickende Uhr vor seinem inneren Auge abzulaufen. Nur noch wenige Meter, und es würde bergab gehen. Seine Schritte würden leichter und schneller werden, und die rettende Straße, die er irgendwo im nächsten Tal vermutete, wäre zum Greifen nah.

Die Hoffnung auf seine Erlösung verlieh ihm Flügel.

Er versuchte, die noch verbliebene Strecke zur rettenden Anhöhe durch den dunklen Vorhang aus schneebedeckten Bäumen abzuschätzen.

Vielleicht noch fünfzehn Meter?

Noch zehn?

Das Ziel unmittelbar vor Augen, mobilisierte er die letzten Reserven des geschundenen Kartoffelsacks, der sich Körper nannte, und nach einigen weiteren, für ihn beinahe gigantischen Sätzen erreichte er die schmale Brücke, die vom Aufstieg hinab in den erlösenden Abstieg führte.

So hoffte er zumindest.

Er hatte den Abgrund vor sich beinahe nicht kommen sehen, und nur mit Mühe gelang es ihm noch rechtzeitig anzuhalten.

Instinktiv wollte er einen Schrei der Verzweiflung ausstoßen, den er nur unter Aufbietung all seiner Selbstbeherrschung unterdrücken konnte.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte er in die Schlucht hinab, die den so sanft wirkenden Hügel genau an seiner höchsten Erhebung wie eine klaffende Wunde durchschnitt. Der gegenüberliegende Teil dieses unwirtlichen Landes lag etwas tiefer, sodass er schemenhaft erkennen konnte, wohin ihn sein Fluchtweg geführt hätte.

Er sah nichts als Wald.

Endlosen, schwarzen, dichten Wald, der sich bis zum weit entfernten nächtlichen Horizont erstreckte.

Erschöpft und verzweifelt sank er auf die Knie.

Der mit hartem Schnee bedeckte Boden sandte augenblicklich frostige Wellen durch seine Beine; und während der Mond langsam hinter einer vorbeiziehenden Wolke verschwand und ihn in der Dunkelheit zurückließ, griff er mit beiden Händen in die Kälte und ließ seine Wut an der eisigen Erde unter sich aus, indem er einige gefrorene Grasbüschel, die er unter dem Schnee ertastet hatte, erbarmungslos würgte.

»Fick dich, du beschissener Wald!«, fluchte er leise vor sich hin, während er begann, wie von Sinnen auf den unschuldigen Boden einzuschlagen.

Er verspürte das Verlangen, sich niederzulassen, sich in diesem elenden Schnee einzugraben, ganz der Kälte hinzugeben, die ihn irgendwann sanft einschlafen lassen würde.

Er hatte gehört, dass diese Art zu sterben eine der angenehmsten wäre.

Doch ein leises Rascheln hinter ihm ließ ihn plötzlich hochschrecken.

Er erhob sich langsam.

Im spärlichen Licht, das noch übrig war, sah er, wie er bei jedem Atemzug kleine Rauchschwaden ausstieß, so dicht, dass der Eindruck entstand, sein Inneres wäre kochend heiß.

Für einen Augenblick hoffte er, dass es irgendein verirrtes Tier wäre, das er mit seinem nächtlichen Gepolter aufgeschreckt hatte.

Er warf einen Blick über die rechte Schulter und erstarrte.

Die Bäume hinter ihm schienen plötzlich verschwunden zu sein.

Er wandte sich ruckartig um, in der Hoffnung, seine Augen würden ihm einen Streich spielen.

Doch da gab es nichts mehr.

Lediglich ein schwarzes Etwas, das sein gesamtes Blickfeld einnahm. Etwas, das wie eine dunkle Wolke wirkte, die alles um ihn herum, Steine, Bäume, Erde und Gras, verschluckt hatte.

Und darin bewegte sich etwas.

Er hörte schmatzende, würgende Laute, die von einem gelegentlichen Zischen unterbrochen wurden.

Ein urplötzlich in ihm hochschießender Fluchtreflex ließ ihn kehrt machen. Er wandte sich wieder dem Abgrund vor seinen Füßen zu, während sein fieberhaft arbeitender Verstand in Sekunden seine Optionen abzuwägen begann.

Die Bäume dort unten würden seinen Sturz auffangen, war seine von purer Verzweiflung genährte Erkenntnis.

Er machte einen schnellen Schritt in Richtung der dunklen Tiefe, als er plötzlich zurückgehalten wurde. Irgendetwas hatte sein rechtes Bein erfasst, und er spürte, wie sich ein eiserner Griff darum schloss.

Er stieß einen gellenden Schmerzensschrei hinaus in die Nacht, den die Kluft unter ihm mit dumpf klingenden Echos beantwortete.

Er konnte spüren, wie sich an mehreren Stellen etwas Spitzes in sein Fleisch bohrte. Ein unerträgliches Brennen durchfuhr seinen gesamten Körper.

Verzweifelt packte er seinen Oberschenkel mit beiden Händen und begann unter Aufbietung all seiner noch verbliebenen Kräfte, wie irre daran zu ziehen. Doch je mehr er sich gegen diese Umklammerung zur Wehr setzte, umso fester wurde der Griff. Schien- und Wadenbein gaben ein bedrohliches, leises Knacken von sich.

Schließlich mobilisierte er seine letzten Reserven und riss mit unbändiger Kraft das Knie in Richtung seines Kinns.

Zu seiner Überraschung ließ der Angreifer tatsächlich los.

In diesem Moment wagte sich der Mond wieder zwischen den Wolken hervor.

Fassungslos starrte er auf die Stelle, die einst sein Bein gewesen war. Alles, was er noch sah, waren bleiche Knochen, an denen Fetzen von Fleisch hingen. Dunkles Blut tränkte den Schnee unter ihm. Der nach Metall riechende, klebrige Lebenssaft lief in Strömen auf den kalten Boden hinab. Im Mondlicht sah er beinahe schwarz aus. Der Schock hatte ihn gegen die unmenschlichen Schmerzen unempfindlich gemacht, die er unter normalen Umständen hätte empfinden müssen. Sein fassungsloser Verstand suggerierte ihm lediglich ein leichtes Ziehen, das ihm wie ein sanftes Kribbeln durch Mark und Bein fuhr.

Er wusste, dass heftiger Schmerz folgen würde, sobald die Schockstarre von ihm abfiel und sein Körper die Schleusen der Empfindungen wieder öffnete.

Er rappelte sich mit einem Ächzen hoch und blickte hinab in die Schlucht.

Nichts hielt ihn mehr zurück. Er würde fallen und fallen und den Grund inmitten dieser Leere dort unten nicht kommen sehen. Für einen Augenblick stellte er sich die irrwitzige Frage, ob er am Ende seines Sturzes jenes Licht sehen würde, von dem die immer Rede war, wenn es um den unmittelbaren Augenblick des Todes ging. Dann, wenn sein Kopf an irgendeinem Felsen zerschmettert werden würde, wenn sich sein Gehirn schließlich wie Erbrochenes auf dem Waldboden verteilte und zum Festmahl für die Aasfresser wurde. Würde er sich fragen, warum er eigentlich gelebt hatte und warum er ausgerechnet hier hatte sterben müssen?

Er wischte all die störenden Gedanken beiseite und setzte zu seinem allerletzten Sprung an.

Doch in diesem Moment schoss die gesamte dunkle Masse auf ihn zu.

Etwas Weiches, Warmes begann ihn von Kopf bis Fuß einzuhüllen.

Die Luft um ihn herum wurde warm und muffig. Sie trocknete die Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren. Zurück blieb eine klebrige Masse, die seine Augenlieder aneinander haften ließ, sodass er kaum noch imstande war, sie zu öffnen. Als er begann, um Hilfe zu rufen, verschluckte die Finsternis seine Worte mühelos. Die Masse um ihn herum wurde zu einem Wortfresser. Kaum schrie er hinein, war es so, als hätte er nie einen Laut von sich gegeben. Ein seltsamer Duft stieg ihm in die Nase, bitter und derart intensiv, dass es ihm augenblicklich die Sinne vernebelte.

Er fühlte, wie sich ein dicker Wulst aus dieser warmen Wand um ihn herum löste und langsam damit begann, sein Rückgrat hochzukriechen. Vorsichtig und vor gieriger Erwartung zitternd fand er schließlich seinen Schädel und stülpte sich wie eine Plastiktüte darüber. Scharfe, widerhakenähnliche Auswüchse bohrten sich in seine Kopfhaut, während sich der Sack wie ein gigantischer Blutegel weiter und weiter über sein Gesicht schob. Blut und Speichel schossen wie eine Fontaine aus seinem Mund und seinen Nasenlöchern. 

Sein Schädelknochen knackte bedrohlich.

Die Spannungsschmerzen, die sich in seinem Inneren aufbauten, wurden zu einem tosenden Gewittergrollen, das ihn mehr und mehr einer Ohnmacht entgegentrieb.

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis er nicht mehr fähig war, Luft zu holen. Sein Rachen versuchte gierig, den rettenden Sauerstoff einzusaugen, doch alles, was sein Schlund noch zu fassen bekam, war diese weiche pulsierende Masse, die sich bei jedem versuchten Atemzug in sein Inneres wölbte.

Während die rettende Ohnmacht langsam in seinen Schädel kroch, merkte er noch, wie Tausende gierige kleine Zähne sich an seinem Fleisch zu schaffen machten. Das Knirschen überwand selbst seine mittlerweile tauben Ohren.

Mit einem Ruck wurde sein Brustkorb zerquetscht. Rippen brachen, das letzte Quäntchen Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, und die inneren Organe, allen voran sein Herz, wurden zu dünnen Blättern geformt.

Sein Körper versagte ihm zu seinem eigenen Schutz schon seit Sekunden jegliches Schmerzempfinden. Die darauf folgende Schockstarre wirkte wie eine Erlösung.

Den Moment, in dem sein Kopf schließlich unbarmherzig zermalmt wurde, nahm er nicht mehr wahr.

Meine Stadt und ihre Straßen.

Tausende von Straßen, die wie ein gigantischer Blutkreislauf das Ödland unseres modernen Lebens durchschnitten und in einem endlosen Strom die Fracht unseres Daseins beförderten. Tag und Nacht Gestampfe, Geratter, Gebrumme und Gekreische.

Ein Meer aus Gebäudekomplexen, Wegweisern, Ampeln, Brücken, Parkstreifen, Mautstellen und vor allem Kreuzungen, an denen sich das Treiben zu jeder Tages- und Nachtzeit staute; wenn die Arterien und Venen die Massen würgend dagegen drückten.

Und dazwischen Häuser.

Häuser wie das meine.

Die Höhlen des modernen Zeitalters.

Die Enklaven der Einsamkeit.

Im Grunde war es ein moderner Ablageschrank für typische Angehörige des sogenannten Mittelstandes. Junge Aufsteiger teilten sich diese Symbiose aus altem Dreißigerjahre-Backsteinbau und modernem Wohndesign mit den Übriggebliebenen der Vorgängergeneration, die noch einmal hipp sein wollten und deren Rente ausreichte, um den ansehnlichen Mieten mit entsprechender Gelassenheit begegnen zu können.

Irgendein raffgieriger Immobilienhai hatte sich die alte Fabrik vor etwa zehn Jahren unter den Nagel gerissen, das seelenlose Maschineninventar samt alter Einrichtung verschrottet und alles durch moderne Lofts ersetzt, die ganz im Stil des zu der Zeit so angesagten Industrial Style gehalten waren. Die Bewohner nannten das Haus noch immer „die Fabrik“. Ich wohne in der Fabrik, war ein Slogan, der schnell die Runde gemacht hatte.

Das Bauwerk hatte Außenwände aus rohem, rotem Backstein, die für die damalige architektonische Epoche typisch waren. Dazwischen Innenausbau aus Gipsplatten, die in ihrem makellosen Weiß die Feuchtigkeit aus der Luft saugten, und vor allem: dicke Trennwände zu den daneben liegenden Appartements. Drei Handbreit massiver Beton waren hilfreich, wenn der angehende Börsenmakler aus der Nachbarschaft samt Anhang in koksgeschwängerter Atmosphäre die Nacht zum Tage machte oder die fast taube Rentnerin über einem die Lautstärke ihres Fernsehers derartig aufdrehte, dass der Lärmpegel einem Flugzeugstart glich.

Und dazwischen war ich.

Ich und mein kleines, aber feines Reich, für das ich, ganz in der Tradition des Nestbauwahns meiner Generation, die gesamten Ersparnisse meines bisherigen Lebens aufgewendet hatte. Ich hatte alles, was das moderne ›Schöner Wohnen‹-Herz begehrte. Ganze Monatsgehälter verschlingende Designermöbel, eine durchaus ansehnliche Küche, samt üppigem Inventar, inklusive original chinesischer Kochutensilien für fettarmes Gebrutzel und natürlich ein entsprechend repräsentatives Kaffeeservice samt verchromtem Vollautomaten – alles handgefertigt in der Wiege der Kultur namens Europa, von wo aus es schließlich, um die halbe Welt befördert, zu horrenden Preisen auf Abnehmer wie mich wartete. Illusionisten, die der Meinung waren, eine entsprechende Innenausstattung würde ihre Persönlichkeit etwas mehr abrunden.

Ich zählte mich weder zu den jungen Aufsteigern noch zu den alten Absteigern, sondern sah mich als irgendetwas dazwischen. Mein Brötchen verdiente ich als Werbetexter in einer der angesehensten Agenturen der Stadt; ein Job der mich weder besonders ausfüllte, noch besonders ankotzte, auch wenn ich den ganzen Tag nichts anderes tat, als meine gesamte Kreativität für die verbale Untermalung von Kampagnen aufzuwenden, an deren Ende nur Schrottprodukte standen, die im Grunde keiner brauchte, jedoch jeder unbedingt haben musste.

Kaufen Sie das Waschmittel XY! Antibakteriell, antiallergen und vor allem: antinützlich. Derartige Scheiße begegnete mir tagtäglich. Noch besser waren die Verkaufskampagnen für Mobiltelefone, beziehungsweise deren Nachfolger, die Smartphones, die von allen Überflüssigkeiten des modernen Lebens das überflüssigste überhaupt waren. Gemeinsam mit den stinkenden Karren der allgegenwärtigen Autoindustrie vereinten sie auf eindrucksvolle Weise jenen Lifestyle-Anspruch einer Generation, der von ihren Erzeugern die Maxime eingetrichtert worden war, dass man nichts war, wenn man nichts besaß.

Die Welt war zu einem absurden Ort geworden.

Und ich war ein Teil davon. Mehr als das. Durch meine Arbeit war ich einer der Katalysatoren, die den Kreislauf der Verdammnis noch beschleunigten.

Für mich hatte diese Entwicklung aber auch etwas Gutes: Ich war über die Jahre vollkommen unempfindlich für diese Art der Beeinflussung geworden. All der glitzernde Ballast, der einen tagtäglich umgab, hatte für mich weniger Bedeutung als die Luft, die ich atmete. Sie war einfach da. Sie war eine Selbstverständlichkeit. Aus und gut.

Würde man gängige Farbpaletten für als Vergleich für den allgegenwärtigen Mainstream heranziehen, so lag dessen Colourierung irgendwo zwischen stumpfem Grau und schmierigem Braun.

Der einzige Vorteil dieser Anstellung bestand darin, dass mein Arbeitsplatz lediglich drei Blocks von meinem ach so geliebten Loft entfernt lag, was mir nicht nur die finanzielle Aufwendung für ein Fahrzeug ersparte, sondern besonders morgens sehr viel Zeit.

Zeit, die mir für mein liebstes Hobby blieb: Filme, Filme und nochmals Filme. Und auch dann und wann ein gutes Buch.

Leidenschaften wie diese brachten ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit mit sich. Zwar gilt gemeinhin der Besuch des Kinos und damit der Konsum von Filmen als Gemeinschaftserlebnis, doch der Gedanke an Popcornschmatzer, Getränkeschlürfer oder den krausen, sich hoch auftürmenden Afrohaarschnitt vor mir, bei dem man unweigerlich das Gefühl hatte, der Mond würde innerhalb der Leinwand aufgehen, hatte mir noch nie sonderlich behagt.

Und so leistete ein ultrahochauflösender Screen nebst Surroundanlage und eigener Popcornmaschine entsprechend Abhilfe, und meine Sammlung an Filmen nahm inzwischen ganze Regalwände ein, sodass ein halbes Leben von Nöten war, um sie sich auch nur ansatzweise alle zu Gemüte zu führen.

Das hatte natürlich zur Folge, dass sich meine sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert hatten, was für einen frischgebackenen Dreißigjährigen nicht gerade dem üblichen Standard entsprach. Ich hatte an meiner Nachbarschaft ebenso wenig Interesse wie sie an mir, was im Übrigen auch auf das andere Geschlecht zutraf.

Nachdem ich meine Sicht auf Frauen schon sehr früh in zwei Kategorien unterteilt hatte – nämlich fickbar und nicht fickbar – hatten all meine bisherigen Beziehungen ähnlich vorherbestimmte Verläufe genommen, an deren Ende immer wieder dasselbe stand: fundamentales Scheitern. Der Grund dafür, so denke ich, war nicht, dass ich nicht den entsprechenden Enthusiasmus in diese Partnerschaften einbrachte; er lag vielmehr in der Erkenntnis verwurzelt, dass zum einen die Fickbaren zu oberflächlich waren, um mit ihnen ernsthafte Gespräche führen zu können, geschweige denn sie auf intellektuelle Diskurse in punkto Filme mitzunehmen. Die Unfickbaren hingegen waren im Prinzip zwar für beides zu haben, doch ... nun ja, jedem Vertreter meines Geschlechts, der zumindest ansatzweise über so etwas wie ästhetisches Empfinden verfügt, dürfte klar sein, worauf ich hinauswill. 

Beiden Kategorien, sofern man sich dazu herabließ, Kategorie zwei zu besteigen, wohnte zusätzlich noch ein beinahe identisches Problem inne: die Tatsache, dass Frauen nur so lange interessant waren, bis man sich in oder auf ihnen erleichtert hatte. Jedes Mal, wenn ein Intermezzo dieser Art sein schweißtreibendes Ende gefunden hatte, wurden in mir augenblicklich Fluchtinstinkte wach, die, so denke ich aufrichtig, jeder andere Mann ebenso empfindet, wobei es der heuchlerisch gute Ton aller Gesitteten in der Regel verbietet, es offen auszusprechen. All das war die Folge des unerträglichen Gleichberechtigungswahns, der uns Männern abverlangte, auf die Bedürfnisse des anderen Geschlechts sensibel einzugehen; dem hormonellen Loch zum Trotz, in das man postkoital zu fallen pflegte.

Und so war es schließlich gekommen, wie es kommen musste.

Beziehungen, Freundschaften, Bekanntschaften waren dahingeschmolzen wie Eis, das aus den Scheißhäusern von Flugzeugen fällt, und ich reduzierte mich selbst auf das, was vom Leben noch übrig geblieben war.

Gleichklang, absoluter Gleichklang, war für mich nicht nur oberstes Gebot, es war zur unumstößlichen Maxime meines Lebens geworden.

Und ich war glücklich damit.

Doch all das änderte sich, als SIE einzog.

Aus beruflichen Gründen musste ich für etwa eine Woche in eine Stadt im Südosten reisen. Vier Stunden hin, vier Stunden zurück, rein in eine neue Zeitzone und wieder raus. Dazwischen eine endlose Reihe schlecht gelaunter Gesichter an den Flughäfen, miserabler Bordfraß, den man in einer Luft konsumierte, die mit den wiederaufbereiteten Fürzen anderen Mitreisender verschnitten war. Eine Stunde weg, eine Stunde hinzu, bis man schließlich von Kopf- und Halsschmerzen geplagt wieder sichtbar erleichtert in sein früheres Leben wankte.

Und all das für eine Besprechung von gerade mal zwei Stunden mit einem Großindustriellen, der sich zwingend in der Verantwortung sah, das ohnehin bereits reichliche Sortiment an Frühstücksflocken auf dem Markt um eine weitere, unersetzliche Variante zu ergänzen. 

Gespräche wie diese waren in der Regel äußerst unproduktiv. Zumeist ergingen sich die potenziellen Auftraggeber in eitler Selbstbeweihräucherung, obwohl ihr hoch angepriesenes Produkt eine ebenso ungenießbare Pampe war wie der Rest der ach so wertvollen Frühstückscerealien, die bereits erhältlich waren; vor allem dann, wenn man ihnen dreißig Sekunden zu lange Milch zumutete. 

Schlimmer noch als die Drittklassigkeit des zu vermarktenden Produktes waren das Geschleime, das artige Genicke und das ständige Hofieren des Auftraggebers von Seiten des begleitenden Verkaufspersonals, dem bei der Aussicht auf die bevorstehenden Gewinnmargen dieses Deals der Sabber aus den Mundwinkeln lief.

In Wahrheit war all dies nichts weiter als ein Marathon des sich Anbiederns und des sich Selbstverleugnens.

Und ich mittendrin. Ein jegliche gesellschaftliche Konventionen verleugnender Einzelgänger, der allergrößte Mühe hatte, den zuvor in aller Eile verzehrten Flughafen-Burrito in seinem bereits hochgradig angeschlagenen Magen zu behalten.

Bei positivem Geschäftsabschluss endete es stets auf die gleiche Weise.

Während die weiblichen Teilnehmer der Delegationen sich in noblen Clubs so lange hemmungslos besoffen, bis sie ihre sündteuren Designeranzüge vollkotzten, nur um wenig später halb nackt in ihren vollgepissten Slips einzuschlafen, neigte die Krone der Schöpfung dazu, sich von Tausend-Dollar-Nutten oral ihre Schwänze polieren zu lassen oder, wenn sie es ganz wild trieben, Koks im Wert von dreihundert Dollar das Gramm, aus den gebleichten Arschrosetten derselbigen zu sniffen. 

Ich hatte bereits sehr früh gelernt, von derartigen Brachialorgien Abstand zu nehmen, und ließ mich jedes Mal bei meinen Kollegen entschuldigen oder ergriff schon am Flughafen unter Zuhilfenahme fadenscheiniger Ausreden die Flucht.

Und so geschah es, dass ich am Ende eines heißen Sommertages, nachdem ich mich quälend über drei Blocks in Richtung der erlösenden Ruhe meiner Heimstatt geschleppt hatte, das blitzblank polierte Foyer meiner geliebten Fabrik betrat. Den Gestank von salzig-sauren Körpergerüchen und schlechtem Barbecue, der an solchen Tagen träge über den Straßen lag, und die Hunderte Diabetes-zwei-Typen, die ihre fetten Ärsche über den Asphalt schoben, hinter mir lassend, umfing mich augenblicklich die vertraute Aura der Backsteine, die in hellem Rot in der untergehenden Sonne leuchteten.

Doch an diesem Tag war etwas anders.

Ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen.

Da war dieser Geruch.

Dieser betörende Geruch – irgendetwas zwischen teurem Parfum und den pheromongeschwängerten Ausdünstungen einer potenziell Fickbaren, die ohne weiteres imstande war, einem Mann wie mir schlaflose Nächte zu bereiten.

Wie ein Raubtier, das die Witterung einer vermeintlichen Beute aufgenommen hatte, folgte ich der verlockenden Geruchsspur, die mich, entgegen meiner Geflogenheiten, den Lift zu nehmen, ins Treppenhaus führte, das sich in kurzen Bögen hinauf in den vierten Stock wand; jenem Stockwerk, in dem mein Heiligtum auf meine Rückkehr wartete.

Ich betrat erwartungsvoll den Flur, in dem sich die lange Kolone an Wohnungstüren in geometrischer Präzision aneinanderreihte, bis sie sich in einem kleinen Viereck aus glattem Beton in der Ferne verlief.

Und dort sah ich sie.

Sie war eine der Frauen, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprachen – das wäre auch zu billig und vulgär gewesen und hätte wohl meine Aufmerksamkeit augenblicklich auf das nötige Minimum eines höflichen ›Hallo‹ reduziert – vielmehr umgab sie eine Aura des Geheimnisvollen, wenngleich auch potenziell Gefährlichen, wie ich es selten zuvor bei einer Frau gesehen hatte.

Zweifellos war sie bereits ein älterer Jahrgang, vielleicht so um die Vierzig, was mich in keinster Weise irritierte, da mein erstes sexuelles Erlebnis im zarten Alter von sechzehn sich mit einer Frau ereignet hatte, die gut zehn Jahre älter gewesen war. Seit dieser Zeit hatte ich eine gewisse Affinität zu reiferen Damen. Und selbst meine mittlerweile verquere Ansicht über das andere Geschlecht vermochte es nicht, mich der Aura dieser Fremden zu entziehen.

Ich musterte sie eingehend, jedoch mit gebotener Unauffälligkeit.

Ihr Haar, das weit über ihre Schultern hinabfiel, war dunkel, ebenso wie ihre Augen, die mir aus einem Gesicht, das bereits die eine oder andere winzig kleine Falte aufwies, entgegenfunkelten, sobald ich den Flur betreten hatte. Ihrer Figur besaß die perfekte Balance recht ansehnlicher natürlicher Titten, gepaart mit einem dieser Ärsche, die in früheren Zeiten mit Sicherheit Modell für die ikonische Herzform gestanden hatten, mit der Teenager noch immer ihre Kurznachrichten verzierten. Ihre Beine entsprachen nicht dem Ideal, das einem von großen Plakatwänden entgegensprang; nicht jene spiegelglatten, undefinierten, überlangen Läufe der sogenannten Supermodels, die eher wie Zahnstocher wirkten, die einen teigigen Hintern auf und ab wippen ließen. Nein, sie wiesen jene kleine Rille zwischen Quadriceps femoris und Biceps femoris auf, die darauf hinwies, dass sie Sport trieb, was zufälligerweise neben meinem cineastischen Hobby mein zweites Laster darstellte. Eine schier endlos lange Zeit hatte ich mir immer wieder die Frage gestellt, für wen ich mich eigentlich noch fit hielt. Ich hätte meinen Hintern nach der Arbeit auch in meinem Fernsehsessel parken können und das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen.

Jetzt wusste ich es.

Als ich für einen kurzen Moment am Beginn der Flurs verharrte und den einen oder anderen begehrlichen Blick auf dieses Geschöpf warf, sah ich uns bereits vor meinem inneren Auge Seite an Seite Tag für Tag durch den Park laufen, nur um später unter der Dusche meine Lenden gegen diesen perfekten Arsch schnellen zu lassen, während heißes Wasser an ihrem Rücken herablief.

Schon der Gedanke daran ließ das Blut in meine unteren Regionen schießen.

Sehr zu meiner Freude verrieten mir die Umzugskartons, die auf dem Boden verstreut herumstanden, dass sie im Begriff war, nur zwei Türen neben mir einzuziehen.

Die Szenerie hätte nicht perfekter sein können.

Wäre da nicht Mark gewesen.

Mark, der schleimige, sonnengebräunte angehende Börsenmakler, der, im Anglerjargon gesprochen, bereits seine Rute nach der neuen Nachbarin ausgeworfen hatte.

Sein Gehabe hatte mich schon immer angekotzt. Man hatte in seiner Gegenwart ständig das Gefühl, er würde einem mit imaginären Geldscheinen vor der Nase herumwedeln. Der perfekt sitzende Designeranzug, das anabolikagestärkte Kinn, vor allem aber die durch Tonnen von Gel geformte Frisur waren nur einige der sichtbaren Merkmale dieses Paradekarrieristen. Selbst ein Orkan der Stärke fünf hätte diesen betonharten Haarschopf nicht aus seiner Fasson bringen können.

Da stand er nun, einen seiner massigen Arme gegen die Wand neben ihr gepresst, während er einen Redeschwall nach dem anderen auf das Objekt meiner Begierde abließ. 

Zu meiner Überraschung reagierte sie erstaunlich ungerührt darauf. Nichts in ihrem Verhalten ließ auch nur annähernd erkennen, dass sie Interesse an diesem Schleimbolzen hatte. Dann und wann ein höfliches Lächeln war das einzige sichtbare Zugeständnis, das sie ihm machte. Ansonsten stand sie mit verschränkten Armen da, während sie recht gelassen die verbale Selbstbeweihräucherung des mutmaßlichen Freiers ertrug.

Doch die knappen Antworten, die sie ihm gab, reichten völlig aus, um den Klang ihrer Stimme durch den Flur zu mir herüberzutragen. Entgegen meiner Erfahrungen mit Frauenstimmen, die zumeist in Tonlagen angesiedelt waren, die einem schon nach wenigen Minuten Konversation dröhnende Kopfschmerzen in die Schläfen trieben, besaß ihre Stimme ein verheißungsvoll angenehmes Timbre, gepaart mit einer gewissen Rauheit, das mich für einen kurzen Moment erschaudern ließ. Nein, das war nicht das schrille, wortüberbordende Geschnatter, bei dem man mit zunehmend steigender Tonhöhe das Gefühl bekam, ein Maschinengewehr würde seine verbale Kanonade auf einen abfeuern. Was die Sache unter normalen Umständen noch spannender machte, war die Tatsache, dass die Begeisterung bei einem Beschuss dieser Art in direktem Verhältnis zur Banalität des Themas sogar noch anstieg. Schädelbrummen war also regelmäßig garantiert. 

Dies war eine Stimme, die benutzt wurde, um den eher banalen Botschaften auf Entspannungstonträgern die entsprechende Würze zu verleihen.

Trotz meines inneren Drangs, sofort begeistert auf diese neue Mitbewohnerin zuzustürmen, quittierte ich die Gegenwart der beiden lediglich mit einem knappen, aber freundlichen ›Hallo‹, schloss die Tür zu meinem Appartement auf und setzte alles daran, so schnell wie möglich und dabei natürlich entsprechend gewandt darin zu verschwinden.

Ich beschloss den Tag damit, noch eine Zeit lang mein Ohr gegen die Tür zu pressen, um vereinzelte Wortfetzen aufzufangen, was in Anbetracht der tresorartigen Beschaffenheit des Monstrums, das mein Appartement versiegelte, ein eher aussichtsloses Unterfangen war. Daher fiel ich nur wenig später in meinen Sessel und gab mich meiner großen Leidenschaft hin.

Doch keiner der Filme vermochte es an diesem Abend, die Gedanken an die kurze Begegnung aus meinem Kopf zu verbannen.

Ich musste dieser Frau näherkommen.

Koste es, war es wolle.

Die Tage kamen und gingen, nur die Einsamkeit blieb.

Was mich unter normalen Umständen in keinster Weise irritierte, wurde während dieser Zeit zur reinen Folter. Und bei Gott, ich wusste alles über Folter. Natürlich ausschließlich aus Filmen. Nicht die modernen Verhörtechniken, die man heutzutage anzuwenden pflegte, nein, ich spreche von den ausgeklügelten physischen Beeinträchtigungen, die von einer äußerst kreativen Bande von Asiaten während des letzten Indochinakrieges kultiviert worden waren.

Und genauso fühlte ich mich.

Als ob ich, an einem Stuhl festgezurrt, das Eindringen winziger Zahnstocher unter meine Fingernägel erdulden musste. Kein Raum, um sich zu winden, kein Schmerzensschrei, der eine ausgetrocknete Kehle verlassen konnte, da ein feuchter Knebel jeden Ton erstickte; nur dieses unerträgliche Brennen im Fleisch, während sich die kleinen Holzstäbe Millimeter für Millimeter weiter in die Nagelbetten bohrten.

An anderen Tagen wiederum sah ich mich über eine Woche hinweg an einen Pfahl gebunden, an dessen oberem Ende eine kleiner Wasserbehälter angebracht war, der in regelmäßigem Abstand einen winzigen Tropfen auf meine Stirn plätschern ließ. Was als eher erfrischendes Schauspiel begann, wurde über längere Zeit zu einem gewaltigen Dröhnen, als würde jemand mit einem riesigen Vorschlaghammer gegen die Stirn hämmern.

Um diesen die Psyche zertrümmernden Vorstellungen wieder zu entgehen, verbrachte ich die meisten Abende damit, mir das vollkommen sinnentleerte TV-Programm zu Gemüte zu führen. Und das, obwohl mich diese Form der Unterhaltung insgeheim mehr abstieß als der Gedanke daran, dass Schleimkanone Mark, nach einer Woche unerbittlichen Werbens, just in diesem Moment seinen koksgestählten Prügel in meine neue Angebetete rammen könnte.

Das Tier regte sich in mir.

Jenes Tier, das – wenn auch für alle anderen unsichtbar – sein Revier markiert hatte und nun darauf erpicht war, alles, was sich darin befand, seinen Besitztümern hinzuzufügen.

Ich begann, diese langsam lästig werdenden Gedanken damit zu vertreiben, indem ich mich mit Themen befasste, die unsere Gesellschaft unentwegt umtrieben, oder indem ich mich auf meinen kleinen Balkon setzte und die zahllosen Menschen beobachtete, die unten auf den Straßen ihrem täglichen Treiben nachgingen. 

Und während diese namenlosen Massen, bewaffnet mit Shoppingtüten aus den feinen Einkaufsvierteln im Zentrum, inmitten der nie enden wollenden Geräuschkulisse wortlos an mir vorüberzogen, verfiel ich zusehends in Lethargie. Selbst die hilflosen Mütter, die ihre aussässigen, fett gefressenen Bälger mit ihren dünnen Ärmchen die Gehsteige entlangzerrten, konnten mich nur noch kurze Zeit amüsieren.

Auch der tägliche gesellschaftspolitische Diskurs, allem voran die zunehmende Verschmutzung unseres geliebten Planeten, mit seinen apokalyptischen Prophezeiungen, die die Menschheit in den nächsten hundert Jahren ereilen konnten, schaffte kaum noch Abhilfe. Bei diesem Thema reihte sich eine Kontroverse an die andere, sodass der daraus entstehende mediale Ballast Ausmaße annahm, die man ohne Weiteres als Hysterie bezeichnen konnte.

Es war ermüdend.

Und so begann ich, mich schrittweise noch mehr zurückzuziehen als ohnehin schon. Selbst meinen Arbeitskollegen entging das nicht. Und obwohl ich jeden Versuch ihrerseits, mich aus der Reserve zu locken, im Keim erstickte, wurden sie nicht müde, mich mit immer neuen Attacken dieser Art zu konfrontieren.

Mein zweiter Fluchtpunkt, die Abgeschiedenheit meines Arbeitsplatzes, meine kreative Enklave in einem abgetrennten Bereich dieses verdammten Großraumbüros, wurde langsam aber sicher zu einem Ort der Qual.

Doch dann geschah es, dass ich am Ende einer anstrengenden Arbeitswoche wie üblich den lokalen Filmverleih aufsuchte. 

Sicher war dies eine Gewohnheit, die den meisten antiquiert erscheinen würde. In Zeiten von Streaming-Anbietern mutete das Ausleihen digitaler Bild- und Tonträger beinahe lächerlich an. Doch so, wie ich auf die meisten Auswüchse des Mainstreams zu spucken pflegte, war ich auch von dieser rückwärtsgewandten Gewohnheit nicht abzubringen.

Und dort sah ich sie.

Sie lief mit langen, eleganten Schritten suchend durch die Regalwände. Ich fragte mich erst gar nicht, wonach sie Ausschau hielt, zu sehr waren meine Sinne damit beschäftigt, ihrer bloßen Erscheinung zu huldigen.

Zweifellos hatte sie kurz zuvor Sport getrieben. Vielleicht einige Runden im Park zurückgelegt. Ihre Kleidung ließ das vermuten. Sie trug eine eng anliegende halblange Hose, die gerade genug von diesen makellosen Beinen und dem festen, wohlgeformten Hintern preisgab, um Männer wie mich mit halb offenem Mund dastehen zu lassen. Über ihr Top, das zwar dezent, aber gewagt genug war, um aus ihren Brüsten ein ansehnliches Dekolletee zu formen, fiel ihr dunkles Haar herab, das trotz der vorangegangenen körperlichen Betätigung so makellos schien, als hätte sie erst vor Kurzem einem sündteuren Schönheitssalon einen Besuch abgestattet.

Doch mehr noch als alles andere faszinierte mich ihre Haut.

Diese jugendlich wirkende Haut, auf der ein hauchdünner Schweißfilm wie Morgentau in der Sonne glitzerte. Diese makellose Hülle, die beinahe wie elfenbeinfarbene Seide anmutete. Während man ihrem Gesicht das Alter durchaus ansah, traf dies auf ihren Körper keineswegs zu. Statuen der Antike hätten das Vorbild sein können, nachdem die Natur diese Frau geformt hatte.

Ich gemahnte mich zu mehr Besonnenheit.

Nichts stieß eine Frau wie sie mehr ab als ein weiterer Spanner, der ihren Bewegungen auf Schritt und Tritt mit weit aufgerissenen Glubschaugen folgte.

So ging ich mit gebotener Gelassenheit durch den Laden und tat so, als würde mich nichts und niemand kümmern, während ich insgeheim hoffte, dass sich zumindest dann und wann unsere Blicke kreuzen würden.

»Brian?«

Ich erstarrte innerlich und wandte mich ruckartig um.

Sie stand plötzlich direkt hinter mir und lächelte mich freundlich an.

Doch alles, was ich zustande brachte, war ein peinlich berührter Gesichtsausdruck, gepaart mit einem fragenden Blick.

»Der Name steht auf deinem Türschild. Wir sind uns neulich im Flur begegnet, erinnerst du dich?«

»Ach ja!«, heuchelte ich, so gut es mir möglich war, Unwissenheit. »Klar erinnere ich mich! Die neue Nachbarin.«

»Elisa. Oder Liz, wie du magst.«

Ich straffte mich und streckte ihr meine Hand entgegen.

»Willkommen in der Fabrik, Elisa«, sagte ich zwei Wochen zu spät, wobei ich bewusst ihren vollen Namen verwendete. »Ich hoffe, es gefällt dir bei uns.«

Ihre Berührung ließ mich kurz zusammenzucken. Ihre Hand war angenehm warm und weich. Mein ganzer Arm begann zu kribbeln. Und der anregende Duft, den sie verströmte, trieb mir augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht. Die erste Begegnung im Flur kam mir wieder in den Sinn. Nie zuvor hatte ich derartiges gerochen. Ich wusste nicht, ob es irgendein teures Parfüm war oder einfach nur ihr ureigenster Geruch. Doch ich wurde davon angezogen wie ein Schwarm von Moskitos, der nachts um einen dieser tödlichen Insektenvernichter kreiste.

»Ich kann nicht klagen«, sagte sie lächelnd. »Die Miete ist zwar nicht ohne, aber man gönnt sich ja sonst nichts.«

»Da hast du wohl recht«, erwiderte ich, während eine für mich ungewohnte rhetorische Hilflosigkeit von mir Besitz ergriff.

»Kommst du öfter hierher?«, fragte sie, während sie sich umsah.

»Nein, eigentlich nicht. Das meiste davon habe ich schon gesehen. Aber irgendwie will ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich neben dem sinnentleerten Ballast, den man Blockbuster-Kino nennt, irgendein Filmemacher mal wieder herablässt, einen guten Film zu machen. Und ich hoffe, ihn hier zu finden. Irgendwann mal.«

Sie lachte laut auf.

Ihre weißen Zähne blitzten im fahlen Neonlicht.

»Kann ich verstehen. Aber nachdem die Ära des guten Films meiner Meinung nach bereits vor zwanzig Jahren zu Ende gegangen ist, wird das wohl schwierig werden.«

Ich war verdutzt. Das war eine Antwort, auf die ich nicht vorbereitet gewesen war.

»Du interessierst dich dafür? Also für gute Filme?«, stammelte ich.

»Klar. Was gibt es Besseres, als sich nach einem langen Tag auf die Couch zu legen, um ein wenig dem öden Alltag zu entfliehen.«

Da würde mir einiges einfallen, dachte ich. Vor allem mit dir.

»Ausgehen habe ich mir schon vor langer Zeit abgewöhnt«, erklärte sie. »Ich habe echt keinen Bock mehr, in irgendeinem überteuerten Laden mein sauer verdientes Geld zum Fenster rauszuwerfen. Von den Anmachversuchen angetrunkener Vollidioten ganz zu schweigen. Da bevorzuge ich ein gutes Buch ... oder eben einen guten Film.«

Ich nickte verstehend. »Sehe ich genauso. Das sinnlose Geschwätz, das man an derartigen Abenden von sich gibt, nicht zu vergessen. Pure Zeitverschwendung! Ich verbringe meine Abende auch lieber zu Hause. Die Wochenenden natürlich auch. Aus diesem Grund habe ich mir mittlerweile eine recht ansehnliche Sammlung an Büchern und Filmen zugelegt«, sagte ich stolz. »Dürften mittlerweile so um die tausend sein. Von den Klassikern bis hin zu Independent habe ich so ziemlich alles, was sich zu sehen lohnt. Reicht eigentlich für zwei Leben.«

»Wow«, sagte sie mit einer Art von Anerkennung, die mir nicht geheuchelt schien.

Sie musterte mich kurz von oben bis unten. »Wie eine Couchpotato siehst du mir aber jetzt auch nicht unbedingt aus«, stellte sie fest. »Eher im Gegenteil.«

»Ich laufe«, konstatierte ich rasch. »Vier bis fünf Mal pro Woche. Habe sogar schon einen Marathon hinter mir. Zusätzlich noch Training mit Gewichten. Laufen alleine ist meiner Meinung nach zu wenig, um sich auch ein gewisses Maß an ... Männlichkeit zu bewahren. So wirkt alles etwas ausgewogener.«

»Das tut es tatsächlich«, sagte sie augenzwinkernd. »Sehr sogar in deinem Fall!«

Ich erbebte innerlich.

Versuchte diese Frau tatsächlich gerade, mich anzumachen? Dieses Schmuckstück ihres Geschlechts? Ich war augenblicklich versucht, mich in einen tiefen Abgrund zu stürzen, an dessen Boden sie mich mit ausgebreiteten Armen erwarten würde.

»Danke«, sagte ich mit gespielter Gelassenheit.

Ich war mehr als nur verlegen.

Sollte ich ihr jetzt auch ein Kompliment machen? Oder wäre das nur eines der üblichen Klischees, mit denen man die zuteilgewordene Anerkennung notwendigerweise erwiderte?

Noch bevor ich etwas sagen konnte, machte das Läuten ihres Telefons all diese Überlegungen überflüssig. Erneut eine Bestätigung dafür, wie sehr ich Mobiltelefone hasste.

»Ah, hallo Mark«, sagte sie nach der obligatorischen Begrüßungsformel.

Mark! Der geltriefende Albtraum meines soeben neu gewonnenen Selbstvertrauens. Ich kochte innerlich. Dieser schleimige, koksende Nuttenbumser hatte es tatsächlich geschafft, nach dieser kurzen Zeit meiner neuen Angebeteten ihre Telefonnummer zu entlocken. Die Frage, was er hatte und ich nicht, war in diesem Moment ebenso überflüssig wie die Hoffnung, diese Unterhaltung fortsetzen zu können.

Ich wandte mich um und begann, natürlich nur aus Höflichkeit, die einem wohlerzogenen Jungen wie mir jedes Lauschen verbat, die Regalwände abzuschreiten, während ich meine Finger suchend über die unzähligen Plastikhüllen gleiten ließ.

Aus der Ferne drangen Gesprächsfetzen und das eine oder andere kurze Auflachen zu mir herüber.

Es war abstoßend. 

Bilder entstanden in meinem Kopf. Ich sah ein süffisant grinsendes Betonkinn samt stahlharter Haartracht in einem sündteuren Designersessel sitzen, während sich sein opportunistisches Spatzenhirn ausmalte, auf welche herabwürdigende Art er dieses Juwel von Frau seiner Sammlung hinzufügen konnte.

»Brian?«

Ich wandte mich fragend um und erkannte, dass sie lächelnd unmittelbar hinter mir stand.

»Bitte entschuldige! Aber manche Menschen können einfach nicht aufhören zu reden.«

»Kein Ding«, sagte ich lässig.

Ding! Normalerweise bediente ich mich nicht dieses Straßenjargons. Phrasen wie diese hinterließen bei mir einen billigen, metallischen Nachgeschmack, als würde ich an einer schmierigen Münze lutschen.

Schmierig und metallisch. Billig. Genau wie Mark.

Ich stellte mir kurz die Frage, ob ich sie vor diesem Frauenfänger warnen sollte, verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder. Einmischung war Anmaßung. Und Anmaßung war erfahrungsgemäß die Maxime der Einfachen und Ungebildeten dort draußen.

»Na, gut«, sagte sie schließlich zögerlich. Vielleicht war es ihr nicht entgangen, dass mir die Art und Weise, wie diese Begegnung verlaufen war, nicht behagt hatte. »Ich muss nun ohnehin los ... unter die Dusche.«

Ich nickte mit so viel Verständnis, wie ich in diesem Moment aufbringen konnte.

»Ja, vielleicht sieht man sich ja mal wieder«, sagte ich kleinlaut, während ich innerlich zutiefst betrübt war.

»Das hoffe ich!«, antwortete sie mit einem breiten Grinsen.

Als sie sich eben anschickte zu gehen, hielt sie noch einmal einen Moment inne.

»Du ... kennst du den Film, in dem so ein Typ nach Vegas fährt, um sich dort zu Tode zu saufen?«

»Klar«, schoss es aus mir heraus. »Leaving Las Vegas.«

»Das Filmlexion hat gesprochen«, sagte sie, während sie sich fragend umsah. »Weißt du, wo ich den hier finde?«

»Steht bei mir zu Hause«, polterte ich los, ohne nachzudenken.

»Cool! Also wenn es dir nichts ausmacht ...«

»Abends oder an den Wochenenden bin ich immer zu Hause, wie ich schon sagte. Einfach läuten, und ...«

»Gut, dann werde ich darauf zurückkommen.« Sie schenkte mir noch ein kurzes Lächeln, während sie sich rückwärtsgehend von mir entfernte.

»Bis dann, Nachbar.«

Dann verschwand sie und ließ mich, innerlich vor Freude bebend, allein zwischen diesem Sammelsurium an B-Movies zurück. Die Tür, von der ich zuvor noch den untrüglichen Eindruck gehabt hatte, sie hätte sich durch Marks Eroberung für immer geschlossen, stand noch eine Handbreit offen. Und durch diesen schmalen Spalt hindurch fiel das Licht der Hoffnung auf mich herab.

Ich seufzte kurz, schulterte meine Umhängetasche, die mir, ohne dass ich es bemerkt hatte, bis zu den Ellbogen heruntergerutscht war, und verließ den Laden.

Unter normalen Umständen brachte mich so gut wie nichts um den Schlaf.

Weder das unablässige Geratter und Gebrumme des Verkehrs noch das Grölen von Betrunkenen, die nach einem durchzechten Abend im Zickzackkurs durch die Straßen wankten, oder das Gehupe genervter Taxifahrer vermochten mich dem Land der Träume zu entreißen.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte sich direkt unter meinem Fenster ein schwerer Autounfall ereignet. Selbst dadurch war ich nicht wachzukriegen gewesen.

Ich schlief schon immer wie ein Stein.

Anders verhielt es sich jedoch, wenn irgendein Wahnsinniger zu später Stunde gegen meine Eingangstür hämmerte. Die dumpfe Kanonade, die in jener Nacht durch mein Loft drang, hätte sogar Tote wieder zum Leben erweckt.

Eine Zeit lang dachte ich, es wäre irgendein Besoffener oder Junkie, und hatte die Hoffnung, diese unerwartete Störung würde in Kürze wieder von alleine enden. Denn schon öfter hatte sich einer dieser mit Heroin vollgepumpten Stricher in der Vergangenheit am Portier vorbeigeschlichen, in der irrigen Annahme, er würde hier wohnen, und war dann verzweifelt polternd von Tür zu Tür gestürmt.

In der Regel kümmerte sich der Hausmeister um derartige Angelegenheiten. Sofern er gerufen wurde.

Doch an diesem Samstagabend waren die meisten Hausbewohner vermutlich ausgeflogen, sodass niemand dem Störenfried dort draußen Einhalt gebot.

Mit einem Fluchen rappelte ich mich hoch.

Sogleich umfing mich die Kühle meines Appartements, das während der Nachstunden nur mäßig beheizt war. Es gab nur wenig auf dieser Welt, was mich mehr ankotzte, als der Behaglichkeit meiner Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle entschlüpfen zu müssen, um mich dann, nachdem ich eine Zeit lang nach meinen Morgenpantoffeln getapst hatte, in Richtung Tür zu begeben.

Weder gab ich den kleinsten Laut von mir, noch schaltete ich Licht an und versuchte so, dem Störenfried auf der anderen Seite der Tür zu suggerieren, es wäre niemand zu Hause.

Nachdem das Getrommel nicht enden wollte, sondern immer noch weiter anschwoll, tastete ich mich langsam im Dunkeln in Richtung meines Türspions.

Als ich durch das froschaugenartige Okular blickte, schoss mir augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht.

Mark! 

Dieses Arschloch von nebenan stand mit weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen vor meiner Tür und ließ seine Fäuste wie Presslufthämmer dagegen sausen. Obwohl dieses Monstrum von Tür, so dachte ich zumindest, wohl auch dem Beschuss aus einer großkalibrigen Waffe mühelos standhalten würde, wölbte sich das eisenbeschlagene Holz bei jedem Hieb bedrohlich nach innen.

Ich hatte schon so manche paranoide Auswüchse infolge übermäßigen Drogenkonsums gesehen, vor allem während meiner Zeit auf dem College, doch diese Form unbändiger Raserei war selbst mir neu.

Ich war fassungslos.

Der Baseballschläger, der allzeit griffbereit neben meiner Eingangspforte lehnte, kam mir in den Sinn. Ich war versucht, mir das Ding zu schnappen, die Tür mit einem Ruck aufzureißen und es dem Betonkopf mit einem gekonnten Schwung über den Schädel zu ziehen.

Vor meinem inneren Auge sah ich bereits, wie diese Ausgeburt der Präpotenz in sich zusammensacken würde.

Doch nur wenig später bemerkte ich, dass die Schläge allmählich kraftloser wurden, dass sich ihre Anzahl verringerte, dass sie nach und nach leiser wurden, bis es schließlich wirkte, als würde der Kerl auf der anderen Seite die Tür nur noch streicheln.

Anabolikakinn hat wohl sein Pulver verschossen, dachte ich.

Ich riskierte einen weiteren Blick, nur um sicherzugehen.

Doch was ich sah, ließ mich augenblicklich erstarren.

Vorhin hatten die geröteten Augen all meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dieser wirr hin und her zuckende Kopf hatte mich blind für jedes weitere Detail gemacht.

Doch nun erkannte ich, dass mein verhasster Nachbar erschöpft an meiner Tür lehnte und dem winzigen Türspion einen verzweifelten Blick zuwarf.

Entlang seiner rechten Wange verlief eine tiefe Wunde mit gerissenen Rändern, aus der ein Strom dunklen Blutes seinen Hals hinablief. Seine Augen waren nicht infolge einer drogenberauschten Überanstrengung gerötet, nein, es hatte eher den Eindruck, als hätte irgendjemand diesen Riesenschädel mit unbändiger Kraft zusammengepresst. Ich erkannte geplatzte Gefäße und kleine Risse in den oberen und unteren Augenliedern. Überall, an den Schläfen, an Nase, Kinn und Stirn, waren winzige Einstiche zu sehen.

Mark hob den Kopf und schob ihn näher an den Türspion heran.

Er leckte sich die blutenden Lippen, und ich erkannte deutlich, wie er versuchte, irgendwelche Worte zu formen.

Obwohl die Tür so massiv war, dass sie jedes Geräusch verschluckte, sah ich deutlich, was er mir zu sagen versuchte.

»Hilf mir«, las ich von dem sich bewegenden Mund ab. »Bitte ... hilf mir!«

Dann wurde dieses massive Gebilde von Mensch plötzlich mit einem Ruck von der Tür weggezerrt, und zurück blieb nur das Halbdunkel des Korridors, in dem das fahle Licht der Nachtbeleuchtung brannte.

Drinnen wie draußen trat wieder heilsame Stille ein.

In dem Moment gab mein Körper jedweden Anspruch, bei Bewusstsein zu bleiben, auf. Obwohl ich bis heute keine Erklärung dafür gefunden habe, fiel ich in eine tiefe Ohnmacht, aus der mich erst der Anbruch des folgenden Tages wieder erlöste.

Seltsamerweise fand ich mich nach meinem Erwachen in meinem Bett wieder.

Marks übel zugerichtete Visage kam mir augenblicklich in den Sinn.

Sobald ich mich wieder einigermaßen auf den Beinen halten konnte, führte mich mein Weg direkt an meine Eingangstür. Ich erwartete, ihn dort liegen zu sehen, zusammengesackt als Folge eines mächtigen Katers; in die Ecke gekauert in der Resignation eines vermeintlich Geschlagenen. Auch wenn sein Gegner nur sein Übermut und der Glaube an die eigene Unbesiegbarkeit gewesen sein mochte.

Schlagartig wurde mir wieder einmal klar, warum es mir immer eine Herzensangelegenheit gewesen war, die Finger von Drogen zu lassen.

Doch da war nichts.

Kein Mark, kein Blut, nichts, was irgendwie rational erklären konnte, was sich in der letzten Nacht zugetragen hatte.

Nur der leere, penibel saubere Korridor, denn ich jedes Mal vorfand, wenn ich mein Loft verließ.

Hatte ich das alles nur geträumt?

Die Erinnerungen an diese Nacht beschäftigten mich noch lange.

Die vagen Erinnerungsfetzen, die mir von diesen unheimlichen Minuten im Gedächtnis haften geblieben waren, geisterten in Form kurzer Tagträume und vereinzelt auftretender Reflexionen – auch Flashbacks genannt – durch mein Bewusstsein. Sie störten nicht nur meine ansonsten hervorragende Konzentrationsfähigkeit während der Arbeit, sondern raubten mir teilweise auch nachts den Schlaf. Alles, was ich tat, wurde unterschwellig von den seltsamen Ereignissen jener Nacht überlagert, sodass ich das Gefühl hatte, ich wäre in einem immerwährenden Albtraum gefangen.

Es dauerte mehrere Tage, bis sich die gewohnte Routine meines Tagesablaufs wieder einstellte.

Selbst die Gedanken an meine Angebetete hatten sich während dieser Zeit verflüchtigt.

Als schließlich alles weitgehend in Vergessenheit geraten war und ich mich wieder im Alltagstrott befand, läutete es an meiner Tür.

Ich öffnete, ohne zu fragen.

Vor mir stand ein baumlanger Farbiger, eine Wolkenkratzer von Mann, der sich, wäre er nur zwei Zentimeter größer gewesen, zweifellos den Kopf am oberen Türrahmen gestoßen hätte. Der tadellos sitzende Anzug und sein makellos gepflegtes Äußeres verrieten mir sofort, mit wem ich es hier zu tun hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783950490251
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Horror Monster Tod Dunkelheit Abgrund Fantasy düster dark

Autor

  • W. H. Sarau (Autor:in)

Walter H. Sarau wurde 1972 in Wien geboren. Neben seiner Tätigkeit als Autor arbeitet er hauptberuflich als konzeptioneller Designer und Matte Painting Artist für Film und Werbung. Sein Erstlingswerk, »Die Legenden von Carthan«, eine illustrierte Novelle, wurde von einem renommierten Magazin ausgezeichnet. Im Jahr 2019 veröffentlichte er die Novelle »Konstrukt«, den ersten Band einer dystopischen Science Fiction Trilogie. W. H. Sarau lebt und arbeitet im Kurort Semmering in Österreich.
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Titel: Mördersommer