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Leichenwinter

von W. H. Sarau (Autor:in)
72 Seiten
Reihe: 3 Jahreszeiten, Band 2

Zusammenfassung

Drei gruselig-schaurige Kurzgeschichten aus der Novellensammlung »3 Jahreszeiten«! Im Untergrund: Andrew, Winston, Owen und Caleb arbeiten bei der städtischen Kanalreinigung. An einem Tag im Spätwinter, werden sie in ein weit verzweigtes Tunnelnetz unter der Stadt geschickt, das ihnen vollkommen unbekannt ist. Und das Grauen wartet bereits … Die weiße Bestie: Der Berg war des Menschen überdrüssig geworden. Und so stieg an einem schicksalshaften Tag eine uralte Macht in ihm empor, die nur eines im Sinn hatte: Vergeltung ... Wintersonnenwende: Russell kehrt nach Jahren der Abwesenheit wieder in das Dorf seiner Kindheit zurück. Eine seltsame Stimmung liegt über der abgeschiedenen Enklave. Während die Wintersonnenwende herannaht, kommt Russell einem Geheimnis auf die Spur, das seit Jahrhunderten die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Im Untergrund

»Ich sag euch eins ... wenn der Frühling kommt ...« Winston schob sich einen weiteren Bissen Rührei in den Mund. »Also wenn der Frühling kommt und wir haben bis dahin unseren Job nicht ordentlich gemacht, dann werden wir unser blaues Wunder erleben, Freunde!«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Andrew oder Andy, wie ihn mittlerweile alle nannten, während er angewidert mit der Gabel auf seinem Teller herumstocherte. Er hatte nie verstanden, wie die Männer um ihn herum diesen Fraß überhaupt runterbekamen.

»Weil ich das alles schon mal erlebt habe.« Die Schmatzlaute, die aus Winstons halb offenem Mund zu Andy herüberdrangen, und die noch unzerkauten Reste von Speck und Eiern, die auf seinen Zähnen klebten, ließen das letzte bisschen Appetit, das er noch hatte, endgültig vergehen. »Vor vier Jahren, genauer gesagt, als es so plötzlich wieder warm geworden ist. Das Schmelzwasser aus dem Norden, das die großen Flüsse immer anschwellen lässt, ist damals durch die Kanalisation geschossen wie eine Sintflut. Hat die Gullys unten in der Achtzehnten hochschießen lassen wie startende Raketen. Ich sag’s euch, Leute, das war ein Anblick. War ein Wunder, dass keiner davon erschlagen wurde. Ich hab’s euch schon mal gesagt, mit dem Schmelzwasser ist nicht zu spaßen. Kann verdammt gefährlich werden. Vor allem jetzt, wo es den ganzen Feinsplitt, den man im Winter auf die Straßen kippt, runterspült. Der sammelt sich dann an den besonders engen Stellen, zusammen mit dem ganzen anderen Müll. Kann ein richtiger Staudamm werden, so was. Wie von einem Biber gebaut oder so was. Ja, und irgendwann bricht dann das ganze Ding, weil das Schmelzwasser im Frühjahr ...«

»Guter Gott, Winston!«, fuhr Owen dazwischen. »Ich weiß nicht, wie oft ich das Wort Schmelzwasser schon aus deinem Mund gehört habe. Allein in den letzten dreißig Sekunden schon drei Mal. Jedes Jahr, wenn der Winter zu Ende geht, das Gleiche. Schmelzwasser, Schmelzwasser, Schmelzwasser. Halt endlich den Rand!«

Andrew schmunzelte, als er sah, wie der zweite Vorarbeiter die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug und sichtbar um Erlösung von Winstons Ausführungen flehte.

Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, wie barsch die Männer miteinander umzugehen pflegten.

Im Unterschied zum ihm selbst verdienten sie sich hauptberuflich mit der Wartung und Reinigung der städtischen Kanalisation ihren Lebensunterhalt. 

Sie kannten nichts anderes. 

Eine derartige Arbeit prägte natürlich über die Jahre.

Tief unten in der Dunkelheit und dem Schmutz bestand einfach nicht die Notwendigkeit für Höflichkeiten, und man musste auch keine große Qualifikation aus dem Blinkwinkel von Bildung mit sich bringen. Die wenigsten von ihnen hatten auch nur einen Grundschulabschluss. Man machte seinen eher freudlosen Job, und sobald die Schicht vorbei war, ging man seiner Wege. Aus und Basta. Wenn einer nicht parierte, wie Winston es zu nennen pflegte, wurde er schroff zurechtgewiesen oder einfach eine Zeit lang für die dreckigsten Arbeiten eingeteilt. Die Aussicht darauf, die kleinen Zubringerrohre, die mit Unmengen von Exkrementen verstopft waren, mittels Drahtschlinge auf einem langen Stahlseil freizustochern brachte selbst den Widerspenstigsten rasch wieder auf andere Gedanken.

Auch er hatte diesen Initiationsritus bereits durchlaufen, hatte es aber damals eher gelassen gesehen.

Nicht weil er von Natur aus Stoiker war, sondern eher, weil er diese Plackerei nur drei Tage pro Woche auf sich nehmen musste, um sich damit sein Studium finanzieren zu können.

Natürlich hätte er auch in irgendeinem Labor ein Praktikum absolvieren können, hätte in einem sauberen, beinahe sterilen Umfeld in einen weißen Kittel gekleidet umherhuschen können; doch die Jobs, die man angehenden Biologen während ihrer Studienzeit anzubieten pflegte, waren mehr als nur lausig bezahlt, ganz anders als hier.

Hier gab es Schmutzzulagen, Nachtschichtzulagen, erhöhte Aufwandsentschädigungen, vor allem im Herbst und Frühjahr, und sogar noch Prämien, wenn sie Sondereinsätze erledigten, die nicht Teil ihres Dienstplans waren.

So verdiente er mit drei Tagen Arbeit pro Woche mehr als anderswo in einem ganzen Monat. Dieses für einen Studenten recht großzügige Einkommen sorgte dafür, dass er sich nicht unentwegt um jeden Seminarplatz raufen musste, nur um möglichst schnell voranzukommen. Er konnte es sich sogar leisten, sich das eine oder andere Semester ganz herauszunehmen, um, wie er es nannte, die Pflicht ein wenig Pflicht sein zu lassen.

Ein weiterer, nicht ganz unwesentlicher Faktor war, dass er die Männer, die zu seinem Team zählten, inzwischen sehr mochte.

Auf eine seltsame Art und Weise gemahnte ihn diese kleine Gemeinschaft in all ihrer Einfachheit, mit ihren eher banalen Interessen, ihren kleinen, stetig wiederkehrenden Spitzfindigkeiten gegeneinander und den teils groben Sticheleien an die einfach Dinge des Lebens.

Er war inzwischen sogar der festen Überzeugung, dass sie einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt seiner Bodenständigkeit leisteten.

Und dafür war er dankbar.

Er warf einen flüchtigen Blick in die Runde und musterte die Männer für einen Moment.

Da gab es Winston, den ersten Vorarbeiter, der hierarchisch betrachtet der Anführer der kleinen Schar war und diese Arbeit bereits am längsten verrichtete.

Seiner Führungsposition zum Trotz war er die skurrilste Figur in der Runde.

Andrew beobachtete amüsiert die labbrigen Wangen, die während des Kauens auf und ab wabbelten, während er sich mit seinen stets zugekniffenen Augen unter den buschigen Augenbrauen einen Fuhre nach der anderen genüsslich zwischen die wulstigen Lippen schob. Das herausstechendste Merkmal an ihm war jedoch der ellenlange Haarwuchs über seinem rechten Ohr, den er sich über die kahle Stirn zu kämen pflegte, sodass er mit seinem kugelrunden Gesicht wie ein Fernseh-Cop aus den Siebzigern wirkte.

Die Antenne, wie seine Kollegen den Teil seiner Haartracht vor allem dann zu nennen pflegten, wenn eine vorbeirauschende U-Bahn die fragile Balance dieser Frisur durcheinanderbrachte, sodass sie in groteskem Winkel von seinem Kopf abstand, war inzwischen zu einem unumstößlichen Teil der Erheiterung in der Gruppe geworden.

Owen, der zweite Vorarbeiter und gleichzeitig Winstons Stellvertreter, war von einem ganz anderen Schlag. Der hagere, griesgrämige Mittvierziger war das, was man gemeinhin als die personifizierte Unauffälligkeit bezeichnen würde. Zu jeder Tageszeit waren seine fahlen, abgespannten Gesichtszüge, samt ihrer faltigen Haut, die, so vermutete Andrew, von seinem ausgiebigen Nikotingenuss selbstgedrehter Zigaretten herrührten, von einer abgegriffenen Baseballkappe bedeckt. Selbst bei Tisch ragte zwischen den dünnen Lippen ein Glimmstengel hervor, von dem dichter Rauch über die knollige Nase streifte. Nur wenn er zu reden begann, war es vorbei mit der Unauffälligkeit, denn er nahm selten ein Blatt vor den Mund.

Und dann gab es noch Caleb, den einzigen Farbigen im Team oder den Quotenschwarzen, wie ihn Winston scherzhaft zu nennen pflegte.

Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er gleichzeitig der Jüngste der Männer. Caleb stammte aus dem Südteil der Stadt, aus einem der Bezirke, deren abbruchreifes Äußeres sich wohl am besten mit der Bezeichnung Ghetto beschreiben ließ. Der spindeldürre, schlaksige Junge war, diesem Umstand zum Trotz, eine wahre Frohnatur, was sich vor allem dadurch bemerkbar machte, dass er ständig ein breites Grinsen im Gesicht trug, in dem er seine übergroßen, strahlend weißen Zähne zur Schau stellte. Über dem kahl geschorenen Kopf trug er klobig wirkende Kopfhörer, die den ohnehin schmalen Schädel noch kleiner wirken ließen.

»Diese Ghetto-Hip-Hop-Scheiße, die du dir da ständig reinziehst, wird dir noch mal die Birne weichkochen«, pflegte Winston stets zu bemerken.

Er meinte das keineswegs abwertend.

Für Rassismus gab es keinen Platz in seinem Team.

»Im Dreck ist jeder gleich«, wurde er nicht müde zu betonen. »Egal ob schwarz, weiß, grün, gelb, oder was auch immer sonst.«

Seine Sorge galt eher dem Umstand, dass das ständige Gedröhne Caleb oder seine Kollegen in Gefahr bringen könnte. Dort unten taub für alles um einen herum zu sein, konnte schlimme Folgen haben.

»Und? Was liegt heute noch an, Boss?«, fragte Owen, nahm einen tiefen Zug von seiner Selbstgedrehten und blies dicke Rauchschwaden ins Innere des Diners.

»Kontrollgang im Siebten.« Winston trank einen Schluck Bier.

»Ach du Scheiße. Muss das wirklich sein?«

»Der Supervisor hat’s angeordnet.« 

Andrew blickte den Vorarbeiter neugierig an. »Warum, was ist mit dem Siebten?«

»Dort wohnen die ganzen Fetten«, antwortete Owen an Winstons Stelle. »Nirgendwo in der ganzen Stadt gibt’s mehr Vollgefressene als dort unten. Liegt wohl daran, dass die meisten keine Arbeit haben und den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als sich den Wanst vollzustopfen. Ich kann euch Geschichten erzählen. Meine Güte! Verfluchter Siebter!«

Andrew zuckte mit den Achseln. »Das kann doch wohl nicht schlimmer sein als das verstopfte Hauptrohr unter dem Neunten letzte Woche. Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

Owen verzog verächtlich die Lippen. »Hast du ne Ahnung!«

Er nahm einen derart tiefen Zug, dass kurze Zeit später sein Gesicht beinahe hinter einer Wand aus Rauch zu verschwinden schien.

»Ich sag dir, Alter«, hob er schließlich mit seiner krächzenden Stimme an, »einmal stand ich dort unten ... ich glaub es war die Ecke Zweite und Achtzehnte, also direkt unter dieser Baptistenkirche ... also ich stand da und dachte an nichts Böses, als plötzlich aus einem der Zubringerrohre eine Scheißeladung runtergeschossen kam, wie ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hab! Die war so groß, dass ich mir dachte: Guter Gott, die Sintflut selbst kommt jetzt über mich. Ich hätte nie gedacht, dass ein einzelner Mensch so viel scheißen kann. Ich kann’s zwar nicht beweisen, aber das war mit Sicherheit eine dieser schwarzen, dreihundert Pfund schweren Gospelbräute aus der Kirche, die sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nur Fritten, Burger, Tacos, Eiscreme und was weiß ich noch alles reinstopfen ... dass die keinen Kran oder so was brauchen, wenn sie die jeden Sonntag dort reinkarren. Dass die überhaupt durch die Tür passen. Scheint irgendwie typisch für die schwarzen Weiber zu sein. Je älter sie sind, umso fetter werden  sie. Ähm, nichts für ungut Caleb ...«

»Kein Ding, Alter«, nahm Caleb Owens Seitenhieb mit einem Grinsen zur Kenntnis. »Kenn ja manche der Bräute aus meinem Viertel. Wirst schon recht haben.«

Owen sah sein Gegenüber erstaunt an. »Dass mich der bei dem Gewummere überhaupt hören kann.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Ja ... wie auch immer ... also ich sag euch, wenn so eine Alte einen abseilt, kommen gut und gern zehn Pfund oder mehr zusammen, das schwör ich! Ich steh also da, an die Wand gelehnt, und rauche ganz entspannt eine ... und dann kommt dieses Dröhnen, und es wird immer lauter und lauter. Ich dachte schon, es wär ein Erdbeben oder so was. Und dann kam die fast schwarze Masse rausgeschossen wie aus einer Haubitze ... aber nicht so eine kleine, so eine, wie sie auf Schlachtschiffen montiert sind ...«

»So was nennt man Kanone, du Dumpfbeutel«, wies ihn Winston zurecht.

»Na, von mir aus«, sagte Owen gleichgültig. »Also, das Ding kommt runter und war so schnell, dass es in der gegenüberliegenden Wand eingeschlagen ist. Ich meine, der Schacht ist dort ja nicht besonders breit, aber trotzdem, der Fladen ist gut und gerne einen Meter weit geflogen. Und erst dieser Gestank! Das roch irgendwie säuerlich, fast nach Verwesung. Wie der Köter, den wir vor ein paar Wochen gefunden haben, Wins, erinnerst du dich?«

Winston nickte.

»Ich glaub, da war auch Blut drin. Vielleicht reißt einem Menschen, der so viel frisst auch schon mal der Magen ein oder der Darm, was weiß ich. Oder was meinst du, Boss? Du müsstest dich da ja auskennen.«

»Arschloch!«, knurrte Winston und aß weiter.

»Ja, wie auch immer«, fuhr Owen fort. »Jedenfalls ...«

»Entschuldigen Sie bitte!«

Die Männer wandten sich in die Richtung, aus der der unerwartete Zwischenruf gekommen war.

Am Nachbartisch saß ein bärtiger Mann, der der Gruppe einen verächtlichen Blick zuwarf. »Falls Sie es nicht mitgekommen haben«, sagte er, während er sich langsam nach vorne beugte, »manche Menschen wollen hier in Ruhe essen und sich nicht Ihre unappetitlichen Geschichten anhören. Eine Frechheit ist das!«

»Krieg dich wieder ein, mein Bester«, polterte Owen los. »Beim Kacken sind wir alle gleich. Scheißt mit Sicherheit auch kein Rosenwasser, oder? Vor allem, wenn du dir so einen Fraß wie den hier reinziehst. Dämlicher Spießer!«

Die Lautstärke der Unterhaltung hatte schnell dafür gesorgt, dass sich alle Besucher des Diners nach den beiden umdrehten.

Auch die Geschäftsführerin war inzwischen hinter der Theke hervorgetreten. Ein beleidigter Ausdruck hatte sich auf ihr Gesicht gestohlen. Zweifellos waren ihr Owens Tiraden nicht entgangen.

»Nichts für ungut, Betty«, rief Winston ihr beschwichtigend zu. »Er hat keine Ahnung. Schmeckt alles köstlich.«

Betty schüttelte den Kopf und machte sich mit griesgrämiger Miene auf in die Küche.

Der Bärtige hatte sich inzwischen ruckartig erhoben und dabei seine Tasse mit Kaffee umgestoßen.

»Gut gemacht, du Schwachkopf«, frohlockte Owen. »Der neue Fleck auf deiner billigen Krawatte steht dir wirklich gut. Sieht fast wie Scheiße aus.«

Noch bevor der erboste Gast etwas darauf erwidern konnte, fuhr Winston dazwischen. »Halt jetzt endlich die Schnauze, Owen!«

Dann wandte er sich dem Bärtigen zu, der jetzt Anstalten machte, den verschütteten Kaffee mit einer Serviette aufzusaugen, die jedoch bei diesem Versuch zu brauner Pampe wurde.

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Winston, hörbar um Beschwichtigung bemüht. »Er kann manchmal ein echter Idiot sein. Ihr Kaffee und alles andere geht natürlich auf mich. Nochmals, es tut mir leid!«

Der Bärtige setzte sich wieder hin, brummte noch ein paar unverständliche Worte und widmete sich schließlich wieder seiner Tageszeitung.

»Das zieh ich dir vom Lohn ab, Owen«, zischte Winston.

Noch bevor der Zurechtgewiesene etwas darauf erwidern konnte, sagte Winston: »Also gut Männer, wir sollten langsam aufbrechen. Caleb nimm jetzt deine Kopfhörer ab. Befehlsausgabe!«

Er griff in die Seitentasche seines blauen Arbeitsoveralls und zog eine kleine Karte hervor. »Heute geht es aber nicht unter den bewohnten Teil des Siebten, sondern weiter südlich unters Industrieviertel.«

Er tippte mit seinem wulstigen Finger auf die entsprechende Stelle.

»Heißt wohl Schutzkleidung«, mutmaßte Andrew.

»Richtig, Student. Klasse eins, inklusive Masken sollte ausreichen. Der Supervisor hat mir mitgeteilt, dass alle dort ansässigen Fabriken eher unter Gefahrenstufe eins liegen, was die Abwässer anbelangt. Aber wir gehen trotzdem auf Nummer sicher.«

»Du meinst auf Nummer sicher, was das Sich-zu-Tode-Schwitzen angeht?«, warf Owen ein, dessen Gesicht vom vorangegangenen Ärger noch leicht gerötet war.

»Bedeutet aber auch Gefahrenzulage«, entgegnete Andrew grinsend. »Ist doch nett am Ende der Woche. Ein kleiner Batzen zusätzlich. Kommt mir echt gelegen. Da hab ich nichts gegen ein wenig Schwitzen, wenn ich dafür am Wochenende meinen Arsch auf der Couch parken kann.«

Er stellte immer wieder erstaunt fest, wie leicht es ihm fiel, in den Jargon dieser Männer einzufallen. Er dachte für einen kurzen Moment an die Universität, wo eine Ausdrucksweise wie diese undenkbar wäre.

»Freu dich nicht zu früh. Ich war schon mal dort unten. Verdammt enge Angelegenheit. Bin gespannt, wie sich Winston dort unten durchzwängen wird.«

Der Vorarbeiter winkte ab und ignorierte Owens zynischen Seitenhieb auf seine Leibesfülle. »Der Hauptschacht ist breit genug! Also spar dir deinen Blödsinn. Und was die Seitenschächte anbelangt ... wenn’s mir zu eng wird, schicke ich euch Hungerhaken rein, während ich draußen mein Sandwich esse. Davon abgesehen: So schlimm wird das heute nicht werden. Wird mehr eine Art Kontrollgang. Wir sehen einfach nach, ob sich irgendwo Barrieren gebildet haben.«

»Ja, ja, wir wissen schon ... wegen dem Schmelzwasser«, lachte Owen.

»Du kannst mich mal kreuzweise, Owen.«

Dann lachten sie alle laut auf.

Winston hob seine massige rechte Hand. »Betty, die Rechnung bitte!«

Andrew schwitzte schon jetzt, obwohl er während des Umziehens mit nacktem Oberkörper dastand, den eisigen Temperaturen zum Trotz.

Die Furche seines Brustbeins glänzte vor Feuchtigkeit, und der unter Teil des Anzugs klebte an seinen bleichen Beinen wie eine zweite Haut. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es kein Spaziergang werden würde, wie Winston ihnen weismachen wollte, sondern ziemliche Knochenarbeit.

Allein die Anzüge, die sie scherzhaft als Kondome bezeichneten, würden dafür sorgen; hatte man in ihnen doch das Gefühl, man wäre in eine riesige Einkaufstüte gepackt worden, in der man mit jedem Schritt dem Erstickungstod ein wenig näher kam.

Er war froh, bald hier rauszukommen, sich gründlich zu waschen, obgleich der Geruch der Kanalisation oft Tage brauchte, um aus der Nase zu weichen, und sich in das Nachtleben des bevorstehenden Wochenendes zu stürzen.

Während er sich die klobigen Stiefel, die bis unter die Knie reichten, anzog, ließ er seinen Blick über das umliegende Terrain streifen.

Unmittelbar vor ihm war der Eingang zum unterirdischen Abwasserkomplex, in den sich die laut Winston unbedenklichen Abfälle des Fabrikkomplexes über ihnen ins Innere der Erde entleerten. Der von groben Ziegeln umschlossene, bogenförmige Durchgang in die Unterwelt grinste ihn wie ein weit ausgesperrtes Maul an, in dessen Mitte sich nichts als gähnende Schwärze befand.

Einige Meter darüber erkannte er zahllose Schornsteine und Türme, die sich in ihrer schier unglaublichen Höhe über die brückenartige Überwölbung reckten, auf der sich schwere Lastkraftwagen mit dumpfem Gebrumme träge dahinschoben.

Irgendwo in der Nähe musste eine Papierfabrik sein.

Der Furzgeruch von nassem Dampf, durchsetzt von feuchtem Papier, drang ihm unangenehm in die Nase. In der Ferne hörte er das Gestampfe und Geratter schwerer Maschinen, die in diesem gewaltigen Komplex ihre Arbeit versahen.

»Guter Gott, seht euch Caleb an!«, frohlockte Owen. »Der kleinste Anzug, den wir finden konnten, und sieht trotzdem aus wie eine Spargel in einem Zweimannzelt.«

Während Andrew seinen Reißverschluss zuzog, musterte er den Jüngsten amüsiert.

Owen hatte recht. Der Kleine sah mit diesem Anzug, sobald er die Arme von sich streckte, aus wie ein Flughund, der jeden Moment zum Sprung ansetzte.

»Und Andy schwitzt, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen«, setzte Owen seine scherzhaften Angriffe nun in seine Richtung fort. »Sieht aus, als hättest du das Ding mit Klebstoff an deiner Hühnerbrust befestigt.«

»Verpiss dich, Owen!« Andrew lachte.

»Gut!« Winston unterbrach die sich anbahnende Heiterkeit. »Wird Zeit aufzubrechen. Ich möchte nicht, dass Überstunden anfallen. Der Supervisor würde mich in der Luft zerreißen.«

Er holte den Plan aus seinem Anzug hervor.

»Setzen wir nicht das GPS ein?«, wollte Andrew wissen.

»Funktioniert dort unten nicht. Das Fundament unter dem Komplex ist einfach zu dick. Irgendwie logisch, oder, Herr Student? Sonst würde das alles ja irgendwann mal einfach einbrechen. Glaub mir, du könntest einen Atomsprengkopf auf dieses Plateau abfeuern, es würde nicht mal einen Kratzer abbekommen.«

Andrew entgegnete nichts darauf. Er wusste, dass Winston gerne aus Unwissenheit zur Übertreibung neigte. Widerworte seinerseits würden lediglich dazu führen, dass er sich in irgendeinem winzigen Schacht wiederfand, um die Wände mit den Fingernägeln sauber zu kratzen.

Also nickte er lediglich stumm und sah auf die Karte.

»Wir gehen zuerst den Hauptschacht entlang bis hierhin.« Winston zeigte auf der Karte auf die entsprechende Stelle. »Dort biegen wir nach Westen ab, gehen weiter bis hierhin. Ist das Hauptsammelbecken, wo das ganze Gewusel zusammenläuft. Wenn wir dort angekommen sind, wird alles kontrolliert, was beweglich ist: Rückstauklappen, Haupt- und Nebenschleusen, aber auch sämtliche Gitter, die wir vorfinden. Wenn was verstopft ist ... na ja, ihr wisst ja Bescheid. Ach ja, und haltet auch unterwegs die Augen offen, vor allem, was den Zustand der Nebenschächte anbelangt. Wenn alles gut geht, sind wir in zwei, drei Stunden wieder draußen.«

»Ganz schöner Marsch«, bemerkte Owen und zündete sich eine Zigarette an.

»Mach die Kippe aus!«, befahl Winston schroff. »Du kennst die Vorschriften. Gefahrengebiet! Hab keine Lust, dass du Idiot uns da unten alle abfackelst.«

Owen warf die Zigarette mit einem Murren auf den Boden und trat sie aus.

Die Aussicht, einige Stunden ohne Nikotinnachschub auskommen zu müssen, behagte ihm offensichtlich wenig.

»Welche Masken nehmen wir?«, meldete sich Caleb zu Wort. »Operationssaal oder Ameisenbär?«

»Stufe eins genügt«, antwortete Winston.

Alle atmeten erleichtert auf. Die Vorstellung, neben diesen klebrigen Anzügen auch noch Gasmasken tragen zu müssen, wäre zu viel des Guten gewesen.

»Gut, dann mal los.« Winston streifte sich den dünnen, bläulichen Gesichtsschutz über und aktivierte die Stirnlampe über seinen Augen.

Dann setzte sich der kleine Tross, allen voran der leuchtende Zyklop von Vorarbeiter, in Bewegung.

»Bist du schon mal hier unten gewesen?«, fragte Owen, als sich die Gruppe etwas mehr als hundert Meter in den Hauptschacht hineinbewegt hatte.

»Nein«, erwiderte Winston.

Nein, nein, nein, kam es von den Wänden aus blankem Beton zurück.

»Sonst würde ich keine Karte brauchen. Kennst ja mein Gedächtnis. So schnell vergess ich kein Tunnelnetz, in dem ich schon mal war. Hast du nicht gesagt, dass du  schon mal hier warst?«

»Hier nicht. Das war etwas weiter westlich, unter den Schlachthöfen. Bin froh, dass wir nicht dort rein müssen. Das war vielleicht ne Sauerei.«

»Apropos Netz«, murmelte Caleb, während er sein Telefon vor sein Gesicht hielt. »Hier gibt’s keins. Obwohl wir noch gar nicht so weit drin sind.«

»Du wirst es überleben, wenn du mal für ein paar Stunden deiner Freundin nicht irgendwelche Smilies schicken kannst«, sagte Winston.

»Oder Schwanzfotos«, fügte Owen hinzu. »Gut, dass es dieses eine Ding gibt ... wie heißt das noch mal? Ach ja ... App ... mit der man sein Ding größer machen kann. Sonst hättest du schlechte Karten.«

Owen grunzte vergnügt in sich hinein, während er durch das knöcheltiefe Wasser unter ihnen stapfte.

»Wenigstens krieg ich eine«, konterte Caleb. »Also, ohne dafür ein paar Scheine hinlegen zu müssen.«

Andrew achtete nur beiläufig auf das Geschwätz seiner Kollegen.

Seine Aufmerksamkeit galt den umliegenden Wänden, die entgegen seiner Erwartung, dass sie wieder mal in einen alten, vor Dreck strotzenden Schacht hinabsteigen mussten, erstaunlich sauber aussahen. Die dicken Betonplatten, die die gewaltige Last des Plateaus über ihnen tragen mussten, wirkten ziemlich neu. Keine schlammigen Spuren, die in den älteren Tunneln und Schächten vor allem aus den unzähligen Fugen und Ritzen in schmierigen Bahnen herunterliefen wie Rost von morschen Metallträgern.

Alles wirkte so makellos, als wäre es erst von wenigen Monaten erbaut worden.

Einzig die allgegenwärtige Dunkelheit, durch die die dünnen Strahlen der Lampen auf ihren Häuptern tanzten, vermittelte den Eindruck, dass sie sich tatsächlich in einem Abwasserkanal befanden. Kein Müll oder sonstiger Schrott am Boden, den das Ausgleichsgerinne von draußen hier hereingeschwemmt hatte, keine improvisierten, zurückgelassenen Behausungen irgendwelcher Obdachlosen.

Nichts.

Der Schacht wirkte auf ihn wie aus dem Ei gepellt.

»Wie alt ist der Plan, den du da bei dir hast, Boss?«, rief er zu Winston nach vorne.

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete der Vorarbeiter gereizt.

»Auf jeder Karte gibt’s rechts unten einen Vermerk, wann sie abgezeichnet wurde. Nicht gesehen?«

Winston blieb stehen und seufzte laut. »Und selbst wenn, Herr Student. Was spielt das für eine Rolle?«

Andrew schürzte die Lippen und sah sich nach allen Seiten um. »Weil ich glaube, mich erinnern zu können, dass da stand, dass die Karte vor gut dreißig Jahren erstellt worden ist. Und Leute, seht euch bitte mal um! Der Beton an den Wänden kann doch unmöglich älter als ein, zwei Jahre sein. Sieht aus wie frisch aus dem Zementwerk.«

Owen trat an die Wand zu seiner Rechten und strich mit der Hand über das gerippte Grau. Sein Handschuh gab ein quietschendes Geräusch von sich. »Ich glaube, unser Junior hat recht.«

»Ja, und?« Winston war hörbar genervt. Er plusterte die schlaffen Wangen auf, was sogar durch die Maske hindurch zu sehen war.

»Na ja, was wenn man hier im Zuge eines Umbaus Änderungen vorgenommen hat, die nicht in der Karte verzeichnet sind? Hast du etwa Bock, dich hier unten zu verlaufen?«

»Da ist was dran!« Owen runzelte die Stirn, während Caleb nur wortlos daneben stand und nickte.

»Ja, und was jetzt?« Caleb trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Ich würde sagen, wie gehen zurück zum Wagen und funken den Alten an. Der soll das klären«, schlug Andrew vor.

»Der Supervisor«, wies ihn Winston sofort zurecht, wobei er den von der Gesellschaft verliehenen Ehrentitel, der im Prinzip nichts aussagte, besonders betonte, »hat mir den Auftrag gegeben, das heute zuverlässig zu erledigen. Soll ich ihm etwa erklären, dass er auf gutes Geld verzichten muss, nur weil einer meiner Frischlinge meint, der Plan stimmt nicht? Guter Witz, oder? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass man hier unten großartig was geändert hat, beim besten Willen nicht. Wie soll das auch gehen? So wie das für mich aussieht, hat man offensichtlich nur die Wände verstärkt, saniert, oder was auch immer. Die Karte wird also mit Sicherheit noch stimmen.«

Der Disput war beendet.

Andrew machte keinerlei Anstalten, weiter zu intervenieren, auch wenn ihm Winstons Vorgehensweise unvernünftig erschien. Sich hier unten in unbekanntes Terrain vorzuwagen, konnte ein gefährliches Unterfangen werden. Er konnte die Weitläufigkeit der Anlage nur ansatzweise abschätzen, da aber das gesamte Industrieviertel über ihnen unzählige Quadratmeilen umfasste, lag der Schluss nahe, dass das hier unten ähnliche Ausmaße hatte.

Doch der Chef hatte gesprochen, und somit war jeder Widerspruch sinnlos.

Wortlos stapften die Männer weiter in die Dunkelheit des verzweigten Abwassersystems hinein.

Das Rascheln der Schutzanzüge und das Plätschern des Wassers, das mancherorts in knöcheltiefen Pfützen stand, waren ihre einzigen Begleiter.

Irgendwo weiter vorne summte ein Schwarm Fliegen. Für Fliegen war es eigentlich noch zu früh in diesem Jahr, doch hier unten war es unnatürlich warm, was die Brut dieser lästigen Zeitgenossen nicht nach den Gesetzen verlaufen ließ, die jenseits dieses unterirdischen Habitats herrschten. Sie surrten und rasten auf der Suche nach verwertbaren Exkrementen umher, winzige Fliegenstimmen, die sangen und klagten.

Andrew registrierte den einen oder anderen Schwall Tunnelluft, der in regelmäßigen Intervallen aus Richtung des Ausgangs hereinwehte, um schließlich in einer der Abzweigungen zu verschwinden, die sie auf ihrem Marsch passierten.

Winston begann, etwas Unverständliches zu murmeln.

»Was is’n los, Boss?«, fragte Owen. »Haben wir uns schon verfranzt?«

Winston schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Wir haben, wenn die Karte noch aktuell ist, noch etwa zweihundert Meter bis zur Tunnelkreuzung. Dann gehen wir nach rechts ... ungefähr hundert Meter weiter, und dann sollten wir da sein.«

»Na, viel gibt’s hier ja nicht zu tun«, sagte Owen, während er sich umsah. »Sieht alles aus wie abgeleckt.«

»Umso besser«, ergänzte Andrew. »Dann sind wir schneller wieder hier raus. Fühl mich nicht ganz wohl in meiner Haut.«

»In der ersten oder zweiten?«, lachte Caleb.

»Los, bewegt euch«, trieb Winston die Schar weiter voran. »Und haltet etwas mehr die Schnauze und dafür die Augen offen.«

Die Männer taten widerwillig, wie ihnen geheißen, und stapften noch eine Zeit lang wortlos in Richtung Süden.

»So, da wären wir!«, stellte Winston schließlich fest. »Siehst du, Student? Hat alles seine Ordnung.«

Owen trat vor und reckte seinen Kopf in die Dunkelheit der Abzweigung. Plötzlich zuckte er zurück und hätte, während er nach hinten stolperte, Andrew beinahe umgerannt.

»Sag mal, geht’s noch?«, fuhr Andrew ihn an. »Was ist los mit dir?«

»Dann häng mal deine Nase dort rein«, antwortete Owen, während er sich schwer atmend hinhockte.

Winston kam ihm zuvor, ging einige Schritte in Richtung des Durchgangs und hielt vorsichtig seine Nase hinein.

»Guter Gott!«, presste er hervor.

»Was ist, was ist?«, rief Caleb.

»Was für ein abartiger Gestank!«, sagte Winston würgend. »Riecht, als würde dort drinnen was verwesen.«

Der Vorarbeiter lehnte sich gegen die Tunnelwand zu seiner Rechten und hielt den Kopf nach unten, als würde er sich jeden Moment übergeben.

»Sag ich doch.« Owen begann unwillkürlich zu würgen, als er Winstons krampfhaft zuckenden Oberkörper sah. »Stinkt wie der dämliche Köter von damals. Oder noch schlimmer!«

Andrew trat neben Winston, zögerte einen kurzen Moment und atmete dann vorsichtig ein.

Ein abartig säuerlicher Geruch strömte ihm in die Nase. Er hatte so was schon einmal gerochen, als er beim Spazierengehen vor der Stadt auf den Kadaver eines toten Tieres gestoßen war, das vermutlich schon seit Tagen in der sengenden Sonne eines heißen Sommer vor sich hinfaulte.

Doch dieser Gestank hier war noch schlimmer.

Selbst durch die Maske hindurch, die er immer mit einer scharf riechenden Eukalyptuslösung einsprühte, war er noch deutlich wahrnehmbar.

Für einen kurzen Moment nahm ihm dieser abartige Geruch derart den Atem, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Der von Maden überzogene Kadaver kam ihm wieder in den Sinn, er schluckte einen kleinen Brocken Erbrochenes wieder hinunter, taumelte und prallte neben Winston gegen die Wand.

»Na, na, na«, sagte dieser und zwang sich ein kurzes, aber lautes Lachen ab. »So schwach auf der Brust?«

Winston packte ihn und richtete ihn mit einem Ruck wieder auf.

Dann spürte er, wie sein heftig pumpendes Herz wieder Kraft in seine Gliedmaßen zurückschickte. Vorsichtig streckte er die Hände von sich und vollführte einige hilflos anmutende Bewegungen, um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.

Mit dem wiedererlangten Körpergefühl jedoch war auch der Brechreiz erneut zur Stelle.

Sein Magen signalisierte ihm unmissverständlich, dass er keineswegs gewillt war, den Fraß aus dem Diner auch nur eine Sekunde länger in seinem Inneren zu behalten.

»Hier, nimm einen Schluck«, sagte Winston und hielt ihm eine Flasche Wasser vor die Nase.

Andrew winkte ab. »Geht schon wieder, danke!«

»In Ordnung. Bleib hier stehen und atme ganz ruhig weiter. Aber nur durch den Mund. Dauert ein bisschen, bis man sich an so was gewöhnt.«

Andrew sah den Vorarbeiter an und hob den gestreckten Daumen.

»Hier draußen stinkt’s überhaupt nicht«, bemerkte Caleb und begann, nach allen Seiten hin die Luft zu beschnuppern.

»Das liegt am Wind«, würgte Andrew hervor. »Der kommt von Norden und weht das alles in Richtung Süden. Haben ja fast immer Nordwind in der ganzen Stadt.«

»Gut, dann kann’s ja weitergehen«, sagte Winston in Richtung der anderen beiden.

»Da rein, bist du verrückt?«, rief Owen. »Willst du, dass wir uns die Seele aus dem Leib kotzen? Das riecht ja schlimmer hier als der Fladen der Alten und der Köter zusammen!«

»Keine Widerrede!«, sagte Winston barsch. »Wir haben einen Job zu erledigen. Und je schneller wir den erledigen, umso früher sind wir hier wieder raus! Nehmt euch ein Beispiel an unsrem Junior!«

Es dauerte einen Moment, bis Owen und Caleb Winstons Befehl Folge leisteten.

Mit vorsichtigen Schritten und nur zögerlich atmend ging die Gruppe weiter.

Sobald sie den Durchgang passiert hatten und einige Meter in den Seitenschacht vorgedrungen waren, schien sich der Gestank um sie herum zu einer ungeahnten Intensität zu steigern.

Doch das war nicht das Einzige.

Während sie sich zuvor noch in diesem beinahe makellos sauberen Teil des Komplexes bewegt hatten, stellte Andrew fest, dass sie nun offenbar in einen etwas älteren Teil der unterirdischen Stadt vordrangen.

Die Wände, die ihnen zuvor noch in einheitlichem Hellgrau erschienen waren, gingen nun immer mehr in schmutziges Grün oder Braun – im Schein des künstlichen Lichts der Lampen war dies nur schwer einzuschätzen – über.

Aus brüchigen Ritzen über ihnen drang Wasser herein, das ihnen in schweren Tropfen unangenehm auf den Schädel prasselte.

»Na toll, jetzt kriegen wir auch noch ne Dusche ab«, beschwerte sich Owen. »Als ob der Gestank nicht schon genug wäre.«

Caleb war der Einzige, dem das alles nichts auszumachen schien. Er zeigte ein breites Grinsen, sodass sich die Schutzmaske zu beiden Seiten spannte, und sagte zu Owen: »Für jemanden, der das schon so lange macht, bist du echt empfindlich.«

»Vielleicht gerade deswegen«, brummte Owen. »Geht mir vermutlich schon zu lange auf’n Sack das alles.«

Andrew blieb stumm und musterte weiter die Umgebung.

Er kam nicht umhin festzustellen, dass der Schacht in keinem besonders guten Zustand war. Aus breiten Spalten an den seitlichen Wänden sickerte Wasser ins Innere. Braun von der Erde, die es mit sich trug, lief es in schmutzigen Strömen über die moosbewachsenen Steine, deren unregelmäßige Beschaffenheit verriet, dass sie sich in einem sehr alten Abschnitt befanden.

Es wirkte beinahe, als würden die Wände bluten.

Und auch der Boden wurde, je weiter sie gingen, zusehends von Leben erfüllt. Das hohe Fiepen unter ihnen war den Männern nur allzu vertraut.

Ratten!

Zuerst waren es nur wenige, doch je weiter sie sich ihrem Ziel näherten, umso größer wurde ihre Zahl.

»Scheiße, sind das Riesenbiester«, zischte Owen und versuchte, einen der pelzigen Genossen unmittelbar vor ihm mit einem Tritt zur Seite zu befördern. Doch der Versuch scheiterte. Der Nager machte einen schnellen Satz und war kurz darauf in einem kleinen Loch zu seiner Linken verschwunden.

»Scheinen auch keine Angst zu haben!«, fügte Caleb hinzu.

»Bisamratten«, stellte Andrew fest. »Manche von denen werden so groß wie kleine Hunde. Sind aber in dieser Gegend recht selten. Üblicherweise findet man sie eher in Seen oder Tümpeln, wo es genug Wasser und Nahrung gibt.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783950490268
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Horror Furcht Monster Tod Fluch Dunkelheit Angst

Autor

  • W. H. Sarau (Autor:in)

Walter H. Sarau wurde 1972 in Wien geboren. Neben seiner Tätigkeit als Autor arbeitet er hauptberuflich als konzeptioneller Designer und Matte Painting Artist für Film und Werbung. Sein Erstlingswerk, »Die Legenden von Carthan«, eine illustrierte Novelle, wurde von einem renommierten Magazin ausgezeichnet. Im Jahr 2019 & 2020 veröffentlichte er bereits »Konstrukt«, Teil 1 & 2«, sowie die Kurzgeschichtensammlung »Mördersommer«. W. H. Sarau lebt und arbeitet im Kurort Semmering in Österreich.
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Titel: Leichenwinter