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Alles auf Anfang, alles auf Glück

Roman

von Anne Lux (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Liebes-Trilogie, Band 2

Zusammenfassung

+++ Die Fortsetzung des Erfolgsromans „Mitten im Sommer, mitten ins Herz"! +++ Kein Job, keine Wohnung, kein Geld ˗ und mit über dreißig wieder im Kinderzimmer bei den Eltern: Das Leben von Stefanie steckt nach einer mehrmonatigen Auszeit in Australien in der Sackgasse. Da trifft sie ihre Schulfreundin Lola wieder, die sich ebenfalls in einer Sinnkrise befindet. Für einen Neubeginn ziehen sie überstürzt nach München, aber ihre Vergangenheit holt sie schnell ein: Eines Tages steht Surflehrer Gylfi vor der Tür, mit dem Stefanie in Australien nicht nur beim Wellenreiten auf Tuchfühlung gegangen ist. Und auch Rolo, für den sie im letzten Sommer ihren Freund Peter verlassen hat, steht wieder auf der Matte. Die Jobsuche ist frustrierend, das Konto leert sich rasend schnell, Lolas verschmähter Ehemann macht Ärger und ihre illegale WG droht permanent aufzufliegen. Als das Chaos zu groß wird, schlägt Gylfi den beiden jungen Frauen eine Reise in seine isländische Heimat vor. Die Zeit auf der Insel aus Feuer und Eis wird für alle drei zu einem entscheidenden Wendepunkt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Als die Reifen des Flugzeugs aufsetzten, war Stefanie Mertens quasi taub. Dieser Umstand hätte, wenn es nach ihr gegangen wäre, gerne schon ein paar Stunden früher eintreten können, aber ihre Ohren hatten erst beim Landeanflug zu knacken und zu schmerzen begonnen und schließlich die Geräusche um sie herum gedämpft. Zuvor hatte sie seit dem Start in Abu Dhabi unfreiwillig den angeregten Gesprächen einer fünfköpfigen, rein männlichen australischen Reisegruppe lauschen müssen, deren Mitglieder neben und vor ihr saßen. Ohrenstöpsel und Kopfhörer, selbst gleichzeitig eingesetzt, waren nicht in der Lage, die Lautstärke der Unterhaltungen wesentlich zu mildern.

Stefanie streckte ihr linkes Bein in den Flur, bewegte leicht den Kopf hin und her und warf dann über ihre zwei Nachbarn hinweg einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster.

Der Himmel sattblau, kleine Wolken wie Wattebäuschchen darauf verteilt.

München.

Sie war wieder hier. Nach über neun Monaten.

„Bitte bleiben Sie noch angeschnallt, bis wir unsere endgültige Parkposition eingenommen haben.“

Sofort klickten neben und vor ihr gleichzeitig die Sicherheitsgurte. Sie spürte den eindringlichen Blick des Mannes neben ihr, beschloss aber, ihn zu ignorieren. Erst als sich ein Finger sanft in ihren Oberarm bohrte, wandte sie den Kopf.

„Would you mind letting me out so I can catch my suitcase?“

Stefanie seufzte innerlich, erhob sich aber. Es war nicht die Zeit, andere Leute darüber zu belehren, dass das Flugzeug seine Türen keine Minute eher öffnen würde, wenn sie sofort aufsprangen wie von der australischen Tarantel gestochen.

Sie stand eine Viertelstunde zwischen einem Schulterpaar mit beeindruckendem Sonnenbrand und einem korallrot geschminkten Mund, der beständig in ein Handy sprach und Stefanie dabei föhnwarme Luft in den Nacken blies. Was die Dame sagte, verstand sie nicht, ihre Ohren waren immer noch fast zu. Sie suchte kurz ihr eigenes Handy in der Tasche, ließ es dann aber sein. Das Gerät hatte sie in den ersten Wochen in Australien noch öfter angehabt, mit der Zeit jedoch immer weniger, am Ende gar nicht mehr.

Das Lächeln der Flugbegleiterin wirkte wie eingefroren, dennoch verlangsamte Stefanie ihren Schritt, als sie an ihr vorbeikam. Sie sah die geöffnete Tür und die Passagierbrücke, an deren Ende die Vergangenheit wartete, die sie hatte hinter sich lassen wollen. Zumindest für neun Monate. Und jetzt zumindest noch ein bisschen, ein paar Momente, ein paar Sekunden …

„Thank you for the … the nice flight … it was really …“

„Excuse me, please.“ Die Korallenmundfrau drängte sich an ihr vorbei.

„No need to push“, murmelte Stefanie und sah noch einmal rasch auf die Flugbegleiterin, die sich längst von ihr abgewandt hatte.

Der Gang durch die Brücke, eine Rolltreppe hinauf, fünfzig Meter gehen, eine Rolltreppe hinunter. Vor der automatischen Drehtür traf Stefanie wieder auf die Korallenfrau, die mit der Hand heftig gegen das Glas trommelte und zischende Laute ausstieß.

„It says Don’t push“, sagte Stefanie und wies auf das Schild. „It stopped because you pushed the door.“

Die Frau bedachte sie mit einem eisigen Blick und kräuselte die roten Lippen.

Die Schlange vor der Passkontrolle, der Schmerz in den Ohren, die Erschöpfung, die sich allmählich bemerkbar machte, der lange, misstrauische Blick des Beamten, dessen Augen immer wieder zwischen ihr und dem biometrischen Passbild hin- und her wanderten.

„I am more tanned now but still the same“, sagte Stefanie und hörte ihre eigene Stimme nur gedämpft.

„Und augenscheinlich geistig noch woanders“, sagte der Polizist und reichte ihr das Dokument.

Leider nur geistig, dachte Stefanie.

„Hier können’S deutsch reden.“

Depp, dachte Stefanie.

Warten, bis das Gepäckförderband zu ruckeln begann, immer wieder gähnen, um die Ohren freizubekommen, den riesigen Rucksack vom Förderband zerren und auf den Rücken wuchten, vorbei am Zollbeamten und seinem Schäferhund und jeden Blickkontakt vermeiden, weil Backpacker bevorzugt herausgezogen wurden, durch die automatische Schiebtür nach draußen gehen und das Niemandsland zwischen Rollfeld und Ankunftsbereich endgültig hinter sich lassen.

Stefanie sah sich unter den Wartenden um. Vanessa war nicht zu sehen. Stefanie verspürte leichte Enttäuschung. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre beste Freundin sie mit Schild und Blumen empfangen würde, aber … hm … doch … genau das hatte sie erwartet. Sie setzte den Rucksack ab und holte ihr Handy aus der Tasche. Vielleicht war Vanessa im Berufsverkehr stecken geblieben. Und noch unterwegs. Mit Schild und Blumen.

Das Telefon vibrierte.

Steff! Es tut mir so leid, aber ich kann nicht kommen. Notfall sozusagen. Kai hat sich das Handgelenk verstaucht und musste in die Notaufnahme und ich musste natürlich mit. Hüpf ihn ein Taxi und komm so schnell wie möglich, wir freuen uns riiiiiesiiig! LG, Vanessa

Stefanie runzelte die Stirn und durchforstete ihr Gehirn nach dem Namen Kai. Hatte Vanessa von ihm geschrieben? Vielleicht. Aber da waren auch ein Stefan gewesen und ein Sebastian. Für die mehrwöchige Dauer eines Deutschkurses sogar ein François.

Wir freuen uns riiiiiesiiig.

Wir.

Stefanie seufzte. Als sie den Rucksack wieder hochheben wollte, versagte ihr Arm den Dienst. Einen Moment war ihr schwarz vor Augen, Schweiß trat ihr auf die Stirn und sie musste kurz in die Hocke gehen. Okay. Die Sache war entschieden. Sie würde wirklich ein Taxi und nicht die S-Bahn nehmen, auch wenn sich Letztere viel besser mit ihrem desolaten Kontostand vertragen würde.

„Und Sie nehmen wirklich keine EC-Karte?“, fragte Stefanie und schielte auf den Taxometer. Sie hatte vor ihrer Abreise ihre restlichen Euro wieder hervorgekramt, aber richtig viele waren es nicht gewesen.

Der Fahrer wandte ihr sein hageres Gesicht zu. „Wie viel haben Sie denn dabei?“

„Um die fünfzig Euro.“

Er wiegte den Kopf hin und her. „Wird knapp.“

„Fahren Sie mich einfach so nah an den Gärtnerplatz, wie es eben geht.“ Stefanie lehnte sich in dem Sitz zurück, schloss die Augen und seufzte. Es war angenehm kühl im Auto und sie freute sich auf eine Dusche bei Vanessa.

„Lange Reise gehabt?“

„Kann man so sagen. Australien.“

„Urlaub?“

„Jein. Auszeit. Ein paar Monate.“

„Studieren Sie noch?“

Stefanie öffnete ein Auge. „Sie sind ein Charmeur.“

Der Fahrer lachte.

„Ich arbeite schon einige Jahre“, sagte Stefanie und sah nach draußen. Rapsfelder, wogender Weizen, Bäume, die im Licht des Nachmittags lange Schatten warfen.

„Und das erlaubt der Chef, dass Sie so lange wegbleiben?“

Stefanie schwieg. Erinnerungsfetzen stiegen in ihr hoch. Retos ungläubiger Blick, als sie ihm mitteilte, fristlos kündigen zu wollen, seine schrille Stimme, als er ihr nachschrie, sie brauche sich hier nicht mehr blicken lassen. Wie sie es irgendwie schaffte, mit erhobenem Haupt aus der Agentur zu kommen, die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern, als sie ihnen davon erzählte, das Wort „Hartz 4“, das ihr Vater irgendwann fallen ließ.

„Ach, das geht heutzutage alles“, sagte sie leichthin.

„Sabbatical und so, nicht wahr? Wird ’ne Umstellung sein, wieder einzusteigen, oder?“

Stefanie schwieg erneut. Sie war keine zwei Stunden zurück und wurde mit Themen konfrontiert, die sie davor monatelang erfolgreich ausgeblendet hatte. Als ihr Handy brummte, griff sie dankbar danach.

„Ja? Vanessa?“

„Sie ist es! Hey, ich freu mich so! Wo bist du?“

Als sie Vanessas Stimme hörte, stiegen ihr fast die Tränen in die Augen.

„Im Taxi. Auf der Autobahn. Ich bin in einer … guten halben Stunde da?“ Sie sah den Fahrer an, der bestätigend nickte.

„Super. Ich hoffe, du hast Hunger. Kai hat zwei seiner Spezialitäten gemacht, es gibt …“

„Vanessa?“

„… erst Gazpacho und dann eine leckere …“

„Vanessa?“

„… Gemüselasagne. Ja?“

„Wer ist Kai?“

Einen Moment war es still in der Leitung. „Hatte ich dir das nicht geschrieben?“

„Doch, ich glaube schon … ja. Aber warum … warum kocht er bei dir?“

Vanessa lachte auf und es hörte sich eine Spur gereizt an. „Wieso soll mein Freund nicht bei mir kochen?“

Weil du zwei Dinge hasst wie die Pest, dachte Stefanie. Wenn Männer bei dir übernachten und wenn sie typische Pärchenaktivitäten mit dir zelebrieren wollen. Kochen zum Beispiel.

„Okay“, sagte sie. „Toll. Wie gesagt, ich bin in etwa dreißig Minuten da.“

„Prima“, sagte Vanessa. „Wir können morgen ja überlegen, ob wir brunchen oder …“

„Übernachtet Kai auch bei dir?“, fragte Stefanie eine Spur zu hastig.

Wieder kurz Stille in der Leitung. „Ja, klar. Er kann mit seinem Handgelenk ja nicht Autofahren.“

Aber kochen, dachte Stefanie, sagte aber nichts.

„Alles klar, bis gleich, ich freu mich!“

„Ich mich auch, Steff. Bis gleich.“

Stefanie legte auf. „Ich fass es nicht“, murmelte sie.

„Alles gut?“

Sie sah erschrocken auf. „Wie bitte?“

„Was fassen Sie nicht?“ Der Taxifahrer sah konzentriert nach vorne.

„Sie sind charmant und neugierig.“

Er zuckte mit den Schultern.

Stefanie atmete tief durch. „Es ist kompliziert. Vanessa war immer … wie soll ich das sagen … immer sehr auf der Suche, was Männer angeht. Und jetzt“, sie sah auf das Handy in ihrer Hand, „jetzt kocht sie. Mit Kai.“

„Hardcore.“

„Und ich war immer in langen Beziehungen und bin jetzt Single. Während sie Männer betüddelt.“

„Statt Sie zu betüddeln.“

„Na, zumindest heute. Nach neun Monaten zum ersten Mal!“

„Pervers.“

„Aber echt.“

„Unanständig.“

„Sie machen sich lustig.“

„Fahre ich Sie jetzt eigentlich zu dieser treulosen Tomate?“

„Das ist die Frage“, murmelte Stefanie. „Meine Lust, mit Kai kalte Gemüsesuppe zu schlürfen, hält sich in Grenzen.“ Sie überlegte. „Warten Sie kurz, ich rufe noch bei Sandra und Martin an.“

„Wenn es genehm ist, warte ich nicht, sondern fahre hier auf der rechten Spur gleichmäßig weiter. Wo wohnen Sandra und Martin?“

„Aubing“, sagte Stefanie und ignorierte seine hochgezogenen Augenbrauen. Sie lauschte dem Klingeln und hoffte plötzlich doch, dass keiner rangehen würde. Was sollte sie Sandra und Martin sagen? Huhu, ich bin’s. Ich weiß, ich habe mich seit Monaten kaum gemeldet, aber könnte ich trotzdem spontan bei euch unterkommen, bis ich Wohnung und Job und mein Leben wieder im Griff habe?

Sie atmete erleichtert auf, als der Anrufbeantworter anging und ihr verriet: „Sie sind verbunden mit dem Lebensmittelpunkt von Sandra, Martin und Leonie.“ Wie auf Kommando quäkte kurz ein Kleinkind im Hintergrund. „Bis zum 15. Juli sind wir auf Reisen, danach wieder hier zu erreichen.“

Stefanie legte schnell auf. „Nicht da. Noch einen ganzen Monat.“

„Dann doch Gärtnerplatz?“

„Nein“, sie schüttelte energisch den Kopf. „Neubiberg.“ Sie schrieb eine SMS an Vanessa und schaltete dann ihr Handy aus.

Der Taxifahrer scherte aus, um einen Lkw zu überholen. „Das wird dann aber richtig teuer“, sagte er.

„An der Hauptstraße in Neubiberg gibt es einen Bankautomat. Da halten wir kurz.“

Es war ein Notfallplan, aber er erschien ihr im Moment als erlösende Alternative zum Pärchenabend mit Vanessa und Kai. Ihre Eltern waren im jährlichen Kroatienurlaub, aber sie hatte einen Hausschlüssel. Sie könnte noch über eine Woche allein sein, in Ruhe die Fühler nach Freunden ausstrecken, sich langsam Gedanken machen über die Zukunft. Sie roch unauffällig an ihrer linken Achsel. Und in aller Ruhe duschen.

Sie hatte dem Taxifahrer nicht gesagt, dass der Bankautomat ihr nur zwanzig Euro ausgespuckt hatte. Sie hoffte einfach, dass es das Einmachglas mit Bargeld in der Küche noch gab, das auf dem Fensterbrett stand, seit sie denken konnte. Dutzende Sternsinger und Halloween-Kinder waren daraus bezahlt, unzählige Kartenabende damit bestritten worden. Zur Not müsste sie Frau Stammberger von nebenan fragen, die immer die Blumen goss, wenn ihre Eltern nicht da waren. Sie würde sich später mit ihrem deutschen Girokonto befassen. Wie mit allem. Später. Frühestens nach der Dusche.

Vom Nordosten Australiens nach Neubiberg innerhalb von achtundvierzig Stunden. Wenn sie die Augen schloss, stiegen Bilder in ihr hoch, von der anrollenden Brandung, dem weiten blauen Himmel, der sich am Horizont mit dem Meer vereinigte.

„Jetzt bräuchte ich noch mal Ihre Hilfe.“

Sie schreckte hoch. „Was? Ach so. Die nächste links und dann Nummer 11.“

Die Straße ihrer Kindheit und Jugend war unverändert. Zwei Grundstücke mit dichten Thuja-Hecken, einmal freier Einblick, noch einmal Hecke, die Buschformation am Zaun der Stammbergers, dann das Haus ihrer Eltern.

„Shit!“, rief sie.

Der Taxifahrer trat das Bremspedal durch. Mit quietschenden Reifen kam das Auto zum Stehen. „Was?“, brüllte er.

„Sie sind da!“

„Was zur Hölle …“

„Meine Eltern sind da.“

Der Taxifahrer schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. „Sind Sie eigentlich durchgeknallt? Ich dachte, ich überfahre grad ein Schulkind!“

„Ich bin einfach nur … ich war mir sicher, dass sie …“ Stefanie brach ab. Der Vorhang am Küchenfenster hatte sich bewegt. „Ich war einfach nicht darauf vorbereitet, dass sie …“

Die Haustür wurde schwungvoll aufgerissen. Och nö, dachte Stefanie. Was macht denn Max hier?

„Die Weltenbummlerin ist zurück! Ich hab doch gesagt, dass es heute noch knallt!“ Der untersetzte Mann mit der glatt polierten Glatze wandte sich um. „Hab ich ned gsagt, dass es heute noch knallt?“

Eine zierliche Frau schob sich an ihm vorbei. „Du hast das Wetter gemeint, Max.“ Sie schob die Brille hoch in das hellrote Haar. „Ja Steffi! Du bist es ja wirklich!“ Jetzt drehte sie sich in den Flur zurück. „Bernhard, Jutta! Kommt’s mal.“

„Eure verlorene Tochter ist wieder da!“, rief Max. „Direkt mit dem Taxi aus Australien gekommen!“

Der Blick des Fahrers ruhte auf Stefanie, die schwach nach draußen winkte.

„Sollen wir schnell weiterfahren?“

„Zu spät“, sagte Stefanie, ohne ihr verkrampftes Lächeln aufzugeben. Sie winkte weiter. Mittlerweile waren ihre Eltern ebenfalls in der Tür erschienen. „Hier ist erst einmal Endstation.“

DIE Frage kam noch schneller, als Stefanie erwartet hatte. Ihre Eltern hatten den Schafkopfabend mit ihren besten Freunden Max und Rosalie sofort unterbrochen, ihr Bier, Brot, Käse und Wurst serviert, saßen nun am Tisch und beobachteten fast ehrfürchtig, wie der unangekündigte Besuch kaute. Stefanie hatte das Gefühl, dass sie allmählich vor sich hinmüffelte und sich dieser Umstand nur wegen der noch stärkeren Bierfahne von Max nicht bemerkbar machte.

„Ich dachte, ihr seid im Urlaub“, sagte sie schließlich.

„Wir fahren nächste Woche.“

„Hm, dann habe ich das verwechselt.“

„Schätzchen, wieso hast du dich denn nicht angekündigt?“, fragte ihre Mutter. „Wir hatten ja keine Ahnung, wann du genau wiederkommst, du hast immer gesagt, im Herbst.“

Stefanie kaute schweigend. „Planänderung“, sagt sie zwischen zwei Bissen.

„Apropos Pläne“, sagte Max und Stefanie wusste, dass es jetzt so weit war. DIE Frage würde kommen. Sie spürte die Blicke aller auf sich.

„Was hast du denn jetzt vor?“

„Hier ist natürlich überhaupt nicht aufgeräumt“, sagte ihre Mutter, als sie die Tür öffnete. „Warte, zumindest den Wäscheständer räum ich auf. Und frische Bettwäsche hole ich auch gleich. Bin sofort wieder da.“

Stefanie ließ sich auf das Bett sinken, löste den Handtuchturban und ließ den Kopf in ihre Hände sinken, die langen Haare hingen wie ein nasser, dunkler Vorhang um sie. Wie lange war sie jetzt unterwegs? In Australien war es jetzt mitten in der Nacht und sie würde längst schlafen.

Regen begann leise gegen die Fensterscheibe zu klopfen. Sie hob den Kopf und ließ den Blick durch ihr ehemaliges Kinderzimmer schweifen.

„Soderla, frisch duftende Bettwäsche.“ Ihre Mutter kam wieder herein.

„Wieso hängt hier immer noch das Lenny-Kravitz-Poster?“, fragte Stefanie. „Ich bin absolut sicher, dass ich das vor etlichen Jahren abgehängt habe.“

Ihre Mutter schüttelte das Laken aus. „Der schaut doch gut aus. Hab ich im Keller entdeckt und mir gedacht, so ein Anblick beim Wäscheaufhängen oder bügeln ist nicht verkehrt.“ Sie lachte. „Der Papa ist immer schon ganz eifersüchtig, wenn ich zu lang bügle hier drin.“

„Ach Mama …“ Stefanie stand auf und streckte die Hand aus, doch ihre Mutter blieb reglos stehen und starrte auf das Laken. „Mama, ich weiß, ich hätte mich melden sollen. Ich wollte es auch. Aber der Plan war, mich bei Vanessa erst ein bisschen zu akklimatisieren, bevor ich …“

„Es ist schon gut, Schätzchen.“ Ihre Mutter schüttelte das Laken heftig und hielt dann inne. „Wir hätten uns halt gewünscht, dass du dich generell öfter mal meldest. Die ganze Abreise … das davor … das war alles so überstürzt und wir waren einfach …“

„Ihr wart enttäuscht.“

„Nein, Stefanie, das stimmt nicht.“

„Ihr wart enttäuscht, weil ich den Traumschwiegersohn Peter mit einem psychisch labilen Witwer betrogen und ihn dann verlassen, den Traumjob gekündigt und mein Erspartes in Australien in den Sand gesetzt habe. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Steffi …“

„Kann ich verstehen.“

Ihre Mutter schwieg. „Na, jetzt bist du ja da“, sagte sie dann mit gepresster Stimme. „Und es wird sich schon alles finden.“

Ja, dachte Stefanie. Aber bitte, bitte lasst mich in Ruhe suchen.

Im Haus war es still. Das Gewitter war weitergezogen, der Regen verstummt. Durch das Fenster war ein Ausschnitt Himmel zu sehen, den Stefanie im Laufe der Jahre Hunderte Male betrachtet hatte. Bei Furcht vor einer anstehenden Klassenarbeit, bei Liebeskummer, bei Vorfreude.

Sie war rasch eingeschlafen, nachdem ihre Mutter ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, aber kurze Zeit später wieder aufgewacht, mit trockenem Mund und dem starken Verlangen nach etwas Fruchtigem. Auf dem Weg nach unten hatte sie Stimmen aus der Küche gehört und war schließlich auf der Treppe stehen geblieben. Max und Rosalie waren noch da und unterhielten sich angeregt mit ihren Eltern, und es war Stefanie sofort klar, dass sie, die verlorene Tochter, das Thema war. Nach einigen Minuten machte sie kehrt und verkroch sich im Bett, wo sie seitdem mit klopfendem Herzen wach lag.

„So einfach ist das auch nicht, in ihrer Branche was zu finden.“

„Die Tochter vom Manfred, die ist auch in der Werbung, die hat zwei Jahre gesucht.“

„Wo zieht sie denn jetzt hin? Es ist ja fast unmöglich, in München eine bezahlbare Wohnung zu finden.“

„Meint’s ihr nicht, dass sie vielleicht wieder mit dem Peter zusammenfindet?“

„Jetzt lasst sie doch erst einmal ankommen, sie ist ein kluges Mädchen und wird ihren Weg schon finden.“ Ihr Papa. Stefanie traten fast die Tränen in die Augen, als sie an seine Worte dachte.

„Aber sie muss jetzt schon schauen, dass …“

„Sie ist ja jetzt auch schon vierunddreißig und in dem Alter …“

„Ich sag nur ticktackticktack …“

Stefanie schaute auf das Poster über ihr.

„Was soll ich denn jetzt machen, Lenny?“, flüsterte sie.

Lenny Kravitz schwieg und bot keine Lösung, aber seine Bauchmuskeln waren beeindruckend. Stefanie seufzte tief. Ein leises schleifendes Geräusch war zu hören. Die rechte Posterecke löste sich langsam, dann die linke, dann rollten Lenny und sein Sixpack nach unten in Richtung Bett.

„Na komm her“, flüsterte Steffi, griff nach dem Poster und legte es auf sich. „Wir nicht mehr Taufrischen müssen zusammenhalten.“

Erst als der Morgen dämmerte, fiel sie endlich in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 2

Am nächsten Tag klingelte der Wecker um halb acht und Stefanie zwang sich, aufzustehen und sich anzuziehen, auch wenn ihre Lider schwer wie Blei waren und ihr Körper sich steif anfühlte. Bei Vanessa hätte sie mit Sicherheit bis mittags ausgeschlafen, aber ihren Eltern gegenüber wollte sie partout nicht den Anschein erwecken, als würde sie hier gleich ihren „Urlaub“ fortsetzen.

Ihr Vater saß am Esstisch in der Küche und ließ die Zeitung sinken, als sie eintrat.

„Guten Morgen“, sagte er und schaute sie über seine Lesebrille an. „Wir hätten dich gar nicht so früh erwartet. Du bist ja sicher noch in der australischen Zeit.“

Stefanie holte sich eine Tasse aus dem Oberschrank und schenkte sich Kaffee ein. „Ich pass mich gleich wieder dem Rhythmus vor Ort an, damit geht der Jetlag bei mir immer am schnellsten weg. Außerdem“, sie setzte sich ihrem Vater gegenüber, „gibt es ja viel zu tun.“ Sie griff nach einem Teil der Zeitung und schlug ihn auf. „Damit kann man nicht früh genug anfangen.“

„Der Stellenmarkt ist erst samstags in der Süddeutschen“, sagte ihre Mutter, die in diesem Moment die Küche betrat. Sie goss sich ebenfalls einen Kaffee ein.

Stefanie spürte, wie Hitze in ihr aufstieg, und umklammerte die Seiten so fest, dass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten.

„Geh, Jutta“, sagte ihr Vater. „Jetzt lass sie doch erst mal ankommen und ein bisschen ausruhen.“

Seine Frau wirbelte herum. „Ich hab doch nur gedacht, die Steffi schaut nach Stellenangeboten. Ich wollte nicht …“

„Ist schon gut, Mama“, sagte Stefanie. „Ich weiß, wie du es gemeint hast.“ Als sie den Blick ihres Vaters auffing, fügte sie betont fröhlich hinzu: „Und ich schau auch nicht erst ab Samstag nach Stellen, sondern habe das auch schon in Australien immer wieder gemacht.“ Sie hoffte, dass sie nicht rot wurde während dieser Lüge. „Ich habe keinerlei Bestrebungen, wieder ins Hotel Mama zu ziehen oder die Lücke in meinem Lebenslauf noch größer werden zu lassen.“ Sie klappte entschlossen die Zeitung zu. „Gibt’s eigentlich noch was von der Himbeermarmelade vom letzten Sommer? Auf die habe ich mich schon so gefreut.“

Nachdem ihre Eltern das Haus verlassen hatten, wartete Stefanie vorsichtshalber zwanzig Minuten, dann war sie sicher, dass beide an ihren Arbeitsplätzen – ihr Vater im Gemeindearchiv, ihre Mutter beim Bürgerbüro – angekommen waren. Sie leerte ihre volle Kaffeetasse in der Spüle aus, ging nach oben in ihr ehemaliges Zimmer, stellte den Handywecker auf sechzehn Uhr, streifte sich die Klamotten vom Körper, ließ den Rollladen herunter, legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Als ihre Eltern am späten Nachmittag zurückkamen, saß sie auf der Terrasse scheinbar hochkonzentriert vor dem Laptop und tat, als sei sie dabei, irgendetwas Wichtiges zu erledigen.

Stefanie zählte die Tage, bis ihre Eltern endlich nach Kroatien abreisen würden. Sie sehnte sich danach, unbeobachtet zu sein. Die Situation war für beide Seiten unangenehm. Ihre Eltern fragten zwar nach Australien und hörten auch beflissen zu, wenn Stefanie erzählte, aber sie spürte, dass besonders ihrer Mutter Fragen und Anmerkungen zur ihrer Zukunft auf der Seele brannten. Ihr Vater schien entspannter zu sein, aber Stefanie wusste, dass er sich ebenfalls Sorgen machte. Sie selbst wiederum sprach nicht von allein darüber, was sie jetzt vorhatte. War nicht völlig klar, dass sie bald wieder einen Job und eine eigene Wohnung haben würde? Aber was genau sollte sie sagen, wenn sie selbst noch nicht genau wusste, was sie ab jetzt nun eigentlich machen wollte? Wie sollte sie sich auf Stellen bewerben, wenn ihr nicht klar war, was sie ab jetzt arbeiten wollte?

Sie ging jeden Tag früh ins Bett und lag dann lange wach, bis es im Haus ganz still war und nur noch Geräusche von draußen in ihr Zimmer drangen. Ein vorbeifahrendes Auto, das Scharren eines Astes, den der Wind an die Scheibe drückte, in einer sehr heißen Nacht das Summen der Grillen. Sie dachte an die vergangenen zwölf Monate und projizierte wie bei einem schlechten Diavortrag in wilder, unkoordinierter Abfolge Bilder an die dunkle Wand: Peter, wie er singend am Herd stand und in einem Topf rührte, in der Küche, die inzwischen nur mehr seine war, ein flauschiger Koalabär, den sie auf dem Arm hielt, Rolo, wie er ihr Gesicht in beide Hände nahm und sie küsste, den grandiosen Sonnenuntergang vom Leuchtturm auf Lady Elliott Island, die Tausende Seevögel, die dort überall brüteten und schnatterten, Peters Augen, als sie ihm sagte, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte, die großen Mantarochen, die majestätisch im Great Barrier Reef um sie kreisten, Rolos Augen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, die Dünen von Fraser Island, das gleißende Weiß des Whitehaven Beach auf den Whitsundays. Ganz am Ende sah sie sich in ihrem ehemaligen Mädchenzimmer im Haus ihrer Eltern liegen: Stefanie Mertens, vierunddreißig Jahre alt, ein Meter dreiundsiebzig groß, sportlich-schlank, gletscherblaue Augen, dunkelbraune Haare, studierte Germanistin, erfahrene Texterin in einer Agentur. Sie hatte im letzten Sommer ihren langjährigen Freund Peter verlassen, sich in Rolo verliebt, wirklich verliebt, aber dann doch alles über Bord geworfen, hatte ihren guten Job in einer Werbeagentur fristlos gekündigt und war für zehn Monate nach Australien gegangen.

Eigentlich nicht schlimm. Eigentlich sogar doch ziemlich mutig und absolut richtig. Sie hatte sich entschlossen, endlich das zu tun, wovon sie seit Jahren geträumt hatte, und war ausgestiegen aus ihrem Alltag, der sie auslaugte, und aus den Beziehungen, die sich nicht hundertprozentig richtig anfühlten.

Was Stefanie aber erschreckte, war die Tatsache, dass die Glücksgefühle der letzten Monaten nicht länger vorhielten als ihre Sonnenbräune und Platz machten für alles, was sie in Australien nie verspürt hatte: Verunsicherung, Zweifel, Frust. Und Angst.

Am Samstagmorgen reisten ihre Eltern endlich ab. Stefanie sollte sich um den Garten und die Pflanzen im Haus kümmern und – „wenn es sich zeitlich ausgeht“ – ein paarmal nach Frau Stammberger von nebenan sehen, die nicht mehr gut zu Fuß sei und sich über Hilfe bei den Einkäufen freuen würde.

„Und wenn wir wiederkommen, sieht alles schon wieder ganz anders aus“, sagte ihre Mutter zum Abschied. Stefanie nickte, denn sie hoffte das auch. Von heute an, das war ihr Vorsatz, war es vorbei mit dem Schlafen am Tag und dem Grübeln in der Nacht. Ab heute würde sie ihre Zukunft angehen.

Kaum war das Auto ihrer Eltern nicht mehr zu hören, schlüpfte sie in ihre Sportklamotten und Laufschuhe, verließ das Haus und holte das Fahrrad ihrer Mutter aus der Garage. Sie fuhr langsam auf dem Bürgersteig an den Gärten entlang und beschleunigte das Tempo, als sie den Feldweg erreicht hatte, der zum nahegelegenen Perlacher Forst führte. An einem Baum stellte sie ihr Rad ab und lief los. Sie begann gemächlich, aber bald wurden ihre Schritte schneller, ihre Lungen füllten sich mit der frischen, nach Moos, Erde und Tannen duftenden Luft, sie schloss die Augen und spürte die zwischen den Ästen durchblitzende Sonne auf ihrem Gesicht. Irgendwann wendete sie und rannte den Weg zurück, so schnell sie konnte, bis sie schwer atmend und schweißüberströmt wieder an dem Baum angekommen war. Ihr Herz pochte energisch, ihre Wangen glühten. Ihre Haare waren verstrubbelt, aber ihre Gedanken geordnet.

Sie fuhr nach Hause, trank drei Gläser Wasser, duschte, aß eine große Schüssel Müsli und setzte sich schließlich vor den Laptop. Sie schrieb eine Mail an Vanessa, erklärte ihr, warum sie doch lieber zu ihren Eltern gefahren war, und schlug ein baldiges Treffen vor. Sie schrieb an Marie, ihre ehemalige Arbeitskollegin, von der sie wusste, dass sie sich selbstständig gemacht hatte, und kündigte an, dass sie sie bald in ihren Büroräumen besuchen würde. Sie schrieb einer Fotografin, die sie während eines Projekts vor einiger Zeit kennengelernt hatte, und bat um einen Termin für „schöne, unspießige Bewerbungsbilder, die auch für eine eigene Homepage verwendet werden könnten“. Schließlich verbrachte sie fast eine Stunde damit, eine zweiseitige To-do-Liste anzulegen, von der sie am Ende fast alle Punkte wieder strich und nur vier stehen ließ.

1 Finanzen checken (auch mit Mama und Papa diesbezüglich reden)

2 Wohnung suchen – und finden

3 Job suchen – und finden (aber keine Zwischenlösung, sondern etwas, was du WIRKLICH machen willst; Zeit dafür nehmen => deswegen wirklich sehr bald Finanzen klären, auch mit Mama und Papa)

4 Peter kontaktieren. Wegen meiner Sachen. Und auch so.

Stefanie betrachtete den letzten Punkt eine Weile, bevor sie beschloss, ihn gleich zu erledigen. Sie schrieb Peter eine Mail, in der sie von ihrer Rückkehr berichtete, und fragte, ob sie sich in naher Zukunft einmal zusammensetzen könnten. „Du willst sicher irgendwann meinen alten Kram loswerden und das können wir jetzt wirklich zeitnah erledigen.“ Stefanie kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte. „Außerdem würde ich mich wirklich sehr freuen, dich zu treffen“, schrieb sie dann. „Ich habe oft an dich gedacht in letzter Zeit und an alles, was war, und ich fände es schön, wenn wir uns bald mal wieder sehen könnten.“ Sie hielt inne, markierte den letzten Satz, um ihn wieder zu löschen, ließ ihn dann aber stehen. Alles, was sie geschrieben hatte, entsprach der Wahrheit. Sie wollte nicht mehr lügen, weder sich selbst noch anderen gegenüber. Wenn ihr etwas klargeworden war in den letzten Monaten, dann das.

Sie drückte auf „Senden“ und klappte den Laptop zu. Sie war zufrieden mit dem produktiven Vormittag und beschloss, zum Wochenmarkt zu fahren und dort eine Leberkässemmel zu essen, denn schließlich konnte es nicht schaden, sich auch in kulinarischer Hinsicht wieder zu akklimatisieren.

Stefanie hatte fast vergessen, wie energisch sich in der Heimat Kindheit und Jugend vor einem aufbauen konnten. Wenn sie in den vergangenen Jahren ihre Eltern besucht hatte, dann waren sie in der Küche, im Wohnzimmer oder auf der Terrasse gewesen, hatten dort Kaffee getrunken und hätten sich dabei an jedem Ort der Welt befinden können. Nach einigen Stunden hatte sie sich verabschiedet und war nach München zurückgekehrt, ohne mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.

An diesem Samstag war das anders. Sie hatte kaum ihr Fahrrad am Rand des Marktes abgestellt, da wurde sie auch schon von einer alten Frau angesprochen und begrüßt, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Stefanie ihre ehemalige Grundschullehrerin erkannte.

„Frau Ferch, das gibt’s ja nicht!“, sagte sie. Dass Sie noch leben!, hätte sei beinahe noch gerufen, doch sie schluckte die Worte hinunter. Tatsächlich aber war ihr Frau Ferch schon vor fünfundzwanzig Jahren uralt vorgekommen, was nicht nur an Stefanies damaliger kindlicher Perspektive lag, sondern an dem Umstand, dass Frau Ferch bereits Ende der Achtzigerjahre kurz vor der Rente stand.

„Jaja, ich sag immer, der liebe Gott hat mich vergessen“, lachte sie jetzt, als hätte sie Stefanies Gedanken erraten. „Bist du zu Besuch bei den Eltern?“

„Sozusagen auf der Durchreise“, sagte Stefanie und musterte Frau Ferch. Ihr Haar war schlohweiß und ihr Gesicht von einem dichten Netz aus Falten überzogen, aber sie ging aufrecht, hatte einen wachen Blick und schien topfit zu sein.

„Was für eine Meise?“, fragte Frau Ferch und hielt sich eine Hand an ihr rechtes Ohr.

Okay, dachte Stefanie. Nicht ganz topfit.

„Auf der Durch-rei-se“, wiederholte sie etwas lauter. „Ich bin auf der Durch-rei-se.“

Frau Ferch nickte verhalten und Stefanie war nicht sicher, ob sie ihre Antwort verstanden hatte. „Ich bin zu Besuch, ja!“, sagte sie deshalb und merkte nicht, dass sie den Satz gerufen hatte.

Der Mann, der gerade an ihnen vorbeiging, blieb abrupt stehen.

„Die Frau Mertens!“, sagte er. „Hab ich mir doch gedacht, dass ich die Stimme kenne!“

Stefanie lächelte gequält. „Hi, Basti.“

Sebastian Höchstetter, der Sohn von Max und Rosmarie, den besten Freunden ihrer Eltern. Zwei Jahre jünger als Stefanie und vor zwanzig Jahren der bislang hartnäckigste Verehrer in ihrem Leben. Er war ein netter Junge gewesen, mit dichten blonden Haaren, kornblumenfarbenen Augen hinter einer gar nicht mal so schlimmen Brille und vielen Sommersprossen auf der Nase, aber Stefanie war es peinlich gewesen, dass ein Zwölfjähriger in sie verliebt war, sie war immerhin schon vierzehn und cool und trug Büstenhalter.

„Auch zum Sonntagsbesuch hier?“, fragte Stefanie.

„Naja“, sagte Basti. Seine Haare waren weniger geworden und Richtung Hinterkopf abgewandert, aber seine Sommersprossen waren geblieben und tanzten jetzt auf der Nase, während er lachte. Die Brille war entweder Kontaktlinsen oder einer Laserbehandlung gewichen. „Ziemlich langer Besuch. Alles genau wie bei dir.“

Stefanie runzelte die Stirn, aber dann fiel ihr wieder ein, was ihre Mutter vor ein paar Tagen erzählt hatte. Dass Basti wieder zu Hause wohnte nach der Trennung von seiner langjährigen Freundin. Dass er eine Auszeit wollte und erwog, ein paar Monate ins Ausland zu gehen. „Meld dich doch mal bei ihm“, hatte ihre Mutter gesagt, „vielleicht kannst du ihm Tipps geben.“ Stefanie hatte genickt, aber das Gespräch sofort wieder vergessen.

Sie wollte gerade erwidern, dass es bei ihr nicht genau wie bei ihm war, aber Basti rief Frau Ferch gerade etwas ins Ohr, schaute dann plötzlich auf und winkte.

„Hey, Lola!“ Er wandte sich an Stefanie. „Gibt’s ja nicht. Das halbe Gymnasium ist da!“

Genau genommen sind wir drei, dachte Stefanie und zog erneut mühsam die Mundwinkel nach oben. Lola Brückner. Nicht, dass sie Lola während der Schulzeit nicht gemocht hätte, nein. Das Problem war einfach, dass Lola nie Probleme zu haben schien. Sie hatte gute Noten, aber galt nicht als Streberin, spielte erfolgreich Tennis und trank keinen Alkohol, galt aber nicht als uncool, sie war lustig und unbekümmert, galt aber nicht als oberflächlich. Während der Sommerferien, in denen sich Stefanie irgendwann gepflegt langweilte und den Beginn der Schule herbeisehnte, hatte Lola seit der achten Klasse wochenlang gearbeitet, erst in der örtlichen Gärtnerei, dann in der Bäckerei und später in der Eisdiele am Marktplatz. Kaum war sie achtzehn, investierte sie das Geld in Reisen. Lola war der Inbegriff von Unabhängigkeit und Unkompliziertheit, und der Hauch des Besonderen umwehte sie auch deshalb, weil sie als Einzige in der Klasse getrennte Eltern hatte und „nur“ mit ihrer Mutter zusammenlebte. Es kam Stefanie absurd vor, dass dieser Umstand damals außergewöhnlich war, aber so war es. Sie war mit Lola niemals richtig befreundet gewesen, aber sie mochten sich. Zu Lolas zwölftem Geburtstag war sie zu ihrer Feier eingeladen worden, in das kleine Reihenhaus am Ende des Ortes, das hell und freundlich eingerichtet war. Lolas Mutter war ihr als warmherzig und witzig in Erinnerung, als energische, aber liebevolle Dompteurin einer Gruppe Elf- und Zwölfjähriger, die keinen klassischen Kindergeburtstag mehr feiern wollten, aber noch zu jung waren, um einfach unbeaufsichtigt „abzuhängen“.

Lola, die immer Klassensprecherin war und sich für die Belange ihrer Mitschüler einsetzte, würde, so die einhellige Meinung, nach der Schule erst einmal ein Jahr ins Ausland gehen und später Journalistin werden. Oder Politikerin. Oder bei der UNO arbeiten. Oder bei Amnesty international.

Es kam ganz anders. Kurz vor dem Abitur wurden Lola Lindner, wie sie ursprünglich hieß, und der zwei Jahre ältere Andi Brückner ein Paar. Lola ging nicht auf Reisen, sondern studierte sofort Innenarchitektur und heiratete mit vierundzwanzig Jahren Andi, der bald danach das Küchengeschäft seiner Eltern in Neubiberg übernahm. Stefanie hatte Lola zuletzt auf dem Jahrgangstreffen fünf Jahre nach dem Abitur getroffen und nur kurz mit ihr gesprochen.

„Hallo, Steffi“, sagte Lola jetzt. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.“

„In der Tat“, sagte Steffi. „Hallo!“ Sie umarmte Lola flüchtig und überlegte dabei fieberhaft, wie sie ihre Überraschung verbergen sollte. Es war nicht so, dass Lola nicht mehr hübsch war. Aber es war, als wären die Farben aus ihr entwichen, als würde ein Filter über ihr liegen, der die Sättigung drosselte und alles graustichig machte. Lola wirkte wie eine schlechte Kopie ihrer selbst.

„Jetzt muss ich aber weiter“, sagte Frau Ferch in diesem Moment und nickte in die Runde. „Ich wünsch euch allen einen schönen Tag. Kommt’s nur oft heim und besucht’s eure Eltern.“

Basti bot an, sie noch über die Straße zu bringen, und Stefanie scharrte mit ihrer Sandale auf dem Boden. Lolas müde Augen ruhten auf ihr und das machte sie seltsam nervös.

„Du warst lange in Australien, nicht wahr?“

Stefanie sah auf. „Ja, über zehn Monate.“

„Toll.“ Lola schwieg eine Weile. „Wirklich toll. Basti hat es mir erzählt, er ist ja seit einiger Zeit wieder hier und mir öfter über den Weg gelaufen.“

„Ja, es war … es war eine grandiose Zeit. Die leider jetzt vorbei ist.“

„Und jetzt … also … Was hast du jetzt vor? Du hast deinen Job gekündigt vorher, oder?“

Stefanie runzelte die Stirn.

„Das weiß ich auch von Basti.“ Lola lachte entschuldigend. „Seine und deine Eltern sind ja …“

„Ich weiß“, sagte Stefanie schnell und fragte sich, ob ganz Neubiberg von ihren momentanen Lebensumständen wusste. „Ja, ich hab gekündigt und such mir grad was Neues. Das wird schon.“

„Wieder in München?“

Stefanie zuckte mit den Schultern. „Genau. Ich hab da ja viele Kontakte. Die werde ich jetzt aktivieren und dann passt das schon.“

„Ja, man braucht vermutlich ein Netzwerk in der Branche.“

„Schon.“

„Hast du schon eine Wohnung? Es ist doch wahnsinnig schwer, in München überhaupt etwas Bezahlbares zu finden?“

Herrgott, was ist das denn für ein Verhör, dachte Steffi, und sah sich nach Basti um, der sich bei Frau Ferch untergehakt hatte und ihr jetzt auf den Gehsteig der gegenüberliegenden Straßenseite half.

„Ach, das wird sich auch ergeben“, sagte sie gedehnt. „Wenn man konzentriert sucht und sein … Netzwerk aktiviert … dann …“

Stefanie brach ab. Lolas Haltung hatte sich von einer Sekunde zur anderen verändert, es war, als hätte sie einen stummen Befehl erhalten, der sie zum Strammstehen aufgefordert hätte.

„Alles okay?“, fragte Stefanie.

„Ja, ich muss nur gehen … Andi wartet.“ Ihr Blick war über Stefanies Schulter gerichtet. „Vielleicht sehen wir uns noch mal, solange du noch hier bist.“

Ich bin ganz bald weg, wollte Stefanie sagen, doch etwas in Lola Augen hinderte sie. „Klar“, meinte sie stattdessen und für sich selbst überraschend fügte sie hinzu: „Lass uns doch nächsten Samstag hier treffen. Auf einen Kaffee. Zehn Uhr?“

Lola blinzelte irritiert.

„Wir müssen ja auch noch über dich sprechen“, fügte Stefanie hinzu.

„Ich … ich muss schauen. Aber … nein, das passt. Ja, das machen wir. Bis dann, Steffi.“

Sie entfernte sich mit raschen Schritten und Stefanie sah ihr hinterher. Lola steuerte einen roten Wagen an, der etwa hundert Meter entfernt von ihnen an der Straße gehalten hatte, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Kaum war die Tür geschlossen, brauste der Wagen los. Stefanie kniff die Augen zusammen, konnte den Fahrer aber nicht erkennen.

„Tja, nicht jeder ist so vogelfrei wie du.“

Sie fuhr herum. Basti war unbemerkt neben sie getreten.

„Wie meinst du das?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nichts. Was ist, Frau Mertens? Gehen wir ins Venezia auf ein Eis? Wie in guten alten Zeiten?“

„Du verklärst, Herr Höchstetter. Wir waren niemals Eis essen.“

„Dann muss das damals in meinen Träumen passiert sein.“

Stefanie hob die Augenbrauen.

„In meinen unschuldigen, unfeuchten Träumen.“

„Too much information, Basti“, lachte Stefanie. „Aber die gute Nachricht ist: Zwanzig Jahre später wird dein Traum endlich Wirklichkeit. Lass uns gehen.“

„Sehr gut, Stefanie Mertens. So ist es richtig. Wenn sich dein Ex verlobt, kannst du auch mit mir einen Coppa dell‘amore essen.“

Er griff nach seiner Hemdtasche, holte seine Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. In diesem kurzen Moment gelang es Stefanie, ihren Schreck mit aller Kraft daran zu hindern, dass er sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Peter war verlobt. Zehn Monate, nachdem sie ihn verlassen hatte. Ihre Eltern wussten davon und hatten ihren Freunden davon erzählt und die ihrem Sohn. Ihr aber, ihrer Tochter, hatten sie es verschwiegen.

„So, auf geht’s“, sagte Basti und in den verspiegelten Gläsern seiner Brille konnte Stefanie ihr verkrampftes Lächeln sehen.

„Ja, auf geht’s“, wiederholte sie betont fröhlich und folgte ihm mit klopfendem Herzen über den sich allmählich leerenden Markplatz.

Kapitel 3

Kurz vor der Haltestelle Isartor blieb die S-Bahn im Tunnel stehen. Der Zug vor ihnen verhindere die Einfahrt, verkündete der Fahrer, und während andere Menschen im Wagen von ihren Handys aufschauten, stöhnten und seufzten, war Stefanie froh um die kleine Verzögerung. Beim Halt eben am Rosenheimer Platz waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Jahrelang war das ihre Station gewesen. Wie oft sie hier nach oben gestiegen und dann in die Metzstraße gegangen war, dort die Haustür aufgesperrt und die Stufen in den zweiten Stock erklommen hatte, sie wusste es nicht. Hunderte Male. Oder Tausende. Noch weniger wusste sie, warum sie nun so schwermütig war, wenn sie daran dachte. Das alles war über zehn Monate her und sie hatte jede Entscheidung selbst gefällt. Stefanie atmete tief durch und versuchte, nicht an die schöne Dreizimmerwohnung zu denken, die sie mit Peter bewohnt hatte. Als die S-Bahn ruckelnd wieder anfuhr, straffte sie die Schultern und wischte sich verstohlen über die Augen. Sie wollte Vanessa nicht komplett verweint und niedergeschlagen begegnen.

„Ist doch völlig normal, dass du den Blues bekommst“, sagte Vanessa. „Sieben Jahre war diese Wohnung deine Heimat und jetzt wohnst du bei deinen Eltern.“ Sie warf einen raschen Blick auf das Handy in ihrer rechten Hand und griff mit der anderen nach ihrem Latte macchiato. „Hast du eigentlich noch Sachen bei Peter?“, fragte sie und zog am Strohhalm.

Stefanie nickte. „Einiges. Bücher, Klamotten. Ein paar kleinere Möbel, die ich damals in die Wohnung mitbrachte. Ich hab ihm schon gemailt, aber noch keine Antwort bekommen.“

„Naja, er wird viel zu tun haben.“

„Wieso?“, fragte Stefanie scharf.

Vanessa sah auf. „Hatte er nicht immer viel zu tun in der Kanzlei?“

Stefanie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Vanessa schien nichts von Peters neuer Beziehung zu wissen und sie hatte keine Lust, ihr davon zu erzählen. Es bestand die Gefahr, dass sie wieder emotional wurde, und das Risiko wollte sie nicht eingehen. Sie ärgerte sich über ihre Gefühlsschwankungen in den letzten Tagen. Da hatte sie endlich getan, wovon so viele Menschen sprachen, bevor sie sich dann aus Furcht oder unter dem Druck von Verpflichtungen doch wieder dem Gewohnten unterwarfen. Da war sie zehn Monate ausgestiegen aus der Mühle des Alltags und hatte unendlich viel erlebt und gesehen – und jetzt war sie hier und hatte das Gefühl, als würde ihr Mut nicht belohnt werden. Jeden Tag hatte sie in Australien Bilder, Begegnungen, Erfahrungen auf ein imaginäres Konto eingezahlt, von dem sie später, wenn sie zurück war, noch lange zehren wollte. Ein Konto, prall gefüllt mit Impressionen aus einer Zeit der Unabhängigkeit und des Glücks, von dem sie problemlos „abheben“ konnte, wenn in Deutschland am Anfang nicht alles gut laufen sollte. Aber dieses Konto war bereits überzogen gewesen, als sie am Morgen nach ihrer Rückkehr bei ihren Eltern aufgewacht war. Der Rausch der Freiheit hatte nicht lange vorgehalten und war der nüchternen Tatsache gewichen, dass es hier Zwänge gab, denen sie nicht entkommen konnte. Aber das noch Schlimmere war, dass sie in den zehn Monaten keine Fähigkeiten gewonnen hatte, um diesen Zwängen entspannter zu begegnen.

Warum sie dann überhaupt zurückgekommen war? Nun ja, es gab in München viele geliebte und vertraute Dinge, auf die sie sich gefreut hatte. Sie schaute zu Vanessa, die gedankenverloren an dem Strohhalm kaute und mit dem Daumen über ihr Handy fuhr. Dinge, die Kontinuität im positiven Sinn versprachen.

„Wie geht es Kai?“, fragte Stefanie.

Vanessa grinste verlegen. „Ganz gut“, sagte sie, ohne den Kopf zu heben. Ihr Daumen hackte hastig auf das Display ein, bevor sie das Handy entschlossen auf den Tisch legte und zur Sicherheit ein Stück von sich wegstieß. „Er lässt dich lieb grüßen.“

„Danke. Grüß ihn mal zurück.“

Das Telefon vibrierte. Vanessas Hand zuckte in seine Richtung, dann lehnte sie sich lachend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Himmel, Steffi, du musst ja denken, dass mich in deiner Abwesenheit Außerirdische vom Planet der Pärchen entführt und nach einer Gehirnwäsche wieder zurückgebracht haben.“

Als Stefanie schwieg, fuhr sie fort: „Ich weiß, ich höre mich jetzt an wie die Frauen, über die ich so oft verächtlich gesprochen habe, aber bei Kai habe ich wirklich das Gefühl, angekommen zu sein. Es ist …als ob ich nicht mehr suchen müsste.“

„Hast du denn … ich meine, warst du … Hast du denn aktiv gesucht nach … dem Mann?“, fragte Stefanie vorsichtig. „Für mich warst du immer die, die sich treiben lässt, das nimmt, was das Leben ihr vor die Füße spült.“ Sie überlegte kurz, ob das zu negativ formuliert war, aber als Vanessa keinen Einspruch erhob, sprach sie weiter. „Die immer unabhängig sein wollte …“

„Ich bin immer noch unabhängig!“ Vanessa breitete die Arme aus und legt den Kopf in den Nacken. „Ich verdiene einen Haufen Geld, hab eine schöne Wohnung, tolle Freunde und ja“, sie zwinkerte Stefanie zu, „ich nehm immer noch das, was mir das Leben vor die Füße spült, aber ich suche jetzt nicht mehr allein nach Strandgut, sondern zusammen mit Kai. Er engt mich nicht ein, sondern unterstützt mich, lässt mich so sein, wie ich bin. Steffi, ich sag es dir, ich bin genau da, wo ich immer sein wollte.“

„Ich definitiv nicht und ich weiß auch nicht, wo das sein sollte“, sagte Stefanie und wandte den Kopf zur Seite, weil Tränen in ihre Augen schossen. Und ich will meine alte Vanessa zurück, dachte sie und schämte sich für ihr kindisches Selbstmitleid und ihre Unfähigkeit, sich für Vanessa zu freuen.

Sie schwiegen eine Weile. Dann beugte sich Vanessa vor und legte ihre Hand auf die ihrer Freundin.

„Steffi, vermutlich wird es dir nicht helfen, wenn nach den Binsenweisheiten zur Liebe jetzt auch noch welche über das Leben kommen.“

Stefanie gab einen grunzenden Laut von sich, mehr ließ der Kloß in ihrer Kehle nicht passieren.

„Wenn sich irgendwo Türen schließen, gehen anderswo neue auf. Du hast letzten Sommer alles richtig gemacht. Und machst jetzt Tabula rasa und das ist eine Riesenchance. Sieh es positiv. Und lass dir ein bisschen Zeit. Du bist grad mal zehn Tage hier. Das ist nichts im Vergleich zum Rest deines Lebens. Wenn du meinst, in Australien auf Dauer glücklich zu werden, dann kannst du jederzeit zurückkehren und dort arbeiten. Wenn du dich hier selbstständig machen willst, dann tust du das. Du kannst alles machen, du bist völlig unabhängig. Du kannst machen, was du willst. Egal, wie verrückt und ausgefallen es sein mag.“

Stefanie nickte stumm. Eine Gruppe junger Mädchen zog an ihrem Tisch vor dem Café Pini vorbei und mit ihnen eine Blase aus fröhlichem Geplapper und Gekicher.

„Mein Leben muss nicht wild und ausgefallen sein“, sagte Stefanie, als es wieder ruhiger war. „Es soll nur anders sein als vorher.“ Sie holte tief Luft. „Aber ich fürchte, dass ich nicht mal dafür mutig genug bin.“

Vanessa bekräftigte bei der Verabschiedung noch einmal, dass Stefanie jederzeit bei ihr wohnen könne, solange sie noch keine eigene Unterkunft habe. „Kai ist auch nicht ständig da“, fügte sie hinzu.

Als sie sich an der Kreuzung getrennt hatten, schaltete Stefanie ihr Handy an. Eine Nachricht von Marie war eingegangen. Sie bat darum, das Treffen in ihrem Büro um eine Stunde zu verschieben, weil ein Termin dazwischengekommen sei.

Stefanie sah zum Himmel. Für einen Juninachmittag war es ungewöhnlich kühl und die Wolken hingen dicht an den Dächern. Sie überlegte, ins Café Pini zurückzugehen und dort die Zeit zu überbrücken, entschloss sich dann aber, am Viktualienmarkt vorbeizuschauen und dort einen Blumenstrauß für Marie zu kaufen. Als verspätetes Geschenk zum Bürobezug und für den Schritt in die Selbstständigkeit.

Stefanie schlenderte unentschlossen an den Markthäuschen entlang. An einem Obst- und Gemüsestand blieb sie stehen und starrte eine Weile gedankenverloren auf die Avocados aus Australien, dann machte sie sich auf zum Blumenstand, wo sie früher immer eingekauft hatte. Sie fand, dass die süßen Ranunkeln perfekt zu Marie passten, und ließ sich einen bunten Strauß zusammenbinden.

„Bisserl wia a Brautstrauß“, lachte die kräftige Frau hinter dem Stand.

Stimmt, dachte Stefanie und hielt den Strauß im Gehen mit beiden Händen vor den Bauch. Sieht hübsch aus.

Als sie den Blick wieder hob, setzte ihr Herz einmal aus und arbeitete dann wie verrückt, als müsse es den verpassten Schlag wieder aufholen. Am Ende der Schlange am Stand mit den Antipasti und Fladenbroten hatten sich ein Mann und eine Frau angestellt und wandten ihr jetzt den Rücken zu. Die Frau kraulte den Nacken des Mannes, den sie unter Tausenden Nacken wiedererkennen würde, weil sie ihn Hunderte Male geküsst, sich Hunderte Male im Bett an ihn geschmiegt hatte. Starr nicht so, sagte sie sich, sonst spüren sie es noch. Geh rasch weg, das muss ja heute noch nicht sein. Doch sie konnte den Blick nicht von den beiden abwenden. Als sie sich endlich losreißen wollte, war es zu spät. Peter drehte sich um, zögerte kurz und dann trafen seine Augen auf ihre. Er sagte etwas zu der Frau, die sich ebenfalls umwandte.

Stefanie blieb stocksteif stehen. Erst als Peter lächelte und die Frau eine Hand hob und winkte, setzte sie sich in Bewegung, Schritt für Schritt, den Ranunkelstrauß wie einen Schutzschild vor sich.

„Steffi“, sagte Peter und umarmte sie unbeholfen, während sie sich immer noch an den Blumen festklammerte. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du wieder im Lande bist! Hi! Das ist ja ein Ding!“

Ich hab dir doch gemailt, dass ich wieder im Lande bin, dachte Stefanie, aber sie sagte nichts, sondern wandte sich der Frau zu, die sie freundlich anlächelte.

„Hallo, ich bin Anna“, sagte sie.

Stefanie löste ihre Hand von ihrem Brautstrauß und drückte die fremden Finger, die sich samtig und kühl anfühlten.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Steffi.“

Ja, du hast sicher schon viel von mir gehört, dachte Stefanie und sagte: „Ich freu mich auch.“

Sie schwiegen kurz.

„In der Tat“, sagte Stefanie dann, „ich bin wieder da und muss mich erst mal wieder …“, ihr Blick folgte Annas Hand, die erst eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr strich und sich dann auf den Bauch legte, „… an alles … gewöhnen.“ Der Bauch wölbte sich eindeutig unter der weißen Tunika. „Es ist ja einiges …“, sie presste den Blumenstrauß wieder vor sich, „einiges passiert.“

Anna lächelte verunsichert und sah Peter fragend an. Der legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie.

„Das kann man so sagen.“ Er lachte kurz auf. „Man kann es ja jetzt schon nicht mehr übersehen: Anna und ich bekommen ein Kind.“

„War so nicht geplant“, sagte Anna fast entschuldigend, „aber …“

„Aber sie kommen, wenn sie kommen, nicht wahr“, sagte Peter und lachte noch einmal.

Sie kommen, wenn man nicht verhütet, dachte Stefanie.

„Erst dachte ich, es liegt einfach am Stress“, sagte Anna, „aber nach zwei Wochen habe ich dann doch mal einen Test gemacht und – bähm …“ Sie kicherte.

„Bähm, waren da zwei Streifen. Da waren wir erst mal von den Socken!“

„Komplett von der Rolle. Und kaum wussten wir es, da ging es schon los bei mir. Gespannte Brüste, Heißhunger …“

„Und die Übelkeit erst!“

„Ja, mir war so unglaublich schlecht! Vor allem im Krankenhaus“

„Anna arbeitet als Pneumologin im Klinikum rechts der Isar, da sind ja durchaus intensive Gerüche, aber …

„Aber jetzt geht es wieder und …“

Stefanie sah von Peter zu Anna und wieder von Anna zu Peter und überprüfte während der Ausführungen im Schnellcheck ihre Gefühlslage. Sie war nicht verwundert darüber, dass Peter so rasch eine neue Frau gefunden hatte. Sie hatte ihn nicht verlassen, weil er ein komischer, liebloser, dummer, unattraktiver Kauz war. Sie spürte in sich hinein, ob sie darüber verletzt war, dass er sich so schnell getröstet hatte, aber da war nur ein winziges Stückchen verletzter Stolz, das sie sich auch zugestand. Was sie aber deutlich in sich fühlte, war Neid. Sie beneidete Anna nicht um Peter und das gemeinsame Kind, sie beneidete Peter darum, dass er jetzt das hatte, was er sich schon lange gewünscht hatte: eine eigene Familie. Er hatte nicht lange gefackelt nach ihrer Trennung und hin und her überlegt, er war nicht in Trauer und Lethargie verfallen, sonst hätte er Anna, die augenscheinlich mindestens im fünften Monat war, nicht so schnell kennengelernt. Vielleicht war er auch nie traurig und lethargisch gewesen nach ihrer Trennung, sondern hatte selbst sehr schnell eingesehen, dass es besser so war. Und überhaupt, was spielte das jetzt noch für eine Rolle. Er schien glücklich und entspannt, seine braunen Augen leuchteten, wenn er Anna ansah, er war einfach einen Schritt gegangen, der mutig war, auch wenn Millionen Menschen ihn schon vor ihm gegangen waren.

„Und du, Steffi, was hast du jetzt vor?“, fragte Peter.

Sie zuckte mit den Schultern. „Dies und das, aber noch nichts Bestimmtes.“

Anna zögerte einen Moment und sagte dann: „Komm uns doch mal besuchen. Ich würde wahnsinnig gern Reiseberichte aus Australien hören.“ Peter warf ihr einen Blick zu und schien etwas sagen zu wollen, doch sie sprach unbeirrt weiter. „Vor allem, weil ich jetzt selbst länger nicht verreisen kann.“

Stefanie sah Peter an, doch der senkte die Augen. „Klar …“, sagte sie zögerlich und fragte dann, obwohl sie die Antwort schon wusste: „Ihr wohnt jetzt zusammen in der Metzstraße?“

„Ja, das war das Naheliegende“, sagte Anna schnell und es klang erneut entschuldigend. „Es ist so wahnsinnig schwer, in München etwas Schönes zu finden, das nicht absurd teuer …“ Sie brach ab und sah hilflos zu Peter, der weiterhin konzentriert seine Füße betrachtete.

„Ich kann mich ja mal melden“, sagte Stefanie leichthin. Sie hob den Blumenstrauß, den sie die ganze Zeit an sich gepresst hatte. „Aber jetzt muss ich den hier mal abliefern.“

Sie nahm den Bus bis in die obere Au und lief dann nach Giesing, auch wenn die Tram sie fast direkt vor Maries Büro gebracht hätte und sie nun zu spät kam. Aber der Spaziergang gab ihr die Möglichkeit, das Gesehene und Gehörte noch einmal Revue passieren zu lassen.

Marie öffnete die Tür mit geröteten Wangen, umarmte sie überschwänglich und entschuldigte sich dann ausgiebig für die Verschiebung ihres Treffens. „Aber jetzt hat sich kurzfristig ein Interessent gemeldet und ich hab ihn gleich einbestellt.“

„Interessent für was?“, fragte Stefanie und reichte ihr den Blumenstrauß. „Für dich zum Einzug.“

„Das ist ja süß, vielen Dank. Komm rein!“ Marie ging voraus in einen Flur, in dem von beiden Seiten jeweils zwei Türen abgingen. An seinem Ende war ein mittelgroßer Raum mit einem Fenster, durch das Stefanie einen begrünten Innenhof sehen konnte. An der einen Wand standen ein weißer schlichter Schreibtisch und ein Bürostuhl, an der gegenüberliegenden zwei Regale, die spärlich gefüllt waren mit Büchern zu Typografie und Grafikdesign „Das ist mein Büro“, sagte Marie. „Noch“, fügte sie hinzu.

„Wieso noch?“, fragte Stefanie. „Nimmst du ein anderes Zimmer?“

Marie ließ sich auf den Drehstuhl fallen und betrachtete den Blumenstrauß in ihrer Hand. „Neee“, sagte sie gedehnt. „Ich gehe endgültig zurück nach Berlin.“

„Aber bitte nicht wegen einem Typen“, platzte es aus Stefanie heraus. „Entschuldige“, sagte sie dann schnell. „Ich hatte heute irgendwie zu viele traumatische Begegnungen mit Verliebten.“

Marie lachte. „Schön wäre es. Nein, ich habe ein tolles Angebot von einer Berliner Agentur. Unbefristet. Hat ein ehemaliger Kommilitone von mir eingefädelt.“

„Und deine Träume von der Selbstständigkeit und der eigenen kleinen Agentur?“

Marie zuckte mit den Schultern. „Ich bin erst fünfundzwanzig. Es schadet mir nicht, noch ein wenig Berufserfahrung zu sammeln. Das mit der Selbstständigkeit war ja auch ein bisschen eine Notlösung, weil ich nichts gefunden habe.“

Marie hatte bis letzten Herbst bei DreamDesign gearbeitet, Stefanies ehemaliger Agentur. Dann war ihr Vertrag nicht verlängert worden. Marie hatte sich erfolglos auf andere Stellen beworben und schließlich entschlossen, freiberuflich zu arbeiten und den Existenzgründerzuschuss zu beantragen.

„Ich wurschtel mich grad eher so durch“, fuhr sie fort. „Mit kleinen Aufträgen, bisschen Erspartem, Hilfe von meiner Mutter. Aber wenn der Zuschuss ausläuft, wird es echt hart. Zumal“, sie wies mit dem Kopf in Richtung Tür, „die zwei Mieter vom größten Raum schon wieder gekündigt haben. Sie haben was Günstigeres gefunden, was auch noch größer ist.“

„Und der dritte Raum?“

Marie winkte ab. „Den haben wir noch gar nicht vermietet. Leere Büros gibt es momentan in München wie Sand am Meer. Und zu wenig Nachfrage.“

Stefanie hob die Augenbrauen. „Zahlst du den jetzt auch noch?“

„Jein. Ein wenig hab ich auf die zwei anderen umgelegt.“ Marie grinste und schwieg dann kurz. „Tja, war ein kurzer Ausflug in die Freiberuflichkeit. Aber“, sie dreht sich mit dem Stuhl hin und her, „wie gesagt, das kann ich auch noch machen, wenn ich …“

„Wenn du so alt bist wie ich“, sagte Stefanie.

Marie brachte den Stuhl zum Halten. „Nein, das hab ich nicht gemeint.“ Sie sah Stefanie eine Weile an. „Sag mal, möchtest du das Büro nicht übernehmen?“

Stefanie schnaubte. „Und dann? Was soll ich dann anbieten?“

„Naja, Text, Lektorat, alles, worin du gut bist.“

„Marie, das ist lieb. Aber erstens machen das Tausende hier in München und zweitens hab ich momentan kaum mehr Geld und nicht mal eine Wohnung. Da kann ich nicht mal so nebenbei ein Büro anmieten und dann auf den Zimmern hocken bleiben.“

„Ach, du kennst doch viele in der Kreativbranche, irgendjemand findet sich schon! Und deine Eltern könnten dir ja …“

Stefanie hob die Hand. „Nope! Momentan ausgeschlossen.“

Marie zuckte mit den Schultern. „Überleg es dir. Ich kann das regeln mit dem Vermieter, der ist froh, wenn er nicht nach München muss und ich ihm Nachmieter besorge.“

Stefanie schüttelte den Kopf. „Nein, Marie, momentan kommt es nicht infrage.“

„Hundert Quadratmeter, feinstes Stäbchenparkett. Kleine Wohnküche und sogar ein Bad mit Wanne und Dusche. Und vorne das Ladenbüro mit Schaufenster ist super. Riesig und lichtdurchflutet.“ Sie stand auf. „Soll ich es dir zeigen?“

Stefanie lachte. „Erst mal kannst du mir die Küche zeigen und die Kaffeemaschine anwerfen.“ Sie zeigte auf den Blumenstrauß. „Und die da brauchen jetzt wirklich dringend mal Wasser.“

Kapitel 4

Stefanie erwachte am nächsten Morgen, blieb eine Weile liegen und wunderte sich über die traumlosen und ungestörten Stunden, die hinter ihr lagen. Als sie am Vortag mit der S-Bahn zurückgefahren war, hatte sie sich erschlagen gefühlt von all den Ereignissen in München und war sicher gewesen, dass sie ihr eine unruhige Nacht bescheren würden.

Aber sie fühlte sich fit und ausgeruht und als sie den Sonnenstrahl bemerkte, der sich zwischen die Vorhänge ins Zimmer schmuggelte und einen feinen hellen Streifen auf den Boden malte, schlug sie entschlossen die Decke zurück. Sie konnte es sich auch nicht leisten, über irgendetwas nachzugrübeln, denn für diesen Samstag hatte sie sich fest vorgenommen, ein Wohnungsgesuch in verschiedenen Online-Plattformen aufzugeben, Stellenbörsen zu durchforsten, um einfach mal zu sehen, was der Markt bot, und ihren Lebenslauf auf Vordermann zu bringen. Nächsten Dienstag hatte sie den Termin bei der Fotografin und Marie hatte ihr angeboten, zum Freundschaftspreis eine Website zu gestalten, falls sie doch erwägen sollte, sich selbstständig zu machen. Stefanie hatte auch vor, nach Wochen endlich mal wieder auf ihre Konten zu schauen. Das Girokonto war leer, das wusste sie, aber es gab noch das Tagesgeldkonto und ein Aktiendepot. Beide hatten in den letzten Monaten stark abgespeckt, aber sich dann wieder erholt, als Stefanie begonnen hatte, im Café Sunny Side im Hafen von Cairns zu arbeiten. Ab diesem Zeitpunkt floss nicht nur Geld von ihrem Konto ab, sondern es kam auch welches hinzu, trotzdem hatte sie die Befürchtung, dass sie innerhalb von Monaten pleite war, wenn sie nicht bald wieder regelmäßig verdiente. Arbeitslosengeld stand ihr nicht zu, Hartz 4 kam nicht infrage und auch von ihren Eltern, die ihr natürlich unter die Arme greifen würden, solange es nötig wäre, wollte sie nichts annehmen.

Sie lief ihre übliche morgendliche Runde im Wald, goss anschließend das Salatbeet ihrer Eltern, die Tomatenpflanzen in den großen tönernen Übertöpfen, die Rosen, die „Bienenwiese“ aus Wildblumen, duschte dann und frühstückte auf der Terrasse.

Von ihrem Platz aus sah sie, wie Frau Stammberger mit einer Gießkanne durch ihren Garten ging, mit einem schwerfälligen, eckigen Gang, der auf ein Hüftleiden schließen ließ. Immer wieder hielt sie inne und wischte sich einige graue Strähnen aus der Stirn, die sich aus dem zarten Dutt an ihrem Hinterkopf gelöst hatten. Oder sie fasste sich mit der Hand an den unteren Rücken und blieb so eine Zeitlang bewegungslos stehen.

In Stefanie regte sich das schlechte Gewissen und sie nahm sich vor, Frau Stammberger vor ihrem Gang zum Markt zu besuchen und zu fragen, ob sie ihr etwas mitbringen sollte. Erst beim Laufen vorhin im Wald war Stefanie wieder eingefallen, dass sie heute ja mit Lola auf dem Markt verabredet war. Zumindest glaubte sie, dass sie das waren, denn Lola hatte sich nicht gemeldet und das Treffen abgesagt, aber dafür hätte sie auch persönlich erscheinen müssen, denn sie hatten keine Kontaktdaten voneinander.

In der Küche von Frau Stammberger duftete es nach Kaffee und frisch Gebackenem.

„Russischer Zupfkuchen“, erklärte sie, als Stefanie hörbar schnüffelte. „Hol dir doch nachher ein paar Stück. Magst du einen Kaffee? Setz dich doch.“

Stefanie nahm auf der Eckbank am Fenster Platz. „Aber wirklich nur einen ganz kleinen. Ich treff die Lola gleich auf einen Kaffee.“

Frau Stammberger wandte sich um, die Kaffeekanne in der rechten Hand, die von dicken hervortretenden Adern überzogen war und leicht zitterte. „Die Lola Brückner? Ja, des ist recht, da kümmerst dich mal um sie, die hat’s auch nicht leicht.“ Sie wandte sich wieder um und schenkte Kaffee in eine Tasse mit Goldrand und Blumenornamenten. Ein Teller mit ganz ähnlichem Muster war Stefanie schon in dem weiß getünchten Wandregal rechts von der Eingangstür aufgefallen, weil er nicht nur mit Goldrand und Blümchen verziert war, sondern auch noch eine Lebensweisheit verriet: Wenn die Frauen verblühen, verduften die Männer.

Sie sah wieder zu Frau Stammberger. „Wieso hat sie es nicht leicht?“

Die alte Frau schnaubte. „Ach, ihr Mann. Der behandelt sie schlecht.“

Stefanie ließ ein paar Sekunden verstreichen, obwohl die Äußerung ihr Herz schneller klopfen ließ. „Wie meinen Sie das?“, fragte sie dann alarmiert. „Schlägt er sie?“ Sie senkte die Stimme. „Schlägt er sie etwa und alle bekommen es mit und keiner sagt etwas?“

Frau Stammberger wandte sich erschrocken um. „Geh, Steffi, das hab ich doch nicht gesagt. Mei, der Andi. Schaut halt hinter jedem Rock her.“ Sie fasste die Tasse mit beiden Händen und trug sie zum Tisch. „Und vermutlich schaut er nicht immer nur. Und die Lola schimpft er, wenn sie den Metzger nur anlächelt. Milch und Zucker dazu?“

„Ein Schuss Milch wäre nett.“ Stefanie überlegte und lauschte dem Ticken der Wanduhr. „Ich versteh ja Frauen nicht, die bei solchen Männern bleiben.“

„Mei, man kann in die Menschen nicht hineinsehen, sag ich immer.“ Frau Stammberger setzte sich Stefanie mit einem Ächzen gegenüber und setzte sich ihre Lesebrille auf. „Jetzt schreib ich dir mal auf, was ich alles vom Markt bräuchte.“

Sie musterte Lola eingehend, als sie sich im Café Venezia gegenübersetzen, als würde sie erwarten, an ihr trotz der Beschwichtigungen von Frau Stammberger Spuren von Gewalt zu erkennen. Doch alles an Lola war adrett. Die kleinen silbernen Kreolen im Ohr, die sorgsam gezupften Augenbrauen, die getuschten Wimpern, die durch Rouge betonten Wangenknochen, der gepuderte Teint, der dezent rot geschminkte Mund. Die dunkelblonden Haare waren straff zurückgebunden und zu einem hoch sitzenden Knoten gesteckt. Aber trotz der Farbe in ihrem Gesicht wirkte Lola wie schon beim letzten Mal seltsam blass und zurückgenommen. Sie fragte Stefanie nur kurz nach Australien, dafür umso intensiver nach ihren Plänen und nach dem Stand ihrer Wohnungssuche. Als Stefanie endlich dazu kam, Lola auch etwas zu fragen, antwortete sie mit leiser monotoner Stimme und so schnell, dass sich Stefanie mehr als einmal vorbeugen musste, um überhaupt etwas zu verstehen. Dennoch begriff sie sehr schnell, warum Lola nach dem Abitur nicht, wie alle es vorhersagten, in die weite Welt gezogen war. Kurz nach den Prüfungen erkrankte ihre Mutter an Krebs und Lola zog nicht aus, sondern blieb zu Hause wohnen und pendelte unter der Woche zwischen der Uni in München und Neubiberg hin und her.

„Damals habe ich immer gehadert mit allem, mich gefragt, warum das Schicksal mir mit neunzehn so eine Verantwortung überlässt. Ich war ja quasi allein für meine Mutter da.“ Lola nippte an ihrem stillen Wasser. „Aber in mancher Hinsicht war es trotz der Krankheit eine gute Zeit. Es hat meine Mutter und mich wahnsinnig zusammengeschweißt. Und Andi hat uns beide so unterstützt. Als meine Mutter über den Berg war, haben wir uns verlobt. Und nach meinem Diplom gleich geheiratet.“

„Und deiner Mutter geht es jetzt gut?“, fragte Stefanie.

„Sie gilt als geheilt. Aber sie ist sehr lange nicht auf die Beine gekommen. Mental vor allem. Sie hat dann wieder eine Weile in Teilzeit als Arzthelferin gearbeitet, aber bald ging gar nichts mehr. Meine Schwiegereltern haben ihr dann eine Stelle als Bürokraft auf 450-Euro-Basis angeboten. Das war sehr nett. Das macht sie immer noch. Und zusätzlich arbeitet sie zwei Tage die Woche hier in Neubiberg im Blumenladen.“

„Ihr beide arbeitet also bei deinen Schwiegereltern?“

„Ja. Ich hab gleich nach der Uni dort angefangen. So konnte ich in der Nähe meiner Mutter bleiben.“ Lola lächelte schief. „Und meine Schwiegereltern zahlen ziemlich gut.“

„Wo wohnst du denn mit Stefan?“

„Bei seinen Eltern. Also: in einem Anbau. Bisschen außerhalb vom Ort.“

„Und du designst die Küchen, die Andi und Co. dann umsetzen?“

„So in der Art.“

„Habt ihr denn Kinder?“

Ein Schatten huschte über Lolas Gesicht, bevor sie stumm den Kopf schüttelte.

„Naja, du hast ja noch viel Zeit“, sagte Stefanie. Sie wusste nicht recht, was sie außerdem sagen sollte, und begann, nervös auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Irgendetwas stimmte nicht mit Lola. Sie hatten sich an der Stelle am Markt getroffen, wo sie sich in der Vorwoche zufällig über den Weg gelaufen waren, doch Lola hatte gleich darauf bestanden, in ein Café zu gehen. Während sie das Venezia ansteuerten, hatte sie sich nervös umgesehen. Stefanie dachte an die Worte von Frau Stammberger. Sollte sie direkt nach Andi fragen? Oder von ihrer Trennung von Peter erzählen und so das Thema Beziehung anschneiden? Sie entschied sich dagegen.

„Und ist das dein Ziel gewesen? Küchen zu entwerfen? Ich meine, als du dein Studium begonnen hast?“

Lola war gerade dabei, das Glas an ihre Lippen zu führen, und hielt inne. „Nein, es war nicht mein Traum.“

„Okay.“

„Aber es hat sich so ergeben. Es war ein sicherer Job mit fairem Geld. Und ich konnte hier bleiben. Das war damals wichtig wegen meiner Mutter.“ Jetzt trank sie. Als sie das Glas abgestellt hatte, sah sie Stefanie direkt an. „Ich überlege momentan, etwas anderes zu machen.“

„Also … jobmäßig?“

„Ja. Auch.“

„Aber das ist doch … das ist doch gut.“

Lola senkte den Blick und sagte etwas so leise, dass Stefanie nicht sicher war, ob sie es richtig verstanden hatte.

„Wie bitte?“, fragte sie.

Lola schüttelte den Kopf. „Nichts.“

„Andi findet es nicht gut“, sagte Stefanie. „Aha. Warum?“

„Er hat mich lieber … hier.“

„Naja, aber was wäre denn dabei, wenn du beispielsweise in München arbeiten würdest. Dann wärst du doch immer noch … hier.“ Stefanie versuchte, unbekümmert zu klingen, auch wenn sie zunehmend alarmiert war.

Lola schwieg. „Es ist nicht so einfach, Steffi. Seine Eltern sind gesundheitlich angeschlagen und er würde sich wünschen, dass ich mich auch um sie kümmere, nachdem sie …“

„… sich um deine Mutter gekümmert haben. Wollen das seine Eltern auch? Dass du ihr Leben nach ihnen ausrichtest?“

„Wie bitte?“

„Lola, hör mir mal zu.“ Stefanie senkte die Stimme. „Wenn Andi dich nicht ordentlich behandelt, dann … dann gibt es Möglichkeiten.“

Lola wurde noch eine Spur blasser. „Wovon redest du, Steffi?“, fragte sie.

„Naja, wenn Andi dich hier haben will, das klingt irgendwie so, als würde er dich kontrollieren.“ Noch während sie es sagte, wusste Stefanie, dass sie zu weit ging und Terrain betrat, das sie nichts anging. Aber sie konnte nicht stoppen. „Und wenn er das tut und dich vielleicht auch noch … anderweitig schlecht behandelt, dann musst du …“ Sie stockte. „Dann musst du …“

Lola verschränkte die Arme vor der Brust. „Steffi, kann es sein, dass du gerade suggerierst, dass Andi mich schlägt?“

„Äh …“

„Wie kommst du darauf?“

Weil du redest, als würde er dich zu Hause einsperren wollen, dachte Stefanie. Und weil Frau Stammberger …

„Vergiss es einfach, Lola“, sagte sie. „Ich hab … ich hab das wohl alles falsch verstanden.“ Sie nahm ein Schluck von ihrem längst kalten Cappuccino. „Ich bin gerade vielleicht zu sehr auf dem Selbstverwirklichungstrip und wittere überall … Unterdrückung und Selbstverleugnung.“ Sie winkte ab. „Vergiss es.“

Lola lehnte sich zurück. „Ich wollte tatsächlich über so etwas wie Selbstverwirklichung mit dir sprechen, Steffi. Aber ich weiß nicht, wie du auf so etwas kommst. Andi würde mir physisch nie wehtun.“

Während Stefanie noch darüber nachdachte, ob sie sich einbildete, dass Lola das Wort „physisch“ betonte, betrat ein Mann die Eisdiele und ging Richtung Theke, warf dabei aber immer wieder Blicke zu den beiden Frauen. Als er mit einem Eis wieder zurückkam, blieb er an ihrem Tisch stehen. Er war breit gebaut, trug Polohemd und Jeans und im Haar eine Sonnenbrille.

„Die Lola lässt es sich wieder gut gehen, während die Männer arbeiten!“

Lola lachte auf, aber Stefanie verzog angesichts des müden Witzes keine Miene.

„Steffi, das ist Ludwig. Er arbeitet bei uns – also bei meinen Schwiegereltern. Er wird mit Andi die Geschäftsführung übernehmen.“

Stefanie reichte ihm die Hand. „Hi.“

„Seid ihr fertig? Ist Andi noch im Büro?“, fragte Lola.

„Ja und ja. Er wollte aber kein Eis zur Belohnung. Er meinte, er sei kein Süßer, haha.“

Stefanie rollte innerlich mit den Augen. Dieser Ludwig war ein echtes Kalauer-Kraftwerk.

„Ich wünsch euch was, ihr beiden. Schönes Wochenende:“ Ludwig klopfte mit der Faust auf den Tisch und verschwand dann.

Lola lächelte entschuldigend. „Der Ludwig … Soll ich dir rasch unsere Büroräume zeigen? Die sind gleich um die Ecke.“

Stefanie trank den Rest ihres Cappuccinos. „Klar, warum nicht.“

„Ich hab sie eingerichtet“, sagte Lola hinzu. „Und darauf bin ich wirklich stolz.“

Der Himmel war kobaltblau und die winzigen Wolkenfetzen darauf wirkten wie Krümel, die nicht abgewischt worden waren.

Lola reckte ihr sorgfältig geschminktes Gesicht Richtung Sonne und schloss die Augen. „So schönes Wetter. Aber irgendwie zieht der Sommer wieder so an mir vorbei. Zu viel zu tun.“

Sie verließen den Marktplatz und bogen in eine Seitenstraße ein. Vor einem zweigeschossigen, blau gestrichenen Haus blieb Lola stehen und kramte einen Schlüssel aus ihrer Tasche. „Wir sind im Erdgeschoss“, sagte sie und klopfte auf das Schild neben der Klingelanlage. Küche und Bad – Brückner weiß Rat.

„Hat Ludwig das getextet?“, fragte Stefanie grinsend.

„Nein, mein Schwiegervater“, lachte Lola. „Er meint, er könnte sich die teuren Werbefuzzis sparen. Auf der Homepage ist es allerdings anders.“

Im Hausflur war es kühl und Stefanie meinte einen Moment lang, Gelächter hinter der Tür zu hören, die Lola jetzt aufsperrte.

Sie betraten einen kleinen Raum, den Lola das „Wartezimmer“ nannte. Links stand eine graue Couch ohne Armlehnen, die auf den ersten Blick wie eine Badewanne aussah. Die Wand dahinter war bis zur Hälfte mit orientalisch anmutenden Fliesen verkleidet.

„Aus Marokko“, erklärte Lola. „Habe ich dort gekauft.“

„Wunderschön“, sagte Stefanie und wollte gerade nähertreten, als die Tür in der gegenüberliegenden Wand aufging.

Eine junge Frau erschien, in einem bodenlangen Trägerkleid, das um die Brust gesmokt war und eng anlag. Ihr Haare waren lose zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre Wangen stark gerötet. Als sie Stefanie und Lola sah, blieb sie wie erstarrt stehen und klappte den Mund ein paar Mal lautlos auf und zu.

„Du hast was vergessen“, sagte eine Stimme hinter ihr. Andi erschien im Türrahmen, mit einem roten Stück Stoff, das seine Finger in Windeseile zerknüllten, als er Lola und Stefanie bemerkte. Auch seine Wangen waren gerötet, Haarsträhnen klebten an seiner Stirn.

Aus Lola dagegen schien jede Farbe zu entweichen. Wie ein fahles durchscheinendes Hologramm kam sie Stefanie vor, die nicht wagte, sich zu rühren.

Schließlich drehte Lola sich um und verließ den Raum.

„Scheiße“, zischte Andi, machte aber keine Anstalten, ihr zu folgen.

Die junge Frau sah Stefanie hilflos an, als erwarte sie von ihr einen Ausweg aus dieser unangenehmen Situation. Doch Stefanies Blick hatte sich auf Andi gerichtet.

„Du bist ein riesengroßes, egoistisches, widerwärtiges, schwanzgesteuertes Arschloch“, sagte sie, und als er etwas erwidern wollte, hob sie die Hand. „Halt deinen Mund!“

Sei nicht so selbstgerecht, sagte eine Stimme in ihr, du warst auch schon in seiner Position.

Ja, schon, erwiderte eine zweite Stimme, aber das war … anders …

„Ihr beide seid echt … ach, was soll’s.“ Sie machte eine abfällige Handbewegung und machte auf dem Absatz kehrt, um Lola zu folgen.

Kapitel 5

Nachdem sie Lola eingeholt hatte, konnte Stefanie die völlig Versteinerte überreden, mit in das Haus ihrer Eltern zu kommen. Dort schob sie Lola auf die Terrasse und auf die Gartenliege und schärfte ihr ein, sich nicht von der Stelle zu rühren, was ein unnötiger Befehl war, auf den Lola gar nicht erst reagierte. Stefanie füllte in der Küche ein großes Glas mit Wasser, Eiswürfeln und frischer Minze, die sie auf dem Markt gekauft hatte. Sie brachte das Glas zu Lola und ging dann rasch hinüber zu Frau Stammberger, um ihr die gewünschten Einkäufe zu bringen.

„Magst noch schnell einen Kaffee, Steffi?“

„Nein, vielen Dank, ich hab Besuch, die Lola ist noch mitgekommen. Sie ist … sie ist … ihr geht es gerade nicht so gut. Ich sollte auch gleich wieder nach ihr …“

„Wart einen Moment.“ Frau Stammberg ging in den Flur. „Für so Situationen hab ich was.“

Stefanie trat von einem Fuß auf den anderen, sie wollte möglichst schnell wieder nach drüben. Sie hörte Frau Stammberger ächzen und etwas murmeln und folgte ihr. Ihre Nachbarin kniete mit einem Bein am Boden und suchte mit beiden Händen in der Kommode neben der Haustür. „Da ist er ja.“ Sie hob einen Arm und hielt Stefanie eine Flasche hin. „Erstklassiger Birnenlikör.“

„Super, Frau Stammberger, vielen Dank. Wir werden ihn auf jeden Fall würdigen.“

„Tut’s des.“

„Ich geh dann mal.“

„Steffi?“

„Ja?“

„Hilfst mir kurz wieder auf?“

Sie stellte den Schnaps zunächst in die Küche und vergaß ihn, aber im Laufe des Gesprächs mit Lola fiel er ihr wieder ein. Sie tranken ein erstes und dann ein zweites Glas. Der Alkohol half Lola beim Reden und stimmte Stefanie milder, was gut war, weil sie sonst zu viele spitze Nachfragen gestellt hätte, auch wenn ihr vieles bekannt vorkam und sie vieles damals mit Peter auch erlebt hatte.

„Wir haben keine gemeinsamen Ziele mehr“, sagte Lola. „Manchmal sitze ich ihm beim Abendessen gegenüber und schaue ihn heimlich an, diesen Fremden. Und weiß nicht, über was ich mit ihm sprechen soll.“

Vielleicht über eine Trennung, dachte Stefanie und grub ihre Nase tiefer in das Schnapsglas.

„Ich weiß, dass ich mich trennen sollte“, fuhr Lola fort.

Stefanie sah auf. Hatte sie ihre Bemerkung doch laut ausgesprochen?

„Vor allem, seitdem er mich betrügt. Und das tut er häufig. Beim ersten Mal dachte ich noch, das sei ein Ausrutscher. Wir waren schon Jahre zusammen und hatten davor keine nennenswerten Beziehungen. Das ist keine Entschuldigung, ich weiß. Aber mit einem Fehltritt hätte ich umgehen können, das … hätte ich geschafft.“ Lola leerte ihr Glas in einem Zug und schenkte sich ein neues ein. „Aber es wurden so viele … Fehltritte.“ Sie nahm noch einen Schluck. „Und mit jedem bin ich innerlich mehr erstarrt anstatt wütend zu werden und Konsequenzen zu ziehen. Kannst du das verstehen? Ich konnte nichts machen.“

„Woher wusstest du von seinen Fehltritten?“

Lola winkte ab. „Weiß ich einfach. Er benimmt sich seltsam, ist abweisend. Klar, ein paarmal …“, sie leerte erneut hastig ihr Glas, „ein paarmal hab ich auch sein Handy kontrolliert.“

„Hast du ihn damit konfrontiert und gefragt, warum er das macht?“

„Klar.“ Lola zuckte mit den Schultern. „Es habe nichts mit mir zu tun. Er liebe mich. Und so weiter. Er hat immer versprochen, dass es nicht mehr vorkommen wird. Hat gesagt, dass wir doch ein super Team seien. Das so viel erlebt hat. Unzerstörbar sei. Gestählt durch Höhen und Tiefen.“

„Gestählt und unzerstörbar. Klingt wie’n Panzer.“

„Er hat es auch nicht leicht mit seinem Vater und …“

„Och nö, Lola.“ Diesmal hatte Stefanie ihre Bemerkung wirklich laut gesagt. „Nich die Tour. Er hatte es nicht leicht und muss deswegen fremdgehen. Echt nicht.“

„Wie war das denn bei dir? Als du Peter betrogen hast. Mit diesem … wie hieß er? Rolo?“

Stefanie schwieg. Sie bereute bereits, dass sie Lola vorhin davon erzählt hatte. „Das ist etwas anderes“, meinte sie schließlich. „In Rolo war ich ja wirklich verliebt. Bei Andi ist dieses Fremdgehen ja … pathologisch.“

Lola seufzte. Sie schwiegen eine Weile und sahen zum Himmel. Vor den vollen Mond schob sich gerade eine Wolke.

„Lass uns morgen weiterreden“, sagte Stefanie, stand auf und merkte, dass sie leicht schwankte. „Ich mach dir dein Bett fertig. Du schläfst mit Lenny Kravitz im Zimmer.“

Der nächste Tag begann mit einem Kater und endete mit einem Knall.

Stefanie verließ mit dröhnendem Kopf und pelziger Zunge das Schlafzimmer ihrer Eltern. Als sie in die Küche kam, schreckte sie zurück. Lola saß mit dem Rücken zu ihr am Küchentisch und beugte sich über etwas. Als Stefanie nähertrat, sah sie, dass es ein Handy war.

„Lola, alles okay?“

Lola wandte sich nicht um. „Er hat fast fünfzig Mal angerufen. Die ganze Nacht hindurch.

„Klar hat er das“, sagte Stefanie und stutzte kurz angesichts ihrer Bonnie-Tyler-Stimme. Sie holte zwei Tassen aus dem Hängeschrank. „Das steht in jedem Handbuch für notorische Fremdgeher.“

„Seine Nachrichten hören sich wirklich verzweifelt an.“

„Lola!“ Stefanie setzte die Tassen so heftig auf den Tresen, dass ihre Schläfen zu pochen begannen. „Oh, Mist“, stöhnte sie. „Lola“, begann sie dann erneut, „könntest du bitte aufhören, ihn irgendwie dauernd zu verteidigen.“

Stille, dann leises Schluchzen.

„Oh nein, Lola, es tut mir leid.“ Stefanie ließ sich in den Stuhl neben sie plumpsen und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. „Ich weiß, es sagt sich immer alles so leicht von außen …“

„Nein, du hast recht“, sagte Lola mit erstickter Stimme und schniefte. „Ich will hier weg.“ Sie schlug mit der Hand nach ihrem Handy, das über den Tisch glitt und mit einem Knall auf dem Boden landete.

Stefanie stand auf, riss ein Blatt Küchenrolle ab und reichte es Lola. „Ich auch. Dann gehen wir das jetzt gemeinsam an. In zwei Wochen kommen meine Eltern zurück und nicht nur deswegen möchte ich dann nicht mehr hier sein.“

Ihre großen Pläne wurden vorübergehend von dem profanen Bedürfnis nach Schlaf durchkreuzt, aber nach einem Frühstück aus Kaffee und Wasser mit Aspirin und einer erneuten mehrstündigen Bettruhe setzten sie sich am frühen Abend auf die Terrasse.

„Was du brauchst, ist eine Wohnung in München“, sagte Stefanie und rückte ihre Sonnenbrille zurecht, die sie trotz ihres Schattenplatzes trug. „Und dann einen neuen Job.“

„Das brauchst du auch beides“, sagte Lola.

„Genau. Wobei wir ja … Unterschiedliches suchen beruflich. Und was die Wohnung angeht …“

„Du willst keine WG mit mir.“

„Ich will generell keine WG. Weder mit dir noch mit jemand anderem.“

„Dann sind wir quasi Konkurrenten um eine bezahlbare Ein- oder Zweizimmerwohnung.“

„Eher ein Zimmer“, sagte Stefanie grimmig. „Hast du Ersparnisse?“

„Ja, klar, hab ich. Aber wenn ich eine Wohnung in München samt Kaution und Provision bezahlen muss, brauche ich bald einen Job. Sonst reicht es nicht allzu lange.“

„Okay. Ist bei mir nicht anders“, sagte Stefanie. Sie staunte, wie entschlossen Lola wirkte, war aber nicht verwundert, als sie zwei Stunden später dann doch den Kopf auf den Tisch sinken ließ und zu weinen begann. „Ich kann das alles nicht.“ Ihre Stimme klang dumpf unter den vorgefallenen Haaren hervor. „Ich kann auch meine Mutter hier nicht allein lassen.“

„Ich bin mir sicher, dass deine Mutter vor allem will, dass du glücklich bist. Es geht ihr doch inzwischen gut. Und München ist keine zwanzig Minuten entfernt.“

Lola richtete sich auf. „Ich mach Schluss für heute. Ich brauch eine Pause.“ Sie erhob sich und ging ins Haus.

Stefanie überlegte, ob sie ihr folgen sollte, entschied dich dann aber dagegen. Sie war gerade so gut bei der Sache und wollte nicht aufhören. Durch Lola war sie unvermittelt in die Rolle der Stärkeren gerutscht, die die Initiative ergriff, handelte, Entscheidungen traf. Es fühlte sich gut an und sie wollte es ausnutzen, solange es so war.

Es war schon eine Weile dunkel, als sie sich ebenfalls entschloss, Feierabend zu machen. Sie hatte neunzehn Anzeigen auf verschiedenen Portalen im Internet angeschrieben, die infrage kommende Wohnungen von privat anboten. Sie hatte ihre Wohnungssuche auf Facebook eingestellt und ihre Freunde gebeten, den Post zu teilen und Augen und Ohren offen zu halten. Sie hatte ihren Lebenslauf neu gestaltet und zusammengeschrieben, welche Aufgaben sie bei DreamDesign, ihrem letzten Arbeitgeber, übernommen hatte. Jetzt müsste sie diesen Entwurf eigentlich sehr bald an Reto, ihren ehemaligen Chef schicken, aber das würde sie heute nicht mehr tun. Morgen war auch noch ein Tag.

Sie lehnte sich zurück und dreht den Kopf von einer Seite zur anderen. Ihr Nacken schmerzte vom stundenlangen Sitzen vor dem Laptop und ihr Magen rumorte, weil sie seit Stunden nichts Anständiges mehr gegessen hatte. Ein leichter Windhauch strich ihr um die Beine und sie fröstelte. Tagsüber war es angenehm warm, aber sobald die Sonne verschwand, war es noch kühl, erst in der nächsten Woche sollte der Hochsommer Einzug halten. Stefanie lauschte ins Haus, aber von Lola war nichts zu hören, vermutlich schlief sie. Die Büsche im Garten raschelten kurz, als erneut Wind aufkam. Stefanie stand auf, fuhr den Laptop herunter und begann, den Tisch abzuräumen.

Und dann kam der Knall.

Er kam so unvermittelt, dass Stefanie ein Glas aus der Hand fiel und sie laut aufschrie. Auf der Terrasse ging das Licht an und sie hörte eine Frauenstimme etwas rufen und dann ein dumpfes Rascheln und Stöhnen aus den Himbeerbüschen von Frau Stammberger. Stefanie hielt den Atem an. Als sie einen Schritt nach vorne machte, knirschten unter ihren Flipflops die Scherben des zerbrochenen Glases.

„Verschwind sofort aus meinem Garten oder ich ruf die Polizei!“, hörte sie Frau Stammberger in diesem Moment schreien.

Stefanie rannte geduckt Richtung Zaun und spähte durch das Gebüsch. Frau Stammberger stand auf der Terrasse und zielte mit etwas, das aussah wie eine Schrotflinte, in den Garten. Stefanie zog scharf die Luft ein. Sie hatte tatsächlich geschossen. Frau Stammberger, die vorhin in ihrem Flur nicht mehr allein auf die Beine gekommen war, hatte auf jemanden geschossen!

Stefanie lugte in die andere Richtung. Das Außenlicht erhellte nur etwa die Hälfte des Gartens, und aus der Dunkelheit schälte sich jetzt eine Gestalt, die Stefanie vage bekannt vorkam. „Shit“, flüsterte Stefanie. Es war Andi.

Leicht humpelnd und mit einer Hand auf der Hüfte näherte er sich Frau Stammberger, die sofort wieder ihre Flinte anlegte. „Ich mein’s ernst!“, schrie sie. „Und dieses Mal treff ich, bevor du wieder meine Himbeeren als Deckung missbrauchst und kaputt machst!“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783000548635
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Liebesroman Gefühl Glück Inselroman Romantik Abenteuer Reisen Liebe Island Humor

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt und arbeitet in München. Neben ihrem Hauptjob im Kulturbereich schreibt sie regelmäßig Romane. Ihre Liebes-Trilogie und die zwei Cornwall-Bücher "Tausche Alltag gegen Insel" und "Tausche Alltag gegen Glück" standen wochenlang in den Bestseller-Listen.
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Titel: Alles auf Anfang, alles auf Glück