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Der Fantast und die Macht der Gedanken

von Michaela Göhr (Autor:in)
440 Seiten
Reihe: Der Fantast, Band 3

Zusammenfassung

NEUAUFLAGE!

Stell dir vor ...
du könntest in die Vergangenheit reisen,
ohne die Chance, etwas daran zu ändern -
würdest du es trotzdem tun?

Nur zögernd nimmt Simon eine Einladung ins Weiße Haus an, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten kennenzulernen. Er ahnt nicht, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Falle auf ihn wartet. Zudem gerät er immer tiefer in ein Zeitproblem, das seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannt. Die Situation spitzt sich zu, als sein paranormal begabter Schützling Zoey plötzlich beunruhigende Visionen hat und eine uralte Kreatur das Mädchen für seine finsteren Pläne missbraucht. Der Fantast weigert sich, diesem unsichtbaren Feind kampflos das Feld zu überlassen, obgleich sein Ringen gegen die Übermacht aussichtslos erscheint.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Michaela Göhr

 

Der Fantast

und die Macht der Gedanken

 

Band 3

 

 

 

Urban-Fantasy-Roman

 

Zur Autorin

 

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Mit dem Schreiben begann sie bereits in der Kindheit, drückte ihre Gedanken zunächst in Geschichten, Gedichten und Liedern aus. Die Leidenschaft, Romane zu verfassen, entdeckte sie erst im Herbst 2014. Seitdem schreibt sie Urban-Fantasy für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

 

 

Dank

 

Ich danke Elisabeth Marienhagen und allen Menschen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Außerdem bedanke ich mich bei Kathrin Franke-Mois von Epic Moon – Coverdesign für die schöne Neugestaltung des Umschlags.

 

 

Alle Bände der Reihe:

 

Der Fantast (Band 1)

Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2)

Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3)

Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4)

Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

 

Sämtliche im Buch vorkommende Akteure und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind daher rein zufällig.

Impressum

 

Text: © Copyright by Michaela Göhr
Birkenweg 24, 58553 Halver
mgeohr@unitybox.de
https://derfantast.jimdo.com
https://www.facebook.com/derfantast24/

 

Umschlag: © Gestaltung von Coverdesing Epic Moon
https://www.facebook.com/EpicMoonCoverdesign/
Bilder: Erik Bjerkesjö, Pixabay

 

Erstausgabe September 2016

2. Auflage Januar 2019

3. Auflage März 2021

 

 

 

zeitlos

 

wo zwischen
zwei herzschlägen
sterne entstehen

 

sich welten
verändern
im augen-
blick

 

zwei silben
getrennt
durch äonen
des schweigens

 

sich lösen
und fallen
unendlich weit

 

lässt die zeit
sich selbst los
und wird
frei

 

für die
ewigkeit
deines
lachens

 

Zeitfaktor

 

Die Dinge, die hier beschrieben sind, habe ich bereits erlebt. Sie sind für mich Vergangenheit, gelebte Zeit. Diese ist relativ – jeder Physiker weiß um die entsprechende Theorie. Da wir uns in den meisten Fällen unser Leben lang mit unserem Planeten und auf ihm bewegen, fällt es uns nur nicht auf. Einen praktischen Nutzen können wir normalerweise kaum daraus ziehen.

In meinem Fall gibt es eine Ausnahme, da ich mich in gewissen Grenzen außerhalb der gewöhnlichen Pfade aufhalten kann. Deshalb nehme ich mir fest vor, dieses Buch nicht zu lesen. Ebenso wenig alle weiteren Werke von mir, die folgen mögen. Jedenfalls keinesfalls direkt nach ihrem Erscheinen und sicherlich noch viele Jahre danach nicht. Man spielt nicht mit der Zeit – auch nicht als Fantast. Da ich die Zukunft nicht beeinflussen kann, wäre es fatal, sie vorher zu kennen. Für die meisten anderen Menschen ist es bedeutungslos, da ihr eigenes Schicksal nicht damit verknüpft ist. Aber für mich selbst sowie eine Handvoll eingeweihter Personen ist es höchst gefährlich. Sie werden sich davor hüten, mein Werk auch nur in die Hand zu nehmen.

Ich erwähne es nur, um Missverständnisse zu vermeiden und von vornherein klarzustellen, dass ich mich auf keinerlei Diskussionen über mein Buch einlasse, ganz egal, wer mich darauf anspricht. Dies hat keinesfalls etwas mit schlechter Laune zu tun, lediglich mit den oben angeführten Tatsachen.

Ich könnte mich noch seitenweise über das Thema Zeit auslassen, da sie ein ebenso komplexes wie interessantes Gebiet darstellt. Allerdings macht es an dieser Stelle nicht viel Sinn und auch meine eigene Zeit ist normalerweise zu gut ausgefüllt, um mich mehr als nötig mit diesen theoretischen und abstrakten Gedanken zu befassen. Deshalb möchte ich lieber sofort ins praktische Geschehen eintauchen und meine Leser mit auf die abenteuerliche Reise nehmen, die über die Grenzen des Normalen und Vorstellbaren hinaus geht. Nun – Grenzen sind dazu da, um zu wissen, wann man sie überschreitet. In diesem Sinne wünsche ich grenzenloses Staunen und unbegrenztes Lesevergnügen – zumindest für eine gewisse Zeit.

 

Euer Simon

1.

 

Der Brief aus den USA sah äußerst wichtig aus. Er kam per Einschreiben, trug das Siegel des Präsidenten und war an mich adressiert. Wie üblich erreichte er mich nicht zu Hause, sondern über meine Dienststelle beim Bundesnachrichtendienst. Mein Chef überreichte ihn mir persönlich in seinem Büro. Dabei blickte er mich erwartungsvoll an.

Mindestens zwei Minuten lang starrte ich auf den Umschlag, bevor ich erneut aufsah. Es war mehr Verlegenheit, die mich schweigen ließ.

„Und? Möchtest du ihn nicht aufmachen?“, ermunterte mich mein Gegenüber halb erstaunt, halb erheitert.

Ich schüttelte den Kopf. „So sieht er viel schöner aus, finde ich. Aber wenn du neugierig bist – bitte sehr.“

Ich hielt ihm das Kuvert hin. Er wehrte lachend ab. „Schon gut, du hast mich erwischt! Ich weiß bereits, was drinsteht – und du offensichtlich auch. Viel wichtiger ist: Möchtest du hin?“

Ich zuckte hilflos die Achseln. Es war eine Einladung ins Weiße Haus – zu einem persönlichen Gespräch mit dem Oberhaupt der Vereinigten Staaten. Alles sehr offiziell und doch ganz privat.

„Hast du das arrangiert?“, fragte ich misstrauisch.

„Wofür hältst du mich!“, protestierte mein Chef entrüstet. „Natürlich nicht! Aber selbstverständlich weiß ich darüber Bescheid. Und ich habe auch die Bedingungen ausgehandelt, unter denen dieses Treffen ablaufen wird, sofern es denn stattfindet. Ich denke, es war in deinem Sinne, die Medien und die Öffentlichkeit davon auszuschließen.“

Ich nickte langsam.

„Wie lange weißt du es schon?“, fragte ich dann.

Ohne Anflug von schlechtem Gewissen sah mein Boss mich an. „Das Weiße Haus hat mich um ein Treffen mit dir gebeten, seit du von deinem Weltraumausflug zurückgekehrt bist. Aber ich habe sie stets abgewimmelt mit der Begründung, du seist momentan zu beschäftigt, tot oder anderweitig unterwegs. Dies ist sicherlich die zehnte Einladung. Diesmal sah ich keinen Grund, sie dir nicht zu geben. Hätte ich es vorher tun sollen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke! Ich bin echt froh, dass ich es nicht wusste. Das hätte mich vermutlich ziemlich überfordert. Aber jetzt ... Denkst du, ich sollte hingehen?“

Dabei sah ich meinen Gesprächspartner so ratlos an, dass dieser schon wieder schmunzeln musste.

„Manchmal wundere ich mich wirklich über dich, Simon. Du triffst in den heikelsten Situationen kaltblütige Entscheidungen, die Leben retten – und das in Sekundenbruchteilen. Aber wenn es um so was Banales geht, weißt du nicht, was du tun sollst. Irgendwie typisch für dich. Ja, ich meine, du solltest es wagen. Sonst kommen sie irgendwann noch auf die dumme Idee, es anders zu versuchen.“

Ich gab ihm recht. Nur zu gut erinnerte ich mich an Mr. Moellers Topsecret-Behörde irgendwo im Nirgendwo, die mich vor über vier Jahren zwangsweise rekrutieren wollte. Vor nicht einmal allzu langer Zeit hatte ich diesen Leuten mit ihren brutalen, eher illegalen Methoden endgültig einen Korb gegeben. Aber das hieß ja nicht, dass es keine Zusammenarbeit mit der Weltmacht auf der anderen Seite des Großen Teichs geben konnte oder sollte. Ich fand die Aussicht, meinen Wirkungskreis auf diese Weise zu vergrößern im Gegenteil recht reizvoll – vor allem, wenn es eine Möglichkeit darstellte, noch effektiver weltweit gegen Krieg und Terror vorzugehen. Das offizielle Go meines Chefs dazu fand ich deshalb umso besser.

Also nahm ich am Ende des Arbeitstages den ungeöffneten Umschlag für Zoey mit nach Hause und begann mit den Vorbereitungen für eine Reise in die USA. Natürlich wollten meine Freunde unbedingt dabei sein. Eigentlich war nur eine Begleitperson für mich vorgesehen, aber der Boss überzeugte seinen amerikanischen Gesprächspartner aus dem Weißen Haus schließlich davon, dass ich nur mit ‚Betreuerteam‘ erscheinen würde. Wenn Divas und Stars bei Staatsbesuchen nicht ohne ihren persönlichen Friseur oder Psychotherapeuten auskommen konnten, dann ging es bei mir eben nicht ohne die kleine Familie meines besten Freundes. Immerhin benötigten wir keine Flugtickets erster Klasse. Ich setze mich freiwillig schon seit etlichen Jahren nicht mehr in ein reales Flugzeug. Diese Maschinen fliegen mir viel zu hoch. Das ist keine Frage von Höhenangst, sondern von Verlustangst – und zwar vor dem Verlust meiner Fähigkeiten. Seit den Erfahrungen im Weltraum weiß ich, dass es noch eine erhebliche Steigerung dieses Gefühls gibt und auch Möglichkeiten, damit fertigzuwerden, aber das bedeutet nicht, dass ich das Bedürfnis verspüre, jemals wieder die Erdkugel zu verlassen. Nein, ich bleibe lieber dort, wo ich hingehöre – mitten in der Atmosphäre, dicht überm Boden, umschmeichelt von Luft und Erdanziehung und somit Herr meiner Sinne und Vorstellungskraft. Jemandem, der mich nicht kennt, wird diese ‚Flugangst‘ vielleicht befremdlich erscheinen, eventuell sogar lächerlich oder kindisch. Aber ich versichere euch, dass ein Flug in über fünftausend Metern Höhe absolut kein Vergnügen für mich ist – eher pure Agonie. Dafür halte ich vieles aus, was für jeden anderen Menschen sicherlich unerträglich wäre, allein schon von der körperlichen Konstitution her gesehen.

Jedenfalls freuten Timo und Susanna sich auf ein paar Urlaubstage in Washington D.C. und Zoey war begeistert darüber, endlich mal wieder eine längere Reise mit mir zu unternehmen. Die schlaue Kleine war Fliegen mit dem Fantasten von Geburt an gewöhnt, aber in letzter Zeit kamen wir viel zu selten dazu. Mittlerweile wollte sie genau wissen, wo es hinging und welche Gebiete wir passieren würden. Also sah sie sich die Strecke vorher akribisch auf dem Globus an.

„Du wirst eh nicht viel erkennen, weil es dunkel ist“, sagte ich zu ihr. „Außerdem haben wir die meiste Zeit Wasser unter uns, also schläfst du besser.“ „Och, menno, können wir nicht mal starten, wenn’s noch hell ist?“, maulte Timos Töchterchen und sah mich bittend an. Es war schwer, diesem Blick zu widerstehen, dennoch schüttelte ich den Kopf. „Du weißt genau, dass das nicht geht.“

Ich wusste, wie dickköpfig die kleine Prinzessin sein konnte, aber die Sinnlosigkeit ihres Ansinnens war ihr ebenso bewusst wie uns Erwachsenen. Ohne Not würde ich nicht riskieren, bei dem Flug gesehen zu werden, da unser Fluggerät nur in meiner Vorstellung existierte. Diese Fantasie war zwar mit Leichtigkeit dazu in der Lage, uns an jeden gewünschten Ort zu bringen, für andere Menschen jedoch nicht sichtbar. Das bekam ich noch immer nicht hin, als Illusionist war ich absolut unbrauchbar.

Wir starteten kaum eine Woche später zu unserem USA-Abenteuer, drei Tage vor dem geplanten Treffen. Wenn wir schon mal gemeinsam diesen Kontinent bereisten und ich es zeitlich einrichten konnte, wollten wir Disneyland unbedingt mitnehmen. Es lag zwar nicht gerade auf dem Weg, den Umweg nahm ich jedoch gern in Kauf. Schließlich geschah es für die Menschen, die mir am wichtigsten auf der Welt waren und ein ‚Zu-Weit‘ gab es für mich längst nicht mehr.

Für mein Patenkind war dies der erste Besuch eines richtigen Freizeitparks, dementsprechend bestaunte sie die bunte Wunderwelt mit großen Augen. Allerdings gab es bald Tränen der Enttäuschung, weil sie einige der wilderen Sachen nicht machen durfte. „Zu klein“, war das Fazit des Aufsichtspersonals bei fast allem, was sie interessierte. Mit ein bisschen Schummeln und Ablenkung schmuggelten wir Zoey schließlich in die meisten Attraktionen, die eigentlich für wesentlich ältere Kinder und Jugendliche gedacht waren. Von Kinderkarussells hielt die clevere Vierjährige damals schon nicht mehr viel. Zudem war sie durch den ständigen Umgang mit mir einiges gewöhnt. So lachte und jauchzte sie in Fahrgeschäften, in denen sechzehnjährige Girls hinter uns in Panik kreischten und aus denen gestandene Männer mit weichen Knien ausstiegen. Den Ärger, den es anschließend zweimal mit dem Parkpersonal gab, focht ich jeweils allein mit den Angestellten aus. Schließlich war es nicht Zoeys Schuld, dass sie körperlich noch klein war. Meinen blinden Freund konnte Disneyland nicht besonders beeindrucken. Bei den wenigen Achterbahnen lächelte er nur mild und meinte, dass sich die lange Anreise und der hohe Eintrittspreis deswegen garantiert nicht lohnen würden.

„Wer einmal deinen ‚tanzenden Hubschrauber‘ erlebt hat, braucht in seinem Leben nie wieder so eine langweilige Bahn“, murmelte er nach dem Besuch der rasanteren Attraktionen des Parks. Selbst die visuellen Eindrücke, die er von mir erhielt, warfen ihn nicht gerade um. Zumindest den Mädels gefiel die farbenfrohe Scheinwelt, und so trösteten mein Freund und ich uns mit dem Gedanken an einen Abstecher nach New Jersey, wo es in einem wesentlich spektakulärer angelegten Park einige der besten Achterbahnen der Welt geben sollte.

Die Gelegenheit ergab sich bereits am nächsten Morgen, weil der zweite geplante Parkbesuchstag buchstäblich ins Wasser fiel. Es schüttete wie aus Eimern. Also packten wir kurzerhand unsere Siebensachen, nutzten die Tarnung durch die tiefhängenden Regenwolken und düsten zurück gen Osten. Hier war das Wetter wesentlich besser. Wir setzten die Damen am späten Vormittag an einem wunderschönen, sonnigen Sandstrand ab, um unseren ‚Männertag‘ anzugehen.

Den Besuch des Freizeitparks werden wir sicherlich nicht so schnell vergessen. Weniger der wirklich tollen Attraktionen wegen, die wir zunächst in vollen Zügen auskosteten, sondern weil mir wieder einmal sehr deutlich wurde, wie wenig zufällig scheinbare Zufälle sind. Nach etwa drei Stunden Park, die wir möglichst geschickt aufteilten, jedoch trotzdem hauptsächlich mit Anstehen verbrachten, kamen wir zu einer der Hauptattraktionen, bei der die Schlange erwartungsgemäß noch länger war als bei den übrigen Fahrgeschäften. Dennoch wollte Timo unbedingt dort hinein.

„Ich liebe Bungeestarts“, schwärmte er.

„Kann ich dir auch so verschaffen“, murmelte ich düster. Nichtsdestotrotz stellte ich mich natürlich mit ihm gemeinsam an. Mehr aus Langeweile denn aus wirklichem Interesse nahm ich die Umgebung in Augenschein, während wir uns langsam dem Ziel näherten. Dabei bemerkte ich mit dem geschulten Blick des BND-Agenten zwei Typen, die sich verdächtig verhielten. Sie wirkten sehr nervös und drückten sich in der Nähe der Achterbahn herum, an der wir gerade in der Monsterschlange standen. Schon vom Aussehen her hätte ich sie als Syrer eingeschätzt – ihre Sprache bestätigte diesen Eindruck. Was mich stutzig machte, war ihre Kleidung, die nicht wirklich dem warmen Wetter angemessen schien. Ich informierte Timo und bat ihn, mir den Platz in der Schlange freizuhalten. Daraufhin stahl ich mich gekonnt aus der Reihe und näherte mich ohne Eile den beiden Gestalten in dicken Lederjacken. Sie bemerkten mich erst, als ich ganz nah hinter ihnen stand.

„Na, schöner Tag zum Sterben?“, raunte ich auf Arabisch.

Die Augen der beiden wurden groß. Einer griff in Richtung des Auslösers, der seinen Sprengstoffgürtel zünden sollte. Abgesehen davon, dass es dank meiner Entschärfungstaktik nichts mehr auszulösen gab, erreichte seine Hand ihr Ziel nie. Ebenso wenig wie die des zweiten Mannes es schaffte, das Butterflymesser aus der Tasche zu ziehen. Von den umstehenden Menschen bekam niemand mit, was geschah. Für sie sah es so aus, als würde ich zwei alte Bekannte begrüßen und mit ihnen Arm in Arm davonspazieren.

Die beiden sagten kein Wort. Sie schienen irgendwie starr vor Angst, als ich sie vor mir her durch die vielen Besucher in Richtung Ausgang schob. Mein Plan sah vor, sie bei einem Wachmann abzusetzen und zu Timo zurückzukehren. Aber etwas an den Männern kam mir seltsam vor. Die Art, wie sie mich aus den Augenwinkeln ansahen ... Nun, wo ich sie von ihrem Plan abgehalten hatte, schienen sie noch viel angsterfüllter als vorher. Das machte mich ebenso misstrauisch wie die Tatsache, dass sie nicht mal wissen wollten, wer ich war. Also gingen wir nicht besonders weit, nur bis zum nächsten Toilettenhäuschen, in das ich sie freundlich aber bestimmt dirigierte. Ihr Zögern beim Eintreten gab mir die Gewissheit, dass wir beobachtet wurden.

Es sind Agenten.

Timo, der sich wie üblich in meine Gedanken eingeklinkt hatte und durch meine Augen sah, war mit seiner Schlussfolgerung mal wieder schneller gewesen als ich. Bei der routinemäßigen Durchsuchung meiner Begleiter nach Wanzen und sonstigen Dingen war ich genau bei seinem gedanklichen Beitrag fündig geworden.

Du hast recht. Bleibt mir noch Zeit für ein Interview?

Nein, ich bin gleich dran! Und ich möchte um Himmelswillen nicht alleine in diese Höllenmaschine steigen ... Komm lieber zurück! Du kannst sie dir später vornehmen.

Ich hörte, wie mein Freund versuchte, einige Leute vorzulassen. Er redete sich damit heraus, dass sein sehender Begleiter noch nicht da sei. Aber anscheinend wollte niemand seinen Einwand hören. Er wurde einfach weitergeschoben. Deshalb kettete ich die beiden Pseudo-Syrer mit meiner Vorstellung aneinander und ziemlich gut an der Wand fest, entschuldigte mich bei ihnen auf Englisch für die Unannehmlichkeiten, vertröstete sie auf später und machte mich schleunigst auf den Weg zur Achterbahn. In der knappen Minute, die ich brauchte, um dort anzukommen, hatte ich bereits einen direkten Weg zum Einstieg ausgekundschaftet und beschritt ihn, ohne besonders viel Rücksicht auf das Parkpersonal zu nehmen.

Beeil dich, ich muss jetzt einsteigen, auch noch ganz vorne!

„Mist!“, fluchte ich lautlos. „Vielleicht musst du doch alleine fahren – ich bin zwar fast da, aber es sind hundert Leute zwischen uns – oder der gesamte Zug.“

Oha, der Bügel rastet nicht ein ... SIMON!

Der Hilfeschrei ging mir durch Mark und Bein.

„Keine Sorge, ich lass dich schon nicht abstürzen“, beruhigte ich ihn. Ein Teil von mir nahm neben ihm im Wagon Platz, während der Rest sich aufmerksam umsah. Derjenige, der Timos Sitz manipuliert hatte, musste sich noch in der Nähe befinden!

Schon wurde die Abschussvorrichtung des Zuges auf maximale Spannung gebracht. Wir beschleunigten in dreieinhalb Sekunden auf gut zweihundert km/h.

„Das ist irre!“, kreischte Timo lachend, als wir in den senkrechten Steilflug auf über hundertdreißig Meter und den riesigen Looping übergingen. Diese Aktion hätte er auch ohne mein Eingreifen überlebt, nicht jedoch die darauf folgenden Korkenzieherdrehungen, die ihn dank der unauffälligen Fehlfunktion seines Überrollbügels aus dem Wagen katapultiert hätten. Die Fahrt dauerte nur eine Minute. Während der gesamten Zeit bemühte ich mich darum, Timo zu schützen, die Drahtzieher dieser ungeheuerlichen Aktion zu finden und gleichzeitig nicht aufzufallen. Leider bemerkte mich einer der Männer vom Sicherheitspersonal, an dem ich soeben erst vorbeigestürmt war. Er kam in dem Moment auf mich zu, als es interessant wurde. Der Typ setzte zu einer Moralpredigt an, doch ich hob bloß die Hand und bedeutete ihm zu schweigen.

„Kennen Sie diesen Mann dort?“, fragte ich und deutete auf den Kerl in der Arbeitskluft der Fahrgeschäftmitarbeiter, der meinem Freund soeben aus dem Wagen half.

„Nein, aber Sie!“, erwiderte der Angestellte anklagend.

„Bevor Sie sich jetzt aufregen – ich entschuldige mich für mein Verhalten vorhin. Dieser Kerl dort drüben hat soeben den linken vorderen Überrollbügel an Ihrem Zug manipuliert. Mein blinder Freund hat bei der letzten Fahrt auf dem Platz gesessen und Todesängste ausgestanden – er wäre um ein Haar abgestürzt! In diesem Moment ist der Mann dabei, den angerichteten Schaden wieder rückgängig zu machen. Um den sollten Sie sich besser kümmern.“

„Woher wollen Sie ... He, warten Sie!“, rief er mir nach. Ich war schon bei Timo und wir drängelten uns ein wenig vor, um Abstand zu den Parkangestellten zu gewinnen.

„Etwas extrem Seltsames passiert hier“, sagte ich tonlos. „Es kommt mir vor wie ein extra für mich arrangiertes Bühnenstück oder wie ein Test ... Bin mal gespannt, ob ich bestanden habe oder durchgefallen bin.“

Oder was im dritten Akt angesagt ist!

Mittlerweile hatte ich drei Beobachter ausgemacht sowie einen Menschen, der fasziniert vor mehreren Bildschirmen hockte und derweil per Handy mit einem Unbekannten sprach. Zwei Monitore zeigten die Kameras, die den Park überwachten. Sie waren so eingestellt, dass mein Freund und ich deutlich zu erkennen waren. Auf einem dritten lief soeben die Wiederholung der Achterbahnfahrt mit Timo in Spitzenposition, ein weiterer zeigte das obligatorische Bild von ihm, das automatisch bei der Fahrt von jedem Gast gemacht wurde. Sein Gesicht wirkte durch die mörderische Beschleunigung etwas verzerrt, ansonsten jedoch durchaus happy, regelrecht verzückt.

Als wir bei der nächsten Kamera vorbeikamen, blickte ich deshalb bewusst auf, lächelte freundlich und winkte. Der Mann am Telefon verstummte, als er dies bemerkte und meinte, er würde sich später wieder melden. Dann öffnete er die Tür des Transporters, in dem er saß, um sich misstrauisch umzusehen. Da wir uns noch mehrere hundert Meter von dem Parkplatz entfernt befanden, auf dem sein Fahrzeug stand, war seine Aktion ziemlich sinnlos. Ich dachte auch gar nicht daran, ihm sofort auf die Pelle zu rücken. Zunächst besuchten wir nämlich die beiden Toilettenbesetzer, die es trotz Verstärkung bisher nicht geschafft hatten, sich zu befreien. Ich fand es schon bemerkenswert cool, dass einer ihrer Retter mit einer kleinen Metallsäge aufgekreuzt war und sich damit an den gedachten Handschellen zu schaffen machte. Diese Leute legten eine derartige Routine im Umgang mit meinen gegenständlichen Vorstellungen an den Tag, dass ich mir sicher war, es mit absoluten Profis zu tun zu haben, die ihre Hausaufgaben gründlich gemacht hatten. Allerdings hatte ich den Mann im Lieferwagen vermutlich eiskalt erwischt, da er sich außerhalb meines Aktionsradius‘ wähnte. Manche Dinge ändern sich mit der Zeit und so ließ sich dieser Bereich mittlerweile bei Bedarf ziemlich erweitern.

Auch zwei meiner drei Observierer befanden sich über dreihundert Meter vom Geschehen entfernt, sie hatten starke Ferngläser dabei. Eigentlich sollte ich sie garantiert nicht entdecken. Der dritte war der Mann, der Timos Sitzplatz manipuliert hatte und uns nun in einigem Abstand folgte. Er wirkte ebenso nervös wie die beiden vorgeblichen Selbstmordattentäter, woraus ich schloss, dass er sich für eine persönliche Begegnung mit mir wappnete. Welche Horrorstorys mussten diese Menschen über mich gehört haben? Nun, das Versteckspiel war eindeutig vorbei und ich war meganeugierig, was die offensichtlich sorgfältig vorbereitete Aktion zu bedeuten hatte – und natürlich ebenso darauf, wie sie so genau geplant werden konnte, wo wir diesen Ausflug doch recht spontan unternommen hatten.

Timo und ich tauschten uns nur sehr kurz über unsere Spekulationen diesbezüglich aus, bis wir das verrammelte Toilettenhäuschen erreichten, an dem ein Schild mit der Aufschrift ‚gesperrt‘ hing. Vier Männer erwarteten uns drinnen, offensichtlich bereits auf unsere Ankunft vorbereitet. Dennoch sah ich in ihren Augen mehr als nur ein wenig Unsicherheit. Ich befreite die beiden Schauspieler von ihren unsichtbaren Ketten und sah sie erwartungsvoll an. Als niemand ein Wort sagte, hob ich eine Augenbraue und meinte spöttisch: „Bleiben wir zum Gespräch hier oder würdet ihr uns ein etwas netteres Ambiente dafür bieten, Jungs?“

Auf dem Weg zum Ausgang bekamen wir jede Menge schweigsame Gesellschaft. Keiner dieser Menschen trug eine Waffe – bis auf den Butterfly-Messer-Besitzer, bei dem ich davon ausging, dass das Utensil lediglich Teil seiner Tarnung darstellte. Ich wusste, dass ihnen klar war, wie unsinnig der Versuch von Zwang oder Gewalt wäre. Sie mussten auf meine freiwillige Mitarbeit hoffen. Der Lieferwagen mit dem technischen Schnickschnack parkte nun mitten auf dem Eingangsplatz und der Mann mit dem Handy stand breitbeinig davor. Niemand scheuchte ihn weg, was darauf schließen ließ, dass er zumindest im Besitz eines wichtigen Ausweises war.

Ich tippe auf die Regierung im Hintergrund.

Dem stimmte ich voll zu. Dennoch war ich ziemlich sauer. Schließlich hatten diese Menschen nicht nur mit dem Leben meines Freundes gespielt, sondern zudem scharfe Sprengladungen mit in den Park gebracht und somit zumindest theoretisch noch weitere Personen gefährdet.

Endlich stand ich vor dem offensichtlichen Kommandanten dieser Aktion. Obwohl sein Handykontakt sicherlich weitaus interessanter gewesen wäre, konnte er mir zumindest ein paar Antworten geben. Deshalb fragte ich ohne Umschweife: „Werden Sie wenigstens mit mir reden oder hat es Ihnen auch die Sprache verschlagen? Ihre Leute sind nicht nur lausige Schauspieler, sondern darüber hinaus ziemlich schüchtern. Irgendwer muss ihnen eingeredet haben, dass sie besser einen Heidenrespekt vor mir haben sollten, um nicht zu sagen mächtigen Schiss.“

Dabei wies ich hinter mich, wo mittlerweile sechs Männer und zwei Frauen verlegen von einem Bein aufs andere traten. Das brachte den Mann vor mir kurz zum Lachen. Er gab seine versteinerte, militärisch wirkende Haltung auf, ging auf uns zu und schüttelte erst mir und dann Timo die Hand.

„Willkommen in den Vereinigten Staaten“, begrüßte er uns und nickte einem seiner Mitarbeiter bestätigend zu. Dieser wandte sich an die übrigen Anwesenden. Sein Befehl zum Wegtreten der Truppe klang irgendwie erleichtert. Die kleine Versammlung zerstreute sich rasch, bis wir allein mit dem Boss waren. Er schien im Gegensatz zu seinen Untergebenen nicht zu befürchten, dass wir ihm irgendwas antun könnten, sondern wirkte sehr souverän und professionell. Vermutlich war diese spektakuläre, speziell für Timo und mich geplante Show auf seinem Mist gewachsen.

„Steigen Sie ein.“ Mit diesen Worten öffnete er uns einladend die hintere Schiebetür des Fahrzeugs. Ich zögerte.

„Worauf warten Sie?“, fragte der Amerikaner freundlich. „Wir möchten nur mit Ihnen reden, das ist alles. Zur Sicherheit behalten wir die Familie Ihres Freundes gut im Auge, sodass es völlig gleich ist, ob er uns begleitet oder sich zu Frau und Tochter ins Hotel begibt. Dorthin haben wir die beiden mittlerweile nämlich gebracht, um ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.“

Aha. So lief das also!

Kacke. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt ...

Ich stimmte meinem Freund aus tiefstem Herzen zu, unterdrückte genau wie er die aufwallenden Emotionen.

„Sie wissen, dass ich morgen einen Termin im Weißen Haus beim Präsidenten habe?“, bemerkte ich, während Timo mit völlig unbewegtem Gesicht vor mir in den Transporter kletterte, um sich auf die angebotene Bank zu setzen. Unser Gastgeber blickte mich kurz an, schob von außen die Schiebetür zu und schwang sich vor uns in den Fahrersitz.

„Selbstverständlich“, nickte er dabei. „Unser Staatschef lässt Ihnen ausrichten, dass er die Unannehmlichkeiten bedauert, aber er räumt Ihrem Treffen mit uns höchste Priorität ein. Dafür zeigte er sich gern bereit, sein persönliches Gespräch mit Ihnen noch ein wenig zu verschieben.“

Ich atmete tief durch, um weiterhin ruhig zu bleiben, und fragte dann wie beiläufig: „Wer sind Sie und was zum Kuckuck sollte diese alberne Aktion eben?“

„Mein Deckname lautet Wolf. Ich bin Major einer streng geheimen Spezialeinheit, die unmittelbar dem Weißen Haus untersteht und Aufträge mit höchster Brisanz durchführt. Unsere Leute gehören zu den am besten ausgebildeten Spezialisten der Welt und wir rekrutieren nur absolute Profis. Der kleine Test gerade beweist mir, dass Sie eindeutig dieser Kategorie zugeordnet werden müssen. Sie haben unsere Erwartungen hinsichtlich Effektivität und Diskretion bei der Problemlösung nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen.“

„Und bei diesem Test war die Möglichkeit meines Ablebens einkalkuliert?“, knurrte Timo.

„Ein gewisses Restrisiko bleibt bei solchen Feldstudien unter realen Bedingungen immer“, bestätigte Wolf, indem er meinen Freund durch den Rückspiegel fixierte. „Sie sind wirklich blind, oder?“

„Welche Antwort erwarten Sie jetzt von mir?“, gab mein Sitznachbar eisig zurück. Ich fühlte seine Wut auf diesen Typen und konnte ihn voll verstehen.

Er wusste, dass ich dich irgendwie retten würde, beruhigte ich ihn, legte ihm zusätzlich die Hand auf die Schulter. Laut sagte ich: „Sie wissen, dass Sie sich mit solchen gefährlichen Experimenten bei uns nicht sonderlich beliebt machen.“

Der Mann vor uns nickte seufzend. „Ich dachte mir, dass Sie es nicht so gut aufnehmen. Aber zumindest wollten wir die Frau und das Mädchen dabei außen vor lassen. Die Aktion hätte eigentlich bereits gestern in Disneyland stattfinden sollen. Da Sie sich dort jedoch nicht für eine Minute getrennt haben, blieb uns nur diese Ersatzlösung.“

„Woher wussten Sie, dass wir hier sein würden?“, hakte ich interessiert nach.

Internet, erklang Timos spontaner Kommentar hinter meiner Stirn. Ich schlug mir innerlich dagegen. Na klar! Wir hatten gestern Abend noch gegoogelt, um nach Ersatz für den entgangenen Achterbahnspaß zu suchen. Dabei waren wir auf diesen Park gestoßen und hatten die Tickets online gekauft. Die Wettervorhersage war sehr eindeutig gewesen. Ansonsten wären wir eben allein hergekommen und hätten die Mädels abends abgeholt. Per Überschalljet war es ein durchaus lohnendes Tagesausflugsziel.

„Wir haben uns erlaubt, die mobilen Medien zu überwachen, die Sie in ihren Hotelzimmern verwendet haben“, kam prompt die erwartete Antwort.

„Privatsphäre bedeutet Ihnen nichts, nehme ich an“, grummelte mein Freund, den dieses Geständnis nicht gerade besänftigte. Während des Gesprächs hatte ich aufmerksam die Route verfolgt und festgestellt, dass wir uns an der Küste entlang auf einen größeren Touristenort zubewegten.

Ich glaube, er will dich jetzt doch erst loswerden, stellte ich gedanklich fest.

„Immerhin besitzen Sie den Anstand, mich sofort zu meiner Familie zu bringen“, fügte Timo hinzu. Der Fahrer blickte erstaunt in den Rückspiegel. „So blind, wie es heißt, sind Sie anscheinend nicht.“

Trotz seiner gereizten Stimmung musste der Angesprochene schmunzeln. „Der Begriff ist relativ“, konterte er galant. „Ein Facharzt würde Ihnen Brief und Siegel darauf geben, dass meine Augen keinerlei Funktion haben. Aber es gibt andere Mittel und Wege der Wahrnehmung, und sei es über einen durchaus sehr hilfreichen sehenden Begleiter.“

Wolf schien sich an Dinge zu erinnern, die er zwischenzeitlich vergessen hatte und nickte. Kurz darauf bogen wir bei einem Nobelhotel ab und brachten meinen Gefährten zur Rezeption. Der Portier wusste anscheinend Bescheid und kümmerte sich sofort darum, dass Timo zum Aufzug geleitet wurde.

„Mach’s gut – ich hoffe mal, bis später.“

Damit verabschiedete ich mich und folgte Wolf zurück zum Wagen. Wir fuhren nur noch ein kurzes Stück bis zu einem einsam gelegenen Platz, an dem ein Hubschrauber auf uns wartete. Anscheinend hatten meine Gastgeber wirklich an alles gedacht. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung bedeutete mir der Major umzusteigen und begrüßte seinerseits den Piloten, während er sich neben ihn setzte. Ich machte es mir auf dem Rücksitz gemütlich und lauschte zunächst einmal dem Gespräch, das über Kopfhörer geführt wurde. Da ich selbst keinen erhalten hatte, nahm ich an, dass dies entweder ein weiterer Test meiner Fähigkeiten sein sollte oder die Unterhaltung mich nichts anging. Letzteres schied eigentlich aus. Der Pilot, der offenbar genaustens in den Plan eingeweiht war, erhielt nur eine detaillierte Schilderung aller Ereignisse im Park.

Als der Erzähler fertig war, mischte ich mich deshalb mit leicht unterkühltem Tonfall ein.

„Weiß mein Chef, dass Sie dabei sind, mich für Ihre Sondereinsatztruppe zu rekrutieren?“

Die beiden zuckten lediglich kurz zusammen, als sie meine Stimme durch die Kopfhörer vernahmen.

„Nun ja ... noch nicht“, gab Wolf schließlich zu. „Das offizielle Angebot zur Zusammenarbeit sollte eigentlich erst nach dem Gespräch mit dem Präsidenten erfolgen. Aber ein guter Bekannter gab mir den Tipp mit dem Feldversuch und meinte, dass wir Sie auf diese Weise viel schneller und gründlicher kennenlernen würden. Auch wenn es mir persönlich zunächst ziemlich rabiat erschien, muss ich ihm im Nachhinein recht geben.“

„Dürfte ich den Namen Ihres Kontaktmanns erfahren?“

„Er wollte lieber nicht genannt werden.“

„Aha.“

Die Aussage bekräftigte meinen Verdacht bezüglich der Identität dieses ‚guten Bekannten‘, mit dem ich genug unangenehme Erinnerungen verband.

„Bestellen Sie ihm schöne Grüße von mir und richten Sie ihm aus, dass er immer noch ein Arschloch ist. Vielleicht besuche ich ihn bei Gelegenheit in seinem Sandloch, um mich für die Nettigkeit dieses Tipps zu bedanken.“

Das Schweigen der beiden Männer vor mir war beredet genug, um zu wissen, dass ich mit meiner Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte. Schließlich waren wir an unserem Ziel angelangt – eine militärische Basis mitten in einem ausgedehnten Waldgebiet. Hier gab es einen Übungsplatz mit Trainingshindernissen, ein Areal für Schießübungen, Gebäudeteile sowie alte Fahrzeuge zur Simulation von Terroreinsätzen, Geiselnahmen und Ähnlichem.

„Ziemlich cooles Gelände“, befand ich anerkennend.

„Das ist längst nicht alles“, bemerkte der Major lächelnd.

„Oh, es gibt noch mehr außer drei unterirdischen Trainingshallen, zwei Waffenkammern – eine davon gut versteckt – drei Schulungsräumen, zwei Labors, etlichen Quartieren, einem Mannschaftsraum, einer Kantine, diversen Büros und einem Raum, die mit Technik vollgestopft ist? Erinnert mich irgendwie an unser altes BND-Hauptquartier in Pullach, nur moderner eingerichtet.“

Der Pilot, der bislang kein Sterbenswort mit mir gewechselt hatte, bekam plötzlich einen stummen Lachanfall. Er zeigte mir den Daumen hoch und kicherte: „Ich glaub, die Geländeführung kannst du dir sparen, Wolf.“

Mittlerweile waren wir gelandet und wurden von mehreren Soldaten in Tarnkleidung empfangen, die beim Anblick ihres Chefs strammstanden. Auch der Pilot stieg aus, begleitete uns ins niedrige Gebäude, das mit Tarnnetzen und durch die Bauweise recht gut vor neugierigen Blicken von oben geschützt war.

Eins muss man ihnen lassen, meldete sich Timos Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort. Sie sind perfekt ausgestattet und organisiert. Da könntest du dich eigentlich mal richtig austoben.

 

2.

 

Die Amerikaner schienen eine Vorliebe für unterirdisch angelegte Großprojekte zu haben. Dieses hier kam mir wesentlich bodenständiger vor als das letzte, das ich besichtigen durfte. Die Menschen, die ich traf, wirkten heiter und ausgeglichen. Es stimmte mich selbst fröhlicher. Etwas von meinem Misstrauen gegenüber Wolf schwand angesichts der guten Stimmung, die in dem Camp herrschte.

Der Major führte mich nicht großartig herum, sondern sofort zu den wichtigen Leuten, denen er mich vorstellen wollte. Zu meiner größten Überraschung war ein alter Bekannter darunter, den ich an diesem Ort am wenigsten erwartet hätte.

„Hallo Sam, mein Freund!“, begrüßte ich ihn freudig. Er empfing mich mit einem breiten Grinsen.

„Wusste ich doch, dass du kommst. Na, was sagst du zu meinem neuen Job? Ich bin für die Überwachungs- und Kommunikationstechnik zuständig. Offenbar befand man mich für würdig, diesem speziellen Verein hier beizutreten, obwohl es wahrscheinlich nicht unbedingt meine herausragenden Fähigkeiten als Techniker sind, die sie dazu bewogen haben.“

„Was sonst?“, überlegte ich scheinbar angestrengt. Dann schnipste ich mit den Fingern und rief: „Ich hab’s! Sie glauben, dass du mich kennst und ihnen deshalb irgendwie nützlich sein wirst. Aber vielleicht sollten wir mit diesem Irrtum gleich an Ort und Stelle aufräumen.“

„He, he!“ Der ehemalige NASA-Mitarbeiter hob mit einem typischen Verschwörer-Funkeln in den Augen beschwichtigend die Hände. „Du lässt meine ganze Tarnung auffliegen! Die schmeißen mich hochkant raus, wenn sie merken, dass alles nur ein Bluff ist und ich doch nicht der Experte bin, für den sie mich halten.“

Wolf dirigierte mich weiter zu einem der Labors, in dem gleich mehrere Menschen versammelt waren. Der Major stellte einen davon als Professor Koutalis vor, einen als Doktor Wang und die einzige Frau als Doktor Lewis. Sam, der uns begleitet hatte, wurde ebenfalls vorgestellt.

„Zwei dieser drei Fachleute sind kurzfristig unsere Gäste“, erklärte der Kommandant. „Es schien uns am zweckmäßigsten, sie hierher einzuladen, um möglichst viele Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Dr. Lewis leitet unser humanmedizinisches Labor. Sie ist mit ihrem Assistenten sowohl für die Gesundheit und medizinische Versorgung des Teams zuständig als auch für die Erforschung neuer Mittel und Wege zur Behandlung von Verletzungen, wie sie typischerweise bei unseren Einsätzen auftreten. Knochenbrüche, Bänderrisse, Prellungen, Schnitt- und Schussverletzungen sind ihr Spezialgebiet. Doktor Wang ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Hirnforschung, Schmerztherapie und Hirnchirurgie. Professor Koutalis hingegen befasst sich mit dem Phänomen, das uns bei Ihnen natürlich brennend interessiert – er beschäftigt sich eingehend mit den sogenannten paranormalen Fähigkeiten des Menschen.“

Bei Erwähnung dieser Profession entfuhr mir ein unwillkürliches Geräusch. Ich musste mich dazu zwingen, ihm wie den beiden übrigen Studierten die Hand zu reichen.

„Keine Sorge, ich bin mehr als Beobachter hier“, beruhigte er mich lächelnd. „Wir wissen alle um Ihre traumatischen Kindheitserlebnisse in dieser Richtung und möchten Ihnen sicherlich nicht zu nahe treten. Ich denke, dass eine genauere Untersuchung Ihrer Fähigkeiten weder nötig noch überhaupt möglich sein wird. Schätzungsweise sprengen Sie jede bekannte Skala, ohne sich dabei anzustrengen. Aber vielleicht habe ich später ein paar Fragen an Sie, falls es Ihnen nichts ausmacht, sie mir zu beantworten.“

Der Mann wirkte total sympathisch, ebenso wie die beiden Mediziner. Deshalb fiel es mir hernach wesentlich leichter, freundlich zu ihm zu sein. Ich fragte mich, warum der Gehirnchirurg hier war und stellte diese Frage auch laut.

„Ist das nicht offensichtlich?“, lächelte Wang. „Wir sind alle unheimlich gespannt zu erfahren, wie Sie Ihre Wunderdinge bewerkstelligen. Die einzige Antwort darauf – sofern es überhaupt eine gibt, die wir erfassen können – liegt vermutlich in Ihrem Kopf. Nun, ich bin prädestiniert dafür, die Anzeichen für ungewöhnliche Aktivitäten in Ihrem Hirn zu finden. Und da Sie als Versuchsobjekt wundervolle, bisher nie erträumte Möglichkeiten bieten, wäre es mir eine große Freude und auch eine persönliche Ehre, Sie eingehend untersuchen zu dürfen.“

Erstaunt blickte ich die Versammelten an und wandte mich an Sam. „Hast du Ihnen das mit den ‚wundervollen Untersuchungsmöglichkeiten‘ erzählt?“

Mein Bekannter sah mich irritiert an. „Aber Simon – das ist doch logisch! Wir alle kennen deine Geschichte aus zwei Büchern, die du selbst verfasst hast. Übrigens ziemlich beeindruckende Werke ...“

„Zwei? Aber das zweite ist noch gar nicht im Handel! Wie ...“ Ich verstummte. Etwas äußerst Unheimliches ging hier vor. Die Anwesenden starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Selbst Timo konnte sich keinen Reim darauf machen, obwohl seine Logik sonst unfehlbar war.

Ich muss mal schnell was nachgucken, bekam ich mit, bevor er sich ausklinkte.

Ich atmete tief durch, konzentrierte mich wieder auf das naheliegende Geschehen. Wie auch immer diese Leute vorab von dem Manuskript erfahren hatten, es erklärte eine Menge. Beinah verdächtigte ich meine Eltern oder Susanna, die Testleser gespielt hatten. Timo brauchte ich das Werk nicht lesen zu lassen, da er den Schreibprozess größtenteils begleitet und mir dabei bereits oft Tipps gegeben hatte. Ich war sicher, dass er mir eine Weitergabe des Textes nicht hätte verheimlichen können. Selbst wenn – seine Verblüffung über die Enthüllung gerade war völlig echt gewesen.

Aber all dies spielte momentan nur eine sehr untergeordnete Rolle, da eine noch unbeantwortete Frage im Raum stand, die mich emotional ein wenig aus der Bahn zu werfen drohte. Dr. Lewis sah mich mitfühlend an.

„Wenn Ihnen das jetzt zu plötzlich kommt oder Sie die Befürchtung haben, dass es zu unangenehm für Sie wird, dann sagen Sie es bitte! Wir möchten Sie auf keinen Fall zu etwas drängen, das Sie in körperliche oder emotionale Schwierigkeiten bringt.“

Ich schüttelte langsam den Kopf. Mittlerweile hatte ich den Schock über das ungeahnte Wissen meiner Gesellschaft verdaut und arrangierte mich mit dem Gedanken daran. Die Fragen nach dem Woher konnte sicherlich noch warten, da sie momentan völlig irrelevant schien. Mir war klar, was diese Leute von mir wollten. Die ‚eingehende Untersuchung‘ bezog sich auf mein Gehirn und war hundertprozentig wörtlich gemeint. Da sie wussten, dass sie keinen wirklichen Schaden anrichten und mir nicht einmal körperliche Schmerzen zufügen konnten, würden sie sich nicht damit zufriedengeben, winzige Löcher in meinen Schädel zu bohren und Sonden reinzustecken. Nüchtern betrachtet war dieses Vorhaben nicht weiter schlimm. Lediglich meine negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit ließen mich davor zurückschrecken. Andererseits lag etwas Faszinierendes in dem Gedanken, dass meine Fähigkeiten sich irgendwie körperlich äußern oder irgendeine physisch messbare Wirkung entfalten könnten. Praktisch hatte es keinerlei Bedeutung für mich. Aber der Physiker in mir hatte immer schon nach physikalischen Lösungen gesucht, vor allem dort, wo es keine zu geben schien. Also seufzte ich kurz und hörte mir an, wie der Plan aussah.

„Zunächst würde ich gern eine routinemäßige physiologische Untersuchung durchführen“, begann die Ärztin.

Ich schüttelte den Kopf. „Eine Prüfung meiner körperlichen Funktionstüchtigkeit bringt Ihnen im besten Fall die Erkenntnis, dass ich völlig gesund bin. Ich dachte, Sie wollten schnell wieder nach Hause. Ich möchte hier zumindest keine unnötige Zeit vergeuden. Also beschränken Sie sich bitte auf die Dinge, die Ihnen wirklich am Herzen liegen.“

Die Frau schien nicht begeistert von meiner Antwort, aber sie verkniff sich nach einem Blickwechsel mit Dr. Wang weitere Kommentare dazu. Ihr männlicher Kollege fuhr fort: „Dann würden wir sofort zu Schritt zwei kommen – ein kurzer Test Ihrer regenerativen Fähigkeiten. Wir möchten uns verständlicherweise davon überzeugen, dass die Aussagen über Ihre Heilkräfte nicht übertrieben sind und Sie tatsächlich so wenig Schmerz empfinden, wie wir gehört haben. Natürlich wäre es schön, einmal die Gelegenheit zu nutzen, um eher zu vivisezieren als zu operieren, aber verlangen kann ich das selbstverständlich nicht von Ihnen.“

Allein das Wort ‚vivisezieren‘ hörte sich in meinen Ohren unangenehm an.

„Welche Vorteile hätte diese Methode denn für Ihre Arbeit?“, erkundigte ich mich etwas nervös.

„Genau weiß ich es ehrlich gesagt nicht“, gab Wang zu. „Ich habe ja keine Ahnung, was ich finden werde, aber es ist eine Sache, Werte mit Sonden zu messen und durch Kameras zu beobachten und eine ganz andere, die Dinge direkt anzusehen, sozusagen live dabei zu sein. Das geht natürlich nur, wenn die Wunderdinge, die über Sie erzählt werden, den Tatsachen entsprechen. Und das muss ich wirklich mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.“

Ich kämpfte einen Augenblick lang gegen meinen inneren Schweinehund an, der mir riet, die Wissenschaftler zum Teufel zu schicken und auf der Stelle zu meinen Freunden zurückzufliegen. Wozu brauchte ich solche Untersuchungen? Mein Körpergefühl, das eigentlich hundertprozentig verlässlich war, sagte mir, dass mit meinem Gehirn alles in Ordnung war und sie dort so wenig Besonderes finden würden wie am Rest dieses Körpers. Seine Eigenheiten offenbarten sich nicht bei kurzfristigen Tests – es sei denn, ich griff bewusst in die Abläufe ein, die natürlicherweise stattfanden. Das Einzige, was fehlte war die Neubildung von Zellen.

Dann jedoch sah ich in die hoffnungsvollen Gesichter, dachte daran, dass diese Menschen extra wegen mir den eventuell ziemlich weiten Weg auf sich genommen hatten. Sie waren mir sympathisch, wohlgesonnen und schienen ein ehrliches Interesse an den Untersuchungen zu haben. Also riss ich mich zusammen und stimmte zu – mit dem Gefühl, ein heldenhaftes Opfer für die Wissenschaft zu bringen. Anschließend wandte ich mich an Sam, der noch immer schweigend neben Wolf im Raum stand. Mein Freund wirkte etwas blass, dennoch gefasst.

„Ich schätze, dass du jetzt lieber wieder an deine Arbeit gehst“, meinte ich zu ihm. „Ungern würde ich dabei helfen, alte unerfreuliche Erinnerungen zu wecken…“

Aber Sam lächelte tapfer. „Weißt du, ich wurde extra herbestellt, um bei dir zu bleiben, damit du wenigstens ein bekanntes Gesicht bei der Sache siehst. Vielleicht haben Sie Angst, dass du sonst zwischendurch Panik bekommst und ihnen irgendwas antust, dass du austickst oder etwas Unkontrollierbares geschieht. Schließlich wollen sie dir nicht nur Elektroden ankleben und ein EEG machen.“

„Ich weiß“, sagte ich leise. „Genau deshalb möchte ich, dass du gehst. Beim letzten Mal war die größte Folter für mich, dass du dabei zusehen musstest. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass es jetzt ein Vergnügen für dich darstellt, hier zu sein.“

„Du hast recht – ich wäre lieber woanders. Aber andererseits werden meine Albträume nicht besser, indem ich ihnen aus dem Weg gehe. Wir hatten bisher kaum Gelegenheit, über die Sache zu reden, und vor allem hatte ich in der Situation keine Möglichkeit, mit dir zu sprechen. Vielleicht wäre es mir gar nicht so wild vorgekommen, wenn ich zwischendurch erfahren hätte, wie es dir ging. So musste ich annehmen, dass du Höllenqualen durchleidest, die ich mir nicht annähernd vorstellen konnte. Verstehst du, was ich damit sagen möchte?“

„Du meinst, es könnte eine Art Desensibilisierung darstellen, eine Therapie gegen den Schock von damals?“

Ich fand den ehemaligen NASA-Mitarbeiter äußerst mutig.

„Nun ja, diesmal wird mich wohl niemand dazu zwingen, die ganze Zeit über hierzubleiben und zuzusehen. Soweit ich weiß, steht es mir jederzeit frei, den Raum zu verlassen“, erklärte Sam und blickte dabei Wolf an. Dieser nickte. „Selbstverständlich entscheiden Sie selbst, wie viel Sie vertragen. Das hatten wir doch ausdrücklich besprochen.“

Ich zuckte die Achseln. „Wie es dir beliebt. Wenn du bleiben möchtest, finde ich das in Ordnung – und es wäre wirklich schön, deine Gesellschaft noch etwas länger zu genießen. Ich hatte nur an dein Wohlbefinden gedacht.“

Während wir uns unterhielten, waren die Doktoren nicht untätig geblieben und hatten den Raum in ein OP-Zimmer verwandelt. Allerlei Gerätschaften waren nun neben der frisch mit einem sterilen Laken bezogenen Liege aufgebaut und betriebsbereit. Dr. Lewis näherte sich mir mit einer Injektion und einem Skalpell.

„Sie haben die Wahl“, meinte sie dann lächelnd.

Ich verzog gespielt angewidert das Gesicht. „Ich hasse Spritzen!“, sagte ich, nahm ihr das Teil sanft aus der Hand, ohne es zu berühren, formte aus der Nadel ein Herz.

Die Umstehenden lachten und applaudierten kurz. Dann wurden sie wieder ernst.

„Darf ich?“, fragte die Doktorin zögernd mit Blick auf ihr OP-Instrument. Ich nickte, setzte mich auf die Liege und hielt ihr den Arm hin. „Ich hoffe doch, dass Sie das machen.“

Schließlich fasste sie sich ein Herz und ritzte meine Haut am Unterarm ein wenig. Dabei sah sie mich so ängstlich an, dass ich lachen musste. „Ich dachte, Sie sind Ärztin. Führen Sie Ihre Operationen immer so zaghaft durch?“

Daraufhin stahl sich ein besonderes Funkeln in ihre Augen. Sie führte einen sauberen, tiefen Schnitt aus, der die Muskulatur des Unterarms freilegte. Wieder blickte sie mich an, während sie automatisch nach einem Tuch griff, um zu verhindern, dass meine Jeans mit Blut besudelt wurde.

„Ist es so besser?“, fragte sie kämpferisch. Keiner der Umstehenden sagte ein Wort, aber alle rückten ein wenig näher. Ich nickte und erwiderte ihren Blick freundlich. Dann ließ ich es zu, dass mein Körper die gewohnte Ordnung wieder herstellte – es geschah rasch, nahezu ohne bewusste Steuerung. Doktor Wang gab einen zischenden Laut von sich und ächzte: „Das ist unglaublich. Ich hätte nie gedacht ...“

Ich wandte mich zu ihm um. „Sofern das als Beweis genügt, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie schnell zu dem kommen würden, was Sie eigentlich vorhaben.“

Der Mann mit dem asiatischen Namen sah mich zweifelnd an. „Sind Sie sicher, dass Sie keine Betäubung wünschen? Nun, Sie können es sich noch immer überlegen.“

„Das brauche ich nicht zu tun, weil eine solche Behandlung leider absolut keine Wirkung bei mir zeigt.“

„Nun gut, wie Sie möchten. Ich werde jetzt Ihren Kopf kahlscheren, da die Haare uns im Weg wären.“

Er näherte sich mit einem elektrischen Haarschneider. Dieses Gerät blickte ich mit weitaus größerem Horror an als das Skalpell von Doktor Lewis.

„Muss das wirklich sein?“, fragte ich gequält.

Sam brach hinter mir in Gelächter aus. „Du lässt dich eher aufschlitzen, als dir die Haare schneiden? Das ist voll irre!“

„Du hast leicht reden“, verteidigte ich mich. „Weißt du, wie viele Haare du auf dem Kopf hast? Wenn du jedes einzelne davon ebenso spüren würdest wie deine Hautzellen, Nerven und Muskeln, dann wäre dir ihre Verstümmlung auch nicht gleichgültig.“

Ich sprach aus Erfahrung. Nur ein einziges Mal hatte ich nach meinem ‚Update‘ vor viereinhalb Jahren versucht, mir eine neue Frisur zuzulegen. Aber es war ein ziemlich unangenehmer Versuch gewesen, den ich bereits wenige Minuten später wieder aufgegeben hatte. Der Satz ‚wer schön sein will, muss leiden‘ hatte mit diesen Problemen eine völlig neue Dimension erhalten. Ich musste nicht schön sein, ganz und gar nicht. Rund hundertvierzigtausend einzelne Haare, genauer gesagt hundertdreiundvierzigtausendvierhundertneunundzwanzig dieser Hornfäden zieren noch heute mein Haupt. Sie wachsen nicht, fallen nicht aus und protestieren jedes für sich bei grober Behandlung.

Die beiden Doktoren schienen mein Anliegen zu verstehen, auch wenn sie es natürlich nicht wirklich nachvollziehen konnten. Sie berieten sich kurz und meinten dann, sie würden nur den notwendigen Teil der Haare entfernen. Erleichtert machte ich mich bereit für die ‚eingehende Untersuchung‘ von Dr. Wang.

Dein Buch wurde übrigens schon vor zwei Monaten herausgegeben, eröffnete mir Timo in dem Moment, als ich mich bereits in der horizontalen Position befand. Ich ächzte innerlich, beschloss aber, diesem unverständlichen Phänomen später nachzugehen, da die beiden Ärzte hinter mir anfingen, aktiv zu handeln. Insgesamt war die Prozedur weniger unangenehm als befürchtet, obgleich ich wie inzwischen bereits gewohnt jede Einzelheit daran spürte. Dabei spielte es keine Rolle, ob Dr. Wang meinem Schädel ein großzügiges ‚Fenster‘ verpasste oder ob er im Gehirn herumstocherte, Teile daraus entfernte, um an darunterliegende heranzukommen, und empfindliche Geräte irgendwo anschloss. Dies lag vor allem daran, dass ich ständig durch die Dinge abgelenkt wurde, die der Professor von mir verlangte. Er wollte, dass ich etwas durch den Raum trug, berichtete, was im Flur vor sich ging, ihm die Hand schüttelte, einen meiner berühmten bequemen Sessel für ihn erdachte und noch vieles mehr. Auch Sam forderte mich heraus – vor allem meine Lachmuskeln, indem er mir alte Geschichten aus dem Weltraum erzählte oder Anekdoten von seinen beiden Söhnen, die mittlerweile große Fans von mir waren. Es war nicht ganz leicht, trotzdem stillzuhalten, und es gelang mir nur mit eiserner Disziplin und Körperbeherrschung. Schließlich bat ich ihn, damit aufzuhören, da es mörderanstrengend wurde. Je weiter die beiden Mediziner in mein Hirn vordrangen, desto schwieriger wurde es, mich zu konzentrieren und Koutalis‘ Forderungen nachzukommen. Dr. Wang erreichte mein Sprachzentrum und es fiel mir zunehmend schwerer, Worte klar zu formulieren. In diesem Moment hörte ich in meinem Kopf eine bekannte Kinderstimme.

Ring, ring!

Hi, Zoey, was gibt’s?

Erzählst du mir eine Gutenachtgeschichte? Mama sagt, dass du noch weg bist, aber ich kann nicht einschlafen!

Ist grad ungünstig, Schatz. Sonst immer gerne, momentan kann ich nur nicht so klar denken ...

Oooch, schade! Geht’s dir nicht gut? Es fühlt sich so komisch an, wie du redest.

Es ist alles in Ordnung, nur nicht der passende Moment für Geschichten. Später vielleicht. Gute Nacht, Spatz!

Dann gute Nacht, Simon!

Hinter mir hörte ich zwei Menschen scharf einatmen.

„Was war das eben?“, fragte mich Doktor Wang aufgeregt.

„Das war mein Patenkind“, murmelte ich verwaschen. „Sie wollte eine Gutenachtgeschichte von mir hören. Hab ihr gesagt, dass es jetzt nicht passt.“

„Sie hatten mentalen Kontakt?“, vernahm ich Koutalis‘ verzückte Stimme. „Oh, das ist wunderbar!“

„Ich befürchte, ich werde Sie nicht mehr lange mit meiner Anwesenheit hier beehren können“, nuschelte ich unter großer Anstrengung, die Laute einigermaßen verständlich herauszubringen.

„Oh nein – wird es zu viel für Sie? Ich kann die Experimente jederzeit abbrechen, Sie müssen lediglich Bescheid sagen ...“

Die Stimme des Doktors schien sich immer weiter zu entfernen. Leider schaffte ich es nicht, ihm zu antworten, da sich mein Geist in diesem Augenblick vollständig löste. Der Kopf war halt empfindlicher als der Rest, der schon wesentlich mehr ertragen hatte.

 

Wie immer empfand ich im ersten Moment große Erleichterung, da das Gefühl der Zerstörung und Unordnung fort war. Ich ignorierte das Licht, das mich lockte und sah den beiden Medizinern zu, so wie ich es die ganze Zeit über schon getan hatte. Ohne die Verbindung zu diesem Körper war es eine völlig andere Erfahrung – als läge dort jemand, den ich kannte. Die Doktoren starrten zunächst fassungslos auf die Null-Linie meines Herzschlags und schienen wie gelähmt. Sam beruhigte sie mit den Worten: „Sie wissen, dass er nicht wirklich tot ist. Wenn Sie noch etwas zu Ende bringen möchten, tun Sie es einfach. Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit damit. Ich schätze, das würde ihm nicht so gut gefallen. Vielleicht regeneriert er sich gleich wieder.“

Das besänftigte die beiden Akteure. Sie fuhren fort, in meinem Kopf herumzustochern. Diesen Anblick ertrug ich nicht lange. Deshalb begann ich, mich in dem Raum umzusehen, der für mich nun völlig anders aussah als vorhin. Es gab lauernde Schatten, Dinge, die sich bewegten und die Tür waberte, als wäre sie eine Fata Morgana. Indem ich auf dieses interessante Phänomen zuging, veränderte sich etwas um mich. Die Menschen schienen sich rückwärts zu bewegen. Erst langsam, dann immer schneller, wie bei einem Film, der zurückgespult wurde. Nach nur wenigen zurückgelegten Zentimetern war der Raum völlig leer und düster. Zögernd bewegte ich mich weiter und es wurde hell, dunkel, kurze Schemen zeugten davon, dass in den Hellphasen jemand anwesend war, aber es ging so schnell vorbei, dass der Effekt wie bei einer Stroboskoplampe wirkte. Je näher ich der Tür kam, desto rasender wurde das Spiel mit Licht und Schatten, bis alles in einem Wirbel verschwamm. Mir wurde leicht schwindlig vom Zusehen. Etwas trieb mich dennoch vorwärts – ich wollte diese Tür unbedingt erreichen und sehen, was dahinter lag. Es gelang mir fast, den Griff zu fassen. Nur Zentimeter davor wurde meine imaginäre Hand von einer unwiderstehlichen Kraft zurückgehalten.

Langsam drehte ich mich um und befand mich erneut in dem Kühlraum, in dem ich vor knapp fünf Jahren zu neuem Leben erwacht war. Vor mir lag mein unversehrter Körper in der Schublade, die eine Frau soeben aufgezogen hatte. Sie schrie hell auf. Das war das Letzte, was ich sah, bevor mich ein ungeheuerlicher Sog erfasste und mit Macht zurückzog. Das Bild verschwand und wurde durch einen erneuten Wirbel aus Licht und Dunkelheit ersetzt.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich neben mir selbst. Die beiden Ärzte schienen mit ihrer Untersuchung fertig und mit ihrem Latein am Ende.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Dr. Lewis mit Tränen in den Augen. „Er ist eindeutig tot, oder nicht?“

„Das glaube ich nicht!“, rief Sam heftig aus. „Er braucht vermutlich nur länger, weil Sie nicht aufgehört haben, an seinem Gehirn herumzupfuschen. Lassen Sie mich mal durch!“

Er drängelte sich bis zu mir vor und nahm meine Hand. „Komm schon, Simon!“, murmelte er drängend. „Mach keinen Blödsinn! Ich weiß, dass du da noch irgendwo steckst.“

Ich ließ mich nicht länger bitten und sorgte dafür, dass meine Moleküle sich wieder richtig ordneten. Um mich herum hörte ich erstickte Entsetzenslaute.

 

„Hi“, begrüßte ich die Anwesenden, die allesamt die Liege umstehend auf mich herabstarrten. Sam hielt noch immer meine Hand. Die Übrigen erholten sich langsam von ihrem Schock. Auf ihren Gesichtern breitete sich nach und nach Erleichterung aus.

„Wie lange war ich denn weg?“, erkundigte ich mich.

Wang lächelte verlegen. „Ihr Herzschlag hat vor über einer Stunde ausgesetzt. Die letzte Hirnaktivität hatten wir ungefähr zeitgleich. Seither warten wir darauf, dass Sie wieder aufwachen. Sie haben uns ziemlich geschockt, muss ich zugeben.“

„Eine Stunde? Oha! Ich hätte nie gedacht, dass mein Ausflug so lange gedauert hat.“

„Was für ein Ausflug?“, fragte Professor Koutalis aufgeregt.

Ich hob hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Das war total verrückt, wie eine Reise in die Vergangenheit ...“

Unumwunden erzählte ich ihnen, was geschehen war, aber selbst Sam nahm an, dass ich mich vermutlich auf einem guten Trip befunden hatte.

„Du vergisst, dass ich mich längst nicht mehr in diesem Körper befand“, bemerkte ich. Aber da es den Anwesenden zu abstrakt schien, konnten sie meine Eindrücke weder begreifen noch nachvollziehen. Es war nicht weiter wichtig, da das Erlebte allein für mich bedeutsam war.

Ich glaube, ich weiß jetzt, warum dein Buch schon auf dem Markt ist! Timo hörte sich sehr aufgeregt an. Du hast es sicher selbst veröffentlicht! Wenn du Zeitreisen beherrschst ...

Es klang total dämlich, war jedoch die einzige Erklärung, die bislang Sinn ergab.

Meinst du? Aber wie sollte ich es in diesem Zustand meinem Verleger zukommen lassen?

Keine Ahnung. Das finden wir noch heraus. Komm erst mal ins Hotel, dann können wir besser darüber reden!

Mal schauen, ob sie mich jetzt schon wieder gehen lassen, dämpfte ich seinen Optimismus. Ist doch egal – komm einfach!

Innerlich zustimmend bemerkte ich laut: „Es wird langsam spät. Mein Tag war reichlich anstrengend – Ihrer sicherlich auch. Also würde ich vorschlagen, alles Weitere auf morgen nach dem Frühstück zu verschieben. Wenn Sie erlauben, würde ich gern bei meinen Freunden im Hotel nächtigen. Sie brauchen mich weder zu bringen noch abzuholen – ich finde Sie schon. Schlafen Sie gut.“

Mit diesen Worten marschierte ich kurzerhand aus der Tür. Wolf machte Anstalten, mich zurückzuhalten, doch Professor Koutalis fasste ihn warnend am Arm und schüttelte den Kopf. Deshalb folgten die Anwesenden mir in respektvollem Abstand nach draußen – bis auf Sam, der mir rasch hinterherlief.

„War toll, dich mal wieder zu sehen und in Aktion zu erleben“, meinte er augenzwinkernd.

„Du warst echt eine Hilfe“, erwiderte ich ernsthaft. „Danke für deine nette Gesellschaft! Hattest du ein therapeutisches Aha-Erlebnis?“

„Nein, eher ein traumatisches Déjà-vu“, antwortete mein Begleiter. „Aber das war schon okay“, fügte er hastig hinzu, als er meinen besorgten Blick bemerkte. „Jetzt weiß ich wenigstens, dass man sich um dich echt keine Sorgen machen muss, egal wie furchtbar es aussieht. Von daher hat es mir wirklich geholfen.“

Inzwischen standen wir draußen und sahen einer kleinen Gruppe Männer zu, die im letzten Licht des ausklingenden Tages auf dem Übungsplatz ihre Reaktionsschnelligkeit und Körperkraft trainierten. Als sie mich erblickten, hörten sie schlagartig damit auf und selbst ihr Ausbilder starrte mich an.

„Steht auf meiner Stirn irgendwas geschrieben?“, murmelte ich.

Major Wolf, der inzwischen hinter uns getreten war, lachte leise. „Sie sind in diesem Camp seit Wochen Gesprächsthema, obwohl Ihr Kommen eigentlich topsecret ist. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Unter Geheimagenten sind Geheimnisse schneller erzählt, als man gucken kann. Also wenn Sie wirklich wegwollen – diese Männer, einschließlich meiner Wenigkeit, würden sich freuen, Sie in Aktion zu erleben. Und keine Sorge, sie sind sehr verschwiegen ...“

Ich verabschiedete mich herzlich, winkte den Leuten auf dem Übungsplatz zu und machte mich schleunigst auf und davon – mit Bungee-Start im äußerst beweglichen Spezial-Heli, mit dem man ohne Probleme auch kopfüber fliegen konnte. Seitdem ich eine Dokumentation über einen Konstrukteur ähnlicher Modellhubschrauber gesehen hatte, war ich von dieser Technik so fasziniert, dass ich sie auf meine ganz persönliche Art und Weise perfektioniert hatte.

„Wow“, hörte ich den Chef der Spezialeinheit rufen, indem ein Teil von mir noch einen Moment länger dortblieb. „Das ist wirklich mehr als beeindruckend. Haben Sie das schon bei ihm erlebt, Sam?“

Mein Freund schüttelte amüsiert den Kopf. „Nee, sicherlich nicht genau das, aber Ähnliches. Er lässt sich halt gern mal was Neues einfallen.“

 

3.

 

Bereits auf dem kurzen Flug zurück zu dem Hotel, in dem sich die Familie meines besten Freundes befand, wurde mir bewusst, dass etwas anders war als sonst. In meinem Kopf herrschte ein Chaos, das eigentlich nichts mit dem zu tun haben konnte, was die beiden Wissenschaftler darin angestellt hatten. Ich fühlte mich unwohl, schob ich es auf das aufwühlende Erlebnis von vorhin und hoffte, dass ein reichhaltiges Abendessen sowie eine gehörige Portion Schlaf mir wieder auf die Beine helfen würden. An viel mehr konnte ich in diesem Moment auch gar nicht denken, da meine körperlichen und geistigen Reserven restlos aufgebraucht waren. Nach einem späten Dinner begab ich mich deshalb bald zum Matratzenhorchdienst in der Nobelsuite der kleinen Familie. Ein eigenes Zimmer war für mich nicht vorgesehen, aber auch gar nicht nötig. Das Sofa bot ausreichend Platz – ebenso der Fußboden drum herum. So musste ich dem Paar nicht auf die Pelle rücken und Zoey konnte in ihrem separaten Räumchen ruhig schlafen. Zur Not hätte ich sogar mit dem Bad vorliebgenommen. Timo ließ mich in Ruhe, da er mir anmerkte, wie erschöpft ich war.

Auch am nächsten Morgen wollte das ungute Gefühl nicht vergehen. Zwar hatte mein Körper sich wieder vollkommen erholt und eigentlich hätte ich fit wie ein Turnschuh sein müssen, aber etwas störte nach wie vor.

„Was ist los mit dir?“, fragte Susanna mich beim Frühstück, bei dem ich nur dasaß und abwesend auf das Brötchen vor mir starrte.

„Keine Ahnung“, murmelte ich.

Dann kam Zoey, die stolz ein Kinderbrötchen, Marmelade und drei Scheiben Käse anschleppte. Ich blickte in ihre dunklen Augen und wusste auf einmal, was nicht stimmte: Ras Kraftquelle war in mir frei. Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag, erschütterte mich bis ins Mark.

„Entschuldigt bitte“, brachte ich mühsam hervor, erhob mich hastig und rannte praktisch aus dem Raum. Plötzlich war mir furchtbar übel, sodass ich mich schleunigst auf die Toilette begab, um meinen Mageninhalt der Porzellanschüssel zu überantworten. Aber auch danach wurde es nicht wesentlich besser. Beim Blick in den Spiegel begegnete ich einem Stück von Ra selbst, die andere Zoey starrte mir daraus entgegen. Tief durchatmend beruhigte ich meinen rasenden Pulsschlag, zwang mich zur Konzentration auf mein Innerstes. Timo sperrte ich konsequent aus, da es ihn eventuell gefährdet hätte. Dann sammelte ich die Energie, die sich gleichmäßig überall verteilt in mir fand. Ich zog sie in ihr vorgestelltes Gefängnis zurück, das sich beim gestrigen Aufenthalt außerhalb meines Körpers verflüchtigt hatte. Dies forderte meine gesamte Aufmerksamkeit und Willensstärke, ähnlich dem mentalen Kampf gegen einen Tornado. Gerade, als ein weiterer Gast die Toilette benutzen wollte, wurde ich damit fertig. Verschwitzt wie nach einem Halbmarathon, zitternd vor Anstrengung und Erschöpfung taumelte ich aus dem Raum, an dem erstaunten Mann vorbei in Richtung Familienzimmer.

Was ist los? Timo klang besorgt.

„Jetzt ist wieder alles klar“, antwortete ich tonlos.

Für eine kurze Dusche und Wäsche meiner Kleidung hätte ich die Privatsphäre der Suite nicht extra aufsuchen müssen, aber die Ruhe dort tat einfach nur gut und ich gönnte mir ein ausgiebiges Bad.

Kommst du wieder runter oder soll ich dir dein Brötchen mitbringen?

„Wenn ihr schon fertig seid, bleibe ich lieber noch einen Moment hier“, gab ich zur Antwort und genoss die Entspannung im warmen Wasser.

Als meine drei Mitreisenden eintrafen, war ich bereits frisch eingekleidet und fühlte mich wieder halbwegs in Form. Bei einem raschen nachträglichen Frühstück berichtete ich Timo und Susanna von dem Erlebnis, was meinen Freund ins Grübeln brachte.

„Das ist natürlich ein Problem“, meinte er düster. „Es hört sich ja ganz interessant an, dass du in die Vergangenheit zurückkehren kannst, aber bei diesen Folgen ...“

„Vielleicht lässt sich das besser händeln, wenn ich es vorher weiß“, überlegte ich. „Die Kraft darf sich gar nicht erst so weit ausbreiten. Also muss ich sie lediglich sofort wieder einsperren, sobald ich die Kontrolle über meine Vorstellung zurückhabe. Aber das können wir später austesten, da ich für heute Vormittag versprochen habe, Dr. Wang im Camp zu besuchen. Er wollte mir die Ergebnisse seiner gestrigen Untersuchung mitteilen. Vielleicht unternehmt ihr in der Zwischenzeit was Schönes?“

„Da wird sich sicherlich was Passendes finden“, meinte Susanna. „Hier gibt es jede Menge interessante Ausflugsziele, zu denen der Portier uns bereits Prospekte und Flyer in die Hand gedrückt hat. Da wir ohnehin nicht aus den Augen gelassen werden, kannst du vielleicht ein gutes Wort für uns einlegen, damit sie uns irgendwo hinfahren.“

Sie hatte ihren Satz kaum zu Ende gesprochen, als das Telefon klingelte. Timo stand daneben und hob ab. Es war Major Wolf, der wissen wollte, wann ich bei ihnen aufschlagen würde. Also erläuterte ich ihm gleich das Anliegen meiner Freunde und versicherte, spätestens in einer Viertelstunde bei ihm zu sein.

„Alles klar“, meinte ich daraufhin zu der Frau neben mir und gab ihr einen Schmatzer auf die Wange. „Ihr werdet in einer Stunde abgeholt und dürft selbst sagen, wo ihr hin möchtet.“

Auch Zoey bekam ein Küsschen.

„He, und ich?“, fragte Timo scherzhaft.

Grinsend gab ich ihm ebenfalls einen Knutscher – aber so, dass es niemand sonst mitbekam. Lachend rieb er sich die Wange.

„Ah, ich hab’s nicht anders verdient ...“

Meine Landung vor dem Haupteingang blieb nicht unbemerkt. Bevor es mir gelang, die paar Schritte zur Tür zurückzulegen, war ich von Männern und Frauen umringt. Ich erkannte die Truppe aus dem Park und begrüßte sie herzlich. Daneben gab es drei weitere Neugierige, die gestern Abend trainiert hatten. Heute schienen die Leute wesentlich weniger Scheu vor mir zu haben, aber noch immer traute sich niemand, eine Frage zu stellen. Also machte ich den Anfang, indem ich mich an die beiden Syrer wandte, die nun viel amerikanischer wirkten.

„Sag mal, hattest du wirklich vor, den Knopf zu drücken?“, fragte ich den einen von ihnen. „Ich fand die Vorstellung auf diese Weise ja recht überzeugend, aber so weit zu gehen ...“

Er lächelte verlegen. „Das war echt die Hölle. Wolf hat mir vorher nachdrücklich erklärt, dass mir nichts passieren würde. Er hatte recht, obwohl ich noch immer keine Ahnung habe, warum. Der Befehl lautete, funktionierende Sprengstoffgürtel umzuschnallen. Nicht gerade der angenehmste Job der Welt.“

„Wenn die Sprengladungen nicht scharf gewesen wären, hätte ich das Spiel sofort durchschaut. Von daher war die Aktion zwar sinnvoll, gleichzeitig jedoch unheimlich dämlich. Aber dazu könnt ihr beiden nichts, das ist Sache eures Chefs.“

„Hast du ihm das etwa gesagt?“, fragte der zweite Syrer ungläubig.

„Aber sicher doch. Es war unfair und ein unnötiges Risiko. So etwas mag ich nun mal nicht. Warum sollte ich meine Ansicht verschweigen?“

Die Zuhörer sahen sich nervös um. Dann raunte eine der beiden Frauen mir zu: „Keiner sagt Wolf ungestraft die Meinung. Bestimmt denkt er sich für dich noch was Passendes aus.“

Ich schmunzelte. „Meine Strafe hatte ich schätzungsweise gestern schon.“

„Was war es?“, fragte die Frau neugierig.

„Das wollt ihr nicht wirklich wissen.“

„Stimmt es, dass Wolf dich für unsere Truppe rekrutieren möchte?“, erkundigte sich einer der Kämpfer von gestern.

Darauf brauchte ich nicht zu antworten, weil der Major persönlich hinter uns auftauchte und mit steinernem Gesicht auf mich zukam.

„Eigentlich wollte ich erst eine positive Reaktion auf meine Frage abwarten, bevor ich es öffentlich verkünde“, knurrte er. „Aber nun scheint bereits alle Welt Bescheid zu wissen, deshalb – ja, ich hatte vor, unseren Gast darum zu bitten, das Einsatzkommando zu verstärken.“

Die Leute brachen in Jubel aus, verstummten aber sofort wieder, als sie das Gesicht ihres Chefs sahen.

„Freut euch nicht zu früh!“, blaffte er. „Noch hat er nicht ja gesagt ...“

„Aber du wirst uns doch helfen, oder?“, bat einer der syrisch aussehenden Männer. „Ich habe gehört, wie stark du dich für Freiheit und Gerechtigkeit einsetzt, dass du in Deutschland den Terrorismus bekämpfst, Attentate verhinderst und sogar Großbrände löschst. Wenn das wahr ist, musst du einfach zustimmen!“

Ich blickte in lauter erwartungsvolle, hoffnungsvolle Gesichter. Nur der Major hatte ein Pokerface aufgesetzt. Hinter seiner kühlen Fassade entdeckte ich große Unsicherheit. Er wusste, dass es allein seine eigene Schuld wäre, wenn ich nein sagen würde. Bei der Antwort sah ich Wolf direkt in die Augen.

„Wie ich meinem Chef in der Heimat schon gesagt habe, bin ich gerne bereit, meinen Wirkungskreis zu vergrößern sowie einen Beitrag zur Wahrung von Frieden und Sicherheit zu leisten. Allerdings stimme ich nur unter gewissen Voraussetzungen zu. Also liegt es bei Ihnen und Ihren Vorgesetzten, ob Sie mich zu Ihren Verbündeten zählen können.“

Die Bedingungen dafür handelten wir ohne Publikum aus. Extra zu diesem Zweck stieß noch jemand zu uns, den ich anhand der Stimme sofort als den Handy-Gesprächspartner des Majors vom Vortag identifizierte. Er stellte sich als General Giant vor und gratulierte mir zum ‚großartig bestandenen Test‘. Auch ihm sagte ich meine Meinung bezüglich Prüfungen dieser Art. Daraufhin entschuldigte er sich und erklärte, dass es gewiss nicht wieder vorkommen werde.

„Sagen wir es mal so“, entgegnete ich mit ernstem Blick. „Ich bin es gewohnt, Leben zu retten und zu bewahren. Wenn sich herausstellen sollte, dass Sie vorhaben, auch nur eins davon vorsätzlich bei einer Aktion zu riskieren, bei der ich anwesend bin, dann war dieser Einsatz definitiv das letzte Mal, dass Sie mich bei Ihrer Truppe gesehen haben.“

Giant wirkte nicht weiter überrascht, was mich in der Überzeugung bestärkte, dass er ebenso gut über meine pazifistische Einstellung Bescheid wusste wie alle anderen hier. Er nickte bloß lächelnd. „Wir wären natürlich sehr froh, wenn Sie unseren Einsatzkräften behilflich sein könnten, ohne Schusswaffen klarzukommen. Bisher war uns das leider nicht möglich. Wahrscheinlich erfordert es Umdenken und eine andere Art der Einsatzplanung. Auch dabei müssten Sie uns dann anleiten. Eigentlich wäre es sehr gut, wenn Ihr gesamtes Team für eine Weile zu Gast sein könnte, um uns bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Eine entsprechende Anfrage habe ich bereits gestellt. Ihr Chef beim Bundesnachrichtendienst wollte allerdings erst Ihre Einschätzung abwarten, bevor er Stellung dazu bezieht.“

Diese Aussage wiederum überraschte mich. „Sie haben mit meinem Boss gesprochen?“

Ich selbst hatte ihn auf dem Hinweg angerufen und mich kurz mit ihm beraten. Da war nicht die Rede davon gewesen, dass ein USA-Einsatz unseres Teams zur Debatte stand.

„Sei auf der Hut“, hatte mir der Teamleiter geraten. „Lass dich nicht zu irgendwas zwingen und arbeite für diese Leute nur, wenn du wirklich der Überzeugung bist, das Richtige zu tun. Sofern dies der Fall ist, hast du meinen Segen.“

Wie immer war das Gespräch mit ihm aufbauend und hilfreich gewesen. Seit Langem verband uns eine tiefe Freundschaft, die unter anderem daraus resultierte, dass wir uns gegenseitig bereits ziemlich oft die Haut gerettet hatten. Dennoch war er offiziell mein Vorgesetzter und es würde mir nie in den Sinn kommen, seine Vorgaben zu missachten.

Der General nickte wieder. „Das war, kurz bevor Sie hier ankamen. Ich musste es mehrfach versuchen, da die Leitung ständig besetzt war. Ihr Chef ist ein vielbeschäftigter und gefragter Mann, den ich persönlich sehr schätze. Er hält große Stücke auf Sie.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit“, erwiderte ich. „Da er mir geraten hat, mich in Ihrem Fall auf meinen Instinkt zu verlassen, würde ich gern noch ein wenig damit warten, mein Team in die Sache einzubeziehen. Bisher hatte ich ja kaum Gelegenheit, Ihre Arbeitsweise und Ihre Leute näher kennenzulernen. Ich hoffe ja, dass meine bisherigen Erfahrungen nicht ihrem alltäglichen Geschäft entsprechen und rein als individuell auf mich zugeschnittene Aktion zu betrachten sind.“

Der Major lachte. „Da können Sie sicher sein!“

Vor meinem Kennenlernen der übrigen Bewohner des Camps hatten Doktor Wang und Professor Koutalis um ein Treffen gebeten, da sie später am Tag abreisen wollten. Dr. Lewis hatte gerade damit zu tun, einen der Soldaten zu verarzten, der bei einem nächtlichen Waldlauf in ein Erdloch getreten war.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte Wang nach der Begrüßung.

„Oh, wieder ausgezeichnet“, antwortete ich freundlich. „Nach Ihrer zuvorkommenden Behandlung gestern hatte ich zwar ein recht nerviges Problem, aber es hatte nur indirekt damit zu tun und ist bereits behoben.“

„Welche Art von nervigem Problem?“, erkundigte sich Koutalis und sah mich scharf an.

Ich erzählte ihnen vom Ausbruch der Kraftquelle, die ich seit etlichen Monaten sicher in mir verwahrte.

„Das war natürlich in keiner Weise beabsichtigt“, stotterte Wang, dem das Ganze unangenehm zu sein schien.

Der Professor schlug sich an die Stirn. „Ich hätte es wissen müssen, ich Trottel!“, rief er zerknirscht. „Aber so weit haben wir nicht gedacht. Niemand von uns ahnte ja vorher, dass wir Sie während der Prozedur verlieren würden. Ihre Warnung kam da leider viel zu spät.“

Ich wollte nicht, dass sie sich darüber solche Gedanken machten. Also winkte ich ab. „Es spielt keine Rolle, da ich alles wieder im Griff habe. Jetzt weiß ich wenigstens, was passieren kann und bin beim nächsten Mal gewarnt.“

Der Professor lächelte scheu. „Schön, dass Sie es so positiv sehen. Ich wäre brennend interessiert an einer intensiveren Studie über Ihre Erfahrungen mit dem Leben nach dem Tod. Aber ich denke, das würde hier und jetzt zu weit führen. Vielleicht besuchen Sie mich mal in meiner Heimat? Dann könnten wir uns privat unterhalten. Falls Sie das Bedürfnis verspüren, über sich selbst, Ihre Besonderheiten und die Dinge zu sprechen, die Sie von anderen unterscheiden.“ Er gab mir seine Karte, die ich dankend einsteckte.

„Bestimmt findet sich eine Gelegenheit dafür.“

Damit wandte ich mich dem Doktor zu. „Gibt es eigentlich irgendwelche konkreten Ergebnisse Ihrer Untersuchung gestern? Ich meine, hat der Aufwand sich wenigstens ein bisschen gelohnt?“

Wang nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Für mich persönlich war es eine total interessante Erfahrung – einen solchen Eingriff habe ich noch nie bei einem lebenden Menschen durchgeführt, wie Sie sich denken können. Aber vom Standpunkt der Hirnforschung aus sind Sie keinesfalls ein Sonderfall. Zumindest nicht, wenn man dem Professor glauben darf. Er behauptet zwar, dass er zwischenzeitlich dachte, seine Sonden seien defekt, weil sie so wenig anzeigten, aber insgesamt scheint Ihr Gehirn völlig normal zu arbeiten. Nur eben nicht für einen paranormal begabten Menschen. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr dazu sagen kann.“

„Schade“, entgegnete ich achselzuckend. Komischerweise empfand ich wesentlich weniger Enttäuschung als gedacht. Eher so etwas wie Bestätigung. Wang gab mir ebenfalls eine Visitenkarte, schüttelte mir noch einmal herzlich die Hand und lud mich ein, ihn in seiner Praxis zu besuchen.

Außerhalb des Raumes warteten Sam und der Major. Der General war bereits wieder abgereist, wie ich bei einer raschen Überprüfung meiner Umgebung feststellte. Stattdessen gab es ein Meeting im Mannschaftsraum, wohin ich mich bewegte, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Wolf und Sam folgten mir mit einigem Abstand, vermutlich, damit der Major sich vermeintlich von mir unbemerkt im Flüsterton an meinen Freund wenden konnte.

„Der Fantast überrascht mich täglich neu, obwohl ich annahm, mich gut genug mit seiner Geschichte auseinandergesetzt zu haben.“

Sam antwortete ebenso leise: „Wenn Sie annehmen, dass er Sie nicht gehört hat, brauchen Sie noch ziemlich viel Nachhilfe bezüglich seiner Besonderheiten ... Vielleicht wartest du mal auf uns?“

Ich blieb folgsam stehen. Wolfs Gesicht war puterrot, als die beiden bei mir ankamen. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nichts heraus. Schließlich bedeutete er mir wortlos, weiterzugehen. Wir betraten gemeinsam den gemütlich eingerichteten Aufenthaltsraum, wo die Mitglieder der Spezialtruppe lässig herumhingen, sich unterhielten oder Karten spielten. Als sie ihren Major sahen, sprangen sie wie elektrisiert auf, um strammzustehen. Erst, als er ihnen zunickte, entspannten sie sich wieder etwas.

Sam gesellte sich zu den anderen. Wolf stellte mich offiziell vor und verkündete, dass ich zunächst probeweise das Team verstärken würde. Die Reaktionen reichten vom gleichgültigen Schulterzucken bis hin zu einem begeisterten „Yee-haw“ mit hochgerissener Faust. Dieses stammte unisono von den beiden selbstmörderischen Schauspielern.

Nach seiner kurzen, knackigen Ansprache drehte der Major sich um und marschierte wieder aus dem Raum. Sogleich war ich umringt von Menschen, die mir die Hand schütteln wollten. Auch Sam gratulierte mir, meinte allerdings, er hätte es vorher gewusst.

„Das lässt du dir doch nicht entgehen“, sagte er augenzwinkernd.

Einer der Männer blieb betont lässig und unbeteiligt in seinem Sessel liegen und sah mich auf sehr merkwürdige Weise an, abfällig und mit einem bitteren Zug um den Mundwinkel. Ich kannte ihn nicht, aber irgendwas schien ihn gegen mich eingenommen zu haben. Nachdem ich genügend Hände geschüttelt und zu viele neue Namen gehört hatte, näherte ich mich dem Sesselbewohner.

„Hi, ich bin Simon“, sagte ich mit ausgestreckter Hand. Er antwortete nicht, sah demonstrativ durch mich hindurch.

„Lass ihn“, hörte ich Sam von hinten murmeln. „Shark ist immer so mürrisch. Er will hier mit fast niemandem zu tun haben, ist aber der absolute Crack mit dem Gewehr. Keiner zielt so präzise und auf diese Entfernungen genau. Ich denke, er sieht seinen Job und die Starallüren durch dich gefährdet.“

Nun wusste ich Bescheid, gab jedoch nicht so einfach auf.

„Du heißt Shark, nicht wahr? Mein Freund Sam hat mir von dir erzählt.“

„So, was hat er denn gesagt? Dass ich ein griesgrämiger alter Bock bin?“

Sharks Stimme war rau und verwittert wie ein Fels in der Brandung. Er schien der Älteste im Raum zu sein und viele Jahre Kampferfahrung mitzubringen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Aber er hat mir versichert, dass du ein hervorragender Schütze bist. Sicherlich hast du über mich auch schon was gehört – etwa, dass ich Waffen nicht mag. Und vielleicht denkst du deshalb, dass wir keine besonders guten Freunde werden können.“

Mit diesen Worten hatte ich mir den Sessel neben dem mürrischen Mann geschnappt und mich hineingesetzt. Die übrigen Anwesenden schienen den Atem anzuhalten, so gespannt lauschten sie dieser Unterredung, auch wenn alle so taten, als wären sie mit etwas Wichtigem beschäftigt.

Shark sah mich das erste Mal wirklich an, eine Art mildes Interesse in seinem taxierenden Blick.

„Genau das denke ich, um ehrlich zu sein. Obwohl ich annehme, dass der ganze Hype um dich hauptsächlich heiße Luft ist. Du wirst schnell genug wieder in der Versenkung verschwunden sein, aus der du so plötzlich aufgetaucht bist, um hier den zu Helden spielen. Viel Spaß übrigens. Wenn du den ersten Einsatz überlebst, gebe ich einen aus. Falls dabei wirklich keiner verletzt wird, sogar zwei. Aber bis dahin gehst du mir besser aus dem Weg, Fantast.“

Die Art, wie er dieses Wort aussprach, zeigte überdeutlich, was er von mir hielt.

Auf den Idioten kannst du verzichten, oder?

Timo schien ziemlich entgeistert. Aber ich wusste, wie wichtig es war, sich im Ernstfall auf jeden Mann im Team verlassen zu können, und wie hinderlich solche negativen Emotionen dabei waren. Also startete ich einen Frontalangriff. Vielleicht konnte ich ihn bei seinem Ehrgeiz packen?

„Ich dachte eher daran, dich herauszufordern. Die Disziplin darfst du bestimmen – von mir aus auch was mit Schusswaffen. Oder stimmen die Dinge nicht, die ich da von dir gehört habe?“

Meine geschärften Sinne vernahmen leise Geräusche rings um mich, als würden einige Leute ein Stöhnen oder ein Kichern unterdrücken, aber ansonsten herrschte Totenstille. Niemand gab jetzt mehr vor, irgendeine Tätigkeit auszuüben, alle starrten uns an. Der durchtrainiert wirkende Mittvierziger beäugte mich mit hochgezogenen Brauen.

„Du traust dich vielleicht was, Kleiner“, knurrte er. „Entweder bist du so gut, wie hier behauptet wird, oder du hast eine ziemlich große Klappe. Aber warum nicht? Hauptsache, du spielst fair. Wenn du beim Scheibenschießen gegen mich gewinnst, ohne zu schummeln, hast du zumindest meine volle Aufmerksamkeit.“

Ich reichte meinem Wettstreitgegner strahlend die Hand. „Abgemacht! Hauptsache, du erklärst mir genau, was ich machen soll. Auf was für Scheiben wird womit geschossen?“

Ringsum brach aufgeregtes Raunen und Getuschel aus.

„Bist du dir sicher, dass das klug ist?“, zischte Sam mir zu. „Wenn du ihn bei dieser Disziplin abziehst, blamierst du ihn und dann hast du ihn erst recht gegen dich aufgebracht!“

„Keine Sorge“, beruhigte ich meinen Freund. „Er kann sich höchstens selbst blamieren – und das merkt er dann schon. Ich hab versprochen, nicht zu schummeln, also ‚Weltraumbedingungen‘ – zumindest eine Runde lang ...“

Selbstverständlich wollten alle bei diesem Wettbewerb dabei sein und so zog die ganze Truppe los in Richtung Übungsplatz. Shark kam mit zwei Präzisionsgewehren aus der Waffenkammer und reichte mir eins davon, dazu eine Schachtel mit Munition. Die Waffe war mir vertraut, auch wenn ich sie noch nie selbst abgefeuert hatte. Sein eigenes Gewehr hatte der erfahrene Schütze schon vorher bereitgemacht. Es war top gepflegt und gewartet. Meins schien ebenfalls vollkommen in Ordnung, was mich erleichterte. Ich bestückte sie rasch mit der scharfen Munition, als wir am Ziel angekommen waren.

Shark nickte anerkennend. „Zumindest hast du so ein Teil schon in der Hand gehabt.“

Ich lächelte. „Gehörte zur Grundausbildung. Normalerweise entschärfe ich diese Dinger eher. Aber ob nun Muni raus oder rein ist so ziemlich dasselbe.“

„Wie entschärfst du sie denn?“, fragte ein anderes Teammitglied interessiert.

„Meistens blockiere ich einfach den Abzug oder entferne die Feder. Je nachdem, ob die Waffe anschließend noch mal benutzbar sein soll und wie viel Zeit bleibt, verforme ich ab und zu den Lauf ein wenig oder nehme die Munition raus“, erklärte ich.

„Und das alles, ohne dass es der Schütze merkt?“, konterte Shark spöttisch.

„Klar. Dein Gewehr war eben noch betriebsbereit, oder? Nun, jetzt nicht mehr.“

„Was?“ Der Mann sah hastig auf seine Waffe, kontrollierte sie ungläubig. Ich hielt ihm die fehlende Munition hin. Die Umstehenden pfiffen und johlten.

Er lachte. „Die hast du doch gerade aus deiner eigenen Schachtel genommen, du Witzbold!“

Ich schüttelte wortlos den Kopf. Endlich sah mein Kontrahent in der Kammer nach und sog scharf die Luft ein. Er wollte schon die Munition ergreifen, die ich ihm noch immer entgegenstreckte, hielt dann aber inne.

„Kannst du sie auch wieder reinstecken, ohne die Waffe dabei zu berühren?“, fragte er listig.

Ich schloss die Faust und zuckte die Achseln. „Ich sag ja – Muni raus oder rein ist fast dasselbe ...“

Währenddessen wandte ich erneut den Trick an, den ich vor ungefähr zwei Jahren rausgefunden hatte und der mir selbst ein wenig wie ‚Schummeln‘ vorkam, obgleich die Zerlegung von Materie in ihre atomaren Bestandteile, um sie durch die winzigen Öffnungen im Metall zu schmuggeln und im Innern wieder zusammenzufügen, durchaus physikalisch erklärbar schien. Nur war ich selbst noch immer verblüfft darüber, dass sich meine Fantasie überhaupt auf diese Weise einsetzen ließ. Die Welt der Teilchenphysik erschloss sich mir sehr viel tiefer und nachhaltiger, seitdem ich ihre erstaunlichen Phänomene buchstäblich am eigenen Leib erfahren durfte.

„Und? Was ist jetzt?“, rief Shark ätzend und kontrollierte wieder die Munitionskammer. „Ich sehe keine ...“

Er beendete den Satz nicht, da ihm die erste Patrone entgegenfiel. Unsere Zuschauer applaudierten und Sam zeigte mir den Daumen hoch.

Der Scharfschütze schien gegen seinen Willen beeindruckt, knurrte jedoch bloß abfällig: „Toller Trick, Fantast. Aber du wolltest nicht im Zaubern gegen mich antreten, sondern im Schießen. Also zeig, was du dabei draufhast! Und diesmal ohne magische Sondereinlagen, bitte!“

„Auch wenn du diese ‚Sondereinlagen‘ nicht einmal bemerken würdest, habe ich versprochen, nicht zu schummeln. Und ich halte meine Versprechen, wenn möglich“, entgegnete ich würdevoll.

Wir machten uns bereit, auf die winzigen Zielscheiben zu schießen, die mindestens vierhundert Meter weit entfernt aufgestellt waren. Jeder hatte fünf Schuss, mit denen jeweils eine der kleinen Scheiben getroffen werden sollte. Es kam mir fast unmöglich vor, dies mit dem ungewohnten Schießeisen zu bewerkstelligen, ohne mich dabei auf meine Vorstellung zu verlassen.

Um von der Erfahrung meines Gegners zu profitieren ließ ich ihm den Vortritt. Zumindest konnte ich so von ihm lernen. Er lächelte grimmig und machte sich bereit. Ein Teil von mir ahmte seine Bewegungen möglichst genau nach, erspürte sie, verfolgte die feinsten Korrekturen von Körperhaltung und Peilung, setzte sie in Relation zum Ziel, zum Abschusswinkel und zur Windrichtung. Shark traf jede Scheibe. Er wirkte dabei so sicher, als würde er mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt seines Körpers tippen.

Dann war ich an der Reihe und wurde nervös. Natürlich waren die Erwartungen dieser Leute an mich hoch, ich würde sie sicherlich ziemlich enttäuschen. Aber ich hatte ja nicht wirklich vor, zu gewinnen oder auch nur mit meinem Gegenspieler gleichzuziehen. Also biss ich die Zähne zusammen und verließ mich nur auf das, was ich soeben bei Shark gesehen und gefühlt hatte. Dies empfand ich nicht als Bruch des Versprechens, da es lediglich auf Beobachtung und Nachahmung beruhte – etwas, das beinah jeder Mensch theoretisch konnte.

Es half mir zumindest dabei, nicht alle Scheiben zu verfehlen. Immerhin traf ich drei von fünf und die beiden Nicht-Treffer waren recht knapp. Unsere Zuschauer schwiegen und wirkten halbwegs geschockt.

Nur Sam rief: „Das war ziemlich klasse fürs erste Mal, Simon!“

Shark, der eigentlich eine spöttische Bemerkung machen wollte, starrte mich stattdessen verblüfft an. „Stimmt das, war dies wirklich das erste Mal, dass du mit einem solchen Gewehr geschossen hast?“

Ich nickte. „Absolute Premiere, Meister. Du hast ehrlich und überzeugend gewonnen. Glückwunsch!“

Ich gab ihm lachend die Hand, weil er wie ein begossener Pudel aussah. Dann verzog er das Gesicht und schüttelte energisch den Kopf. „Das kann ich so nicht akzeptieren, Simon. Du hast mich zu etwas herausgefordert, das du selbst nicht richtig beherrschst und dann noch versprochen, deine besonderen Kräfte dabei nicht einzusetzen. Deshalb war es kein verdienter Sieg – du hast gewusst, dass ich gewinne! Nee, so nicht, mein Lieber! Glaubst du, ich durchschau den Plan nicht? Du wolltest dich bloß bei mir beliebt machen. Aber dadurch erreichst du das nicht! Nur, wenn du wirklich dein Bestes gibst, ohne dabei unfair zu sein. Also was sagst du – noch eine Runde? Und du suchst dir diesmal die Schusswaffe selber aus!“

Ich blickte ihn an und nickte lächelnd. „Etwas anderes habe ich nicht von dir erwartet. Ich wusste, dass hinter der rauen Schale viel mehr steckt und vor allem ein feiner Kerl. Ich wollte dir bloß die Chance geben, das selbst zuzugeben.“

Auch bei der zweiten Runde schoss mein Kontrahent zuerst und traf seine fünf Scheiben souverän. Ich selbst wählte die einzige Waffe, mit der ich jemals geschossen hatte – auf sehr viel geringere Entfernung. Sie war absolut nicht dafür gemacht, eine Kugel so weit zu befördern. Ihr Lauf war zu kurz, zu unpräzise gefertigt und die Munition ungeeignet für eine solche Distanz. Dies wusste jeder der Umstehenden. Deshalb erntete ich großes Gelächter, als ich erklärte, womit ich zu schießen gedachte. Einer der Neugierigen eilte bereits zur Waffenkammer, um die Pistole zu holen, die ich dort entdeckt hatte und kam kurz darauf im Laufschritt wieder zurück. Shark schüttelte den Kopf. „Wenn du damit triffst, hast du nicht bloß einen guten Zaubertrick hingelegt, sondern ein Wunder vollbracht.“

Ich schoss fünfmal rasch hintereinander, blickte den Scharfschützen an und erklärte, noch bevor die Kugeln ihr Ziel trafen: „Du hast recht, meine Fähigkeiten liegen eigentlich auf völlig anderem Gebiet. Waffen nutze ich total ungern, aber sofern es dazu dient, Vertrauen aufzubauen, springe ich schon mal über meinen Schatten. Verstehst du?“

4.

 

Mit dieser Aktion hatte ich vielleicht noch keinen neuen Freund in Shark gefunden, jedoch seinen Respekt erworben. Auch die übrigen Mitglieder des Spezialteams betrachteten mich danach mit anderen Augen – zumindest behauptete Sam das anschließend.

„Sie sehen jetzt, dass du ein Mensch bist und keine Maschine“, sagte er leise auf dem Rückweg zum Gebäude.

„Was wissen sie überhaupt über mich?“, fragte ich ebenso gedämpft zurück.

„Nur das, was Wolf und ich ihnen von dir erzählt haben, das war bisher nicht viel. Giant wollte sie dazu verdonnern, deine Bücher zu lesen, aber der Boss hat ihm quasi den Vogel gezeigt und gemeint, seine Männer hätten in ihrer kostbaren Freizeit Besseres zu tun. Wenigstens werden sie mir jetzt zugestehen müssen, doch kein Märchenerzähler zu sein.“

Leider blieb nach unserem kleinen Schießtraining kaum Zeit, um die Jungs und Mädels näher kennenzulernen. Wolf empfing uns mit einem grimmigen Gesichtsausdruck, bei dem die meisten Teammitglieder leise aufstöhnten.

„Das bedeutet Arbeit“, murmelte Shark, der mit seinem Gewehr in der Hand neben mir herging.

Tatsächlich gab es sofort gebellte Befehle, sich für einen Notfalleinsatz bereitzumachen. Die genannten Mitglieder hasteten im Laufschritt davon. Auch die restlichen Leute zerstreuten sich schnell, um nicht ins Blickfeld ihres Majors zu geraten. Jeder hier schien einen Höllenrespekt vor dem Mann zu haben. Schließlich blieben nur wir zwei übrig – ich hauptsächlich deshalb, weil ich nicht wusste, wo ich hingehen sollte und Wolf offensichtlich, weil er mit mir allein sprechen wollte. Wir gingen zu seinem Büro, das ich bislang offiziell nicht betreten hatte. Ich durfte mich setzen und er begann: „Vor ungefähr zehn Minuten erhielt ich zwei Anrufe. Der erste kam von Ihrem Chef, der mir mitteilen wollte, dass Ihr Team bereit sei, hierher zu kommen. Keine Ahnung, was Sie in der kurzen Zwischenzeit angestellt haben, aber ich danke Ihnen für Ihre rasche Kooperationsbereitschaft. Der zweite Anruf kam übers Notfalltelefon und bedeutet einen Einsatz für mein Team, wie Sie soeben mitbekommen haben. Frank, unser Hausmeister und ‚Mann für alles‘ wird Ihnen gleich Einsatzkleidung sowie notwendige Utensilien geben. Vor der offiziellen Einsatzbesprechung würde ich Sie gern über die Vorgehensweise und Ihre geplante Rolle bei der Aktion informieren.“

Wie ich es mir gedacht hatte, war ich als Beobachter eingeteilt, der aus der Entfernung alles im Blick behalten, jedoch nur im Notfall aktiv eingreifen sollte.

„Ich weiß selbstverständlich um Ihre Verdienste und Fähigkeiten, die Sie bei ähnlichen Einsätzen bereits gezeigt haben“, erklärte er. „Aber Sie sind neu im Team und würden unsere Effektivität durch Ihre Vorgehensweise eventuell eher behindern als erhöhen. Natürlich wären wir Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie Verletzungen oder Todesfälle verhindern könnten, sofern es relativ unauffällig geschieht und meine Männer nicht unnötig verwirrt. Haben Sie das verstanden?“ Ich nickte. Die Art des Einsatzes würde er gleich für alle erläutern, deshalb fragte ich gar nicht erst und stand auf.

„Noch eine Sache“, meinte der Major ernst. Ich drehte mich höflicherweise zu ihm um.

„Ich zwinge Sie nicht dazu, eine Waffe zu tragen. Aber meine Leute werden es tun. Bitte hindern Sie sie nicht daran, diese im Notfall auch einzusetzen.“

Ich lächelte. „In Ordnung, ich werde niemanden von Ihrer Truppe davon abhalten, den Abzug zu drücken. Aber bei den Bösen darf ich es tun, nicht wahr?“

„Selbstverständlich!“

„Dann wird es keine Notwendigkeit geben, auf ein menschliches Ziel zu schießen.“

„Nun, wir werden sehen“, meinte Wolf mit rätselhaftem Blick. Er schickte mich zur Kleiderkammer, wo ich als fertiges Paket die gleiche Tarnkleidung erhielt, die auch alle Übrigen trugen.

Kurze Zeit später fand ich mich gemeinsam mit fünf weiteren Elitesoldaten in einer Art Schulungsraum ein, wo Wolf uns per Beamer Infos zum Einsatz mitteilte. Es handelte sich um die Entführung zweier Botschaftsmitglieder, die sich in der Hand der Terrormiliz IS befanden. Es gab ein Video dazu, das eine Frau und einen Mann mit dem Rücken aneinandergefesselt in einem Bunker oder Lagerraum zeigte. Zwei IS-Soldaten bewachten sie und schlugen den männlichen Botschafter. Dann trat eine maskierte Gestalt vor die Kamera und ergriff das Wort.

„Lasst unsere gefangenen Brüder in New York frei, oder diese beiden sterben und ihr seht es morgen Mittag um zwölf in allen Nachrichten.“

„Wir haben konkrete Hinweise darauf, wo sich die Geiseln befinden“, erklärte Wolf, indem er eine Karte von Nordamerika einblendete, auf der ein Punkt markiert war, nicht einmal allzu weit von unserem Standort entfernt.

„Ihr seht, warum wir angefordert wurden. Wir haben Order, diskret vorzugehen, um möglichst keine Zivilisten zu gefährden. Der Lagerraum liegt mitten in einem Brennpunkt-Wohngebiet nah Washington. Es ist reiner Hohn, dass die Botschafter so nah ihrer Heimat festgehalten werden und purer Zufall, dass wir den Ort so schnell gefunden haben. Einer der Ermittler hat den Lagerraum anhand des Videos erkannt, da es dort bereits eine Razzia wegen Drogenschmuggels gegeben hat.“

Der Major gab das Wort an einen Offizier, der den genauen Einsatzplan erläuterte, jedem seinen Platz und seine Aufgabe zuwies. Shark bekam den Posten auf dem Dach des Gebäudes schräg gegenüber. Zu meinem Erstaunen sollte ich ihn dorthin begleiten. Er sah mir wohl an, dass mir das nicht besonders schmeckte und grinste schadenfroh. „Tja, jeder fängt mal klein an.“

„Dir ist hoffentlich klar, was das bedeutet“, entgegnete ich auf dem Weg zum Hubschrauber trocken. „So, was denn?“

„Dass dein Job als Scharfschütze soeben komplett umdefiniert wurde.“

Unser Flug dauerte nur wenige Minuten. Ich nutzte die Zeit, um kurz Kontakt mit Timo und Zoey aufzunehmen, die gerade ein Action-Freizeitbad mit Riesenrutschen und Wellenbecken besuchten. Mein Patenkind hatte sehr viel Spaß und ich bedauerte, nicht dabei sein zu können. Anschließend plauderte ich mit den neuen Teamkameraden über Spezial-Headsets, sodass der Major im Copilotensitz unsere geringfügigen Änderungen des Einsatzplans nicht mitbekam. Ursprünglich stammte die Idee nicht mal von mir, sondern von meinem Sitznachbarn, der mir gegen den Fluglärm ins Ohr brüllte: „Komisch, dass du nur beobachten sollst! Hast du nicht ein paar Tipps für uns, wie wir vorgehen können, ohne Gewalt anzuwenden?“

Wir seilten uns ein gutes Stück vom Tatort entfernt profimäßig ab und näherten uns auf Schleichwegen, die ich zuvor auskundschaftete. Das Team behielt meine Headsets auf – die Kommunikation darüber war wesentlich einfacher und effektiver als über die Funkgeräte, die wir erhalten hatten. Zweimal lenkte ich mögliche Zielpersonen ab, sodass die Einsatztruppe unbemerkt vorbeischleichen konnte. Einer davon erwies sich als unbeteiligter Asylant, der zufällig in der Gegend rumstand. Der zweite entpuppte sich als waschechter IS-Kämpfer, der nach unserer Begegnung zwar noch ahnungslos, aber entschärft, ohne Mobilfunkkontakt und in seinem Bewegungsradius ziemlich eingeschränkt war.

Schließlich hatten wir unsere Endposition erreicht und ich berichtete dem Team von der Lage im Gebäude sowie in der näheren Umgebung.

„Eine Wache, die den Eingang beobachten sollte, tut dies jetzt nicht mehr. Wir können sie später einsammeln. Im Lagerraum befinden sich drei Zielpersonen sowie die zwei Geiseln. Die Waffen sind größtenteils unbrauchbar, lediglich die Messer sind noch scharf. Einer der Männer bewacht sein Handy und erwartet ungeduldig den Anruf eines Verhandlungspartners von der Regierung. Der zweite Knilch nimmt soeben Kontakt zu weiteren Kämpfern auf und fordert Verstärkung an. Das wird interessant für dich, Sharky ...“

„Schlagt zu!“, zischte Wolf, der sich im Hintergrund hielt und genau wie der Scharfschütze und ich eine Beobachtungsposition eingenommen hatte, durch das Funkgerät.

Wie besprochen öffnete ich den Einsatzkräften das Tor. Drei der Männer huschten lautlos hinein, während der vierte sich um die sorgfältig verschnürte Wache kümmerte und sie aus dem öffentlichen Sichtfeld räumte. Ohne auf Widerstand zu treffen näherten sie sich den Geiseln. Einer der Bewacher wurde völlig überrumpelt und bewegungsunfähig gemacht, bevor er seine nutzlosen Waffen heben konnte. Der zweite versuchte, die Spezialisten aufzuhalten, wurde jedoch rasch und mit nur geringfügiger Gewalt überwältigt. Der dritte war durch die leisen Kampfgeräusche aufmerksam geworden. Er drohte damit, die weibliche Geisel zu töten, indem er sie wie ein Schutzschild vor sich schob und ihr sein Messer an die Kehle hielt. Die drei Soldaten hatten ihre Waffen auf ihn gerichtet, riefen ihm zu, sich zu ergeben, aber der Mann dachte überhaupt nicht daran. Stattdessen stieß er mit der Klinge zu – oder wollte es zumindest tun. Anscheinend war er bereit, zu sterben und die Frau mit sich zu nehmen. Im gleichen Augenblick drückten zwei der drei Elitekämpfer ab. „Stopp!“, rief ich erregt und schützte die Angegriffenen. Die beiden Schießwütigen hörten glücklicherweise schnell auf mich und stellten ihre Versuche ein.

„Das wäre alles etwas weniger kompliziert, wenn ich einfach mit reingehen dürfte“, murmelte ich beim Entwaffnen des Mannes. „Nun macht endlich euren Job und holt die zwei Botschafter da raus!“, rief ich den vor Verblüffung erstarrten Teammitgliedern im Lager zu. „Wir bekommen gleich noch mehr Besuch!“

„Ich sehe schon zwei“, hörte ich den Profischützen neben mir, der angestrengt durchs Zielfernrohr starrte.

„Okay, du lenkst sie ab, ich kümmere mich um die beiden, die von hinten kommen“, sagte ich, verließ unerlaubterweise meinen Posten, sprang vom Dach und sprintete um die Hausecke.

Meiner Vorstellung entsprechend verschoss Shark Gummigeschosse, die gehörig zwiebelten, jedoch keinen wirklichen Schaden anrichteten, sofern er nicht auf den Kopf zielte. Damit lenkte er die IS-Terroristen derart ab, dass diese die zwei Mitglieder des Sonderkommandos nicht mal bemerkten, bis sie direkt hinter ihnen standen und sie überwältigten. Den anderen zwei versperrte ich den Weg, indem ich vor ihnen auf die Straße trat. Sofort zielten sie mit ihren entschärften Kanonen auf mich. Ich hob lächelnd die Hände. Sie waren so damit beschäftigt, mich erschießen zu wollen, dass sie die beiden übrigen Männer des Teams erst bemerkten, als diese ihnen ihrerseits die Waffe an den Schädel hielten und Handschellen anlegten.

„Ich glaub, wir haben alle bis auf den Kerl, der auf der Terrasse des Gebäudes neben Ihnen hockt, Major“, informierte ich unseren Einsatzleiter übers Funkgerät. Wolf schritt soeben an dem Mehrfamilienhaus vorbei, auf dessen Dachterrasse noch immer ein IS-Kämpfer saß und sich verzweifelt fragte, warum er nicht von dort wegkam und seine Kollegen nicht erreichte. Shark marschierte mir mit den beiden befreiten Geiseln im Schlepptau entgegen und gab mir alle fünf.

„Das war genial!“, rief er begeistert. „Ich hab lange nicht mehr so viel Spaß bei einem Einsatz gehabt.“

„Sagen Sie mal – warum ist der Kerl eigentlich noch immer bewaffnet?“, erklang die Stimme des Majors ruppig von meinem Gürtel.

„Ich nehme den bösen Buben doch nicht grundlos ihr völlig harmloses Spielzeug weg“, gab ich trocken zurück und musste grinsen, weil seine Reaktion aus einem komischen Schnaufen bestand. Auch die übrigen Teammitglieder, die sich nach und nach eingefunden hatten, fanden das witzig.

Endlich traf der Chief mit seinem Gefangenen ein, der wie die anderen Geiselnehmer ziemlich bedröppelt aussah. Wolf wirkte, als sei er mit unserer Aktion überhaupt nicht einverstanden. Seine Männer wurden nervös. Aber er äußerte keine Manöverkritik.

„Ich hab das FBI verständigt, ebenso die Polizei – die Beamten werden gleich hier eintreffen“, grummelte er lediglich. „Bis dahin solltet ihr möglichst schnell Land gewinnen. Der Heli erwartet euch etwa vier Meilen westlich von hier. Nutzt die Gelegenheit zu einem kleinen Training. Einsatznachbesprechung um siebzehn Uhr. Wegtreten!“

Wir trabten gehorsam in die angegebene Richtung. Eine rasche Peilung von weiter oben verriet mir, dass seine vier Meilen in Wahrheit mehr als elf betrugen. Als ich dies den anderen mitteilte, blieb Shark plötzlich stehen und sah mich herausfordernd an.

„Ich lauf ja noch vier Meilen, wenn’s sein muss“, sagte er ruhig. „Aber mehr auch nicht, nachdem ich heute Morgen schon acht hatte. Wie sieht’s mit euch aus, Jungs?“

Allgemeine Zustimmung und langsames Begreifen in den Augen der übrigen Teammitglieder, die mich nun ebenfalls anblickten. Ich checkte schmunzelnd die Bedingungen ab. Der Himmel war leicht bewölkt, die Wohngegend ruhig, die Menschen eher vor dem Fernseher zu finden als am Fenster.

„Wie hättet ihr euren Transfer denn gern?“

„Na ja“, druckste einer der Männer herum. „Fliegen wär cool und wahrscheinlich sogar weniger auffällig als Fahren.“

„Aha. Habt ihr schon mal einen Bungee-Start bei einer Achterbahn mitgemacht?“

Ich mutete den gut trainierten Männern einiges zu, um möglichst schnell in der Luft zu sein, aber sie hielten sich allesamt tapfer – vor allem für ihren ersten Flug mit mir. Er dauerte nicht lange, obwohl wir noch eine Ehrenrunde über dem Terrain drehten und uns die Gegend von oben besahen. Die Landung neben dem realen Helikopter, der verglichen mit meinem eleganten Fluggerät plump und monströs wirkte, brachte den Piloten einen Augenblick lang ziemlich aus dem inneren Gleichgewicht. Aber er fing sich rasch wieder und nahm uns an Bord.

„Weiß der Chef von dieser Aktion?“, fragte er grinsend.

Wir schüttelten unisono den Kopf.

„Lasst mich raten – wenn ich es ihm stecke, bin ich einen Kopf kürzer?“

Einmütiges Nicken.

„Okay, dann seid ihr total platt und völlig am Ende eurer Kräfte bei mir aufgetaucht ...“

„Was nicht mal gelogen ist“, murmelte einer der Männer, der noch immer leicht grünlich aussah, weil er den heftigen Start von vorhin nicht ganz so gut vertragen hatte.

 

*

 

„Warum können wir nicht noch ein bisschen hierbleiben?“, murrte Zoey und zog ihren Vater missmutig an der Hand hinter sich her in Richtung Umkleidekabine. Dieser wusste, wie selbstverständlich es für sie war, ihrem Papa den Weg zu zeigen und dass sie nicht verstand, weshalb andere Leute es manchmal komisch fanden. Dennoch vernahmen seine feinen Ohren auch diesmal Getuschel, offenes Gelächter und eine witzige Bemerkung, die nicht für ihn bestimmt war. Susanna folgte den beiden, offensichtlich ebenfalls amüsiert.

„Ich hab’s dir doch erklärt – wir sind gleich mit den Security-Männern verabredet, die uns zurück ins Hotel bringen“, sagte der Geführte geduldig und ertrug es, dass seine Tochter ihn vor eine Tischkante laufen ließ.

„Hmpf!“, stöhnte er lediglich. Die Kleine sog erschrocken die Luft ein. „Tut mir leid, Papa!“

Immerhin achtete sie nun wesentlich besser darauf, wohin sie ihn führte. Timo, der Kummer und blaue Flecken gewöhnt war, seufzte unhörbar.

Ich finde, sie macht das schon ziemlich gut für ihr Alter, erreichte ihn der mentale Kommentar seines besten Freundes.

„Kann sein, aber ich vermisse dich trotzdem. Wann kommst du zurück?“ Er verbarg die Resignation hinter den tonlos gemurmelten Worten absichtlich nicht.

Ich weiß nicht genau. Gleich um fünf soll eine Einsatznachbesprechung erfolgen, ich würde vorher gern noch privat mit dem Major reden und unser Scharfschütze wollte anschließend den versprochenen Drink ausgeben. Kommt ihr die Zeit noch ohne mich aus?

„Zumindest auf die Runde kannst du doch wohl für deine Freunde verzichten, oder?“

 

*

 

Die Missstimmung, die ich bei Major Wolf nach unserem Einsatz gespürt hatte, war mir völlig unverständlich. Ich hatte den halben Nachmittag mit Timo gemeinsam gerätselt, was schiefgelaufen sein konnte. Wir kamen auf Kleinigkeiten, Details, die das Team und ich spontan geändert hatten. Das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen. Es gab neun verhaftete IS-Kämpfer, zwei geschockte, jedoch ansonsten unversehrte Botschafter, nur minimalen Sachschaden und keinerlei Verletzungen von Zivilisten oder Mitgliedern des Einsatzkommandos. Deshalb ließ ich Wolf nach seiner späten Rückkehr nicht aus den Augen, um Anhaltspunkte für die schlechte Laune zu finden. Ich brauchte nicht lange zu warten, bis er einen Anruf übers abhörsichere Diensttelefon in seinem Büro erhielt. Wie erwartet war der General dran. Das Gespräch drehte sich zu meinem Erstaunen weniger um unseren Einsatz, als vielmehr um etwas völlig anderes.

„Haben Sie es sich jetzt überlegt?“, hörte ich Giants Stimme aus der Leitung.

„Sie können das nicht von mir verlangen“, erwiderte der Major rau. „Nicht nach nur zwei Tagen und erst recht nicht, sofern es Zivilisten betrifft. Können Sie abschätzen, was geschieht, wenn wir unseren Gast verärgern? Sie haben ihn im Gegensatz zu mir noch nie in Aktion erlebt. Glauben Sie mir – das wollen Sie nicht wirklich, General!“

„Wir haben sein Profil von einigen fähigen Psychologen analysieren lassen“, schnarrte die hochrangige Führungspersönlichkeit. „Alle haben mir unabhängig voneinander glaubhaft versichert, dass dieser junge Mann zu keinerlei Racheabsichten neigt und sich den Vernunftargumenten beugen wird. Er möchte nicht riskieren, dass jemand seinetwegen verletzt oder getötet wird. Deshalb wird er sich dem Unvermeidlichen fügen.“

„Bei allem Respekt, Sir – selbst wenn es ihm nicht in den Sinn kommen sollte, uns ernsthaften Schaden zuzufügen, bleibt die Tatsache, dass es gegen die Menschenrechte verstößt und mir persönlich absolut zuwider ist. Deshalb werden Sie auf die Mithilfe meiner Einheit verzichten müssen. Suchen Sie sich einen anderen Dummen, der für Sie die Drecksarbeit macht – oder tun Sie es selbst, wenn Sie es für unbedingt notwendig erachten. Meiner Meinung nach begehen Sie damit einen furchtbaren Fehler. Es ist weder nötig noch sinnvoll, den Mann unter Druck setzen zu wollen, da er nämlich bisher völlig freiwillig hier ist. Abgesehen davon, dass er soeben einer Botschafterin sowie vermutlich einigen meiner Leute den Hals gerettet und dafür gesorgt hat, dass wir positive Schlagzeilen bekommen.“

Es war einen Moment lang still in der Leitung. Meine Hochachtung vor dem Mut des Majors stieg gewaltig. Ich ahnte, wie schwer es für ihn sein musste, seinem Vorgesetzten zu widersprechen und Klartext mit ihm zu reden. Zum Glück war es bei meinem eigenen Chef zu Hause nie wirklich nötig, da wir meistens einer Meinung waren.

„Wenn das Ihr letztes Wort ist, werden Sie sich vor einem Militärgericht verantworten müssen“, knurrte der General heiser. „Sie verweigern den Gehorsam, Soldat. Das kann Sie ihre Sterne und Ihren Job kosten.“

„Das ist mir vollkommen bewusst, Sir“, antwortete Wolf kalt. „Aber Sie können sicher sein, dass ich nicht der Einzige sein werde, dem in diesem Falle eine Anklage droht. Sie wissen sehr wohl, welchen Dienst wir hier für unser Land leisten. Ich würde gern erfahren, was der Präsident zu der ganzen Angelegenheit sagt. Zufällig kenne ich jemanden, der in allernächster Zukunft zu einer persönlichen Unterredung bei ihm eingeladen ist.“

„Sie werden es nicht wagen, auch nur ein Sterbenswort von diesem vertraulichen Gespräch verlauten zu lassen!“, ächzte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Dann kriege ich Sie wegen Verletzung der Staatssicherheit und Hochverrat dran!“

„Oh, keine Sorge, Sir. Niemand erfährt von mir auch nur eine Silbe von dem, was wir gerade besprochen haben. Ich werde den Eid nicht brechen, den ich meinem Land geschworen habe. Weder Ihretwegen noch aus einem anderen Grund. Aber ich habe den konkreten Verdacht, dass es nicht einfach sein wird, solche Pläne auf längere Sicht vor unserem Gast zu verheimlichen. Sie wissen um die vielfältigen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, um unbemerkt an Informationen heranzukommen.“

„Nun, dann wollen wir hoffen, dass Sie ihr Bestes tun, um ein Leck welcher Art auch immer zu verhindern!“, blaffte der General. Er verabschiedete sich kurz angebunden und legte auf. Wolf starrte einen Augenblick lang mit seltsamem Blick ins Leere, ehe er seinerseits bedächtig den Apparat aus der Hand gab. Einen weiteren Moment verbrachte er überlegend in seinem Bürostuhl, bevor er entschlossen erneut nach dem Hörer griff und eine Kurzwahltaste drückte.

„Hallo Frank. Bringen Sie bitte unseren Gast zu meinem Büro“, sagte er ruhig.

Länger wartete ich nicht, klopfte an und trat auf sein mechanisches „Herein“ hin ein. Das kurze Erstaunen in seinem Blick wich rasch einem amüsierten Funkeln.

„Wie lange haben Sie schon vor der Tür gelauert?“

„Etwa fünf Sekunden. Aber ich gebe zu, Ihr Gespräch eben trotzdem vollständig mitangehört zu haben. Was zum Geier wollte General Giant von Ihnen?“

Wolf stützte den Kopf in die Hände, stöhnte und wirkte mit einem Mal resigniert.

„Sie bekommen wohl alles mit, oder? Nun, es macht die Sache für mich wesentlich einfacher. Erzählen Sie mir bitte, was Sie von meinem Gespräch vorhin verstanden haben und auch, welche Schlüsse Sie daraus ziehen. Ich selbst darf Ihnen nämlich nicht das Geringste darüber verraten, wie Sie sicherlich ebenfalls gehört haben.“

Ich gab den Inhalt des Telefonats mit knappen Worten wieder und äußerte den Verdacht, dass ich erpresst werden sollte. Der Major antwortete lediglich durch Nicken. Obgleich ich ihn am liebsten dazu gezwungen hätte, mir die ganze Geschichte sofort zu erzählen, ließ ich mich aus Respekt vor dem Mut und Stehvermögen gegenüber seinem Vorgesetzten auf ein aufwendigeres, jedoch ebenso effektives Fragespiel ein. Am Ende wusste ich, dass mir nur noch wenig Zeit blieb, um die kleine Familie meines besten Freundes vor Schaden zu bewahren.

 

 

5.

 

Ich war ziemlich sauer, als ich nach dem Gespräch mit dem Major aus dem Raum stürmte, um meinen Rucksack zu holen, und mich wenigstens noch von der Spezialeinheit zu verabschieden. Gerade hatte ich angefangen, diese Leute hier zu mögen und dann das! Obwohl mir bewusst war, dass sie rein gar nichts mit der Sache zu tun hatten, verspürte ich nicht mehr die geringste Lust, auch nur eine Sekunde länger hierzubleiben als unbedingt nötig.

Ich vergewisserte mich, dass bei meinen Freunden weiterhin alles in Ordnung war, bevor ich den Gemeinschaftsraum betrat. Timo bestätigte, dass sie gerade vom Schwimmbad abgeholt wurden und in den Van einstiegen, der sie zurück zum Hotel bringen sollte. Es war der gleiche Fahrer wie auf dem Hinweg, also einer von Wolfs Männern. Das beruhigte mich ein wenig. Zumindest schien der Plan des Generals durch die Weigerung seines Untergebenen noch etwas verzögert zu werden.

Nehmt bitte keine weiteren Angebote an und lasst euch auf nichts ein, war mein mentaler Rat. Packt eure Sachen und wartet im Hotel auf mich. Ich komme, so schnell ich kann, und dann geht’s ab nach Hause. Präsident hin oder her.

Im Aufenthaltsraum war die gesamte Truppe bereits versammelt, um der Worte ihres Vorgesetzten bezüglich des erfolgreichen Einsatzes zu harren. Als ich meinen Abschied verkündete, starrten mich alle entsetzt an.

„Aber warum denn so plötzlich?“, fragte einer der Männer. „Hat Wolf es sich anders überlegt oder hat er dich vergrault? Das sähe ihm ähnlich!“

„Nein, das ist es nicht“, erwiderte ich kopfschüttelnd. „Der Major hat damit nichts zu tun, nur der General. Ihr wisst es vermutlich nicht, aber er hat vor, mich durch Erpressung zu irgendeiner dubiosen Sache zu zwingen. Ihr versteht sicherlich, dass ich da nicht mitspiele. Ich möchte auf keinen Fall riskieren, dass meine Freunde in Gefahr geraten.“

Dies rief einen Sturm der Entrüstung hervor.

„Erzähl uns davon, Mann!“, kam es von einem jungen Soldaten, der Fox genannt wurde.

„Ist ’ne lange Geschichte und dazu hab ich jetzt wirklich keine Zeit mehr“, wehrte ich ab. „Tut mir leid, dass es nichts wird mit unserer Zusammenarbeit. Wenn eure Regierung solche hinterhältigen Pläne schmiedet, müsst ihr allein klarkommen. Macht’s gut ...“

Ich wandte mich zum Gehen, aber Shark und eine junge Frau namens Tiger versperrten mir den Weg, was mich innerlich aufstöhnen ließ.

„Bitte zwingt mich nicht dazu, energisch zu werden.“

„Nein“, widersprach der Scharfschütze ruhig. Und Tiger ergänzte: „Erst wollen wir genau wissen, was hier läuft. Es geht uns schon etwas an, wenn unser Auftraggeber hinter unserem Rücken krumme Dinger abzieht. Wir dachten nämlich bisher immer, dass wir für die Guten arbeiten.“

Die anderen Anwesenden nickten bestätigend. Gleich darauf bildeten die Elitekämpfer einen dichten Kreis um mich. Dabei spiegelten ihre Gesichter eine solch grimmige Entschlossenheit wider, dass ich nicht umhinkam, den Schneid dieser Menschen zu bewundern und einen völlig unpassenden Anfall von Heiterkeit verspürte.

„Ihr müsst echte Adrenalinjunkies sein, Leute! Glaubt ihr wirklich, dass ihr mich damit aufhalten könnt?“

Shark schüttelte den Kopf und sagte heiser: „Nö. Ich weiß, dass du uns mit deinen Kräften ohne Mühe wegpusten oder einfach – zack – durch die Decke verschwinden oder sonst was anstellen könntest. Keine Ahnung, ist mir auch ziemlich egal. Aber du bist ein Pet – einer von uns. Wir lassen Teamkameraden nicht im Stich, wenn sie in Not sind. Gut, vielleicht brauchst du unsere Hilfe nicht, weil du die Sache im Griff hast, doch es wäre zumindest fair, uns eine Chance zu geben.“

Ich seufzte. Eigentlich drängte alles in mir danach, endlich aufzubrechen. Immerhin befanden sich meine Freunde nach wie vor in Begleitung des erfahrenen Kämpfers und wohlbehalten auf dem Rückweg ins Hotel. Mir blieb noch mindestens eine Viertelstunde, bis sie dort eintrafen – Zeit genug, um diese Menschen nicht zu verprellen, die sich so offensichtlich auf meine Seite gestellt hatten. Rasch berichtete ich von dem Gespräch mit Wolf sowie von Giants dubiosen Plänen, die eigentlich von dieser Spezialeinheit ausgeführt werden sollten. Ich blickte in sprachlose, ungläubige Gesichter.

„Das ist der Hammer“, ächzte einer der Männer.

„Aber ich bin echt stolz auf unseren Boss“, stellte die zweite anwesende Frau fest, die sich Panther nannte, und erntete Zustimmung von überall.

„Also, wenn die Regierung jetzt so drauf ist, dann kündige ich!“, rief Tiger entschlossen. Sie blickte wild um sich. „Das können die nicht mit uns machen!“

Auch ihre Aussage wurde grimmig begrüßt.

„Aber es würde dem Verantwortlichen für diese Schande nur noch in die Hände spielen, wenn die Guten einfach das Handtuch werfen“, kam eine ruhige, kräftige Stimme aus dem Hintergrund. Die Truppe fuhr zusammen und die Köpfe ruckten herum. Von den meisten Anwesenden unbemerkt war Wolf eingetreten. Sofort standen alle militärisch stramm, bis das Zeichen zum Entspannen kam. In die entstandene Stille hinein meinte der Major: „Nun, da ihr unseren Gast offensichtlich dazu gebracht habt, euch in streng geheime, absolut vertrauliche und darüber hinaus unerhört gesetzeswidrige Staatsangelegenheiten einzuweihen, gestehe ich hiermit, dass ich vorhabe, mich gegen die Obrigkeit zu stellen. Ich verhehle euch nicht, dass mich dafür mit hoher Wahrscheinlichkeit das Militärgericht erwartet und unserer Einheit die Auflösung droht, falls sich der General mit seinem Ansinnen durchsetzen sollte. Wenn es unter euch also jemanden gibt, der gegen diesen Plan ist, möge er jetzt den Raum verlassen. Er wird keine Bestrafung erhalten und meine persönliche Empfehlung für jede andere Spezialeinheit.“

Niemand rührte sich. Wolf nahm es mit unbewegtem Gesicht zur Kenntnis und nickte. Nur ein gewisses Funkeln in seinen Augen verriet seine Gefühle dabei.

„Unseren Freund hier betrachte ich ab sofort als vollwertiges Mitglied meiner Einheit, der seine Probezeit und alle Tests mit Bravour bestanden hat. Dr. Lewis stimmt mir sicherlich zu, dass er körperlich mindestens ebenso gut in Form ist, wie jeder der hier Anwesenden. Über seine enormen Fähigkeiten im praktischen Einsatz müssen wir nicht erst reden. Sein Deckname wird Ray sein. Also willkommen bei den Wild Pets. So nennt man uns nämlich mehr informell.“

Die zwölf Elitesoldaten jubelten und schlugen mir auf die Schulter.

„Gratuliere“, meinte Shark andächtig. „Du schlägst alle Rekorde hier. Die kürzeste Probezeit, die wir bisher hatten, lag bei fünf Wochen!“

Sam alias Sparrow, der gewohnheitsmäßig die Bilder der Außenkameras auf seinem Tablet kontrollierte, schlug Alarm. „Wir bekommen Besuch!“
Er hielt den kleinen Bildschirm hoch. Deutlich konnte man erkennen, wie ein Armeehelikopter im Dämmerlicht des schwindenden Tages draußen auf dem Landeplatz neben dem Heli des Teams aufsetzte.

„Giant!“, knurrte Wolf und wandte sich zum Gehen. Ich nickte und schüttelte gleichzeitig bekümmert den Kopf.

„Er kommt nicht allein.“

Einen seinen Begleiter kannte ich nur zu gut. Die Erinnerung an unsere letzte Begegnung war keine besonders angenehme, da ich ihm meine Meinung gesagt und ihm einen Korb gegeben hatte.

„Am besten verschnürst du die Kerle säuberlich und wir sperren sie hier ein“, schlug Fox vor. „Dann hast du’s hinter dir und sie machen keinen Ärger mehr.“

„Gute Idee. Ich wollte sowieso in Ruhe mit ihnen reden“, erwiderte ich grimmig auf dem Weg nach oben. Doch bevor ich das Erdgeschoss betreten hatte und die Ankömmlinge vollständig ausgestiegen waren, erreichte mich Timos mentaler Hilfeschrei. SIMON, sie haben uns!

Oh nein! Wo seid ihr? Wer hat euch?

Drei Männer, vermutlich Soldaten. Sie haben vor dem Hotel auf uns gewartet. Sie ...

Er brach den Gedanken ab und ich hörte ihn brüllen: „Lassen Sie meine Tochter los, Sie A...“

Mist! Sie zwingen uns, in ihren Wagen zu steigen! Unseren Fahrer haben sie bewusstlos geschlagen – jedenfalls hoffe ich, dass er noch lebt.

„Haltet durch, ich komme!“, rief ich hastig.

Wutentbrannt sorgte ich dafür, dass die Neuankömmlinge sich nicht mehr rührten, bis ich persönlich bei ihnen angelangt war.

„Lassen Sie sie gehen“, befahl ich eisig. „Geben Sie meine Freunde sofort wieder frei! Sonst ...“

Der General blickte mich etwas unsicher an, aber Moeller ergriff das Wort, sobald ich es ihm gestattete.

„Sonst was?“, fragte er äußerlich ruhig. „Wollen Sie uns dazu zwingen? General Giants Leute haben den Befehl, Ihre Freunde auf jeden Fall an einen sicheren Ort zu bringen. Dort bleiben sie zumindest bis morgen Abend. Kein Mensch kann die Order widerrufen, nicht mal der Befehlshaber selbst. Niemand, verstehen Sie? Diese Vorsorge war absolut sinnvoll, wie ich Giant bereits versichert habe. Nun wird er mir glauben ... Das Einzige, was Sie damit erreichen, wenn Sie uns einsperren, foltern oder sogar töten – wovon ich nicht ausgehe – ist, dass Ihre Freunde darunter leiden müssen. Widerrufen des Befehls ist nicht möglich, eine Änderung zum Nachteil Ihrer Bekannten schon. Und wenn es den Männern nicht regelmäßig gelingt, Kontakt zu uns aufzunehmen, lauten ihre Anweisungen, der kleinen Familie beträchtlichen Schaden zuzufügen. Also lassen Sie uns bitte wieder los und begleiten Sie uns in meine Einrichtung. Dort können wir hoffentlich wie vernünftige Erwachsene miteinander reden.“

Ich löste tief durchatmend die Fesseln der Soldaten und des Piloten. Sofort richteten die zwei bewaffneten Begleiter ihre Gewehre auf mich, obgleich ihre Hände dabei merklich zitterten. Der General stoppte sie mit einer Geste.

„Halten Sie lieber unseren ehrenwerten Major und seine Männer davon ab, ihren Eid zu brechen.“

Er deutete auf den Eingang des Bunkers, in dem sich die Wild Pets hinter Wolf drängten. Niemand wagte es, vorzutreten, da der Boss ihnen Einhalt gebot. Die Waffen richteten sich auf die Gruppe, während ich den Helikopter bestieg. Sofort hob der Pilot ab.

Ich komme wohl doch etwas später, war mein bedauernder Kommentar an Timo.

Dachte ich mir irgendwie ...

„Aber sie können ihn doch nicht einfach so mitnehmen!“, rief Fox aufgebracht. „Das lassen wir nicht zu, Kameraden!“

„Genau das tun wir“, erwiderte Wolf rau. „Ansonsten haben wir nämlich nicht nur mit sofortiger Wirkung unseren Job verloren, sondern eventuell auch unsere Freiheit. Und das würde Ray nicht das Geringste helfen.“

„Viel Glück“, sagte er leise in meine Richtung und sah, wie ich ihm durchs Fenster zuwinkte. Dann drehte er sich um und schob dabei seine Männer zurück ins Gebäude.

Der Hubschrauber brachte uns zu Moellers geheimer Einrichtung mitten im Nirgendwo. Der Weg dorthin war lang – Zeit genug, um mit Timo über die Situation zu sprechen.

Sie brauchen eine explosive Lösung für ein heikles Problem, war Timos Vermutung. Und zwar für eins, das sie weder öffentlich zugeben noch bekämpfen können.

„Das hört sich ja sehr ermutigend an“, erwiderte ich lautlos. „Behandeln sie euch wenigstens gut?“

Bis jetzt ja. Leider haben sie Susanna und Zoey die Augen verbunden, kurz nachdem meine Frau bemerkt hatte, dass wir Richtung Gloucester unterwegs sind.

Die wichtige Information teilte ich Sam sofort übers Handy mit – per Textnachricht. Diese lautlose und völlig unauffällige Art der Kommunikation hatte ich längst für mich entdeckt. Die Eingabe von Text erledigte ich bequem per gedanklichem Tippen und ebenso schnell, wie ich die Botschaft formulieren konnte. Da niemand der Anwesenden mein Handy sah, das wie üblich an meinem linken Unterarm klebte, war es nahezu perfekt. Es dauerte weniger als eine Minute, bis ich die Antwort erhielt:

‚Mach dir keine Sorgen – wir sind schon auf der Suche nach ihnen. Lass dich nicht unterkriegen! Grüße von allen Pets.‘

Sams Worte gaben mir ein wenig von dem Mut und der Zuversicht zurück, die mir momentan fehlten.

Endlich waren wir an unserem Ziel angelangt. Der abgelegene Ort war weit genug von meinen Freunden entfernt, um sie dafür büßen zu lassen, wenn ich mich unerlaubt fortstahl. Extra für mich schienen auch die Sicherheitsvorkehrungen erhöht worden zu sein. Es gab mehr Wachen, mehr Kameras sowie ein ausgeklügeltes elektronisches Verrieglungssystem, das mit biometrischen Daten arbeitete.

„Nicht übel.“ Ich nickte Moeller anerkennend zu. „Sie haben wirklich an alles gedacht.“

„Nicht wahr“, lächelte der schlüpfrige Kerl hintergründig. Er wurde mir von Begegnung zu Begegnung unsympathischer. „Ob Sie es glauben oder nicht – ich freue mich sehr darüber, Sie noch einmal bei uns zu sehen. Unsere Vorbereitungen auf Ihren Aufenthalt waren ziemlich aufwendig. Ein ausbruchssicheres Gefängnis für den Fantasten zu schaffen, war nicht ganz einfach. Zumindest körperlich können wir Sie bei Bedarf für etwas längere Zeit hierbehalten.“

„Aber, aber, mein lieber Mr. Moeller – wir wollen unserem Gast doch den Aufenthalt hier nicht gleich vermiesen. Zudem bin ich gewiss, dass es gar nicht nötig sein wird, ihn lange festzuhalten, da er unser Ansinnen sicherlich durchaus versteht und nachvollziehen kann, weshalb wir uns damit an ihn wenden“, entgegnete der General auf dem Weg vom Helikopter zum Fahrstuhl. Auch die Baracke, in der sich der Eingang zum unterirdischen Gebäudekomplex befand, war wesentlich besser gesichert als bei meinem letzten Besuch. Sie bestand aus verstärkten Stahlbetonwänden, deren äußere Holzverkleidung einen harmlosen Eindruck vermittelte. Die Fenster waren vergittert und aus dickem Panzerglas gefertigt. Ich wurde in eine quasi uneinnehmbare Festung hineingeleitet. Innerlich schüttelte ich den Kopf über den ganzen finanziellen, technischen und materiellen Aufwand, den sie betrieben hatten, nur in dem irren Glauben, mich hier drin einsperren und gegen meinen Willen festhalten zu können. Aber ich sagte ihnen nicht, wie sinnlos diese komplette Aktion gewesen war. Dafür blieb später immer noch Zeit. Die nette Überraschung wollte ich mir für einen besonderen Moment aufsparen.

Stattdessen folgte ich dem Einrichtungsleiter in sein altbekanntes Büro, dessen Tür wie alle übrigen Eingänge nun aus dickem Stahl bestand und mit dem gleichen System gesichert war. Giant wurde ein bequemer Stuhl angeboten, auch Moeller setzte sich auf einen solchen. Ich selbst blieb stehen und ignorierte den harten Metallhocker, der anscheinend für mich vorgesehen war.

„Möchten Sie sich nicht setzen?“, fragte der General mit Blick auf die unbequeme Sitzmöglichkeit ohne Lehne. Eigentlich klang es nicht wie eine Frage, eher wie ein Befehl.

Moeller sah etwas beunruhigt aus und sagte rasch: „Ich lasse sofort noch einen anderen Stuhl herbringen.“

Er wollte auf die Gegensprechanlage drücken, doch ich hielt seine Hand kopfschüttelnd zurück. „Für Kinderspielchen ist die ganze Angelegenheit ein wenig zu heikel. Nun, wenn Sie durchaus darauf bestehen – bitte sehr.“

Mit diesen Worten setzte ich mich auf meinen eigenen Stuhl, was Moeller leicht belustigte und dem General ein leises Keuchen entlockte. Er starrte mich fasziniert an, was mir in Erinnerung rief, dass dies erst das zweite Mal sein dürfte, dass er persönlich mit meiner Vorstellung konfrontiert wurde. Einige Augenblicke später hatte er sich wieder so weit im Griff, dass er seine Sprache wiederfand.

„Ich bin beauftragt, Ihnen ein lukratives Angebot zu machen“, erklärte er sachlich. „Wie Sie wissen, intervenieren die Truppen unseres Landes seit längerer Zeit in verschiedenen Krisenregionen. Vor allem im Irak und in Syrien ist der Kampf gegen die Terrormiliz IS weiterhin voll im Gange, die täglich Opfer fordert. Wir möchten, dass dieser Krieg endlich beendet wird – und zwar schnell und effektiv. Die Flüchtlingskrise in Europa ist dramatisch, ebenso wächst die Angst in der Bevölkerung vor Vergeltungsanschlägen im eigenen Land. Wir verlangen von Ihnen nichts weiter, als dass Sie Ihre Ressourcen für unsere Seite einsetzen. Sie verfügen über unbegrenzte Mittel an Waffen und Sprengstoff, die Sie gezielt zur Terrorbekämpfung verwenden könnten. So würden wir endlich Frieden im Nahen Osten erreichen, und zwar sehr bald. Viele Menschen wären nicht mehr gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, könnten ihre zerstörten Häuser aufbauen und sicher darin wohnen. Wäre das nicht ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt?“

Einen Moment lang sprach niemand ein Wort. Die Stille lastete annähernd greifbar in dem gut schallgedämpften Raum. Dann nickte ich langsam.

„Oh ja, ein sehr gutes Ziel. Frieden … Nur glaube ich nicht daran, dass er sich mit Waffengewalt erreichen lässt.“

„Wir wissen, dass Sie diese Einstellung haben. Aber verstehen Sie unseren Standpunkt nicht? Wir sind es leid, mühsamen Kleinkrieg zu führen, das Leben vieler Soldaten zu riskieren, um einzelne Islamisten auszuschalten. Sie könnten diese Aufgabe mit geringem Aufwand in einem einzigen Abwasch erledigen – und vermutlich mit weniger Blutvergießen, als momentan ohnehin stattfindet.“

„Sie brauchen Hilfe im Kampf gegen Terrorismus und den IS? Gut, Sie bekommen sie. Freiwillig und ohne dass Sie mich dazu zwingen müssten. Allerdings zu meinen Bedingungen – und die beinhalten nicht, dass ich eine Bombe auf das feindliche Lager abwerfe.“

„Aber Sie entscheiden doch selbst, welche Ziele getroffen werden!“, rief Giant erregt. „Kein Unschuldiger muss dabei sterben, wenn es vermeidbar ist. Ihre Einstellung bringt wesentlich mehr Menschen den Tod, als Sie ahnen. Was glauben Sie, wie viele Opfer dieser Krieg bisher gefordert hat, weil niemand es geschafft hat, ihn zu beenden? Denken Sie nicht, dass besser ein paar wenige, eher schädliche und gefährliche Leute sterben, damit sehr viele gerettet werden? Unsere Männer riskieren ihr Leben da draußen, um Stellungen zu bombardieren und Ziele ausfindig zu machen, die sich lohnen. Leider treffen sie nur äußerst selten die Richtigen. Oft erwischt es auch Unschuldige. Das ist schlimm und jeder Soldat bedauert dies, wenn er davon erfährt. Aber die Leute kämpfen trotzdem weiter, weil es ein gutes Ziel ist, was sie antreibt: endlich Frieden zu schaffen. Und den können wir nur erreichen, indem wir die Terroristen auslöschen. Einen nach dem anderen, radikal und ohne Kompromisse. Reden kann man mit denen nicht. Aber das sollten Sie selbst am besten wissen.“

„Das klingt alles sehr überzeugend“, entgegnete ich und blickte Giant aus schmalen Augen an. „Ihre Argumente sind sogar so gut, dass ich mich frage, warum Sie mir die nicht bei unserem ersten Treffen bereits genannt haben – ohne diesen monumentalen Aufwand einer brutalen Erpressung und der Errichtung eines unterirdischen ausbruchssicheren Gefängnisses. Denken Sie nicht, dass ich grundsätzlich bereit bin, Ihrem Land genauso zu helfen wie meinem eigenen und die gleichen Schritte zu unternehmen, um mehr Frieden und Sicherheit zu bringen? Wir wären uns bestimmt einig geworden, was die angemessenen Mittel dazu anbelangt ... Aber Sie versuchen es ja sofort mit der Brechstange. Ich frage mich also wirklich nach dem Grund.“

„Nun, die Bedingung für das Angebot an Sie lautet, dass Sie Ihre Kräfte im Sinne der Regierung sowie zur Sicherung unseres Landes einsetzen und die Ziele damit zerstören, die wir Ihnen nennen.“

Die Stimme des Generals hörte sich rau und brüchig an. Er blickte mich nicht an, sondern an mir vorbei, als hätte er Angst vor dem, was ihn erwartete.

„Aha. Nun kommen wir der Sache schon näher. Ich durchschaue Ihren Plan. Wirklich sehr klug und geschickt eingefädelt. Erst räume ich für Sie die Terroristen aus dem Weg, dann einen Diktator mit seinen Streitkräften, ungeliebte Störenfriede, vielleicht ein paar Gangsterbosse oder Regierungsgegner ... Nun, Sie kennen meine Antwort. Sie lautet, dass ich mich nicht als ultimative Waffe benutzen lasse. Ich töte keine Menschen – weder für Sie noch für irgendwen sonst.“

Meine beiden Gesprächspartner schwiegen betreten. Ich sah, wie es in ihren Gesichtern arbeitete. Dass sie mir nicht widersprachen, bestätigte meine Behauptung.

„Allerdings“, fuhr ich fort, „bin ich gern bereit, mit der Regierung gemeinsam an einer politischen Lösung zu arbeiten, und helfe aktiv bei der Bekämpfung terroristischer Gruppen mit, um die Mitglieder und Verantwortlichen zu entmachten, zu verhaften oder an der Gewaltausübung zu hindern. Denken Sie nicht, dass dies der bessere Weg ist?“

Giant redete noch eine ganze Zeit lang und versuchte, an seine überzeugenden Argumente vom Anfang anzuknüpfen. Er appellierte an mein Mitleid, mein Gewissen, mein Ehrgefühl, meinen Stolz. Er sprach von Ruhm und Ehre, Reichtum, politischem Einfluss und der großen Verantwortung, die mit meiner Macht einherginge. Aber seine Worte prallten an mir ab, da ich genau wusste, welche Motivation dahinterstand. Seine Ignoranz meines eigenen Angebots und seine Versuche, sich zu rechtfertigen, machten mir mehr als deutlich, dass dieses ganze Gespräch eine Farce war. Ein fadenscheiniger Vorwand, sich meiner Loyalität und Dienste zu versichern, obwohl sie genau wussten, dass sie mich höchstens dazu zwingen konnten.

Ich sagte doch – eine explosive Lösung ihrer Probleme, für die sie nachher keine Verantwortung übernehmen werden ...

Timo hatte mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen.

 

6.

 

Sie schienen nicht ernsthaft damit gerechnet zu haben, an diesem Tag bereits eine feste Zusage zu ihrem Projekt zu erhalten. Aber sie räumten mir vierundzwanzig Stunden Zeit dafür ein. Diese sollte ich in der Anlage verbringen, in der ich offiziell als Gast verbucht wurde. Allerdings bezog ich nach unserem Gespräch eine winzige Spezialzelle, die mitten im Inneren des Gebäudekomplexes lag. Wände, Boden und Decke bestanden aus einer extrem harten Stahl-Legierung, die doppelte Tür war mit einem gleich dreifach biometrisch gesicherten Schloss versehen. Es gab nach Moellers Aussage lediglich zwei Personen auf der Welt, die momentan diese Tür öffnen konnten. Eine davon war er selbst, die zweite wurde soeben ins nächstgelegene Hotel geflogen. In dem etwa drei mal drei Meter messenden Raum befand sich außer Kameras mit Infrarot-, Wärme- und Bewegungssensoren sowie sehr empfindlichen Mikrofonen absolut nichts. Auf die Frage, in welcher Ecke ich mein Geschäft erledigen sollte, überreichte mir Moeller einen Urintopf mit Deckel.

„Es schien uns die einzige Möglichkeit, Sie wirklich unter Kontrolle zu halten“, meinte er entschuldigend. „Sie werden diesen Raum nur in meiner Begleitung verlassen. Für den Fall, dass wir Sie auch nur fünf Minuten lang nicht mehr auf den Monitoren sehen, Ihren Herzschlag nicht mehr hören oder die Technik versagt, haben wir Konsequenzen vorgesehen, die nicht Sie selbst tragen werden. Ebenso verfahren wir, falls Sie sich beim Verlassen dieses Raumes außerhalb meines Sichtfeldes aufhalten oder sich sonst irgendwie im Gebäude ‚verlaufen‘ sollten. Haben wir uns verstanden?“

Ich nickte, beinah gegen meinen Willen beeindruckt. „Klingt brutal ungastlich, aber einleuchtend.“

Unbemerkt aus dem Gebäude zu entkommen, war somit ziemlich ausgeschlossen. Es hieß nicht, dass mir nicht mindestens eine Handvoll Möglichkeiten eingefallen wären, diesen Raum und auch die gesicherte Anlage dennoch zu verlassen, aber sie benötigten sorgfältige Planung und ein wenig Vorbereitungszeit. Schließlich wollte ich nicht riskieren, dass meinen Freunden dadurch etwas geschah.

Vorläufig richtete ich es mir also gemütlich im ‚Hotelzimmer‘ ein und machte mich bettfertig. Erst als ich bereits todmüde daniederlag, fiel mir auf, dass es keine offizielle Möglichkeit gab, die kalte Deckenbeleuchtung auszuschalten. Ich fragte also in Richtung der Hauptkamera, ob es eine Chance gäbe, die Lichtstärke etwas zu reduzieren, erhielt jedoch keine Antwort. Da niemand davon gesprochen hatte, dass das Licht nicht gelöscht werden durfte, tat ich es schließlich auf meine Art. Immerhin hatten sie mich auch in diesem Fall noch gut sichtbar auf ihren Monitoren. So konnte ich zumindest einige Stunden Schlaf finden.

Am nächsten Morgen sah ich, dass mein Boss mir übers Handy auf die Textnachricht von gestern Abend geantwortet hatte. ‚Pass auf dich auf‘ – sein Standardsatz. Wolf schrieb, dass er bereits einige seiner Leute losgeschickt hatte, um nach Timos Familie zu suchen. Sie wollten sich an ein paar verdächtigen Orten genauer umsehen. Ich hatte allen Bekannten eingeschärft, mich nicht anzurufen, um Moeller nicht auf dumme Gedanken zu bringen. Frühstück bekam ich keins und fragte auch nicht danach. Aber ich prostete meinen Beobachtern mit der Kaffeetasse zu und sah sie beim Betrachten des Monitors grinsen. Es waren der Einrichtungsleiter plus eine seiner Assistentinnen, die beide ebenso einen Kaffee vor sich hatten, dazu ein Croissant mit Butter und Marmelade. Das sah so lecker aus, dass ich mir gleichfalls ein solches Frühstück erdachte, obwohl ich sonst eher auf Vollkornbrot stand.

„He Leute, ist heute Sonntag?“, fragte ich und biss herzhaft ins Blätterteiggebäck. Die feinen Mikrofone mussten das leise Knuspern dabei aufgefangen haben, denn meine Beobachter sahen sich verwundert an, dann auf ihr eigenes Frühstück. Moeller schaltete als erster und meinte schmunzelnd: „Nein, aber wir bekommen hier jeden Donnerstag Croissants. Wir würden Sie ja gern zu uns einladen, allerdings besteht der General darauf, dass Sie bis heute Abend keinerlei Verköstigung oder andere materielle Dinge von uns erhalten sollen. Tut mir leid.“

„Ich dachte, es gäbe keine Gegensprechanlage in dem Raum?“, wunderte sich die Frau.

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf.

„Gibt es auch nicht. Aber glauben Sie mir ruhig, dass wir hier drin weder unbeobachtet sind, noch dass dem Mann in der Zelle dort irgendwas von dem entgeht, was in seiner Umgebung geschieht.“

„Selbst schuld, wenn Sie mich nicht aus den Augen lassen und ich nicht mal aufs Klo darf“, konterte ich kühl. „Vielleicht essen Sie besser etwas schneller, weil ich nämlich gleich ihren netten Pinkelpott verwenden werde, um anschließend unter die Dusche zu hüpfen. Sie sind hoffentlich nicht schamhaft, Lady?“

Die ältere Mitarbeiterin schüttelte automatisch den Kopf. Sie sah ziemlich verwirrt aus, leicht verstört und blickte sich immer wieder misstrauisch in dem kleinen Überwachungsraum um. Das erheiterte mich zumindest ein wenig und lenkte von den düsteren Gedanken ab, die sich hauptsächlich um meinen besten Freund samt Familie drehten.

Nach der Morgentoilette unter Aufsicht bekam ich bald Besuch von Mr. Moeller. Ich hatte mir schon gedacht, dass er sich diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen würde. Bereits bei unserem Kennenlernen vor über vier Jahren war er begierig darauf gewesen, mich auf den Kopf zu stellen und mein Geheimnis zu ergründen. Aber ich hatte ihn zum Teufel geschickt, mich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Nun war ich doch wieder hier, genauso unfreiwillig wie beim ersten Mal.

„Denken Sie wirklich, dass es Sinn macht, was Sie hier tun?“, fragte ich ihn auf dem Weg durch das unterirdische Labyrinth. Es war mir bereits sehr vertraut, weil ich schon bei meinem ersten Besuch viel Zeit gehabt hatte, jeden Gang und Raum genau zu erkunden. Es hatte sich einiges getan in der Zwischenzeit, die Hauptstrukturen waren jedoch geblieben. Wir kamen bei einer Tür an, hinter der ein Labor mit verschiedenen technischen Gerätschaften lag.

„Eigentlich würde ich viel lieber sofort in mein Zimmer zurückkehren, sofern Sie erlauben“, fügte ich hinzu und deutete auf die gesicherte Stahltür.

Auch wenn ich die unangenehmen Kindheitserinnerungen mittlerweile überwunden hatte, die mit solchen Räumen verbunden waren, meinte ich die Bemerkung halbwegs ernst. Mein Begleiter lachte, als hätte ich einen wirklich guten Witz gemacht. Die Tür öffnete sich mit seinem Daumenabdruck sowie durch den Scan seiner Retina. Er bedeutete mir einzutreten und verriegelte den Durchgang hinter uns wieder.

Dies war das größte Labor des Komplexes. Hier wurden normalerweise gentechnisch veränderte Pflanzen, Tiere und Menschen begutachtet, beobachtet, gepflegt oder misshandelt sowie von außen und innen untersucht. Dazu gab es eine Reihe Apparate – vom einfachen Röntgenbild bis hin zur modernsten Magnetresonanztomographie war hier alles möglich. Daneben gab es auch die gute alte Handarbeit, um Organismen intensiv zu testen – Reaktion auf extreme Wärme, Kälte, organische und anorganische Stoffe, Gase, Flüssigkeiten. Heute früh war dieser Raum leer, extra für mich so arrangiert, die Laborangestellten hatten vermutlich frei.

„Bevor Sie auf dumme Gedanken kommen – jeder unserer Schritte hier drin wird selbstverständlich genau überwacht. Falls mir ein Leid geschehen sollte oder die Überwachungskameras ausfallen, haben meine Leute Order, auf der Stelle den General zu benachrichtigen, der die Macht hat, Ihren Bekannten etwas Unschönes anzutun.“

„Das war mir klar, aber nett, dass Sie es noch einmal extra erwähnen“, erwiderte ich sarkastisch „Ich finde den Aufwand, den Sie getrieben haben, um Ihre Festung idiotensicher zu machen, übrigens bewundernswert. Lächerlich übertrieben und völlig überflüssig, dennoch ...“

Der Mann drehte sich zu mir um und starrte mich an. In seinen Augen sah ich die leichte Verunsicherung eines Menschen, dessen feste Überzeugung drohte, ins Wanken zu geraten. Er lächelte, weil er glaubte – oder besser hoffte – dass ich nur einen Scherz gemacht hatte. Ein Blick in meine Augen schien ihm zu sagen, dass dem nicht so war.

„Verraten Sie mir auch, wie ...“

Ich schüttelte amüsiert den Kopf. „Natürlich nicht. Es würde ja die Überraschung total verderben. Außerdem überlege ich noch, welche Alternative die sinnvollste ist.“

„Sie sehen gleich mehrere Möglichkeiten? Das glaube ich nicht! Abgesehen davon, dass ich nicht verstehe, weshalb Sie es mir überhaupt sagen – es sei denn, Sie bluffen.“

Er bedeutete mir, mich auf eine vorbereitete Liege zu setzen, und klebte mir Metallplättchen für ein EKG an.

„Ich weiß, dass Sie nicht mein Feind sind“, sagte ich leise. „Vielleicht sehen Sie in mir lediglich ein interessantes Forschungsobjekt, aber Sie haben zumindest nicht vor, mich als unfreiwillige Waffe gegen unliebsame Mitmenschen einzusetzen. Oder irre ich mich?“

Er musterte mich aus schmalen Augen. „Ich stehe in allen Belangen voll hinter meinem Vorgesetzten. Sofern Sie ihn als ihren Feind betrachten, müssen Sie das bei mir auch tun.“

„Verständlich, dass Sie ihm nicht öffentlich in den Rücken fallen möchten. Die Worte eben waren trotzdem nur für Sie bestimmt. Kurzfristige Tonstörungen sind meine Spezialität.“

Moeller seufzte. „Das ist einer der vielen Gründe, warum ich Sie so gern etwas länger hierbehalten würde. Ihre Abneigung gegen mich und diese Einrichtung verhindert dies sicherlich. Ich kann es Ihnen nicht mal verdenken, bei der Art, wie Sie hier bisher behandelt wurden. Wie gesagt, das Meiste davon war nicht meine Idee. Bitte mal einen Augenblick lang stillsitzen.“

Gehorsam bewegte ich mich nicht und er schaltete einige Apparaturen ein.

„Was haben Sie hier überhaupt vor?“

„Wir machen ein Ruhe- und ein Belastungs-EKG. Dazu nehmen wir statt eines Ergometers Ihre gedanklichen Kräfte.“

„Klingt spannend, auch wenn ich momentan eigentlich ganz andere Probleme habe.“

 

*

 

„Mama, was macht Simon gerade?“

„Ich weiß es nicht, mein Schatz“, gab Susanna zurück. „Ich dachte, du wüsstest es viel eher als ich.“

„Er antwortet mir nicht. Das macht er sonst nie! Er sagt, dass er zu beschäftigt ist.“

Zoey starrte missmutig auf ihr Malblatt. Es war schön bunt, aber es stimmte nicht alles an den Menschen darauf. Sie wusste, was nicht so gut gelungen war, bekam es jedoch nicht besser hin.

„Dann musst du ihn einfach mal in Ruhe lassen. Er meldet sich bestimmt, sobald er wieder Zeit für dich hat.“

„Mir ist sooo langweilig“, stöhnte die Kleine und riss schmale Papierschnipsel aus dem Blatt, auf dem sie versucht hatte, ihre Familie zu malen. „Warum darf ich nicht rausgehen und im Garten spielen? Das Wetter ist so schön ...“

„Woher weißt du, was draußen ist? Wir hatten doch die Augen verbunden. Oder konntest du etwas erkennen?“

Zoey zuckte die Achseln. „Eigentlich nicht. Aber ich weiß es eben. Papa sagt auch, dass da Bäume stehen und dass es hier keine Menschenseele gibt.“

„Dein Vater hat sehr gute Ohren. Durch das offene Fenster hört er die Geräusche. Aber einen Garten kann man nicht hören“, sagte Susanna lächelnd.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich höre auch gar nichts, der Garten ist hier drin.“ Sie tippte sich an die Stirn. „Als hätte jemand ein Foto davon hineingetan.“

„Vielleicht bildest du dir das nur ein, Schatz“, mischte sich Timo ein.

„Weiß nicht. Jedenfalls will ich jetzt nachsehen, ob da nicht doch eine Schaukel ist.“

Ehe ihre Eltern sie daran hindern konnten, rappelte sie sich vom Boden auf und rannte zur Tür. Mit beiden Fäusten hämmerte sie dagegen, bis der Mann, der davorstand, sie endlich öffnete.

„Was gibt es denn, junge Dame?“, fragte ihr Bewacher lächelnd. Er mochte sie offensichtlich, genau wie die beiden anderen Soldaten. Es waren also ganz normale Menschen.

„Darf ich nach draußen und da spielen?“, bat sie mit flehentlichem Blick nach oben. Der Mann zögerte. „Eigentlich nicht. Der Boss hat gesagt, dass ihr drinbleiben sollt. Ihr könntet sonst gesehen werden.“

„Aber es ist doch niemand hier, der uns sehen kann“, gab das Mädchen schmeichelnd zurück. „Bitte! Mir ist langweilig und ich möchte so gerne schaukeln.“

„Woher weißt du, dass es hier eine Schaukel gibt?“, fragte der Mann verwundert und blickte misstrauisch in den Raum. Erzähl ihm nichts von dem Bild in deinem Kopf! Die Stimme ihres Vaters klang sehr eindringlich und warnend direkt hinter Zoeys Stirn.

„Ich hab nur geraten“, meinte sie leichthin. „Es ist toll, wenn es wirklich eine Schaukel gibt. Die ist bestimmt extra für mich, oder habt ihr hier noch andere Kinder?“

„Äh, nein ... Aber das geht nicht! Keiner von euch darf nach draußen gehen.“

„Ach bitte, bitte, nur ein paar Minuten!“, bettelte sie und sah mit ihrem besonderen Blick zu dem Mann auf.

„Nur ein paar Minuten“, wiederholte der Soldat nickend. „Na gut, aber wirklich nicht länger. Sonst bekommen wir großen Ärger!“

„Oh, danke!“, strahlte Zoey und umarmte die Beine ihres Bewachers. Dieser lächelte selig, bevor sein Blick zu den Eltern wanderte.

„Einer von Ihnen muss mitkommen“, bestimmte er. Seine Stimme klang sehr nervös. „Aber nur einer! Am besten Sie.“

Er deutete auf die Mama. „Sie können besser auf die Kleine achtgeben als der Blinde.“

Zoey verkniff sich die Bemerkung, dass sie schon groß war und ihr Papa nicht gerne so genannt wurde. Strahlend griff sie nach der Hand ihrer Mutter und folgte dem Mann aus dem Raum.

 

*

 

Das mit den gedanklichen Kräften war nur ein kleiner Teilaspekt dieses besonderen EKGs, wie ich ziemlich bald feststellte. So bat Moeller mich nach der Ruhephase zunächst darum, etwas Schweres zu heben, ohne es zu berühren – ich hob ihn selbst hoch. Dann sollte ich einen Metallstab verformen sowie einige weitere Dinge durch meine Vorstellung erledigen. Dabei zeichnete er Herztöne und -frequenz auf. Es schien ihn nicht wirklich zu befriedigen. Ein ums andere Mal schüttelte er den Kopf, was vermutlich dem Umstand geschuldet war, dass mein Puls sich selbst bei stärkerer Denkleistung nur geringfügig beschleunigte. Dies wiederum lag allein daran, dass ich sowohl Herzfrequenz als auch Blutdruck unter ständiger Kontrolle hielt. Ich konnte nicht einmal genau sagen, warum ich mir überhaupt diese Mühe machte. Wahrscheinlich war einzig und allein meine Abneigung gegen den Mann vor mir daran schuld. Ich wollte einfach nicht, dass er irgendwelche Rückschlüsse aus seinen Experimenten ziehen konnte, wie auch immer diese aussehen mochten. Schließlich blickte er mich kopfschüttelnd an und meinte: „So hat das keinen Zweck. Entweder, Sie strengen sich jetzt wirklich an, oder ich lasse mir etwas anderes einfallen, um Ihren Puls hochzujagen. Aber das wäre dann eher unschön.“

Allein die Andeutung weckte Erinnerungen an unangenehme Erlebnisse vor vier Jahren in Raum Vierzehn, ganz in der Nähe dieses Labors und sorgte dafür, dass mein Herz unwillkürlich schneller schlug. Moeller kontrollierte seine Anzeigen, nickte zufrieden und machte sich unverständliche Notizen mit lauter Abkürzungen. Dann bat er mich um weitere Aktionen mit vorgestellten Dingen. Selbst ohne Bemühung um die Kontrolle der Körperfunktionen blieb mein Puls deutlich unter hundertvierzig. Der Wissenschaftler blickte mich scharf an, doch ich hob hilflos die Schultern.

„Bin halt gut im Training“, erklärte ich, „ehrlich!“

Missmutig stellte er seine Versuche ein und löste die Elektroden von meinem Körper. Anschließend nahm er mir Blut ab und bat mich darum, Proben weiterer Körperflüssigkeiten sowie verschiedener Gewebearten entnehmen zu dürfen. Er wirkte dabei etwas nervös, als rechnete er damit, dass ich nein sagen würde.

„Was versprechen Sie sich davon?“, gab ich stattdessen zurück. „Nehmen Sie, was Sie wollen, es gibt nichts Besonderes in meinem Blut, Urin oder Speichel zu entdecken. Das können Sie vergessen!“

Wenn ich allerdings gehofft hatte, ihm damit den Wind aus den Segeln zu nehmen, war dies weit gefehlt. Mit einem vergnügten Funkeln in den Augen rieb er sich die Hände.

„Na, das ist doch mal ein Wort!“

Sein Blick, mit dem er mich dabei bedachte, war derart taxierend, geradezu lüstern, dass ich mein viel zu großzügiges Angebot sofort wieder bereute.

„Aber denken Sie bloß nicht, Sie dürften irgendwas davon länger behalten“, fügte ich etwas lahm hinzu.

 

*

 

Es gab einen Garten mit einer Kinderschaukel darin. Susanna war ziemlich verblüfft und fand es auch etwas unheimlich. Sie dachte daran, was Zoey noch alles von dem uralten Großen geerbt haben konnte, dem sie es zu verdanken hatte, dass ihr jeder Mensch die Wünsche von den Augen abzulesen versuchte. Jubelnd rannte ihre Tochter auf das Spielgerät zu und kletterte begeistert darauf. Nur Anschwung geben konnte sie sich noch nicht alleine. Sobald sie einmal Schwung hatte, ging es eine ganze Zeit lang.

Das Wetter war wirklich prächtig – kaum eine Wolke befand sich am strahlend blauen Himmel. Es wehte ein lauer Wind und die Vormittagssonne brannte bereits heiß auf sie herab, sodass es der Frau bald zu warm in ihrem langärmligen Shirt wurde. Die zugestandenen ‚paar Minuten‘ verlängerten sich immer mehr, indem das Mädchen ihren Aufpasser lieb anlächelte und bittend ansah. Nachdem ihre Tochter knapp eine Stunde lang draußen gespielt und sie selbst derweil größtenteils die Wärme der Sonne genossen hatte, hörte sie ein leises Geräusch, das nicht zu den anderen passte. Erst nach einem Moment erkannte sie es als das Flappen eines Hubschraubers. Suchend blickte sie zum Himmel und entdeckte kurz darauf einen Punkt, der rasch größer wurde. Auch der Soldat sah dieses Fluggerät und sprang in Panik auf.

„Kommt mit!“, schrie er und ignorierte Zoeys Protest, als er sie grob von der Schaukel zerrte. Ohne auf ihr Weinen und Jammern zu achten, stieß er Mutter und Tochter vor sich her in Richtung Terrassentür, durch die sie ins Freie gelangt waren. Kurz bevor sie ins Hausinnere stürmten, überflog der Helikopter das Anwesen. Mit angespanntem Gesichtsausdruck wartete der Mann hinter der Scheibe, ob der Hubschrauber zurückkehren oder gar über dem Gelände kreisen würde. Aber das Geräusch entfernte sich wieder, bis es nicht mehr zu hören war. Susanna, die ebenfalls angestrengt gelauscht hatte, seufzte tief. Sie hatte so sehr gehofft, dass es jemand gewesen wäre, der nach ihnen suchte! Andererseits fragte sie sich, was mit ihnen geschehen würde, wenn ihre Bewacher merkten, dass sie entdeckt worden waren. Vielleicht war es besser so – zumindest für den Moment. Sie hoffte noch immer, dass Simon bald freikäme und sie finden würde. Aber sie wusste von Timo, dass die Chancen dafür nicht gut standen.

 

*

 

Selber schuld, war Timos trockener Kommentar, als ich innerlich fluchend ertrug, was Moeller als Nächstes mit mir anstellte. Selbstverständlich begnügte er sich nicht mit den Dingen, die einfach zu bekommen waren, sondern wollte Proben von überallher. Und da er ziemlich gut wusste, was er mir zumuten konnte, ging er nicht gerade zimperlich dabei vor. Irgendwann wurde es mir allerdings deutlich zu bunt. Ich erklärte ihm unmissverständlich, dass eine Grenze erreicht war. Immerhin verstand er die Warnung in diesen klaren Worten und begnügte sich mit dem, was er hatte. Vermutlich lag es daran, dass er seine Angestellte, die im Überwachungsraum sitzen sollte, wohlweislich zur Kaffeepause geschickt hatte und ahnte, dass ich dies genau wusste. Mit einem leicht ramponierten Gefühl machte ich mich auf den Rückweg. Zwar hatte ich die vielen Wunden äußerlich größtenteils geheilt, aber die fehlenden Moleküle waren durch nichts zu ersetzen und hinterließen einen ähnlich unangenehmen Eindruck wie juckende Mückenstiche.

„Ich denke, Sie werden sich Mühe geben, die Sachen schnellstmöglich zu untersuchen“, bemerkte ich. „Sehr lange werden Sie sie nämlich nicht behalten – außer meinem Urin. Den gönne ich Ihnen natürlich von ganzem Herzen.“

 

7.

 

„Ich glaube, wir haben sie!“, rief Tiger triumphierend. „Im alten Gateswayhaus am Sciencefield. Da war eindeutig ein kleines Mädchen, das von einem Mann durch die Tür gezerrt wurde, als wir drüber flogen. Ich meine, eine Frau war auch dabei. Die Kamera hat alles festgehalten, wir sehen uns die Aufnahme gleich an. Auf jeden Fall sollte ein Bodenteam die Lage checken. Wir kommen zurück.“

„Gut gemacht, Wild One. Schickt uns die Kamerabilder.“

Major Wolf atmete erleichtert auf. So schnell hatte er nicht mit Erfolg gerechnet! Zumindest hoffte er, dass es wirklich die Vermissten waren, die Tiger und ihr Team gefunden hatten. Schon kamen die Bilder der Aufnahme an, die von der Kamera des Hubschraubers aus gemacht worden war. Sie zeigte drei Menschen, die auf ein einsam gelegenes Gebäude zueilten. Sie waren zu weit weg, um sie genau zu erkennen, aber man sah, dass ein junges Mädchen dabei war sowie eine Frau mit dunklen, schulterlangen Haaren, die verschwand, ehe der Helikopter das Ziel erreicht hatte. Beim Überfliegen des Hauses sah man kurz das Gesicht der Kleinen, bevor die Gestalten vom Dach verdeckt wurden. Dieses Standbild sendete Wolf an Sparrows Tablet. Der schickte es seinem gefangenen Freund. Gleich darauf kam die Bestätigung: Das Mädchen wurde eindeutig identifiziert! Der Major beorderte alle Teams zurück, um die Lage zu besprechen und das weitere Vorgehen abzustimmen. Die Antwort des Fantasten war kurz und bündig: ‚Schlagt um 18:15 Uhr zu.‘

 

*

 

Die Zeit bis dahin verbrachte ich zumindest körperlich in meiner spartanischen Unterkunft, gönnte mir jedoch in den folgenden Stunden immer mal wieder das Vergnügen, Moeller bei seiner ebenso akribischen wie erfolglosen Untersuchung der Proben zuzusehen. Spätestens beim Verschwinden des ersten Hautstückchens sofort nach Beendigung der Mikroskopie wusste er mit Sicherheit, dass ich anwesend war. Seine Enttäuschung wuchs sichtlich, je weiter er kam. Vor allem von meinem Blut hatte er sich schätzungsweise eine Menge erhofft. Die Blutgruppe 0 positiv war allerdings nicht gerade eine große Entdeckung. Meine Zellen verhielten sich, wie menschliche Zellen sich eben verhalten sollten, die man von ihrem Besitzer getrennt hat. Irgendwann knurrte er: „Ich weiß nicht, welches Spiel Sie hier spielen und vor allem, wie Sie es tun, aber ich kriege Sie noch!“

Meine Antwort bestand darin, einen Smiley auf seine Notizen zu malen – einen mit ausgestreckte Zunge und Blinzeln, versteht sich.

Um fünf vor sechs landete General Giants Hubschrauber vor dem niedrigen Gebäude, das äußerlich noch immer einer Holzbaracke glich, jedoch von innen eine uneinnehmbare Festung darstellte. Er wurde von zwei bewaffneten Männern zum Fahrstuhl begleitet und unten von Moeller empfangen.

„Und – wie macht sich unser Gast so?“, fragte Giant auf dem Weg durch den langen Flur. Der Einrichtungsleiter zuckte mit den Schultern.

„Er zeigt sich friedlich und hält sich an die getroffenen Absprachen. Ich kann Ihnen zwar nicht genau sagen, womit er seine Zeit im Spezialraum verbringt – wir verwenden unsere hauptsächlich dazu, es zu erraten. Aber er hat bisher mit keinem außer mit mir und Miss Austin ein Wort gewechselt und scheint weiterhin in guter körperlicher Verfassung zu sein.“

„Warum hat er mit Ihrer Assistentin gesprochen?“, fragte der General scharf. „Ich hatte ausdrücklich angeordnet, dass niemand außer Ihnen Zugang zu ihm erhalten sollte!“

„Nun ja, sie befand sich mit mir zusammen im Beobachtungsraum“, entgegnete Moeller und sah seinen Begleiter verwundert an. „Ich dachte, Sie wissen über die Besonderheiten des Jungen Bescheid? Sie mögen ihn körperlich in einer winzigen Zelle einsperren – zumindest, solange er dies zulässt – aber Sie können ihn keinesfalls daran hindern, sich mit Hilfe seiner Vorstellung überall im Gebäude und vermutlich auch noch außerhalb frei zu bewegen. Er hört und sieht hier alles, uns beide gerade mit Sicherheit ebenfalls.“

Giant nickte grimmig. „Es fällt mir nur schwer, dies wirklich zu glauben und ständig im Blick zu behalten.“

„Sie würden es tun, wenn Sie ihn wie wir die ganze Zeit vor Augen hätten und dabei das Gefühl nicht loswürden, selbst beobachtet zu werden. Ab und zu kommentiert er dann halt mal, was wir so tun oder reden – vielleicht, weil ihm langweilig ist.“

Die beiden standen vor meinem Gefängnis, machten jedoch keine Anstalten, einzutreten. Langsam wurde ich nervös, weil das Zeitfenster für das Team ziemlich eng war. Ob ich sie bitten sollte, noch mit der Aktion zu warten? Die Männer vor der Tür ergingen sich in Nichtigkeiten, anstatt mir die wichtige Frage nach meiner Kooperation zu stellen. Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, die Pets über die Verzögerung zu informieren, bemerkte ich, dass der General energisch auf den Beobachtungsraum zumarschierte. Sein Gastgeber folgte überrascht.

„Wollen Sie ihn nicht zum Gespräch dazu holen?“

Giant schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will es selbst sehen. Wenn er wirklich mitbekommt, was wir hier kommunizieren, dann brauche ich nur einen Weg, um seine Antworten auf meine Fragen zu erfahren. Hier habe ich weniger die Befürchtung, er könnte uns etwas antun.“

Moeller lachte. „Sie haben Nerven! Glauben Sie wirklich, Sie sind vor ihm sicher, nur weil er körperlich da drin eingesperrt ist und harmlos aussieht?“ Dabei deutete er auf den Monitor, auf dem das kahl und kalt wirkende Zimmer zu sehen war. Aus dieser Perspektive konnte ich wenigstens nachvollziehen, was meine Beobachter die ganze Zeit über wahrnahmen – und was alles nicht. Wenn ich mich selbst im Nichts sitzen und in die Gegend starren sah, war mir klar, wie mein geistiger Gesundheitszustand auf Uneingeweihte wirken musste. Dabei guckte ich mir bloß mit Zoey eine Kindersendung an – ihr offizielles Gute-Nacht-Programm, obwohl sie noch keinen Schlafanzug trug. Selbstverständlich wusste die Familie genau Bescheid über die geplante Rettungsaktion und hielt sich heimlich dafür bereit.

Wann kommen die Leute denn und holen uns ab?

Die mentale Frage meines Patenkindes klang aufgeregt.

Bald, mein Schatz, in ein paar Minuten, wenn alles klappt.

Meine Antwort war zunächst der letzte Kontakt zu Zoey, da die Situation vor Ort langsam spannend für mich wurde und in Kürze meine gesamte Aufmerksamkeit fordern sollte.

„Guten Abend, General“, sagte ich gleichmütig und blickte zur Kamera. Gleichzeitig sah ich sein etwas dümmliches Gesicht neben mir, das meins auf dem Monitor anstarrte. Der Anblick entlockte mir ein Lächeln. Schön, wenn man einige Leute mit solchen Kleinigkeiten so sehr verblüffen konnte, obwohl es eigentlich keinen Grund für sie gab, sich zu wundern. Er schien zu sich zu kommen, räusperte sich und sagte: „Ja, ich grüße Sie auch. Ich hoffe, Sie haben die Zeit hier in der Einrichtung dazu verwendet, um gründlich über unser Angebot nachzudenken. Ein zweites dieser Art wird es nämlich nicht geben und die Alternative sieht nicht annähernd so attraktiv für Sie und Ihre Freunde aus. Also – was sagen Sie?“

„Glauben Sie wirklich, dass ein paar Stunden in einer leeren Gefängniszelle ohne Essen und Trinken und einige körperliche Eingriffe ausreichen, um mich umzustimmen?“

„Eingriffe? Was für Eingriffe?“ Giant wirkte so verwirrt, dass ich genau wusste, wie wenig Ahnung er von Moellers Untersuchungen gehabt hatte. Der Blick, mit dem der General seinen Sitznachbarn bedachte, war hart wie Stahl.

„Wir hatten ausdrücklich vereinbart, dass unser Gast nicht angerührt wird! Eine Ausnahme gab es lediglich bei Fluchtversuchen sowie bei tätigen Angriffen auf Sie oder Ihre Mitarbeiter. Gab es derartige Regelverstöße?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, wirkte peinlich berührt. Dann sagte er plötzlich mit hinterhältigem Lächeln: „Vielleicht gab es doch Verstöße. Unser Gefangener verfügt über ein Handy, dessen bin ich mir sehr sicher. Er telefoniert nicht damit, aber es könnte sein, dass es ihm irgendwie gelingt, Textnachrichten zu schreiben und zu erhalten. Ist es nicht so, Simon?“

Mein Pokerface kam etwa eine halbe Sekunde zu spät. Ich verfluchte innerlich meine angeborene Unfähigkeit zu lügen oder meine Gefühle zu verbergen. Moellers Grinsen wurde breiter, er sah Giant triumphierend an.

„Da – haben Sie es bemerkt? Was schlagen Sie als Konsequenz vor?“

„Geben Sie mir Ihr Telefon nach draußen – ich möchte sofort meine Männer sprechen!“, rief der General aufgebracht, während er mich durch die Kamera anstarrte. „Sie sollen sich ein Mitglied der kleinen Familie aussuchen und ihm die abgesprochene Behandlung zuteilwerden lassen.“

Er wartete offensichtlich auf meine Reaktion, die darin bestand, kurz die Lider zu schließen, um mich auf das zu konzentrieren, was ich zu tun hatte. Dann blickte ich in die Kamera und sagte ruhig: „Leben Sie wohl, General, Sie wollen es anscheinend nicht anders …“

Es wurde stockfinster. Mein Stromausfall war total und beinhaltete ebenso den Notstromgenerator. Bei einem solchen Ausfall öffneten sich automatisch alle Türen im Inneren des Gebäudes, der Fahrstuhl fiel aus und die Außentüren verschlossen sich bombenfest. Überall hörte ich erschrockene Aufschreie, jedoch ebenso das Wutgebrüll meiner beiden Peiniger, die gerade versuchten, zur Tür zu gelangen. Ich brauchte kein Licht, um mich zurechtzufinden, schob die nutzlos gewordene Sicherheitstür auf und huschte auf den finsteren Gang. Dabei stellte ich die Verbindung zu Wolf her. „Ihr müsst jetzt zuschlagen, sofort!“

„Okay, wo bist du?“, fragte der Major irritiert zurück.

„Auf dem Weg in die Freiheit, aber das spielt jetzt keine Rolle. Rettet meine Freunde!“

„Das werden wir! Mach dir keine Sorgen. Komm einfach, so schnell du kannst.“

Ich rannte zum Aufzug und setzte ihn mit meiner eigenen Energie in Betrieb. Hinter mir sah ich Taschenlampen aufblitzen, hörte die Stimmen meiner Verfolger. Sie kamen zu spät, weil sich die Türen bereits wieder schlossen. Hilflos standen sie davor, als ich abfuhr – ein wenig beschleunigt, allerdings nicht zu sehr. Moeller und Giant hätte ich es gegönnt, ein paar Tage länger dort unten auszuharren, aber das restliche Personal konnte nichts für ihre Bosheit und sollte nicht mehr als nötig dafür büßen müssen. Eine höhere Beschleunigung wäre dem Antrieb nicht gut bekommen und es hätte sicherlich länger gedauert, ihn wieder instandzusetzen, als das gekappte Stromkabel zu flicken. Der Fehler beim Notstromaggregat war leicht zu finden, ein Techniker mit Taschenlampe sollte keine fünf Minuten dafür benötigen. So würde die Belegschaft zumindest über Frischluft und genug Strom verfügen, um die wichtigsten Systeme in Gang zu halten. Das Hauptkabel hatte ich jedoch an einer Stelle beschädigt, die nur sehr schwer zugänglich war, sodass es eine Weile dauern konnte, bis der Fehler gefunden und behoben werden würde.

„Ich bin draußen“, benachrichtigte ich Wolf, sobald ich in der Luft war. „Wie weit seid ihr mit der Befreiungsaktion?“

„Die Operation läuft. Das Team ist vor Ort, Phase eins hat gut geklappt. Zwei unserer Männer sind als Handwerker getarnt vorgefahren, um den Wasserzähler auszutauschen. Sie wurden eingelassen und befinden sich jetzt im Haus.“

Ich konzentrierte mich darauf, zu verstehen, was der Major durch sein Funkgerät empfing und stellte gleichzeitig mein eigenes Gerät auf die benutzte Sendefrequenz ein.

„...Wild Two in Stellung“, hörte ich Fox, der anscheinend mit einem Stoßtrupp im angrenzenden Wäldchen lauerte.

„Wild One bereit. Zielperson eins ist mit den Monteuren unterwegs in den Keller, Nummer zwei sitzt im Wohnzimmer und sieht fern, das dritte Ziel ist außer Sicht ...“, erklang Sharks Stimme über Funk.

Per Handy erfragte ich vom Major die Zielkoordinaten und bewegte mich mit Höchstgeschwindigkeit darauf zu.

Hi, Simon – gut, dass du kommst! Einer der Typen war gerade hier und schien ziemlich aufgelöst. Er meinte, dass er keinen Kontakt zu seinem Vorgesetzten bekäme. Wenn er binnen zehn Minuten nichts von ihm hören würde, lautete seine Order, einen von uns zu töten! Zum Glück murmelte er es so leise, dass Zoey und Susanna es nicht mitbekamen.

„Oh verdammt, ich brauch garantiert länger“, fluchte ich.

Dann informierte ich die Wild Pets über Funk darüber, dass sowohl die beiden ‚Handwerker‘ als auch meine Freunde in akuter Gefahr schwebten.

„Eure Zielpersonen sind sehr nervös. Sie ahnen bereits, dass etwas schiefgelaufen ist. Bitte gebt ihnen keinen Grund, aktiv zu werden – und lasst sie noch einen Moment am Leben, wenn’s geht“, bat ich. „Es sind schließlich keine Verbrecher, sondern Männer aus eurem eigenen Lager.“

„Gut, aber beeil dich!“, ächzte Shark. „Ich sehe gerade, wie einer der drei seine Waffe bereitmacht ...“

„Du musst was tun!“, flehte ich, da mich noch mindestens fünf Minuten Highspeed-Flug von ihm trennten.

Ich glaube, es kommt jemand ...

Timo hörte sich ziemlich verzweifelt an. Ich spürte, wie er seine Liebsten hinter sich zog.

„Mist!“, rief ich, unterdrückte die aufkeimende Panik und atmete tief durch. „Rede mit ihm, er wird auf dich hören. Ansonsten schick Zoey vor, ihr tut er garantiert nichts.“

Dein Wort in Gottes Ohr!

„Sie brauchen das nicht zu tun“, hörte ich meinen Freund sagen. Seine Stimme klang sehr sanft.

„Sie haben ja keine Ahnung!“, rief der Mann heiser. „Es war eine eindeutige Anweisung – und ich bin Soldat ...“

Aber er klang dabei mindestens ebenso verzweifelt wie mein Freund vor wenigen Augenblicken.

„Eben, Sie sind Soldat, kein Mörder“, entgegnete Susanna bemerkenswert ruhig. Ich atmete auf. Ein untrügliches Gefühl sagte mir, dass der Mann nicht abdrücken würde.

Die anderen hatten inzwischen das Haus gestürmt. Ich hörte Gewehrschüsse, einen Schrei …

„Was geht bei euch vor?“, fragte ich erregt über Funk.

„Ich hab den Schützen erwischt“, antwortete Shark. Er klang nicht reuevoll, eher triumphierend. „Er wird ’ne Weile keine Waffe mehr heben können, Python hat ihn bereits entwaffnet und verschnürt. Fox und Tiger haben den zweiten gestellt. Der dritte ist irgendwo im Haus verschollen.“

„Gratuliere! Ihr seid toll!“, rief ich begeistert. „Bin gleich bei euch. Soldat Nummer drei befindet sich übrigens im Keller bei den Gefangenen. Bitte nicht zu grob sein, er hat sich gerade dazu entschlossen, meine Freunde nicht zu erschießen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739447261
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Zeitreisen Übersinnliches Abenteuer Geister Gedankenkraft Fantasy Spannung Dämonen Zukunftsvisionen paranormal Roman

Autor

  • Michaela Göhr (Autor:in)

Geboren im Sommer 1972 in einer sauerländischen Kleinstadt, dort aufgewachsen, von Beruf Lehrerin, mittlerweile wieder seit vielen Jahren fest am Heimatort verwurzelt mit Haus, Mann und Kind. Die Liebe zum Schreiben und zu weiteren kreativen Tätigkeiten bestand schon von klein auf. Seit 2014 widmet sie sich neben Kurzgeschichten, Reisetagebüchern, Gedichten und Liedern auch längeren Texten. Die fünfbändige Urban-Fantasy-Reihe ‚Der Fantast‘ ist ihr Debüt im Bereich der Romane.