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Viele Küsse

Sammelband

von Annabelle Benn (Autor:in)
296 Seiten
Reihe: Kuss, Band 6

Zusammenfassung

Lust auf ... Küssen? Träumen? Verlieben? Einfach glücklich sein? In diesem Sammelband finden Sie fünf entzückende Liebesgeschichten. Frauen Ende 30 finden, meist ohne sie zu suchen, die langersehnte Liebe des Lebens mit großherzigen, bodenständigen Männern. Begleiten Sie die Traumpaare zu weniger bekannten Traumorten Europas: Madrid, Budapest, Triest, Salzburg, Grado und viele mehr. Die einzelnen Titel sind: - Süße Küsse (Berchtesgadener Land) - Zarte Küsse (Grado) - Wilde Küsse (Triest) - Ferne Küsse (Madrid) - Sinnliche Küsse (Budapest)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Fünf Liebesgeschichten an den schönsten Orten Europas:

 

- Budapest

- Madrid

- Grado

- Triest

- Berchtesgadener Land

 

Copyright: Annabelle Benn 2018 – 2020

Jegliche Vervielfältigung, auch auszugsweise, bedarf der schriftlichen Genehmigung der Autorin.

Impressum: Annabelle Benn, R.O.M logicware, Pettenkoferstr. 16-18, 10247 Berlin Annabelle.benn@outlook.de

Bildrechte über depositphoto.com

***Süße Küsse***

 

Eine wahrlich süße Geschichte über Baumärkte, Marmelade und Traummänner im malerischen Berchtesgadener Land.

 

 

Kapitel Eins

 

„So, bitteschön!“ Ella schaltete den Föhn aus und lächelte Lena im Spiegel an. „Na, wie gefällt es Ihnen?“

Langsam öffnete Lena die Augen. Über eine Stunde hatte sie fieberhaft in einem an und für sich langweiligen Roman gelesen, denn um nichts in der Welt wollte sie einen Blick von ihrer halb-fertigen neuen Haarpracht erhaschen. Sie wollte kein allmähliches Dämmern, sondern das volle Abrakadabra-Bumm-und-Peng-Erlebnis. Das „Das ist Ihre neue Frisur und hier geht‘s zu Ihrem neuen Leben. Bitteschön. Macht 99,90 €“-Ding.

Endlich war es so weit.

Scheu blinzelte sie und wagte kaum zu glauben, was sie sah.

„Bin das ich?“, wisperte sie mit trockenem Mund und berührte vorsichtig ihr Haar. Es war so unglaublich weich und glatt! Mit angehaltenem Atem strich sie über die gesamte Länge. Unfassbar! Wie Samt und Seide fühlte es sich an. Einfach traumhaft.

Sie bekam nicht mit, ob und wie Ella darauf reagierte, denn zu sehr war sie von der attraktiven Frau im Spiegel fasziniert. Oder zumindest von ihrem Haar, das wie süßer Nusslikör über ihre Schultern floss und das Licht reflektierte. Das war das Haar einer Diva, einer Prinzessin, aber doch nicht das der entlaufenen Braut eines Waldschrats. Folglich konnte es unmöglich ihres sein. Also: Wer war das?

„Bin das wirklich ich?“, stieß sie hervor und schüttelte den Kopf.

Die junge Friseurin lachte. „Also, wenn Sie mich fragen, ja!“ Bestens gelaunt zwinkerte sie ihr zu, machte dann ein paar Schritte um ihre Kundin herum und betrachtete stolz ihr Werk. „Wunderschön, nicht wahr? Was für eine Verwandlung!“

Lena konnte es nicht glauben. Ja, in der Tat! Was für eine Verwandlung!

Vor etwas mehr als zwei Stunden hatten ihre Haare zwar noch bis zu ihrer schlanken Taille gereicht. Aber gut ausgesehen hatte das nicht. Im Gegenteil. Seit Jahren hatte sie die Spitzen nicht nachgeschnitten, weder das Ach-so- natürliche-Aschblond aufgepeppt noch die vereinzelten weißen Haare überfärbt.

Natürlich! Absolut natürlich hatte er sie gewollt, hatte immer nur davon geredet, wie oberflächlich, verachtenswert und seelenlos all die Menschen seien, die Trends nachliefen und was auf Äußerlichkeiten gaben. Allein die inneren Werte seien es, die zählten. Für ihn. Aber nicht mehr für sie. Denn war das Äußere nicht ein Spiegel des Inneren?

 

Jetzt war die einst struppige Mähne um mindestens dreißig Zentimeter kürzer, dafür schwungvoll durchgestuft und die Nicht-Farbe war unter einem schimmernden Kastanienbraun verschwunden, das das Moosgrün ihrer Augen intensiv leuchten ließ.

„Neues Haar, neues Leben!“, bemerkte Ella lächelnd, nahm einen großen runden Spiegel und ging damit um Lena herum, damit sie sich auch von hinten betrachten konnte.

„Oh ja!“, seufzte diese und konnte sich an sich selbst nicht sattsehen. Eitelkeit war eine Sünde, eine ganz schlimme noch dazu, das wusste sie - aber – Fuck it! Fuck Egon und seine ganzen Sprüche! Oh, wie sehr sie diesen selbsternannten Heiligen verabscheute!

Liebe war keine Sünde, dachte sie trotzig, denn jetzt endlich begann sie, sich wieder selbst zu lieben!

„Die Farbe passt hervorragend zu Ihrem Teint und den Augen. Genau, wie wir es uns vorgestellt hatten, nicht wahr?“, fragte Ella und riss sie aus ihrem aufkeimenden Groll.

„Ja, das tut sie. Vielen herzlichen Dank für die großartige Beratung!“, lobte Lena über das gesamte Gesicht strahlend.

„Wenn Sie wollen, könnten Sie sich noch schminken lassen. An jedem ersten Samstag im Monat haben wir eine kostenlose Make-up Beratung und meine Kollegin Sara hat gerade nichts zu tun, nicht wahr, Sara?“, fragte sie an eine junge Frau mit wunderschönen blonden Haaren gewandt. Diese nickte freundlich und kam zu ihnen herüber.

Lächelnd besah sie sich Lenas neue Frisur. „Sie haben so große Augen. Die könnten Sie mit wenigen Strichen noch viel stärker zur Geltung bringen. Darf ich?“

„Ähm – wie spät ist es denn?“ Nervös hielt Lena nach einer Uhr Ausschau.

„Kurz vor zwölf.“

„Also, bis eins hätte ich schon Zeit, aber spätestens dann muss ich los“, überlegte sie laut, da ihr der dringend notwendige Besuch im Baumarkt einfiel. Allerdings hatte sie bereits Honig geleckt und wollte noch besser aussehen, als sie es mit der schicken Frisur allein schon tat. Wenn schon eitel, dann richtig, dachte sie und streckte Egon innerlich die Zunge heraus.

„Bis dahin sind wir längst fertig. Außer sie möchten noch eine Mani-Pedi. Aber selbst dann geht es sich noch aus, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass Emily“, Sara sie zeigte mit dem Kopf zu einer Brünetten, „und ich gleichzeitig arbeiten?“

„Mani-Pedi?“, fragte Lena, die einen Moment brauchte, um zu verstehen. „Ach so … und zu zweit?“

„Ja. Wir machen Ihnen einen Sonderpreis. Jetzt im August ist nicht viel los, wie Sie sehen.“

„Das liegt an der Hitze, nehme ich an ...“, wandte Lena ein.

„Auch, und an den Ferien. Bis dreizehn Uhr sind Sie fertig und megaschick für Ihr Date heute Abend.“

Lena riss die Augen auf. „Date? Ich hab doch kein Date!“

„Nein?“

„Nein!“

„Oh …“ Ratlos sahen Ella und Sara sich an.

„Also, dann – was nicht ist, kann ja noch werden! Warten Sie mal kurz!“, rief Ella und eilte davon. Sekunden später kam sie mit einem Flyer zurück. „Single Party im Alpenhain.“

Zweifelnd beäugte Lena das Stück Papier, drehte und wendete es und lachte glucksend auf. „Aha. Interessant. Gut. Danke. Ich überleg‘s mir mal.“

„Das ist der Hammer dort! Wir gehen auch ab und zu hin. Also ich ja nur als Begleitung“, haspelte Ella, drehte ihren Ehering am Finger und schielte zu Sara, die zustimmend nickte.

„Dort lernt man jede Menge Leute kennen. Kein derbes Anmachen. Hat echt Stil der Laden! Und die Musik geht voll ab.“

Eine richtige Disko? Oder hieß das nicht längst Club? Lena biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. Dafür war sie doch viel zu alt! Wann war sie eigentlich zuletzt in einer gewesen? Richtig – in ihrem vorigen Leben! Bevor … Vor Egon … Allein der Name! Wie konnte man sein Kind nur so nennen! Ego-Egon, dachte sie bitter und schüttelte sich erneut.

„Also, ja, gut. Warum eigentlich nicht!“ Lena nickte, denn die immer leicht unreine und gerötete Haut passte nicht mehr zu der Haarpracht. Sie folgte Sara, ließ sich in einen bequemen Stuhl sinken und stieß wenig später den nächsten entzückten Schrei aus. Die Frau, die ihr jetzt aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte Pepp und Klasse. Vor allem aber wirkte sie natürlich schön. Bei dem Wortspiel grinste Lena verschmitzt. Ja, natürlich war sie schön, aber nicht ganz so natürlich wie Egon das wollte. Auch die Brauen waren gezupft und ließen ihr Gesicht so weicher erscheinen. Unglaublich, dachte sie bei sich, was so ein paar Handgriffe für einen Unterschied machen können.

„Da sehen Sie, was so ein bisschen getönte Tagescreme und ein bisschen Make-up ausmachen.“

Mit einem dicken Kloß im Hals nickte Lena. „Unglaublich.“

„Ja? Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt!“

„Gefällt?“ Lena rang nach Atem. „Gefällt ist überhaupt kein Ausdruck! Das bin ja gar nicht mehr ich! Ich meine, so sah ich früher aus!“

Sie kniff die Augen zusammen und streckte den Kopf nach vorn. Die Frau im Spiegel kniff die Augen zusammen und streckte den Kopf nach vorn. Ja, doch, das war keine Täuschung: Das war sie.

„Dann sind Sie zufrieden?“, fragte Sara gerührt und legte ihr sacht die Hand auf die Schulter.

„Ja“, flüsterte Lena benommen und legte ihrerseits ihre kurz auf Saras, zog sie dann aber erschrocken weg.

Sara betrachtete sie eine Weile, dann winkte sie Emily zu sich und sagte: „Dann hübschen wir jetzt noch die Hände und Füße auf, okay?“

„Okay.“ Lena nickte freudig und spürte, dass sich eine längst vergessene Wärme in ihr ausbreitete. Es kribbelte überall in ihrem Körper und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Auf alle Fälle würde sie am Abend ins Alpenhain fahren und sich endlich mal wieder prächtig amüsieren. Sie würde auf einem Barhocker sitzen, einen Fruchtcocktail in der Hand, und vergnügt zusehen, wie die anderen sich amüsierten. Vielleicht würde sie sogar einen richtigen Cocktail trinken, einen mit Alkohol, und sich ein Taxi nachhause nehmen? Oder gar mit dem ein oder anderen Mann heiße Blicke tauschen … Warum nicht? Warum eigentlich nicht? Sie war frei und jung, zumindest aus der Perspektive eines Rentners betrachtet, der auf ihre 37 müde herunter lächeln konnte.

Aber – siedend heiß fiel es ihr ein: Sie hatte nichts zum Anziehen! Sie überschlug den Zeitplan, gab sich eine Stunde zum Shoppen, eine Stunde, die sie nicht hatte, wenn sie die Regale kaufen, aufbauen und meditieren… ach, Jahr und Tag hatte sie meditiert und was hatte es gebracht? Genau! Egon!

Also heute nicht meditieren. Morgen wieder. Oder übermorgen.

Völlig verwandelt verabschiedete sie sich mit einem üppigen Trinkgeld von den drei Verschönerungs-Feen. Am liebsten wäre sie ihnen spontan um den Hals gefallen, ließ es aber bleiben.

Mit diebischer Freude steckte sie die Tüte mit dem Make-up, das sie Sara abgekauft hatte, in ihre Tasche und zwang sich, nicht vor Lebensfreude durch die Fußgängerzone zu hüpfen.

Und jetzt neue Kleidung! Nun hüpfte sie doch, aber nur mit einem Bein und nur kurz. Verstohlen sah sie sich um, ob jemand ihre Albernheit bemerkt hätte. Hatte zum Glück niemand. Nur nicht trödeln! Denn wenn sie die Regale heute nicht besorgte, würde sie sie nie kaufen, dafür kannte sie sich zu gut. Und sie brauchte die Abstellflächen. Dringend. Also: Eine Stunde, ermahnte sie sich und stellte resolut den Handy-Wecker.

Zu ihrer großen Begeisterung hatte sie schon nach wenigen Minuten ihr persönliches Traum-Kleid gefunden. Es war weiß, mit grünen und goldenen Palmblättern bedruckt und wie für sie gemacht. Weich schmiegte es sich an ihren schlanken Körper, reichte bis knapp über die Knie und der Ausschnitt entblößte weder zu viel noch zu wenig. „Meins!“, verkündete sie strahlend und gluckste dabei vergnügt.

„Mit einem Push-up BH wäre es perfekt“, sinnierte die Verkäuferin und bevor Lena noch etwas antworten konnte, hob diese freundlich aber bestimmt die Hand.

Sie war eine hervorragende Verkäuferin, denn in der vorgesehenen Zeit hatte sie für Lena nicht nur noch zwei Tageskleider, sondern auch zwei Paar Schuhe (eins für jetzt, eins für den Abend), zwei Taschen (eine für jetzt, eine für den Abend) sowie den Push-up BH und ein schönes Dessous gefunden.

 

Kann ich das Wickelkleid gleich anlassen?“, fragte sie.

„Natürlich. Die Schuhe auch?“

„Auf alle Fälle! Und hätten Sie bitte eine extra Tüte für die Sachen, in denen ich gekommen bin?“

„Ja, sicherlich.“ Die Verkäuferin grinste breit und nickte wissend.

Zum Glück spielte Geld keine Rolle, da Lena in der Zeit mit Egon keine Gelegenheit gehabt hatte, welches auszugeben, und aus einem unerfindlichen Grund selbstsüchtig, oder schlau genug gewesen war, nicht alles für wohltätige Zwecke zu spenden.

 

Mit ihren Einkäufen schlenderte sie durch die gut besuchte Bad Reichenhaller Fußgängerzone zum Parkplatz. Vorbei an Einheimischen und Sommergästen, die in Cafés saßen, lasen, sich unterhielten oder die Sicht auf die Alpen genossen, oder ihr bewundernd nachblickten.

Ihr!

Aber nicht trödeln!

Keine weiteren Shopping-Eskapaden, auch wenn sie sich nach der jahrelangen Abstinenz wie ein Drogen-High anfühlten.

Nein.

Das nächste Geld würde für Regale über den Ladentisch wandern. Regale für die Marmelade.

Marmelade, die es unmöglich machte, sich im Keller frei zu bewegen, weil sie überall auf dem Boden stand. Dem Kellerboden. Ein Ort, an den Marmelade definitiv nicht hingehörte. Marmelade gehörte, ordentlich nach Sorten sortiert, in Regale. Und solche musste sie dringend kaufen, denn Ordnung war das halbe Leben und auf dieser Seite lebte sie.

Am Tempolimit brauste sie in den Baumarkt, wo sie die bescheuerten Regale für die mindestens genau so bescheuerten Gläser mit eingekochten Früchten endlich erstehen würde. Und wer war schuld an dem ganzen Stress? Egon natürlich! Weil man Essen, also auch Fallobst, nicht wegwarf und weil ihr mit jedem Topf Marmelade bewusster wurde, wie dumm sie gewesen war.

 

 

 

 

Kapitel Zwei

 

An ihrem Musikvorrat würde sie ebenfalls arbeiten müssen. Die semi-sakralen Klänge, mit denen sie sich Jahre lang den Verstand vernebelt hatte, gehörten in die Tonne. Und natürlich besaß sie weder einen I-pod, noch ein Smartphone, sondern nur ein lahmes Prepaid Handy, dessen Klingelton nicht mal als Musik, sondern als krächzendes Rattern bezeichnet werden musste. Aber immerhin! Besser als gar nichts. Sie lachte, zuerst bitter, dann belustigt und stellte den Motor ab. Sie hatte ihr Ziel nämlich erreicht:

Den Baumarkt. Was für ein Witz! Dafür hatte sie eine Kundenkarte – aber für das einzig vernünftige Bekleidungskaufhaus im Landkreis nicht!

„Mit Highheels in den Heimwerkermarkt“, dachte sie und kicherte. Dann fiel ihr ein, dass sie noch ein Paar Birkenstock im Kofferraum hatte. „Im Leben nicht! Ich bin doch nicht bescheuert und geh mit den Dingern noch mal unter die Leute. Oder überhaupt irgendwohin!“, empörte sie sich und zeigte sich selbst einen Vogel. In Wahrheit waren die neuen Schuhe gar keine Highheels. Der Absatz war zwar dünn, aber nur rund sechs Zentimeter hoch. Was immerhin sechs Zentimeter mehr waren als ihre üblichen Flachtreter. Somit befand sie sich in beinahe schwindelerregenden Höhen. Wild entschlossen, sich von derartigen Nebensächlichkeiten nicht in die Knie zwingen zu lassen, stieg sie aus, griff nach der neuen Tasche, öffnete den Kofferraum, nahm die ausgetreten Latschen und beförderte sie mit spitzen Fingern in den nächsten Abfalleimer. Leider würde sie den Rest ihres Kleiderschranks nicht auf die gleiche Weise entsorgen können. Aber war nicht sogar ein Altkleidercontainer zu stolz dafür?

Sie stöckelte zu den Einkaufswagen und nahm einen, auf die man zwar gut Platten und Regale stapeln konnte, die sich aber nur sehr schwer lenken ließen. Geistesgegenwärtig drehte sie sich um und zog das widerspenstige Ding hinter sich her. Dass man für Schönheit in der Tat leiden musste, wurde ihr auf den hohen Haken schmerzhaft bewusst. Barfuß oder mit flachen, robusten Schuhen hätte sie eine weitaus überzeugendere Figur gemacht, dessen war sie sich sicher. Aber das war nun egal. Die Latschen waren im Müll, und dort gehörten sie hin. Aus, bumm, basta.

Zu allem Überfluss musste man abbiegen, um zu den Regalen zu kommen. Ebenfalls noch sehr geistesgegenwärtig zog sie das Ungetüm in einem halben Bogen so nah wie möglich am Körper herum. Doch nun kam das lahme Ding in Fahrt! Mit vollem Schwung krachte es in einen Stapel Katzenstreu, der völlig deplatziert mitten im Weg stand. Wer tat den so was! Entsetzt ging sie in die Knie und stellte erleichtert fest, dass nichts fehlte.

„Brauchen Sie einen oder zwei Säcke davon?“, fragte da auch schon eine Männerstimme hinter ihr. Sie drehte sich um und starrte in ein völlig zerpierctes Gesicht, das sie frech angrinste.

„Eigentlich gar keinen. Aber das steht hier im Weg rum. Ich mein – wie soll ich denn da dran heil vorbeikommen!“

„Ach, Mylady, ich würde sagen: außen! Sie sind doch schlank“, feixte er zurück, streckte die Hand aus und fasste den Griff. Dabei zeigte er die pechschwarzen Tattoos auf seinen Armen, die ziemlich geil aussahen, wie Lena zu ihrer großen Überraschung plötzlich fand.

„Ha, das hat damit nichts zu tun. Die Dinger lassen sich nicht lenken!“, wies sie ihn freundlich auf die Fehlkonstruktion hin und zeigte auf den Wagen.

Er stieß ein belustigtes Schnauben aus und schenkte ihr einen Blick, als wolle er sagen: „Kleines Mäuschen, komm, lass dir helfen.“ Laut sagte er jedoch: „Ich weiß. Dazu braucht man einen Spezial-Führerschein. Fahrstunde gefällig?“

Geschlagen kicherte sie und zuckte die Schultern.

„Wo soll‘s denn hingehen?“ Jetzt erst fiel ihr auf, wie groß und muskulös er war.

„Zu den Regalen.“ Treuherzig blickte sie ihn an. Blaugrün waren seine Augen, und sie lächelten. Das gefiel ihr. Auch wenn der Kerl sonst gar nicht ihr Typ war. Oder nur noch nicht?

„Aha. Und zu welchen genau?“, fragte er leise nach, senkte den Kopf und ließ sie nicht aus den Augen.

„Zu Marme- zu Kellerregalen!“

„Zu den Marmeladenregalen? Na, dann kommen Sie mal mit.“

Lena tat, wie ihr geheißen und schüttelte innerlich den Kopf. Was wollte sie denn mit dem gepiercten Tattoo?

Verstohlen schielte sie zur Seite. Kurz blieb sie an gebräunter Haut und starken Männerarmen hängen, die aus einem weißen, hochgekrempeltem Hemd ragten. Reichte das neuerdings aus, um sie völlig aus der Fassung zu bringen? Nicht ganz, denn das war noch längst nicht alles von diesem Wunder an Mann. Feurig dunkle Augen, kantige Gesichtszüge und ein so intensiver Blick, dass es ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Als hätte sie sich verbrannt, zuckte sie zusammen und wandte sich hastig ab.

„Bitte schön, hier wären wir. Wie kann ich der Dame denn sonst noch helfen?“

„Mir?“, stammelte sie mit einem Mal nervös, denn der Fremde in dem weißen Hemd, dessen oberste Knöpfe zu allem Überfluss auch noch offenstanden, war ihnen gefolgt. Was dachte sich ein Mann eigentlich dabei, so auf die Straße zu gehen?

„Ja, wem denn sonst?“, fragte das Tattoo und grinste sie an. Neben dem anderen Mann, der Mitte vierzig sein durfte, wirkte er auf einen Schlag unattraktiv.

„Ähm, danke. Ich – schau mich erst mal um. Auch wenn man es mir nicht ansieht, aber ich weiß genau, was ich will.“

„Aha. Na, daran habe ich auch keinen Zweifel. Find ich gut, Frauen, die wissen, was sie wollen. Aber falls doch was ist, hilft Ihnen einer meiner Kollegen gern weiter. Ich hab nämlich eigentlich längst Feierabend.“

„Oh, sorry, ich wollte Sie nicht aufhalten. Danke für die Hilfe!“, stammelte sie.

Was tun?

Der Mann war so atemberaubend schön, so unsagbar männlich und so verstandabschaltend sexy, dass sie wie gelähmt war.

Ruhe bewahren, ermahnte sie sich und holte tief Luft Immer schön Ruhe bewahren. Das war eine alte Weisheit, die niemals die Gültigkeit verlor. Oder doch?

Vielleicht fand das pralle Leben aber jenseits der Ruhe statt, schoss es ihr durch den Kopf, während sie fieberhaft überlegte, wie sie sich verhalten sollte.

Was tun?

Sie hatte vor, so schnell und unauffällig zu ihm zu schauen, dass er es nicht bemerken konnte. Dabei hatte sie jedoch mit einem nicht gerechnet: Dass er schneller war als sie.

Ihre Blicke trafen sich. Einen Augenblick nur. Lang genug, dass sie wie elektrisiert zusammenzuckte.

Das konnte doch nicht sein! Der Mann war so atemberaubend schön und sah jemanden, irgend jemanden, so selbstsicher und verführerisch an, dass er unmöglich sie meinen konnte. Alles an ihm war schön, einfach alles. Auch, oder ganz besonders, sein symmetrisches Gesicht mit den breiten Wangenknochen– die Augen, die sie an einen starken Espresso erinnerten und erst diese vollen Lippen, die ...

Völlig neben sich schloss sie die Augen und brauchte einige Augenblicke, um sich zu sammeln. Stopp. Moment. Erde an Lena: Wo war sie? Weswegen war sie hier?

Ach ja, genau. Regale. Marmelade. Keller. Aufbauen. Heute noch.

Okay. Kein Problem. Im Handwerken war sie in der Zeit als Frau des Waldschrats gut geworden. Sie kannte sich also aus und wusste, was sie brauchte, und das waren standfeste Regale, keine wackeligen Plastikdinger wie die hier für 9,99 Euro.

Wenn nur der Mann endlich wegginge und folglich aufhören würde, sie so durcheinanderzubringen! Wie sollte sie sich da auf etwas so Weltliches wie Kellerregale konzentrieren? Aber dieser überirdische Adonis ging nicht weg. Sondern stand noch immer dort, wo er gestanden hatte, und sah sie noch immer an, das spürte sie, auch ohne sich umzudrehen. Es half alles nichts. Sie ging in die Hocke, beäugte, befühlte, watschelte ein paar Meter zu den nächsten Regalen, beugte und lehnte sich hierhin und dorthin, um Maße, Material und maximale Belastung zu vergleichen.

Die hier waren nicht nur günstig, sondern laut Beschreibung auch am stabilsten. Drei davon passten genau nebeneinander. Wunderbar, das war ja schneller gegangen, als gedacht!, freute sie sich und nahm das erste Paket so fest sie konnte, um es auf den leidigen Wagen zu ziehen. Fest zog sie an den Brettern. Doch nichts rührte sich. Sie waren schwer aufgrund der stabilen Seitenteile aus Eisen, die noch dazu scharfkantig waren. Als wäre das nicht genug, waren sie in eine rutschige Plastikfolie verpackt. So was Blödes! Sie zog erneut daran, bewegte das oberste Paket ein paar Zentimeter und wie sie sich so in den Boden stemmte und zog und zerrte, neigten sich ihre Absätze gefährlich weit zur Seite.

„Huch!“, entfuhr es ihr auch noch zu allem Überfluss.

Sein Blick brannte auf ihr. Angestrengt starrte sie auf die Bretter.

Aber was war das? Kam er etwa näher?

Oh. Mein. Gott.

„Darf ich Ihnen helfen?“, vernahm sie da eine tiefe, warme Stimme dicht neben sich. Sehr dicht neben sich. So dicht, dass sie nur zu dem Menschen gehören konnte, der eine pulsierende Hitze ausstrahlte und unwiderstehlich duftete. Nach einer Mischung aus einem leichten Sommerparfüm – Marke unbekannt - und ihm selbst – Marke: pure Männlichkeit, leider ebenfalls unbekannt.

Sie schluckte und suchte nach Worten. Dabei hätte ein einfaches Ja, oder ein Nicken gereicht.

„Es ist – also – wissen Sie ...“

Er schwieg ein oder zwei Atemzüge, als wolle er abwarten, ob sie noch etwas hinzufügen würde.

„Heißt das Ja?“, fragte er mit einem hörbaren Schmunzeln.

Sie nickte und krächzte endlich: „Ja.“

„Da bin ich aber froh“, meinte er noch immer grinsend und machte einen Schritt auf die Bretter, und damit auf sie, zu. Wie elektrisiert tat sie einen Satz zur Seite und kippte dabei endgültig um. Um das letzte bisschen Würde bemüht, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen und tat, als sei nichts gewesen. Und er war Gentleman genug, um das Gleiche zu tun.

„Wie viele brauchen Sie denn?“, fragte er in sachlichem Ton.

„Drei“, rief sie erleichtert, weil sie über die Antwort nicht nachdenken musste.

„Na, da haben Sie ja einiges vor“, bemerkte er und hievte das erste Paket auf den Wagen, den Lena festhielt.

„Ich? Ach nein. Das hab ich gleich. Ich bin gut in so was, ehrlich“, versicherte sie tapfer.

Er legte das Paket ab, richtete sich auf und ließ seinen Blick von ihren lackierten Zehennägeln bis zu ihren gefärbten Haarspitzen wandern.

„Tatsächlich“, sagte er dann so langsam und mit einer so kehligen Stimme, dass ihr ganz anders wurde, nämlich so, als würde ihr Körper von einem Frühlingswind durchweht.

„Ja, wirklich!“, beteuerte sie und suchte reflexartig seinen Blick, um den Wahrheitsgehalt ihrer Worte zu unterstreichen. Das war ein Fehler, denn nun wurden ihre Knie so weich, dass sie erneut das Gleichgewicht verlor. Wäre es sehr dumm, und würde er sehr laut lachen, wenn sie die Schuhe ausziehen und ihm die gesamte Situation erklären würde? Frei nach dem Motto: „Ich bin quasi eine Außerirdische, die vor weniger als vier Stunden auf der Erde gelandet ist. Davor war ich Jahre lang mit einem Waldschrat zusammen, der mich zur Königin aller Waldschrätinnen gemacht hat. Nicht, dass Sie sich jetzt vor mir ekeln und mich für geisteskrank halten. Mir geht‘s gut, ging‘s nie besser! Wenn Sie mir nicht glauben: Meine alte Schale finden Sie im dritten Abfalleimer links in der Reichenhaller Fußgängerzone. Und das alles erzähle ich Ihnen nur, damit Sie verstehen, warum ich umgekippt bin und so unreif auf sie reagiere. Denn Waldschrat ist man nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Sie sind also gewissermaßen der erste Mann, denn ich sehe. Seit Jahren. Und Sie … Sie sind ein Mann … und was für einer,

dachte sie zum Glück nur, schluckte aber heftig, bevor sie ihren trockenen Mund öffnete und etwas nicht minder Albernes von sich gab. Nämlich: „Nur ziehe ich mir vorher natürlich etwas Anderes an.“

Da legte der Mann aller Männer den Kopf in den Nacken und trötete los. Doch auch er schien sich zu besinnen, denn er legte die Hand auf den Mund, wodurch er sein Grinsen jedoch nur halb verdeckte, senkte Kopf und Blick. Letzterer war wie Bitterschokolade: herb, und doch süß. Oder wie ein See an einem Juliabend. Geheimnisvoll, dunkel, aber einladend warm und gleichzeitig erfrischend. Sein Blick sog sie auf und ihr war, als könne sie beinahe schwerelos darin baden.

„Tatsächlich“, sagte er noch einmal und und grinste so breit, dass sie eine Reihe weißer Zähne sehen konnte.

„Tatsächlich, ja!“, bekräftige sie kurzatmig.

Atmen, tief durchatmen, und Om chanten, fiel ihr ein. So ein Schwachsinn! Auf keinen Fall würde sie egon-like Om summen und damit den schönsten Mann des letzten Jahrzehnts – ach was, ihres gesamten Lebens! - in die Flucht schlagen! War sie denn noch ganz bei Trost? Dann lieber einen auf dumm machen.

„Das würde ich aber gern sehen“, konterte er trocken und weil seine Stimme zum Satzende hin leiser wurde, ahnte sie, dass er das nicht hatte laut sagen wollen.

Allerdings ging es ihr ähnlich wie ihm, denn auch ihr vom Mund gelöster Verstand hauchte ein „Ach“, während sie ihn unvermindert begehrlich anstarrte.

Er drehte sich um, hievte im Handumdrehen die restlichen zwei Pakete auf den Wagen und würdigte sie dabei keines weiteren Blickes.

Völlig verdattert blieb Lena stehen. Was war in ihn gefahren? Er war wie ausgewechselt und kränkte sie beinahe mit seinem völlig aus dem Rhythmus geratenen, da viel zu schnell gesprochenem: „Nun gut. Ich sollte dann mal rasch meine Sachen besorgen. Der Laden schließt ja gleich.“ Mit einer Hand fuhr er sich dabei über den Mund und das markante Kinn, mit der anderen durch das volle schwarze Haar. Lenas Verstand tat, was sie nicht wollte, und malte sich aus, wie sich sein Haar zwischen ihren Fingern anfühlte, da glitt seine Hand in seinen Nacken.

Es gibt Momente, in denen man so stark an etwas denkt, dass einem ist, als würde man tatsächlich aus Zeit und aus Raum heraus- und in die vorgestellte Situation hineingerissen.

Dieser Moment war so einer.

Es war wie Feuer. Flüssiges Feuer, wie Lava, die durch ihre Blutbahnen strömte, als sie in dieser Parallel-Realität die Arme um einander schlangen, sich aneinander pressten und sich leidenschaftlich küssten.

Im nächsten Augenblick war der Moment schon wieder vorbei. Völlig orientierungslos fand sie sich noch immer zwischen Kellerregalen und Bohrmaschinen vor ihm stehen.

„Ähm. Ja“, stotterte sie, als gerade die Durchsage aus den Lautsprechern schallte, dass der Laden in zehn Minuten schließen würde. „Also, ja, dann herzlichen Dank“, brachte sie mühevoll hervor, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Widerwillig begann sie, den Wagen zur Kasse zu schieben, was dazu führte, dass sie über die Bretter stolperte. Doch er war der perfekte Gentleman, der keine Miene verzog, sondern so tat, als sei nichts passiert.

„Ziehen ist leichter, empfahl er stattdessen mit einer so tiefen und irgendwie traurigen Stimme, dass sie einen weiteren Anlauf brauchte, um sich in Bewegung zu setzen.

„Ja, richtig. Danke“, murmelte sie und schaute endlich nach vorn auf den Boden.

„Dann auf Wiedersehen“, hörte sie ihn hinter sich. Langsam drehte sie sich noch einmal um, hob die Hand und ertrank beinahe erneut in dem Espressobraun seiner Augen.

„Auf Wiedersehen. Und schönes Wochenende“, antwortete sie, dann machte sie auf den hohen Absätzen kehrt und zog die Regale hinter sich her zur Kasse.

Geistesabwesend stellte Lena sich an und war so in ihre Tagträume von Vulkanmännern, Espresso-Augen und Lavablut vertieft, dass sie zunächst nicht auf das eigenartige und doch vertraute Gefühl reagierte. Das Gefühl, wenn jemand einen lange anschaut. Oder: wenn er sie lange anschaute. Wie ferngesteuert drehte sie den Kopf zur Seite. Er stand an der gegenüberliegenden Kasse ein wenig hinter ihr.

Sie lächelte. Er lächelte. Keiner sagte ein Wort.

Sie war dran, bezahlte und zog den Wagen zum Ausgang. Als sie sich dort ein letztes Mal umdrehte, war er gerade damit beschäftigt, all seine Sachen auf das Band zu legen. Er sah sie nicht.

Schade, dachte sie, hob enttäuscht die Schultern und eierte, den Wagen hinter sich herziehend, hinaus in den noch immer erschlagend heißen Nachmittag.

 

 

Kapitel Drei

 

Als sie ihren schicken schneeweißen Fiat 500 in der flirrenden Hitze auf dem Parkplatz erspähte, wurde ihr eins schlagartig bewusst: Die Regale passten da nicht rein.

War es wirklich wahr, was Ekel-Egon ihr immer eingebläut hatte? Nämlich, dass unter Make-up und Haarfarbe weder Platz für Hirn noch für Persönlichkeit war?

Tränen der Wut traten in ihre Augen. Und Tränen der Verzweiflung.

Was war nur los mit ihr? So etwas wäre ihr doch bis gestern unter keinen Umständen passiert! Und heute? Lag es an ihrer Verwandlung? An der Hitze? Oder an dem Fremden?

Hoffentlich sah der Fremde sie nicht. Hoffentlich musste er in eine andere Parkplatzspur. Hoffentlich …

Sie musste zurück! Der Baumarkt vermietete doch Lieferwagen! So einen konnte sie fahren, zumindest mit den ausgelatschten Birkenstock, die noch in dem Mülleimer hier sein mussten! Falls der Lieferwagen nicht frei sein sollte, würde sie die Regale bis Montag hinterlegen und dann abholen. Bestimmt war das möglich. Sie lief los, knickte um, streifte die Schuhe von den Füßen und raste barfuß zurück, den Blick so stur auf die Schiebetür gerichtet, dass sie nichts und niemanden um sich herum wahrnahm. Die Tür! Nein! Nicht! Nicht schließen! Doch schon senkte sich das Gitter.

„Moment! Stopp! Warten Sie, bitte!“, schrie sie so laut sie konnte, lief noch schneller und kam doch in dem Moment an, als das Gitter den Boden berührte. Drin war niemand mehr zu sehen. Anklopfen war unmöglich, denn die Glastür war zu weit vom Gitter weg.

Die Angestellten mussten doch noch da sein! Wo war der Personaleingang? Sie sprintete nach links, denn rechts waren andere Geschäfte. Zur linken aber erstreckte sich der Gartenpflanzenbereich, der viel größer war als vermutet, und als sie endlich auf der Rückseite ankam, war auch dort alles fürs Wochenende verriegelt und verrammelt. Wie erschlagen schleppte sie sich durch die drückend heiße Luft zum Auto zurück, die Sandalen an den Riemchen in der Hand baumelnd. Der Schweiß lief ihr nicht nur von der Stirn, sondern auch am Hals, zwischen den Brüsten und an den Beinen entlang. Beinahe hoffte sie, dass jemand die Regale einfach mitgenommen hätte, denn dann wäre sie das Problem los. Aber ja! Das war die Lösung! Sie könnte die Dinger einfach stehen lassen. Als Geschenk für die Allgemeinheit, sozusagen. Somit hätte sie ihre gute Tat pro Tag auch noch gleich erledigt! Eine teure zwar, aber umso besser!

Sie bog um die Ecke und kam zu dem großen Kundenparkplatz zurück, auf dem nur noch eine Handvoll Autos standen.

Sie hätte doch auf Egon hören und den gebrauchten roten Dacia Lodgy kaufen sollen statt dem Fiat, den ihr ihre Schwester „aufgeschwatzt“ hatte, weil sie ihn nicht mit nach Singapur nehmen konnte, wo sie und ihr Mann die nächsten fünf Jahre verbringen würden.

Verdammt!

Aber Egon durfte nicht Recht haben. Er durfte nicht.

„Fick dich, Waldschrat!“, zischte sie. Beinahe musste sie lachen, so gut tat es, ihre Wut offen zu zeigen.

Verdammt und verfickt, fluchte sie innerlich weiter und beschloss, die Regale tatsächlich einfach stehen zu lassen, denn so sehr sie auch überlegte, es gab niemanden, der sie ihr hätte heimfahren können. Die Einzigen, die ihr einfielen, hätten sie nicht erkannt. Und das war gut so, denn auch Lena wollte sie nicht nur nicht wiedererkennen, sondern überhaupt nie wiedersehen. Nie wieder. Das waren nämlich Egons Freunde. Leute, die so tickten wie er. Die Licht ein- und Dunkelheit ausatmeten.

Sie schüttelte sich.

Nein, da lebte sie lieber mit einem zugestellten Kellerboden, weil sie es niemals schaffen würde, Regale für die Marmeladenflut, an der sie die nächsten dreißig Jahre noch essen würde, aufzustellen. Ja, so wäre das. Sie würde davon essen, bis es ihr zu den Ohren herauskam.

Wollte sie das? Wozu sollte das gut sein? War es da nicht viel klüger, noch eine große gute Tat obendrauf zu setzen und alles Eingemachte ebenfalls zu verschenken? Und sich um weit wichtigere Dinge kümmern – wie zum Beispiel darum, wie sie den Unbekannten wiedertreffen könnte?

Das war die Lösung! Begeistert klatschte sie in die Hände und riss anschließend in einer triumphalen Geste die Arme hoch. Nur, um im nächsten Augenblick wie vom Donner gerührt zusammenzuzucken. Bestimmt war das eine Fatamorgana. Heiß genug dafür war es ja. Aber sprachen diese Dinger? Und saßen sie in der prallen Sonne auf einem Stapel Regale?

„Da sind sie ja wieder“, sagte genau dieser Mann mit seiner unverkennbar samtigen Stimme, die ihr trotz der zweiundvierzig Grad weitere, und zur großen Verwunderung, angenehme Hitzewellen über den Rücken jagten.

„Sie ja auch“, krächzte sie geistesgegenwärtig.

„Jemand musste ja auf die Regale aufpassen“, bemerkte er schmunzelnd und stand von eben diesen auf.

„Ach – ähm, die können Sie ...“ Ihre Verzweiflung wich auf einen Schlag. Das war die Lösung! Ihr Blick klärte sich, ihre Anspannung wich, breit grinste sie ihn an. „Können Sie die denn nicht gebrauchen?“ Freudestrahlend, als wäre das die Antwort auf die Millionenfrage, stützte sie eine Hand in die Hüfte und wartete darauf, dass er ihr jubelnd um den Hals fiele.

Stattdessen starrte er sie entgeistert an: „Was? Wie bitte?“

„Sie haben richtig gehört! Ich schenke sie Ihnen!“

„Aber was, wieso denn? Warum haben Sie sie denn gekauft?“

„Weil ich dachte, ich bräuchte sie. Aber jetzt ist mir klargeworden, dass ich sie nicht brauche.“

„Dass Sie sie gar nicht brauchen.“ Er bemühte sich sichtlich, ernst zu bleiben. „Und wie geht das?“

„Ja, wissen Sie, das geht ganz einfach“, erklärte sie übermütig. „Ich brauche sie nicht, weil ich die ganze Marmelade ja auch nicht brauche.“

„Wie bitte?“

„Ich verschenke die Gläser einfach. Wenn sie weg ist, muss ich sie auch nirgends mehr lagern. Ist doch ganz einfach!“ Sie machte eine kurze Pause und dann fiel ihr das Aller-allerbeste überhaupt ein. „Mögen Sie Marmelade? Erdbeer, Brombeer, Himbeer, Aprikose?“

„Wie bitte?“

„Ja? Ist das ein Ja?“

„Ähm – ja. Ich mag Marmelade sehr gern. Aber wieso?“

„Na, das hab ich doch schon erklärt!Weil ich keine Regale brauche, wenn ich keine Marmelade habe! Also, was ist? Nehmen Sie die Regale und die Marmelade?“

„Moment, bitte – ich verstehe noch immer nicht, wie ich dazu komme.“
Lena holte Luft, sagte aber nichts mehr. Stattdessen sahen sie sich einfach eine Weile stumm an.

Dann fügte er in die Stille hinein hinzu. „Und wie ich zu der Marmelade kommen würde.“

Heiß durchzuckte es Lena. Wie er … Sie räusperte sich.

„Tja, ähm. Schicken scheidet leider aus. Zerbrechlich, Sie verstehen schon.“ Sie hüstelte.

„Ja, das verstehe ich natürlich, und ich teile Ihre Einschätzung vollkommen. Schicken scheidet aus“, bekräftigte er in gespielt-gestelztem Ton, gab sich dabei aber vollkommen ernst.

„Ich könnte sie Ihnen auch bringen, wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen“, schlug sie vor und blickte ihn aus großen Augen treuherzig an.

„Ach, Sie liefern ins Ausland? Ich wohne nämlich bei Salzburg. Dazu müssten Sie eine Grenze überschreiten“, sagte er Augen zwinkernd.

Weder Tonfall noch Zwinkern verfehlten seine Wirkung. Lena geriet aus dem Konzept.

Erst im nächsten Leben würde sie schlagfertig eine passende Antwort finden.

„Vielleicht würde ich das sogar in Kauf nehmen“, stieg sie immerhin mit bis zu den Ohren pochendem Herzen auf den Flirt ein.

Überrascht neigte er den Kopf zur Seite. „Das ist aber sehr wagemutig von Ihnen.“

„Ja, nicht wahr?“, fragte sie leise, bekam kalte Füße und setzte blitzschnell ihren Bambi-Blick auf, sodass ihm das Lachen auskam.

„Es gäbe da noch eine Möglichkeit“, übernahm er.

„Und die wäre?“

„Ich hole die Marmelade bei Ihnen ab. Wenn das Ihr Auto ist“, er drehte sich zu dem Fiat mit dem örtlichen Kennzeichen LF, „dann wohnen Sie ja nicht allzu weit weg, oder?“

„Ähm, nein. Tu ich nicht.“

Ein unzähmbares Grinsen zuckte um seine Mund- und Augenwinkel.

„Ich könnte Ihnen aber genauso gut die Regale einfach liefern.“

Lena fiel nichts Besseres ein, als sich dumm zu stellen.

„Aber warum denn?“, fragte sie und mimte die Nichtswissende, da ihr Verstand vermutlich doch entweder unter der Farbe, der Hitze oder dem noch immer namenlosen-aber-immerhin-schon-ein-bisschen-weniger-Unbekannten litt.

„Ach, es ist nur so, dass meine Einkäufe da drin“ er zeigte auf einen X5 „ein wenig einsam sind.“

Lena spürte, dass ihr das Blut in den Kopf schoss und dass dieser glühte. Wie abgrundtief peinlich!

Er hatte sie von Anfang an durchschaut. Noch dazu waren die großen Tüten des Modekaufhauses von außen deutlich zu sehen.

„Ich ähm – es liegt nicht an den Einkäufen, sondern an den Maßen! Ich kaufe normal nie so viel ein! Nur heute, weil ich – einfach wirklich gar nichts mehr zum Anziehen hatte!“, rief sie verzweifelt um das letzte Bisschen von dem, was sie für ihre Ehre hielt, kämpfend.

Nun platzte das schallende Lachen endgültig aus ihm heraus. Er legte den Kopf in den Nacken und trötete über den inzwischen vollkommen leeren Parkplatz.

„Natürlich“, juchzte er dann und sah sie aus Augen, die Sternen und Funken sprühten, an.

„Das stimmt wirklich!“, begehrte sie vergeblich auf, denn sie erkannte, dass er ihr nicht glauben würde, selbst wenn sie ihm ihre gesamte Geschichte erzählte, doch das würde sie nicht.

„Schon gut“, gluckste er, legte die Hand auf ihren Hinterkopf und und zog sie tröstend und witzelnd zugleich an seine Brust.

Lena erstarrte. Die neckende und zugleich liebevolle Geste überraschte sie bis ins Mark.

Das Ganze war im Nu vorüber. Sie hatte seine warme, weiche Haut über den straffen Muskeln noch gar nicht richtig gespürt und seinen betörend männlichen Körpergeruch noch gar nicht tief genug eingeatmet, als er sie beinahe brüsk losließ und so tat, als sei nichts gewesen. Er straffte die Schultern und die Mundwinkel und fragte sachlich: „Also: Ich packe die Bretter ein?“

„Ja“, sagte Lena leise und senkte den Blick so weit, dass sie gerade noch sah, wie er den Karren packte, zu seinem BMW zog und einlud.

„Kann ich Ihnen folgen oder ist das ein Turbo Cinquecento?“, fragte er grinsend, schob das Ungetüm von Einkaufswagen zu den anderen und gab ihr den Euro Pfand. Beinahe hätte sie ihm angeboten, die Münze als Trinkgeld oder Dankeschön zu behalten, besann sich aber gerade noch rechtzeitig und ließ ihn in die Handtasche plumpsen.

„Äh, nein. Kein Turbo. Sie können mir gern folgen. Bitteschön.“

„Und falls ich Sie verliere, sehen Sie Ihre Regale nie wieder? Und ich Sie auch nicht?“

„Oh!“ Bei dem Gedanken, ihn nie wiederzusehen, schlug sie sich entsetzt die Hand vor den Mund.

„Wäre es sehr aufdringlich, Sie nach Ihrer Anschrift zu fragen, damit ich sie ins Navi eingeben kann?“, mimte er wieder Mr. Darcy und in seinen Augen tanzte der Schalk.

„Das Navi? Okay. Es wird den Ort schon finden“, murmelte sie mehr zu sich als zu ihm.

„So abgeschieden?“

„Ja“, stieß sie hervor. „Ja. Ich wohne in Moosen.“

„In Moosen?“

„Ja. Der Ort heißt so.“

„Ich weiß, ich kenne ihn.“

„Ach ja? Moosen?“

„Ach ja. Ich bin nämlich aus Surheim.“

„Aus – Aber S steht doch für Salzburg!“

Wieder lachte er laut los. „Ja. Da wohne ich jetzt. Zumindest so ungefähr. Aber aufgewachsen bin ich in Surheim. Also Moosen. Links oder rechts neben der Kirche?“ Hörte er denn nie auf, sich zu amüsieren?

„Rechts“, flüsterte sie plötzlich völlig mit den Nerven fertig, weil ihr bewusst wurde, dass dieser Mann, von dem sie nicht einmal zu träumen wagen würde, tatsächlich im Begriff stand, zu ihr nachhause zu kommen. Gewiss war alles nur ein schöner Traum.

 

 

Kapitel Vier

 

„Kommt er wirklich zu mir?“, fragte sie sich und schüttelte den Kopf. „Das ist doch total verrückt! So ein Mann wie er kann doch gar nicht mich meinen!“, zweifelte sie zunächst. Je länger sie allerdings über ihn nachdachte, desto mehr erkannte sie: Ja. Er meinte sie. Er sah sie. Sah sie als Frau, die Teil dieser Welt war. Freute sich, dass es sie und ihre Freude gab, wenn auch nur für einen Augenblick. Denn er lachte! Ihretwegen! Und nur, weil sie sich selbst wieder - und das im wahrsten Sinne des Wortes - sah, nicht nur wieder anschauen konnte, sondern sich tatsächlich sah. Weil sie sich selbst wieder als ein Teil der Gesellschaft wahrnahm und wieder eine Verbindung mit den Menschen zuließ, anstatt sich abzukapseln.

Ja, sie lebte neu auf.

Warum war es so wichtig, von anderen gesehen zu werden? Und sich selbst gern anzuschauen, anstatt sich vor sich selbst zu verstecken?

Weil man im Blick des anderen existiert und verschwindet, wenn einen niemand mehr wahrnimmt. Weil ein Blick Beziehung bedeutet und man an Einsamkeit zu Grunde gehen kann. Weil man nur in einer Beziehung, auch in der zu sich selbst, lieben kann, und weil Leben ohne Lieben bloßes Existieren und Überleben ist. Und weil man erst dann, wenn man von anderen geliebt wird und diese Liebe zulassen kann, zu einem erfüllten Menschen wird.

Doch soweit war sie noch nicht. Sie spürte, dass das noch Zeit brauchte, hatte jedoch keine, um darüber nachzudenken, denn in dem Moment kam sie bei sich daheim an. Direkt nach ihr hielt auch der große schwarze Wagen neben ihrem winzigen weißen. Leise lachte sie bei diesem Bild, das sie unweigerlich an ein Brautpaar erinnerte.

„Hallo, willkommen im Land der Marmelade. Haben Sie gut hergefunden?“, neckte sie ihn mit gespielter Förmlichkeit, um ihre Aufregung zu überspielen.

„Ja, einwandfrei. Die Fahrt war sehr angenehm, besten Dank der Nachfrage“, stieg er auf den Ton ein, wobei seine Augen schelmisch funkelten.

Sein Humor, seine warme Stimme und das Funkeln in seinen Augen verstärkten das Kribbeln in ihrer Magengrube und auf ihrer Haut.

„Wie heißen Sie denn eigentlich? Fremde haben hier nämlich leider keinen Zutritt.“ Kess stemmte sie den Arm an die Hauswand, um ihm den Weg zu versperren. Sie legte den Kopf in den Nacken, denn er stand ihr so nahe, dass sie ihm nur so in die Augen schauen konnte. Huch – war es im Schatten jetzt auch schon so heiß?

„Das weist Sie als ehrenwerte Frau aus.“ Er nickte todernst, nur seine Augenwinkel zuckten verräterisch. „Ich wollte Sie gerade das Gleiche fragen, denn ein echter Gentleman wie ich würde niemals das Haus einer fremden Dame betreten.“

„Ja, sind Sie ein Gentleman?“ Foppend hob er eine Augenbraue.

„Sind Sie eine echte Prinzessin?“, konterte er und wieder prusteten beide los.

„Also, ich heiße Lena“, beendete sie das Spiel und schlug einen normalen Ton an.

„Hallo Lena, freut mich. Ich bin Markus.“

„Mich auch.“

„Dann sind wir jetzt per Du?“

„Ja, klar!“ Beide lachten freudig und gaben sich die Hand. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihr aus, als sie spürte, wie warm, weich und stark seine war.

„Schön!“, sagte sie nach Fassung bemüht und ließ ihre Hand in seiner liegen, um das herrliche Gefühl so lange wie möglich auszukosten.

„Freut mich ebenfalls, Lena.“

Als er ihren Namen laut aussprach, weiteten sich seine Augen kurz und er verstärkte den Druck ein wenig, dann ließ er sie los.
„Gut. Dann wollen wir mal!“, beschloss er tatkräftig und wandte sich zur Haustür.

Mit zitternden Fingern fischte sie den Haustürschlüssel aus ihrer neuen und sehr übersichtlich befüllten Tasche.

„Wahnsinns Blick“, bemerkte er und zeigte mit dem Kinn zum Untersberg, der sich groß und breit am Horizont erhob.

„Ja, nicht wahr?“, fragte sie erleichtert darüber, ein neutrales Gesprächsthema gefunden zu haben. Das Haus lag mitten in einem großen Grundstück, auf dem neben den rauen Mengen an Erdbeerstauden auch sämtliche andere Beeren sowie Obst und Gemüse aller Art wuchsen. Jenseits der Zäune dehnten sich Getreidefelder aus, die auf der Südseite bis in die Alpen zu reichen schienen.

„Echt schön hast du‘s hier.“ Staunend sah er sich um und fügte nachforschend „so ganz allein?“ hinzu.

„Ja, so ganz allein ...“, frech grinste sie ihn an. „Und ich fürchte mich noch nicht einmal“.

„Nein?“ Er tat überrascht und riss die Augen auf, die warm und belustigt funkelten. „Na ja, aber du bist ja auch schon groß“, meinte er leise und betrachtete sie eine Weile schweigend. Täuschte sie sich, oder erkannte sie wirklich eine gewissen Erleichterung darüber, dass sie alleine hier wohnte? War das nicht selbstverständlich, wenn sie es zuließ, dass er mit ihr hierher kam? Sie wusste es nicht und drückte die Tür auf.

„Wow!“ Anerkennend pfiff er durch die Zähne. Von dem beinahe rechteckigen Eingang ging rechts die Küche ab, geradeaus gelangte man durch eine breite, und weit offenstehende Schiebetür, in das Wohnzimmer mit Panoramafenster, von dem aus man einen grandiosen Bergblick hatte.

„Ja, nicht? Ich bin auch total happy hier.“

Lena trat vor ihm ein, er folgte ihr. Seine Nähe prickelte auf ihrer Haut und in ihrem Magen.

„Unglaublich schön ...“, bekräftigte er, doch diesmal raunte er die Worte mehr, als dass er sie freudig ausrief und Lena fragte sich, ob er nur die Wohnung oder vielleicht auch sie persönlich meinte.

Ihr war, als würde sich die Welt um sie herum verlangsamen oder sich von ihr lösen. Jedenfalls verlor alles, was nicht Markus und nicht sie war, an Bedeutung, verblasste und verschwand aus ihrer Wahrnehmung.

Es gibt Menschen, die größer sind als andere, weil sie der Welt so viel mehr geben. Weil sie stärker leuchten und strahlen. Weil andere Menschen sich ihretwegen lebendig, begehrt oder sogar gemeint fühlen. Markus war so ein Mann, der zudem mehr Humor als manche Kampf-Komiker und eine überdimensional große Portion Schönheit und Sexappeal versprühte.

Lena schluckte und drehte den Kopf zur Schulter, um ihn anschauen zu können. Da sah sie, was er meinte: ihr gemeinsames Bild in dem zwei Meter hohen Wandspiegel.

Ein Zittern rannte durch sie. Erneut schluckte sie trocken.

Markus war beinahe einen Kopf größer als sie. Sein pechschwarzes Haar wirkte so weich und voll, dass sie am liebsten hinein gefasst und es zerwuschelt hätte. Oh, sie wollte so viel! Sie wollte in seinen Espresso-Augen ertrinken, und vor allem das weiße Hemd, das am Kragen offenstand und dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, genüsslich weiter aufknöpfen, bis es auseinanderfiel. Bis sie seine breite Brust und seinen straffen Bauch bewundern und berühren konnte. Ebenso wie den festen, knackigen Po, zu dem ihre Hände gleiten und in den sie sich vergraben würden ... Ganz ehrlich, schoss es ihr durch den Kopf: Es war eine Frechheit, wie der Kerl herumlief. Was dachten sich Männer wie er eigentlich dabei, so auf die Straße zu gehen?

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Zögernd lächelte sie.

„In dem Haus sind nicht nur die Lage und Einrichtung schön ...“, raunte er andächtig und ließ seinen Blick bewundernd von ihren Füßen aufwärts wandern.

Lena stockte der Atem. Ergriffen hauchte sie: „Sondern auch die Gäste.“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er wieder ernst wurde und sie intensiv taxierte. Vor Anspannung unfähig sich zu bewegen, stand sie da und wartete, was er tun würde. Langsam machte er einen Schritt auf sie zu, legte eine Hand auf ihre Hüfte und flüsterte ihr ins Ohr: „Und erst die Bewohnerin.“ Gerade, als sie glaubte, dass sein gestöhntes Ausatmen in eine Berührung seiner Lippen münden würde, ließ er sie wieder los. Seine Fingerspitzen glitten verführerisch über sie, bis sie sich widerstrebend von ihr lösten.

Ein so starkes Verlangen nach mehr überflutete Lena, dass sie laut nach Luft rang. Ihr war, als wäre ihr Körper ein See, der von einem Sturm aufgepeitscht wurde. Nicht nur in der Magengegend, sondern auch in ihrem Unterleib zog und tobte es sehnsüchtig nach mehr, oder eher nach allem von diesem Mann.

Ein verheißungsvolles Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Eine Verheißung, die er rasch durchbrach.

„Geht‘s hier zur Marmelade?“, fragte er sachlich, was Lena ungemein irritierte. Hatte er sie nicht gerade mit Worten, Blicken und Gesten so gut wie ins Schlafzimmer geführt?

„Ja, richtig. Hier geht‘s in den Keller.“

„Ich hoffe, du traust mir!“, scherzte er schon wieder. Konnte er nicht ernst sein? Flachste er ständig, weil er aufgeregt war, oder weil er Distanz schaffen wollte? War ihm die Situation zu brenzlig geworden, weil zuhause Frau und Kinder warteten? Oder die Geliebte?

„Wovor sollte ich denn Angst haben?“, forderte sie ihn heraus, stützte eine Hand in die Hüfte – genau an die Stelle, wo er sie vorhin berührt hatte und wo sie seine Berührung noch immer spürte.

Kurz war nun er es, der nach Worten suchte. Langsam verengte er die Augen, neigte den Kopf etwas und fragte leise: „Hm, vielleicht sollte ich es ja sein, der sich fürchtet?“

„Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen“, gab sie mit einem Zittern in der Stimme zurück, öffnete die Tür und ging voraus.

Bis zum unteren Treppenende ging er in normalem Tempo voran. Doch dann ließ sich das Ausmaß der Marmeladenschwemme bereits erahnen, denn schon auf den unteren Stufen standen die ersten Gläser.

Erschrocken holte er Luft. Die brauchte er auch, denn sobald sie am Fuß der Treppe angelangt waren und Lena Licht anknipste, dehnte sich das gesamte Marmeladenmeer vor ihnen aus.

Der ganze breite, fast rechteckige Flur, von dem aus man in die verschiedenen Kellerräume gelangte, war von Gläsern übersät. Nur durch einen schmalen Gang konnte man sich bewegen.

Markus sog weiter Luft ein und blies die Backen auf. „Ach. Du. Meine. Güte“, presste er dann hervor und ließ die Luft entweichen.

„Schlimmer als erwartet?“, fragte sie kleinlaut.

„Schlimmer nicht“, antwortete er schwach. „Nur eine andere Dimension.“

„Ah“, machte Lena und ließ kurz den Kopf hängen.

„Sag mal“, fragte er, als wieder Leben in ihn kehrte „Bist du sicher, dass das alles hier überhaupt noch ein Regal braucht?“

„Ja, wieso denn nicht?“

„Ich meine ja nur – Marmelade hält ja nicht unbegrenzt. Und …“
„Das weiß ich!“

„Ja, also …?“

„Wie, ja also?“ Verblüfft sahen die beiden sich an.

„Wie alt ist die denn?“, fragte er und ging in die Hocke, um sich wahllos ein Glas, das sie ordentlich beschriftet hatte, anzuschauen. Er hob es hoch und beäugte es intensiv. „Stachelbeer 2018“, las er laut, stellte es zurück, streckte sich und nahm ein anderes. „Erdbeer 2018.“

Lenas Herz klopfte bis zum Hals. Zum einen, weil er sie offensichtlich für übergeschnappt hielt, zum anderen, weil sich bei der Bewegung seine Muskeln verdammt sexy anspannten und weil sein Hemd aus der Hose gerutscht war, sodass sie seine goldbraune, und bestimmt himmlisch weiche, Haut sehen konnte.

Mit einer Stimme, die ihr fremd vorkam, sagte sie: „Das ist alles von heuer, falls du das meinst.“

„Das - alles?“ Er drehte sich um und starrte sie entgeistert an.

„Ja. Alles.“

„Aber wieso kommt die Marmelade dann in deinen Keller?“

„Na, weil ich sie von der Küche hierher getragen habe.“

„Du? Ich meine – hast du das alles – Alles? - selber gemacht? Du?“

„Ja.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und folgte seinem ungläubigen Blick, der die mindestens 200 Gläser zu verarbeiten suchte. „Ich. Warum denn nicht?“

„Na, weil eine Frau wie du doch nicht ...“ Er schüttelte den Kopf und kratzte sich im Nacken.

„Keine Marmelade einkocht?“

„So in etwa“, nuschelte er, ohne sie anzusehen. Dann richtete er sich wieder auf. „Das ist zu viel für mich. Viel zu viel. Ich dachte, wir reden von ein paar Gläsern, einem Bruchteil davon.“

Lena seufzte. Natürlich war es bei klarerem Verstand betrachtet albern gewesen, zu glauben, er würde alles mitnehmen und sie somit aller Marmeladen-Kellerregal-Sorgen entledigen. „Wenigstens ein paar?“

Er lachte trocken, ohne den Blick von den Einmachgläsern zu wenden. „Ja. Nein. Ich meine, gern, natürlich, wenn du mir etwas anbietest. Von jeder Sorte ein Glas?“

„Von jeder Sorte … Das bringt mich nicht weiter“, stöhnte sie.

„Nein. Das weiß ich. Aber sag mal, kannst du sie nicht verschenken oder verkaufen?“

„Ich hab doch schon so viel verschenkt! Als Dank für die Gläser, die mir alle Leute vor die Tür gestellt haben.“

Er suchte sichtbar nach Worten. „Tust du denn außer Einmachen auch noch etwas Anderes?“, fragte er dann.

„Ja. Schon. Aber nicht letzte Woche. Da … war alles anderes.“

„Sieht ganz so aus“, pflichtete er ihr bei, schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel und verkündete tatkräftig: „Gut. Also, Lena. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich baue dir die Regale auf und nehme dafür gern ein paar Gläser mit, okay?“

„Die Regale auf?“

Er nickte nachdrücklich und duldete keinen Widerspruch.

„Ja. Jetzt gleich. Oder hast du was vor?“

„Ich? Nein. Gar nicht. Absolut nicht“, sprudelte es aus ihr heraus, denn wer würde auf eine Single-Party gehen, wenn Adonis persönlich bei ihr im Haus Regale aufbaute. „Und du?“

„Ich? Nein. Ich habe nichts vor“, versicherte er und klatschte sich in die Hände. „Also gut. Dann hole ich die Regale. Hast du Werkzeug?“

Sie ging voraus in den Werkzeugraum, und reichte ihm, was er brauchte. Innerlich blubberte sie vor Freude, da sie sein Erstaunen genau spürte. Ja, damit hatte er nicht gerechnet, dass sie sich mit derartigen Dingen auskannte. Gerade wollte sie erwähnen, dass sie die Regale im Nebenraum selbst aufgebaut hatte. Dann jedoch blieben ihr die Worte im Hals stecken, denn sein nackter Unterarm streifte ihren, als er ihr den Akkuschrauber abnahm. Lena war, als würde sie taumeln und als würden sich an dieser Stelle ihre Körper verbinden und ineinander verschmelzen. Kurz trafen sich ihre Blicke, tauchten in einander ein, ließen sich aber sofort wieder los. Zu heftig war das, was seine Gegenwart in ihr auslöste. Lena schwankte, so intensiv erlebte sie diesen Mann, der sich nun umdrehte und den Raum verließ, um die Regale zu holen. Lena wollte ihm helfen, doch er brauchte keine Hilfe, sondern trug alle Regale blitzschnell hinunter, riss die Verpackungsfolie herab und sortierte die Einzelteile für das erste Regal.

Verlegen stand Lena daneben und verfolgte fasziniert seine Handgriffe. Er schien genau zu wissen, was er tat, und das passte gar nicht zu seinem sportlich-eleganten Auftreten.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein. Oder doch, ja. Du könntest mir ein großes Glas Wasser bringen.“

„Klar, gern. Mit oder ohne Sprudel?“

„Mit, bitte“, antwortete er, ließ den Blick an ihr hinab wandern, bis er wieder bei den Brettern landete, dann machte er sich umgehend wieder an die Arbeit.

Lena musste sich förmlich mit aller Willenskraft von dem Spiel seiner Muskeln losreißen.

„Okay“, brachte sie heiser hervor und kehrte bald darauf mit einem Tablett, auf das sie neben Glas und Flasche zusätzlich Pfefferminzblätter und Zitronenscheiben gelegt hatte, zurück.

„Oh. Du verwöhnst mich aber.“

„Bitte“, wisperte sie. „Kann ich sonst noch was für dich tun?“

Sein Schmunzeln dehnte sich immer weiter aus und erfasste seine Augen, die mehr verrieten als die Worte, die er sichtlich schluckte, bevor er sie aussprach. Dafür fesselte sein Blick ihren.

„Vorerst nicht, danke“, sagte er betörend ruhig und sie glaubte, seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren, obwohl er zu weit von ihr entfernt war.

„Okay“, murmelte sie und erhob sich widerwillig. „Dann dusche ich vielleicht mal schnell. Ich hab nämlich ganz schön geschwitzt.“ Unsicher kicherte sie und zog an ihrem Kleid.

„Mhm.“ Er schmunzelte noch mehr und nickte, ohne den durchdringenden Blick abzuwenden. Stattdessen ließ er ihn von ihren Beinen zu ihren Brüsten wandern, das spürte und das sah sie. Und es erregte sie, dass ihm gefiel, was er sah. Doch dann setzte ihr Herz einen Schlag aus: Wie weggetreten leckte er sich mit der Zungenspitze über diese herrlich vollen Lippen!

„Ich – ähm – ich brauche nicht lange“, stotterte sie und tappte, wie so oft, wenn sie sich schämte, gleich weiter ins nächste Fettnäpfchen. „Du kannst natürlich auch gern duschen.“

Da platzte das Lachen so gewaltig aus ihm heraus, wie wenn bei rauer See eine Welle an einem Felsen zerschellte. Seine Augen wurden weit, verengten sich dann aber auf Herzschlag-unterbrechend erotische Weise. Die Luft sirrte. Sie sah nur ihn, nichts außer ihm, und auch von ihm nur noch den leicht geöffneten Mund.

„Nach mir natürlich“, stotterte sie hilflos. „Wenn ich fertig bin.“

„Nichts anderes habe ich mir gedacht, und nichts Anderes würde ich tun“, versicherte er mit einer Stimme, die seine Worte Lügen strafte und sich dennoch wie Milch mit Honig anfühlte.

Widerstrebend nickte sie und senkte den Blick. „Okay“, sagte sie leise. „Also dann, falls was ist, in fünf Minuten bin ich wieder da.“

„Okay“, antwortete er genau so leise. „Du bist echt süß, Kleines, weißt du das?“

„Ich?“ Abrupt drehte sie sich um. Kleines? Er hatte sie Kleines genannt? Oh. Bitte. Wie wunderbar das Wort aus seinem Mund klang! Zum Niederknien und Sich-Hinlegen. Jahrelang hatte sie keine Kosenamen mehr gehört. Dabei waren sie so schön! Das „Kleines“ fühlte sich an, wie ein Sonnenstrahl, der nach einem langen Winter warm und hell durchs Kellerfenster fällt.

 

Kurze Zeit später schlüpfte sie in das zweite neue Kleid, das sie dank eines Geistesblitzes noch vor dem Duschen aus dem Auto geholt hatte. Schließlich zog niemand nach einer erfrischenden Dusche die alten verschwitzten Klamotten nochmal an, dachte sie. Zumindest niemand, der nicht Waldschrat hieß.

„Und jetzt?“, fragte sie sich und blieb am Treppenabsatz stehen. Von unten hörte sie Markus werken. Sogar das klang sexy. Was könnte sie tun? Wie konnte sie sich bedanken? Mit ein paar Gläsern Marmelade war es nicht getan. Aber – ob er zum Abendessen bleiben würde?

 

„Hey“, grüßte sie sanft und lehnte sich an die Wand.

„Oh, hallo. Hübsches Kleid! Na, gut erfrischt?“

„Ja, sehr angenehm. Aber die Dinger sind ja echt blöd zum Zusammenbauen, was?“, stellte sie fest und verzog bedauernd den Mund.

„Na, das hatte ich dir ja gesagt“, erinnerte er sie, während er eine Schraube festzog.

„Da wusste ich auch noch nicht, dass du sie zusammenbauen würdest. Tut mir echt leid.“

Seine Augen blitzten. „Glaub mir, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich die Dinger ganz bestimmt nicht kaufen lassen.“

Lena wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Es tut mir echt leid. Ich weiß gar nicht, womit ich das wieder gut machen kann. Aber wäre ein Abendessen zumindest ein Anfang? Ich habe frische Königsseeforellen und Salat da und könnte Pasta dazu machen.“

Er spitzte die Lippen, grinste auf seine eigene Art mit den Augen und summte: „Mhm, also das klingt zu verlockend, als dass ich dazu Nein sagen könnte.“

„Ja? Wirklich?“

Er machte schon wieder Witze: „Ich finde, es klingt super, dass die Frau kocht, während der Mann schuftet.“

„Ha, ha“, entgegnete sie, musste aber lachen.

Wie verrückt war es eigentlich, dass ein wildfremder Mann, der noch dazu als Model Millionen hätte verdienen können, einfach mit einer Frau nachhause fuhr, ihre Regale zusammenbaute und zum Essen blieb?

Sehr, gab sie sich selbst die Antwort. Ganz eindeutig. Aber vielleicht war die Welt einfach oft verrückt, wenn man es zuließ, und deswegen so schön? Vielleicht lag das Leben nicht nur jenseits der Stille, sondern auch jenseits der Vernunft. Und wenn das Leben ein Egon war, dann konnte sie darauf verzichten. Lieber einäschern, als weiter Waldschraten!, dachte sie entschlossen. Dafür würde sie sogar mieses Karma und die Wiedergeburt als Egerling oder das Fegefeuer auf sich nehmen.

 

Sie wollte singen und tanzen, küssen und geküsst werden, verführen und verführt werden. Sie wollte leben, genießen, und zur Not später leiden. Aber leben! Jetzt! Mit allen Sinnen und aller Sinnlichkeit. Leben! Leben und lieben! Jetzt und hier. In diesem Leben, nicht erst im nächsten, von dem niemand so genau wusste, ob es das überhaupt gab.

Sie erinnerte sich an das Lied, das sie im Radio gehört hatte und erinnerte sich zu ihrer eigenen Überraschung daran, dass es Streaming Dienste gab. Schnell lud sie die App herunter, schloss das Handy an die Boxen an, die Stefanie dagelassen hatte, und tanzte zur Musik.

Himmel, sie hatte nicht nur im Wald, sondern hatte hinterm Mond gelebt! Ach was, hinterm Mond! Auf Pluto, oder noch weiter weg. In einem anderen Sonnensystem! Kein Streaming Dienst? Keine Rockmusik? Nur ruhige Klänge, wenn überhaupt? Gott, oh Gott, stöhnte sie und barg das Gesicht in den Händen, was hab ich nur gemacht. Das war doch gar nicht ich!

Dann ließ sie sich von den Gitarrenriffs und den Erinnerungen an den Vulkan-Mann, der im Keller schuftete, entreißen und begann mit dem Kochen. Schnell machte sie sich an die Arbeit, holte die frische Pasta, den sie ursprünglich hatte alleine essen wollen, aus dem Kühlschrank, holte Kräuter aus dem Garten, zupfte den Salat, garnierte ihn mit den Blüten von Kapuzinerkresse, mischte die Vinaigrette, freute sich, dass sie am Vortag Teig für Ciabatta angesetzt hatte, backte das Brot, würzte die Fische, die sie in einem Anfall von Heißhunger auf endlich mal wieder tierische Produkte am Vortag gekauft und einschweißen hatte lassen. Sie war so in ihrem Element, als sie den Tisch hübsch deckte und sich so auf die Zeit mit Markus freute, dass sie nicht bemerkte, dass er hinter ihr stand.

 

 

 

 

Kapitel Fünf

 

„Oh hallo!“ Erschrocken fuhr sie herum. „Stehst du schon lange da?“

Wieder dieses Schmunzeln, das von seinen Lippen bis zu seinen Augen reichte und bei dem sich ihre Beine wie Wachs in der Sonne anfühlten. „Eine Weile. Ich hab dir gern zugeschaut“, gestand er mit diesem unwiderstehlichen Lächeln und stieß sich von der Mauer, an der er gelehnt hatte, ab.

„Oh ...“

Er lachte und fuhr sich mit der Hand zuerst über die Stirn, dann durch sein volles Haar. „Das wär‘s dann. Die Regale stehen.“

„Wirklich? So schnell? Oh, aber – das ist ja fantastisch! Danke, danke!“

„Schauen wir noch schnell, wo sie hinsollen? Dann würde ich gern auf dein Angebot mit der Dusche zurückkommen.“

„Ja, sicher, gern. Aber Markus – im Ernst: Dich schickt der Himmel. Danke. Ich weiß, es ist total verrückt, dass du hier bist und alles ... Dafür weiß ich nicht, wie ich das verdient habe, aber du hast mir wahnsinnig geholfen. Ich hasse es, Dinge vor mir herzuschieben und ich hasse Chaos, weißt du?“

„Das hab ich gemerkt.“ Wieder dieses Grinsen. „Geht mir genau so. Also, ich freue mich sehr, dass ich helfen konnte. Und um ehrlich zu sein“, er rieb sich seinen durchtrainierten Bauch, der sich bei der Bewegung höchst erotisierend an sein Hemd drückte, „freue ich mich auf was Gutes zum Essen, noch dazu in so netter Gesellschaft. Und mit dem Ausblick – auf die Berge!“, fügte er schnell hinzu.

„Na, dann schnell! Handtücher liegen bereit. Leider kann ich dir nichts Frisches zum Anziehen geben“, – oder zum Glück, weil du nie in des Waldschrats Lumpen steigen würdest, fügte sie in Gedanken hinzu und kicherte innerlich, weil Markus fast am anderen Ende des Spektrums von Gepflegt war. Egon hatte sich gehen lassen, sein Äußeres beinahe aggressiv vernachlässigt und sich in seiner verwilderten Natürlichkeit der Welt zugemutet. Er hatte deren angeborenen Sinn für Ästhetik als oberflächlich, verlogen und spiritualitäts-fern abgetan. Und er hatte sie dazu gebracht, zu werden wie er – außen pfui, innen hui. Nur, dass es bei ihr nicht funktioniert hatte. Sie hatte sich selbst nicht mehr leiden können, Spiegel und Fotos vermieden, ihre Verwandten gemieden und sämtliche Kontakte und andere Verbindungen mit ihrem bisherigen Leben abgebrochen.

„Das macht nichts. Ich hab was im Auto. War auch einkaufen“, unterbrach er ihre Gedanken. Dankbar und glücklich nickte sie.

 

Als Markus die Badezimmertür hinter sich zuzog, war Lena sicher, alles nur zu träumen. Es war völlig unmöglich, dass dieser Mann, dieser Adonis - gerade duschte. Nackt. In ihrem Bad. Dass er sich abtrocknen, im Spiegel betrachten und sich anschließend zu ihr an den Tisch setzen würde. Das alles war doch ganz und gar unmöglich.

Nur falls es ein Traum war, dann wollte sie nie daraus erwachen.

 

Verträumt stellte sie den Salat, das frische Brot, eine Karaffe mit Wasser auf den Tisch, erhitzte das Nudelwasser und in der Pfanne das Öl für den Fisch.

„Mhm, das riecht ja köstlich“, vernahm sie da seine tiefe Stimme, bevor sie seine nackten Füße auf dem Boden hörte.

Wieder zuckte sie freudig zusammen.

„Hey, erschrick doch nicht! Ich tu dir doch gar nichts“, neckte er sie und trat näher. Neugierig spähte er auf den Herd. „Was gibt‘s denn Gutes?“

„Die Forellen, dazu Pasta Fresca mit Tomatensoße und frischem Ciabatta.“

„Hui, lecker! Aber wie kommst du denn jetzt zu frischem Brot?“

„Tada! Aus dem Ofen natürlich.“

„Sag bloß, du hast das auch selbst gebacken?“

„Yep. Mach ich ab und zu.“, erklärte sie beiläufig grinsend und schob sie vom Brett ins sprudelnde Wasser.

„Was. Im Ernst?“

„Ja, kochen kann ich ein bisschen. Kann ja nie schaden ...“ Schelmisch grinste sie und schielte aus den Augenwinkeln zu ihm.

„Ich bin mir sicher, du kannst noch viel mehr. Und, Lena“, er berührte sie sanft am Arm, weswegen sie sich beinahe verbrannte „– ich freue mich, dass ich jetzt gleich Gelegenheit habe, ein bisschen mehr von dir zu erfahren.“

„Ich umgekehrt auch“, gab sie mit kratziger Stimme zu.

 

Lena hatte die Stühle an dem großen, ovalen Terrassentisch nebeneinander gestellt, damit sie nicht zu weit auseinander säßen und beide den Bergblick genießen konnten.

„Wow, wie schön du das hergerichtet hast! Und wie herrlich das alles duftet!“ Wie auf ein Kommando knurrte erst sein, dann ihr Magen.

„Das freut mich. Lass es dir gut schmecken!“ Lächelnd reichte sie ihm die vollen Schüsseln, damit er sich selbst nehmen konnte.

„Du auch. Aber erst stoßen wir an. Auf einen schönen Abend und vor allem auf unsere Bekanntschaft!“ Er hob sein Glas und sah ihr tief in die Augen. So tief, dass sie es in der Magengrube und noch viel weiter südlich spürte.

„Auf beides“, wisperte sie.

Schweigend nahm er den ersten Bissen von der Pasta mit dem Fisch.

Verzückt schloss er die Augen. „Ah!“, rief er, nachdem er einige Momente lang nur geschmeckt hatte. „Das ist ein Gedicht. Diese Würze … Ein Traum. Lena – das hätte ich nie von dir gedacht. Nimm‘s mir bitte nicht übel, aber schlanke und attraktive Frauen können meistens nicht kochen.“

Kurz starrte sie ihn überrascht an, doch dann musste sie lachen, weil er es völlig ernst und in Gedanken beim Essen gesagt hatte.

„Ach, nein?“, gab sie amüsiert zurück.

„Nein“, antwortete er todernst nach einem weiteren begeisterten Bissen.

„Und da hast du so viel Erfahrung?“, forderte sie ihn heraus und hob kess ihr Kinn. Natürlich hatte er die. Man sah ihm doch an, dass er ein Playboy war!

„Ausreichend, würde ich sagen. Meine Ex konnte nicht kochen. Keine Ex konnte kochen“, verbesserte er sich und schüttelte belustigt den Kopf.

„Ein Leben voller Ex und schlechtem Essen?“, bohrte sie lächelnd nach.

„Dito. So ist es. Ein Leben voller Ex und einer leeren Küche.“

„Soll das heißen, dass du zurzeit keine Frau oder Freundin hast?“ Verärgert fragte sie sich, ob sie überhaupt jemals Charme besessen hatte oder immer so direkt gewesen war.

„Ich? Nein. Wäre ich sonst hier?“ Er lachte entgeistert und schüttelte heftig den Kopf.

„Weiß ich ja nicht.“

„Nein“, bekräftigte er, nahm noch einen Bissen und anschließend einen Schluck Wein. „Da ist niemand mehr.“

„Ah - okay.“

„Und bei dir?“, fragte er mit angehaltenem Atem.

„Da ist auch niemand mehr.“

Hörbar atmete er aus. „Uff, da bin ich aber froh, dass ich die Regale nicht umsonst aufgebaut habe!“ Er lachte, kratzte sich am Kopf, wobei er wie ein Teenager aussah, und blickte verlegen auf den Teller, von dem er gleich noch eine Gabel voll nahm.

Lena lehnte sich zurück und betrachtete ihn. Er war noch nicht lange Single, und die Trennung nagte noch an ihm, das spürte sie deutlich. Genau wie an ihr. Aber das war normal bei Menschen, die eben nicht oberflächlich waren. Wie konnte sie ihm böse sein? War es nicht im Gegenteil sogar eher gut, dass er noch ein paar Kratzer davon trug, weil es zeigte, dass ihm seine Ex eben doch etwas bedeutet hatte?

„Ist das ein Thema für ein anderes Mal?“, fragte sie einfühlsam, griff nach ihrem Glas und suchte seinen Blick.

„Ja. Das ist es. Bei dir auch?“, entgegnete er ebenso leise und hielt ihrem Blick stand.

Sie nickte und trank einen Schluck, ohne wegzusehen.

Der Alkohol gepaart mit der greifbaren Gegenwart von diesem Wunder von Mann wirkten betörend.

„Und wie geht‘s dir nach der Trennung?“, erkundigte er sich schließlich.

„Gut. Sehr gut. Ich bin erleichtert, wie befreit. Es ist, als würde mir ein Gewand aus Ketten abgenommen. Und bei dir?“

Er nickte nachdenklich. „Klingt schlimm. Aber mir geht‘s im Großen und Ganzen ähnlich. Und momentan geht‘s mir sogar ganz ausgezeichnet.“

Er lachte tief in der Kehle. Seine Stimme klang wärmer und dunkler denn je. Lena war, als könne sie in seine Zartbitter-Schokolade-Augen eintauchen und sich darin treiben und tragen lassen. Seine Augen wurden noch dunkler und ein weicher Schleier zog darüber. Kaum merklich lehnte er sich näher zu ihr.

„Ja? Ist das so?“, fragte sie heiser mit trockener Kehle und lehnte sich ebenfalls sehnsüchtig weiter zu ihm. Sie sah, wie sich sein Brustkorb beim Atmen hob und senkte. Spürte seinen warmen Atem nun tatsächlich auf der Haut. Atmete seinen herb-männlichen Körpergeruch ein, der ihre Sinne umnebelte und sie in eine einzige große Wolke aus Verlangen nach allem von ihm erfüllte. Was auch immer veranlasste, dass einen Menschen vor Lust nach einem anderen verging – es war überirdisch und himmlisch.

„Ja“, murmelte er und schickte damit ungezählte heiße Wellen der Begierde durch Lenas Körper.

Wie in Zeitlupe nahm sie wahr, dass er die Hand ausstreckte, diese auf ihren Kopf legte und sie mit sanftem Druck zu ihm zog.

Schweigend schauten sie einander tief und lange in die Augen. Es stimmt nicht, dass man sich dabei Geschichten erzählen kann. Aber es stimmt, dass man auf tausend verschiedene Arten „ich will dich“ sagen und den anderen so mit der Wahrheit dieses Satzes erfüllen kann, dass dieser Satz Wirklichkeit wird.

Mit bis zu den Ohren pochenden Herzen und stockendem Atem kamen sie sich langsam immer näher, so nahe, bis sich ihre Lippen endlich berührten.

Endlich!

Erlöst atmeten beide aus. Rangen nach Atem, verstärkten den vorsichtig erkundenden Druck der Lippen, öffneten diese, stupsten die Zungenspitzen aneinander, zogen sich abwartend zurück, nur um einander anschließend um so leidenschaftlicher zu küssen. Mehr fordernd zog er sie auf seine Knie. Selig stöhnte Lena auf und schmolz endgültig dahin, da er ähnliche Laute von sich gab.

Seine Lippen waren weich und gleichzeitig männlich hart. Eine Mischung, von der Lena seit Jahren nicht einmal mehr geträumt hatte und die sie nun so sehr berauschte, dass sie meinte, zu schweben. Das war der vollkommene Kuss. Ein Kuss, wie er im Buch steht oder wie er für Filme getauscht wird. Ein Kuss, bei dem sich die Haarspitzen kräuseln und die Zehen einkrallen. Ein Kuss, der einen ganz und gar einnimmt. Einer, in dem man zu schweben beginnt und bei dem man nicht mehr aufhören kann, bis man das Ziel erreicht hat.

Außer man küsste Markus.

„Oh Lena“, stöhnte er nämlich, bevor sein Mund ihren Hals entlang zum Übergang zu den Schultern wanderte. Seine Hände fassten ihre Taille, hielten sie fest, aber gleichzeitig auch von sich fern.

Sie hoffte, er würde nun eine ihrer empfindlichsten Stellen hingebungsvoll liebkosen, stattdessen bedeckte er sie mit lauter zarten Schmetterlingsküssen. „Lena, wow“, seufzte er, hielt inne und schloss die Augen. Dann blickte er zu den Bergen und schüttelte den Kopf. „Das ist – ähm, ziemlich heftig. Puh, also so was ist mir schon lange nicht mehr passiert!“ Verlegen kratzte er sich am Kopf.

„Mir auch nicht“, seufzte sie verzaubert. Warum hörte er auf?

„Wir kennen uns noch gar nicht und dann so was. Entschuldige bitte.“

„Entschuldigen? Warum entschuldigen? Du musst dich nicht entschuldigen!“

Er hob den Kopf und lächelte sie mit noch immer lustverhangenen Augen an. „Nicht, dass du meinst, ich baue jeden Samstag bei einer anderen Frau Regale auf“, scherzte er schon wieder.

Die Enttäuschung über das Ende des Kusses war wie ein nasses Handtuch, das einem jemand über die Schultern legt.

„Flink genug dazu wärst du ja!“, entgegnete sie gezwungen heiter.

„Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist“, fuhr er leise fort, legte die Arme um sie und zog sie liebevoll, aber ohne spürbares Begehren, an sich. „Schon als ich dich mit dem Einkaufswagen in dem Katzenstreu gesehen habe, war ich hin und weg von dir. Ich musste dich einfach ansprechen.“

„Im Ernst?“

„Ja. Ich glaube nicht, dass ich jemals eine so faszinierende Frau wie dich gesehen habe.“

Lena schluckte laut. Wenn er wüsste …

„Du wirkst wie ein frisch geborenes Fohlen, das wackelig auf seinen Beinchen steht und über die Schönheit der Welt staunt.“ Hingerissen lächelte er sie an und strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. „Das aber noch keine Ahnung hat, wie es darin zurechtkommen soll.“

„Ich ...“ Ihr fehlten die Worte und so schwieg sie eine Weile. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine unheimliche Menschenkenntnis hast?“, fragte sie ernst.

„So was in der Richtung, ja.“

„Das dachte ich mir.“

„Ja?“, fragte er erwartungsvoll, doch sie war nicht bereit, ihm jetzt von sich zu erzählen.

„Du bist so wunderschön und so unglaublich sexy, aber“, er räusperte sich und kratzte sich am Kinn. „Aber ich will nicht über dich herfallen und dich dazu verleiten, dass du etwas tust, was du morgen bereust.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie enttäuscht.

„Ich merke so was einfach. Du bist keine Frau für eine Nacht.“ Er machte eine Pause und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Oder?“

„Nein. Das stimmt schon“, gab sie kleinlaut zurück. Wurde ihr das nun zum Verhängnis? Sie wollte ihn küssen, streicheln, ihn spüren, überall auf und auch in sich!

„Siehst du.“

„Aber ... Das könnte sich doch ändern!“, brachte sie beinahe weinerlich hervor.

„Aber warum denn?“, entgegnete er bestürzt.

„Weil ...“ Nun verließ sie der Mut. Leise murmelte sie „Weil es so schön war und ich ... ich will, dass es weitergeht.“

Da lachte er befreit auf, legte seine Hände auf ihren Kopf und zog ihn an seine Brust. „Ach Kleines! Aber genau das will ich doch auch! Und genau deswegen will ich mir die Chance nicht verbauen, dich richtig kennenzulernen, nur weil ich mich nicht beherrschen konnte.“

„Du willst mich“, sie schluckte und starrte ihn ungläubig an, „kennenlernen? Richtig“

„Ja.“ Ernst nickte er.

„Ich auch. Ich meine, ich will dich auch kennenlernen.“

„Das freut mich“, murmelte er, zog sie erneut an sich und küsste sie. Aber nur kurz. Viel zu kurz, wie Lena fand, weswegen sie ihre Hand in seinen Nacken legte und ihn weiter sanft festhielt.

„Mhm, du machst es mir echt schwer, Kleine. Weißt du“, raunte er mit diesem unverschämten Zwinkern, „ich hab mir gleich gedacht, dass du es faustdick hinter den Ohren hast.“

Lena pluderte sich theatralisch auf, um den Vorwurf abzuwehren.

„Das stört mich aber nicht. Nicht im Geringsten. Ich steh da sogar ziemlich drauf.“

„Ach ja?“, gab sie sich unschuldig.

„Ja. Wie auf so vieles an dir. Aber …“
„Aber wir lernen uns erst mal kennen“, sagte sie in vernünftigem Ton und nickte bekräftigend.

„Ja.“

„Dann fangen wir besser gleich damit an!“, rief sie und erhob sich von seinen Knien.

„Du meinst, damit es schneller geht?“

„Exakt!“ Sie nickte vergnügt. „Noch Salat, Brot, Wein?“

Er nahm von allem und speiste zufrieden, wobei sie sich über ihre Schulzeit unterhielten. Anschließend trugen sie das leere Geschirr ins Haus und Lena braute einen starken Espresso. Da fiel ihr ein, dass sie keinen Nachtisch hatte. Verlegen stellte sie die Tasse vor Markus, der bereits wieder auf der Terrasse saß, ab. „Ich hab echt nicht dran gedacht, tut mir leid. Und es ist nichts Süßes im Haus.“
„Nichts Süßes im Haus?“, fragte er entgeistert. „Und was ist das in deinem Keller?“
„Das … ach so! Die Marmelade! Aber das ist doch kein Nachtisch!“

„Na, das werden wir aber gleich mal sehen, was das für ein Nachtisch ist!“, rief er, sprang auf und rannte davon.

Lena blieb sitzen und wartete. Tief atmete sie die wunderbar milde, vom Duft der Felder und Wiesen gesättigte Nachtluft ein.

„Na, dann schauen wir mal, was wir hier Feines haben! Ach, mhm … Erdbeer, Himbeer, Kirsch, Aprikose ...“ Markus war mit den Armen voll winziger Marmeladengläschen zurückgekehrt und stellte eins nach dem anderen auf den Tisch. Jetzt nahm er das mit Erdbeermarmelade und öffnete den Verschluss mit einem lauten Plopp. „Dann kosten wir doch mal!“ Er beugte sich über das Glas, tauchte einen Finger hinein und steckt ihn in seinen Mund.

„Mhm!“, stöhnte er genüsslich, schloss die Augen und lehnte sich im Sessel zurück, ohne dabei den Finger aus dem Mund zu nehmen, was ein mittelschweres Erdbeben in Lenas Innerem auslöste, so unglaublich sexy sah das aus. Auch wenn er übertrieb, was den Genuss anging, so verfehlte die Dramatik nicht ihre Wirkung. Mit halbgeöffneten Lidern tunkte er den Finger erneut in die zähflüssige Süße und leckte ihn ab. Seine Zunge ... seine Lippen, die an seinem Finger saugten und genau das taten, was er doch mit ihr tun sollte ... und was sie mit ihm ... Das Verlangen traf sie mit voller Wucht, raubte ihr den Atem und ließ sie erbeben, bevor sie sich in ihrem gesamten Körper wie ein Lauffeuer ausbreitete.

„Mhm, ah Lena, das ist … das ist einfach himmlisch! Und da sagst du, Marmelade sei keine Nachspeise! Richtig! Es sollte die Hauptspeise sein, und das ganze Leben ist das Dessert. Lena, du bist eine Göttin, eine Marmeladengöttin!“, schwärmte er.

Lena kicherte, trotz der sengenden Hitze, die sie durchflutete und aufgrund der sie nur noch mit Mühe ruhig sitzen konnte. Wie er im Vergleich zu ihr da saß! Weit im Sessel zurückgelehnt, ein Bein angezogen, das T-Shirt, das sich über seinen durchtrainierten Oberkörper spannte, das Glänzen in seinen Espresso-Augen, die vollen Lippen, die an dem Finger in seinem Mund saugten … Er war die vollkommene Mischung aus Lausbub, Charmeur und Adonis. Wie kam der Mann auf ihre Terrasse, oder eher noch: Auf die Erde?

Gebannt beobachte sie, wie rundum glücklich er in den Nachthimmel starrte. Wie er tief ausatmete. Sich langsam aufrichtete. Zu ihr drehte. Den Finger ins Glas tunkte. Sich zu ihr lehnte, und dass sie ihm entgegenkam. Seine Stimme, wie Samt mit Erdbeermarmelade, und trotzdem heiser: „Und jetzt du.“ Sein Finger, der sich aus dem Glas zog und ihrem Mund näherte. Weil er nur ein Ziel kannte.

Ihre Augen, die größer und weiter wurden, die zunächst nur noch sein Gesicht sahen, seinen Mund, seine Lippen, und ganz am Rand ihrer Wahrnehmung seine Augen, die sie so intensiv anblickten, als würde er nicht seinen Finger, sondern ein anderes Körperteil in sie stecken.

Sie öffnete die Lippen, spürte seinen Finger darauf, stöhnte, berührte ihn sanft mit der Zungenspitze, schloss immer wieder die flatternden Lidern. Leckte langsam und voller Genuss die Marmelade von seinem Finger. Seine Haut, der Knochen seines Fingers ... in ihrem Mund. Sein stockender Atem ... Seine Nähe ... Verbunden ... Eins, beinahe – ein unschuldiges Eins-Sein als das, an das sie dachte ... Ein Lustschauer nach dem anderen jagte über ihren Rücken, ihre Arme und ballte sich in ihrem Unterleib. Schwer vor Lust sog sie ihn dann tief in sich hinein.

„Oh bitte“, wimmerte sie innerlich, während ihr Unterleib sich sehnsüchtig zusammenzog.

Sein fester Blick zwang sie, ihre Augen offenzuhalten. Mit einem von alles-vereinnahmender-Lust verhangenen Blick hielt er ihren. Ein Ruck ging durch sie. Ihr Hals drückte sich durch. Ihre Lider gingen auf. Ihre Augen blitzten. Etwas drehte sich. Nicht nur er hielt sie. Auch sie hielt ihn.

Seine Augen weiteten sich. Sein Atem stockte. Sein Mund schloss sich. Er schluckte. Ein Beben lief durch ihre Körper.

Schwer atmend zog er den Finger zurück, tunkte ihn noch einmal in die Marmelade und gab ihr erneut davon. Ohne von ihm wegzusehen, tastete sie nach einem neuen Glas, öffnete es blind, tauchte ihren Finger hinein und gab ihm so zu naschen.

Als zuerst seine Lippen, kurz darauf seine Zunge ihren Finger berührte, schaltete etwas in ihr ab. Ihr war, als würde jemand die Welt um sie herum ausknipsen und sie fortan in einem abgesonderten Raum mit Markus existieren. In einer Sphäre, die mit der bekannten Welt nichts mehr zu tun hatte. Ein Raum, der aus betörender Sinnlichkeit, grenzen-überschreitender Erotik, unzähmbarem Begehren bestand. Kein Denken, kein Zweifeln, kein Wundern mehr. Nur noch berühren, spüren, küssen und miteinander sein.

„Lena“, raunte er, krümmte den Finger und zog sie mit dieser Geste näher zu sicher. „Küss mich“, keuchte er, stellte das Glas weg, legte die Hand in ihren Nacken und zog sie mit sanftem Druck an sich. „Bitte“, fügte er von tief aus seiner Kehle hinzu. Ein einziger Laut, der ihr Verlangen weiter anheizte.

Willenlos ließ sie sich in sein Begehren fallen, öffnete ihren Mund und als sich ihre Zungenspitzen berührten, stöhnten beide laut auf. Zitternd legte er seine Hände an ihre Wangen, küsste sie ununterbrochen weiter und zog sie dabei auf die Beine. Mit den Händen an ihren Wangen und den Lippen auf ihren führte er sie zu dem breiten Sonnenbett, das im Garten stand. Nach einigen Schritten hob er sie mit beiden Armen hoch und trug sie noch immer küssend dorthin. Lena glaubte, sterben zu müssen, oder sterben zu wollen, so erfüllt von Glück war jede einzelne ihrer Fasern.

„Ja“, seufzte er, als er sie sacht auf die bequeme Liege legte, die so breit wie ein Doppelbett war.

Andächtig kniete er sich neben sie und fuhr mit den Fingerspitzen über ihr Schlüsselbein. Sanft strich er mit dem Zeigefinger zum Ausschnitt ihres Kleides, streifte daran entlang und sagte mit einer Stimme, die wie Lichtjahre entfernt klang: „Jetzt kennen wir uns ja schon viel besser, nicht wahr?“ Sie hörte darin, wie schwer es ihm fiel, sich zu beherrschen, wie stark er bebte und wie sehr er sie begehrte. Sie spürte, dass auch er zitterte. Ihr war schwindelig. Sehnsüchtig drängend hob sie ihm ihr Becken entgegen.

„Viel besser, ja“, wimmerte sie vor Lust halb aufgelöst und stöhnte laut auf, da er mit einem Finger unter den Stoff und bis zu ihrem BH fuhr.

Sich vor Lust windend biss sie sich auf die Unterlippe.

Mit derselben Andächtigkeit glitt er unter das Dessous.

„Mhmah“, stöhnte er lang und tief, presste die Augen zu und legte den Kopf weit in den Nacken. Lena legte ihre Hände auf seine Brust, die er ihr so unwiderstehlich entgegen drückte.

Eine Zeitlang streichelte er ihren Busen nur mit dem einem Finger. Sie verging vor Verlangen. Gerade, als sie dachte, es nicht länger auszuhalten, folgten die restlichen Finger, dann die ganze und schließlich die zweite Hand. Schwer atmend zog er das Wickelkleid auseinander, hob ihren Busen aus dem BH und bedeckte die weiche Haut mit so zarten Küssen, dass Lena glaubte, sie würde schmelzen.

„Du bist so schön. So unglaublich schön“, flüsterte er mit belegter Stimme und konnte sich an ihren Brüsten kaum sattsehen. Andächtig hielt er sie in seinen starken Händen, dann endlich leckte er zuerst mit der Spitze, dann mit der Breite seiner Zunge über ihre steil aufragenden Nippel. Endlich nahm er einen in den Mund und fing an, voller Hingabe daran zu saugen. Lena sah bunte Lichter hinter ihren geschlossenen Lidern und begann, aus den Grenzen ihres Körpers hinauszuströmen. Hilf- und haltlos wand sie sich hin und her, drückte und rieb ihren Unterleib an seinen.

Sie zerfloss vor Wonne und Begehren. Wie groß und stark sich sein hartes Glied anfühlte! Oh. Bitte. Bald, wimmerte sie still bei sich, während er sie allein durch die Liebkosung ihres Busens dem Himmel immer näher trieb.

Noch nie hatte ein Mann sie an dieser Stelle derart heftig erregt. Noch nie hatte sie sich überhaupt vorgestellt, dass so etwas möglich war.

Ihre Mitte zog sich immer heftiger zusammen und hob sich ihm flehend entgegen, während er ihr mit zielstrebigen Bewegungen das Kleid auszog und mit einem einzigen Handgriff den BH öffnete.

„Du bist so schön. So unglaublich schön, Lena“, raunte er ein ums andere Mal und griff mit beiden Händen ihre Brüste. Schwer atmend streichelte er mit den Daumen über ihre Nippel. Dann begann er, sie leidenschaftlicher als zuvor zu küssen, zu lecken und endlich daran zu saugen.

Sie schlang die Beine um seinen bebenden Leib, um sich voller Begehren fester an ihn zu drücken und zu reiben.

Ach. Du. Meine. Güte.

Wie er ihr Drängen erwiderte.

Wie sein Rhythmus und ihrer eins wurden.

Wie hart er war. Wie er auf ihre Hände, die unter sein T-Shirt wanderten, reagierte und laut aufstöhnte, als sie es über seinen Kopf zerrte.

Und wie weich seine nackte Haut war. So weich, warm und männlich. Und fast keine Haare! Sein leicht herber Geruch ... Lena wurde schwindelig, so berauscht war sie von diesem Mann und dem Erdbeben und Sternenregen, das er in ihr auslöste.

Ihre Finger glitten über seinen Rücken, fuhren in die Hose, fassten seinen strammen Po, gruben sich in das feste Fleisch und drückten ihn noch fester an ihre heiße Mitte. So fest, dass sie fast meinte, ihn in sich zu spüren.

„Oh bitte“, stöhnte sie, weil sie zu mehr nicht mehr fähig war und streichelte zu seiner Vorderseite. Zielstrebig öffnete sie Gürtel und Hosenknöpfe. Er half ihr beim Ausziehen. Sie stieß einen überraschten Laut aus und konnte den Blick nicht von dem Körperteil wenden, das seine Briefs in ein Tipi verwandelten. Befreit atmete er aus, schloss die Augen und drehte den Kopf genüsslich erwartend zur Seite.

Sanft, aber bestimmt, wollte sie ihn auf den Rücken drücken. Hatte er sie nicht lange genug verwöhnt? Jetzt wollte sie ihm Freude bereiten. Außerdem sehnte sie sich selbst danach, seine breite, fast haarlose Brust abzulecken und ihre Zunge in einer feinen Linie weiter zu dem Turm zu ziehen, der sich ihr so mächtig und so lockend entgegenstreckte.

Der Ständer, der endlich vollständig befreit werden musste. Aber nur kurz ... nur kurz ... bevor ... Ein Schauder durchlief sie. Sie fasste den Bund seiner Unterhose, doch er ahnte, was sie vorhatte.

Er jedoch fasste ihr Handgelenk. „Sch, nicht“, flüsterte er und drückte sie zart, aber keinen Widerspruch duldend, zurück in die Polster. An ihrer Stelle glitt nun er an ihr hinab. Federleicht und dennoch bestimmend. Eine toxische Mischung. Er hakte die Zeigefinger in ihren Slip und zog ihn in einer fließenden Bewegung über ihre Hüften. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Dreieck. Er atmete schnell und flach, strich sich mit der Hand übers Gesicht und zog laut Luft ein. Er zitterte, genau wie sie, dennoch gab er nicht nach. Mit einer Hand stemmte er sich auf, mit der anderen fasste er ihren Knöchel und spreizte so ihre Beine.

Außer der Hand an ihrem Fuß gab es keinen Berührungspunkt zwischen ihnen, was auf eine eigene Art übermächtig erotisch wirkte. Da schnellte seine Zunge wie aus dem Nichts an ihren empfindlichsten Punkt. Sie schrie und bäumte sich auf. Krallte ihre Finger in die Matratze und geriet vollkommen außer sich. Doch er?

Scheinbar ruhig und gefasst fuhr er mit zwei Fingern ihre Schamlippen entlang, streckte und krümmte die Finger, während seine Zunge kreiste, leckte und saugte, dass Lena vergaß, wo ihre Füße und wo ihr Kopf war. Sie bestand nur noch aus diesem einzigen hoch explosiv geladenen Punkt. Mit einer festen Zartheit, die sie noch nie erlebt hatte, schob er die Finger in ihre Feuchte, die sie hungrig umschloss und tiefer in sich zog.

„Oh – oh – oh!“, wimmerte sie ununterbrochen unter diesen Stößen.

Immer weiter, immer höher trieb er sie, hinauf bis zur Spitze, unablässig immer weiter, leckend, saugend, stoßend. Er flog und schwebte auf eine Art und Weise über ihre Kirsche, dass sie den letzten Kontakt mit der Erde verlor. Nur noch mit den Zehenspitzen stand sie auf dem Gipfel des Berges der Lust. Unaufhaltsam strebte sie aufwärts, himmelwärts. Ein letztes Verharren. Ein letztes Lecken, ein letztes Saugen - dann riss der Faden. Sie hob ab, zersprang in Millionen Lichtteilchen, flog zu den Sternen, schwebte, wurde ein Teil der Unendlichkeit und kehrte eine unbestimmte Ewigkeit später in seinen warmen, starken Armen in ihre eigene Haut und in diese Welt zurück.

Aus verschwommenen Augen schaute er sie an. Lange und still. Mit einer Hand strich er Haarsträhnen zurück, streichelte über ihr Gesicht, hauchte Küsse darauf und zog sie fest an sich.

 

 

 

Kapitel Sechs

 

Der zweite Weihnachtsfeiertag

 

„Es ist so geil, wenn du kommst“, knurrte er und drehte sie auf den Rücken. Dann setzte er sich auf ihren Bauch. Sein Gewicht auf ihrem erregte sie erneut. Mit leichten Fingern strich er von ihrem Brustansatz zu ihrem linken Arm, an der empfindlichen Innenseite entlang bis zu ihrem Handgelenk. Er schob seine Finger in ihre und ballte die Hände zu einer Faust. Suchte ihren Blick und fixierte sie mit seinen Augen. Dann wiederholte er das Gleiche mit der anderen Hand. In seinen Augen brannte das Begehren. Bebend betrachtete er sie und ohne sie loszulassen, rutschte er an ihr hinab, kniete sich zwischen ihre Beine und setzte sich auf seine Fersen. Dann streckte er die Arme nach oben, und schnappte mit einer Hand ihre Gelenke. Gleichzeitig packte er mit der anderen ihren Po, den sie ihm erneut drängend entgegen hob.

Alles an ihm, von seinem Blick über seinen Atem und die langsame, bestimmende Art, wie er ihr die Hand in den Rücken legte und seine Fingerspitzen in ihre Haut drückte, schrie, wie sehr er sie wollte und wie sehr er sich beherrschte.

Mit sanfter Dominanz brachte er sie allein durch eine kleine Bewegung seiner Hand auf ihrem Rücken, sich nach oben zu bewegen, während er selbst seine Position um keinen Millimeter veränderte. Nur den Blickkontakt zerbrach er. Nun fixierte er ihre Unterleiber. Nur mit den Fingerspitzen streifte er von ihrem Rücken zu ihrer Hüfte. Sie zuckte und schrie auf, denn völlig ohne Vorwarnung packte er fest zu, presste seine Hand in ihr Fleisch und zog sie zu sich, über ihn, schob sich in sie – endlich.

Endlich.

Ein leichtes Beben rannte durch ihre Körper.

Niemand bewegte sich.

Spürte nur nach.

Bebte.

Da – so plötzlich wie vorhin – der zweite Stoß.

Hart. Fest. Kurz.

Sein Kopf sank auf seine Brust. Sein Blick flackerte. Er zitterte. Richtete seinen Oberkörper wieder auf und begann, sich in wechselndem Tempo und mit wechselnder Stärke in ihr zu bewegen.

Lena wand sich unter seinen Stößen, seinem Ziehen und Schieben.

„Das mit dir ist der reinste Wahnsinn“, keuchte er, öffnete einen Spalt weit die Augen, schloss sie wieder. Seine Lenden bewegten sich in gleichbleibendem Tempo, wurden unaufhaltsam schneller und härter, bis er mit einem erlösten Schrei in ihr kam.

Wie jedes Mal, wenn er ihr bereits einen Höhepunkt geschenkt hatte, spürte sie ihn intensiv. Erneut zog die Lust in ihr immer weitere Kreise, bis sie beinahe zur gleichen Zeit wie er das zweite Mal um ihn herum kam.

Anfangs hatte sie dies ungerecht empfunden. Es war ihr schwergefallen, es als das anzunehmen, was es war: ein Zeichen seiner Liebe. Ein Geschenk. Eine neue Sexualität. Ein weiterer Teil in ihrem inner- und äußerlich schönen Leben.

„Ich bin so froh, dass wir nicht gleich am ersten Abend miteinander geschlafen haben“, flüsterte sie in sein Ohr, als sie wenig später nebeneinanderlagen.

„Ich auch. Sehr froh. Eigentlich sollte ich eine Auszeichnung in Standhaftigkeit erhalten, dass ich dir damals widerstanden habe“, neckte er sie, gab ihr einen liebevollen Nasenstüber und einen Kuss auf den Mund.

„Ja?“, gab sie sich unschuldig. „War das denn so schwer?“

„Schwer? Schwer ist kein Ausdruck! Das war übermenschlich!“

Lena lachte glücklich und kuschelte ihr Gesicht an seine Brust. „Dann bekommst du eine. Für dein Lebenswerk.“

„Für so viel gleich?“

„Auf alle Fälle. Denn ohne dich wäre mein Leben anders.“

Er schwieg, weil er mittlerweile wusste, was sie mit Egon erlebt hatte. Er wusste, dass der Mann sich immer weniger gepflegt hatte und das Gleiche auf subtile Art und Weise von ihr verlangt hatte. Er hatte es ihr nicht direkt gesagt, hatte sie nie gelobt und nie kritisiert. Nein. Er hatte immer nur andere gelobt und kritisiert, womit er Lena auf Distanz hielt, stets danach strebend, so zu werden, dass endlich sie es wäre, die er namentlich loben würde. Doch das hatte er nie getan. Und hätte es nie getan. Denn Ziel dieser perfiden Strategie war es ja, ihr Selbstbewusstsein so weit zu schwächen, dass er alles für sie wäre und dass sie niemals die Kraft finden könnte, ihn zu verlassen.

Dass sie es doch getan hatte, so sinnierte sie ab und an, konnte damit zu tun haben, dass das Gute eben schön, das Böse aber hässlich war.

„Mein Leben wäre ohne dich auch ganz anders. Arm. Kalt. Einsam“, fügte er selig hinzu, zog sie fester in seinen Arm und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf, dessen kastanienbraunes Haar seidig weich auf das Laken fiel. „Und vor allem würde ich nicht mal die Hälfte aller Marmeladensorten kennen. Und hier“, schelmisch grinsend stand er auf, ging zum Schrank und zog etwas Schepperndes heraus. „Hier ist etwas für dich. Nach altem englischen Brauch am Morgen.“

„Noch etwas? Du hast mir doch gestern schon so viel geschenkt!“, rief sie und näherte sich dem großen, unförmigen Ding, das mit einem karierten Tischtuch zugedeckt war, neugierig.

„Das hat irgendwie nicht unter den Baum gepasst ....“, druckste und gluckste er herum. Seine Augen blitzten.

Gespannt fasste sie das Tuch und hob es vorsichtig an.
„Tada!“, rief er und lachte sich beim Anblick ihres entgeisterten Gesichts kringelig. Denn vor ihr stand eine Pyramide aus hübschen Einmachgläsern mit blau und rot karierten Deckeln.

„Markus!“, stammelte sie entsetzt.

„Ja?“ Er gab sich unschuldig. “

„Maaarkus ...“

„Ja?“

„Wie kannst du ... sind wir nicht schon ...“

„Sch, sch“ Noch immer lachend nahm er ihr Gesicht in beide Hände, drückte es zu seinem hoch, bis sich ihre Nasenspitzen berührten und sie außer dem Braun seiner Augen nichts mehr sah. „Du bist doch meine Marmeladen-Prinzessin. Und wenn du jedes Glas aufmachst und die Buchstaben zusammensetzt, denn erfährst du, was du für mich bist! Und keine Sorge, ich habe die Zettelchen nummeriert.“

Sie kam nicht dazu, zu fragen, was da stand, denn seine Zungenspitze stieß an ihre Lippen und begehrte einen weiteren, leidenschaftlichen Weihnachtskuss. Und was auf den Zettelchen stand war: „Du bist die Welt für mich. Danke, dass es dich gibt. Ich liebe Dich.“

 

*** Ende ***

 

***Zarte Küsse***

 

Eine sommerlich verträumte Novelle über das große Glück im Kleinen an der italienischen Adria

 

***

 

In der Geschichte erwähne ich einige Straßennamen in Grado Pineta, die alle nach Sternzeichen etc. benannt sind. Die Namen habe ich (leider) nicht erfunden, sondern sie heißen wirklich so.

 

 

 

Der grüne Delphin

 

„Ist das schön“, seufzte Claudia still bei sich. Die Luft roch salzig nach Meer und warme Sonnenstrahlen streichelten ihr Gesicht in dem frischen Fahrtwind, der von der rasanten Schifffahrt herrührte. Sie atmete tief ein, schloss die Augen, breitete die Arme auf der Lehne der Sitzbank aus und legte den Kopf in den Nacken.

„Ist das schön“, wiederholte sie und sog die Lungen erneut voll frischer Seeluft.

Vor wenigen Minuten war Triest am Horizont verschwunden, und ebenso wie die Stadt nun hinter ihr lag, so lagen auch herrliche Tage hinter ihr. Triest – das klang so traurig, so trist, dabei war der Ort voller Leben! Eine begeisternde Mischung aus dem kaiserlichen Österreich, dem nördlichen Italien und etlichen anderen Einschlägen. Wer hätte gedacht, dass sie sich so wohl fühlen – oder dass sie überhaupt dorthin kommen würde? In die Stadt, in der sich moderne und traditionelle Bars und Restaurants aneinanderreihten und in der man alles bequem zu Fuß erreichte. In der man mit einem cremigen Schokoladen-Eis in der Hand am Meer entlang schlendern und am Yachthafen oder auf der Mole Audace eine Pause einlegen konnte, bevor man sich einen Cappuccino am Morgen, einen Espresso am Tag und einen Aperol Spritz am Abend gönnte. So, wie sie es am liebsten bei Sonnenuntergang in der Bar „Da Umberto“ getan hatte, wo Paolo ihr immer kostenlos einen Teller mit frischen Pistazien dazu serviert hatte.

Genuss und Freundlichkeit wurden in der Stadt nämlich großgeschrieben. Insofern war es genau das richtige Fleckchen Erde, um die ersten, anfangs zaghaften, doch mittlerweile sicheren Schritte in ihr neues Leben als alleinstehende Frau zu setzen.

Ja, wer hätte das gedacht. Das alles – der neue Lebensabschnitt, der Urlaub in Triest und in Grado, einem alten Badeort an der Adria.

Nein, niemand hätte das gedacht, und niemandem könnte sie davon erzählen. Zumindest jetzt nicht. Denn alle Freunde und Bekannten dachten, sie sei mit Gregor unterwegs. Und zwar in Tadschikistan, einem Land, dessen Namen die meisten zwar schon mal gehört hatten, aber von dem niemand genau wusste, wo es lag und was sie damit anfangen sollten. Ja, mit Gregor würde sie sich jetzt in der ehemaligen, bergigen und bettelarmen Sowjetrepublik schinden. Mit Blasen an den Füßen und nur einem T-Shirt zum Wechseln.

Es war unmöglich, ein Bild von hier zu posten, selbst wenn sie Internetzugang gehabt hätte. Es wäre ja allein schon Stadtgespräch, dass sie nicht mehr mit, sondern ohne Gregor unterwegs war. Dass sie noch dazu nicht in dem fernen, geheimnisvollen Land, sondern im nördlichsten Adria-Seebad weilte, glich einem Skandal. Man würde behaupten, sie hätte den Verstand verloren. Denn niemand, absolut niemand, der es zu etwas gebracht hatte, etwas auf sich hielt und auf der jüngeren Seite von 60 stand, würde freiwillig hierherfahren. Niemand. Und absolut niemand durfte davon erfahren. Es war einfach zu peinlich.

Nun gut, Triest ging ja noch. Aber nicht Grado. Grado war ein absolutes No-Go. Es spielte in einer Liga mit Caorle, Lignano, Bibione und Jesolo. Bettenburgen. Flacher Sandstrand. Liegestuhlreihen. Man spricht Deutsch.

Und doch war sie hier. Klammheimlich und unbemerkt von ihrer Clique und der immensen „social media“ Gemeinde, die bis zum Ende des Urlaubs nichts von ihr hören und sehen würde, während ihr So-gut-Wie-Ex selbst bei kaum vorhandenem Internet aus dem hintersten Winkel des Planeten postete und permanent Likes einheimste. Wenigstens hatte er den Anstand, oder genau so viel Schiss wie sie, so zu tun, als wäre sie mit von der Partie. Er und single – unvorstellbar. Er und Tadschikistan – perfekt vorstellbar. Er dort – sie hier. Schwer vorstellbar, aber wahr. Und schön. Wohltuend. War es nicht verrückt, dass die Wahrheit so viel besser war als die Lüge und das Tun-als-ob? Aber noch würde sie so-tun-als-ob, denn irgendwie war sie noch nicht so weit. Sie zuckte die Schultern. Was sollte es! Sie fühlte sich wohl. Während ihr Verfließender den ersten 7000er bezwang, erklomm sie zielstrebig den Gipfel des Spießertums. Vielleicht hatten sie beide ja in all den Jahren die innere Langeweile dadurch verleugnet, dass sie nach außen hin immer aktiver, attraktiver, erfolgreicher und all das instagram-taugliche Zeugs wurden?

Trotzdem: Adria und Tadschikistan. Dazwischen lagen in der Tat Welten. Wann hatten sie sich so weit von einander entfernt? Nicht Norditalien und besagtes Land, sondern Gregor und sie? Hier trennten sich ihre Wege. Nach 21 Jahren ...

Bei dem Gedanken an die schiere Summe der Zeit wurde ihr schwindelig. 21 Jahre. Das war ihr halbes Leben. Mit einem einzigen Mann. Ohne Kinder und ohne Trauschein; Umstände, unter denen sie lange gelitten hatte, die sich jedoch jetzt als vorteilhaft erwiesen, denn sie konnte einfach ausziehen. Aber allein sein? Es fiel ihr schwer, sich die Tage und Abende vorzustellen, schließlich war sie zum ersten Mal Single, doch eigenartigerweise wurde ihr dabei nicht eng in der Brust. Im Gegenteil: Es wurde weit. Sehr weit sogar. So weit, dass sie die Arme bis in die Fingerspitzen ausstreckte und tief Luft holte. Eine wärmende Dankbarkeit durchdrang sie. In letzter Minute dem Abenteuerurlaub von der Schippe zu springen und stattdessen hierher zu kommen, war die richtige Entscheidung gewesen. Das hoffte sie zumindest, noch ohne den Badeort überhaupt betreten zu haben. Und dass sie gerade auf dem Weg dorthin war, lag an einer Werbe-Mail des Hotelbuchungsportals ihres Vertrauens, die sie grundlos geöffnet hatte, denn sie las derartige Mails normalerweise nie. Dass sich darin aber ein unschlagbares Angebot von einem modernen, gut bewerteten Hotel in Strandlage befand, musste Schicksal sein.

Ach ja, ohne die E-Mail wäre sie nicht hier, sondern im Survival-Modus in besagten Bergen.

Ihr Blick wanderte zu dem großen sonnengelben Koffer, der unweit von ihr entfernt auf dem Boden lag. Er war nur halb voll, damit genügend Platz für italienische Einkäufe blieb. Sie hatte schon einige hübsche Teile erstanden und freute sich auf Weitere. Dazu zählten zwei sexy Wickelkleider, die beide ein bombastisches Dekolletee zauberten. Das eine war mit Kolibris und Palmwedeln bedruckt, das andere sah aus wie ein in Goldglanz getauchtes Leopardenfell. Auch goldfarbene Riemchensandalen mit einem schmalen, wenngleich nicht allzu hohem Absatz, zählten zu den neuen Schätzen, mit denen Gregor sie aus dem Haus gejagt hätte. Die Krönung war jedoch eine kleine Tasche für den Abend, die aus unzähligen metallisch glitzernden Glasperlen bestand. Sie hatte keine Ahnung, wann und ob sie die Sachen jemals tragen würde, aber allein sie zu besitzen, ließ sie selig schmunzeln. Sie fühlte sich feminin, als könnte ein Mann sie bewundern und ein bisschen auf Händen tragen, nur für einen Abend vielleicht, denn schließlich konnte sie selbst gehen, aber immerhin!... Ein Abend wäre besser als kein Abend!

„Ha!“ Laut lachte sie auf, als sie an den nagelneuen Treckingrucksack dachte, der jetzt verwaist im Keller lag. 24 Liter Volumen Gepäck für einen drei-wöchigen Urlaub. Ein T-Shirt zum Wechseln, Rei in der Tube, und kein Make-up. Zumindest war das der Plan gewesen. Gregors Plan, nicht ihrer, und daran war in letzter Sekunde alles gescheitert. Dabei war der Stein vor Jahren ins Rollen gekommen, überlegte sie, während sie die anderen Paare an Board beobachte. Ob es ihnen ähnlich ging wie Gregor und ihr?

Gregor, der seine Midlife-Crisis dazu genützt hatte, seine „jugendliche“, wie er sie nannte, Gemütlichkeit wie einen Mantel abzustreifen und stattdessen in hautenge Sportklamotten zu schlüpfen. Verständlich, dass dafür die Figur erst in Form gebracht werden musste. Diese Veränderung begann jämmerlich und schmerzhaft, nahm jedoch rasant Fahrt auf. Binnen weniger Monate war er körperlich fitter und muskulöser als jemals zuvor. Marathon, Biathlon, Triathlon, Klettern, Abseilen – pausenlos war er am Trainieren, am Auf-die-Ernährung-Achten und Sich-selbst-Optimieren. Die Genuss- und Lebensfreude gingen dabei, beabsichtigterweise, den Bach hinunter, ebenso wie, unbeabsichtigterweise, die Beziehung der beiden. Denn anders als Gregor schien Claudia ihre beginnende Midlife Crisis dazu zu nützen, sämtlichen Druck und alle falschen Erwartungen abzulegen und sich, nicht nur figürlich, aber hier besonders deutlich sichtbar, in Gregors entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Aus ihrer einstigen Größe 34, Cup B, war mittlerweile eine großzügige 38 - 40(je nach Marke) und ein ansehnliches Cup C mit Tendenz zu D geworden. Ein Ende war nicht absehbar, denn dazu schmeckten Eis, italienische Croissants, Pizza und vor allem der Aperol Spritz einfach viel zu gut. Und Körbchen C machte ohnehin mehr her als B. Oder nicht? Zumindest fand sie das, wenn sie sich allein vor dem Spiegel betrachtete und Gregors Gefasel von „Atombusen“ vergaß.

War sie eigentlich komplett irre gewesen, sich so von ihm herumkommandieren, beeinflussen, ja, vielleicht sogar manipulieren zu lassen? So wie die junge Frau in den glitzernden High Heel Sandalen, der knallengen Hotpants und dem hautengen tot mit einem Mörder-Ausschnitt, die brav mit den Augen klimperte, während ihr Maker aufzählte, womit sie den restlichen Tag die Zeit verbringen würden?

Dass Claudia mit mehr als nur einem T-Shirt verreisen wollte, dafür aber auf stündliche Adrenalinausschüttungen und Angstschweißausbrüche (und das bei einem T-Shirt zum Wechseln!) Gut und gern verzichten konnte, hatte sie schon erkannt, bevor er seinen Urlaubswunsch fertig ausgesprochen hatte. Nur hatte sie zu leise, oder ehrlicher formuliert: gar nicht, widersprochen. Konsequenterweise hatte sie artig gebucht, sich brav ausgestattet und folgsam zu trainieren begonnen. So, wie sie alles konsequent artig, brav und folgsam tat. Getan hatte! Denn eines Tages streikte ihr Körper. Das erste Mal passierte es im Juni, als sie die Reiteralm hinaufjoggen wollte. Ihre Beine blieben einfach stehen. Wie ein störrischer Esel, obwohl ihr Kopf „Renn!“ schrie, bewegte sie sich nicht vom Fleck, sondern ging nach einer Weile zum Auto zurück und fuhr wie fremdbestimmt zu ihrer Lieblings-Eisdiele. Nach ein paar Tagen stellte sie die Motivierungsversuche ganz ein und gab von da an vor, alleine zu trainieren. Dass das angesichts der geplanten schwierigen Touren nicht gutgehen konnte, wusste sie. Denn um mit Gregor und seinen Bergspetzeln mitzuhalten, hätte sie viel länger und härter trainieren müssen. Die Angst vor der Anstrengung, der Erschöpfung, den gefährlichen Tritten, der Absturzgefahr wurde immer stärker, raubte ihr den Schlaf und bescherte ihr graue Haare. Doch weil sie immer so artig, brav und folgsam gewesen war und sich ein Leben ohne Gregor nicht vorstellen konnte, packte sie das eine T-Shirt zum Wechseln und die Waschpaste, aber kein Make-up ein.

Erst, als das Taxi zum Flughafen im Morgengrauen vor dem Haus hielt, schlug ihr Überlebenswille durch. Unerwartet, dafür mit voller Wucht. Gregor saß bereits im Auto, und sie wollte ebenfalls gerade einsteigen, als sich ihr Kopf und Fuß aus dem Fonds von selbst zurückzogen und sie hastig „Ich komm nicht mit. Mach’s gut, viel Spaß, hast eh mehr ohne mich, bis dann“, herauswürgte, bevor sie die Tür zuschlug und ein sicherlich völlig verdatterter, aber möglicherweise ebenfalls erleichterter Gregor allein in den Kaukasus fuhr. Zumindest war das Taxi einfach losgefahren, und er hatte keinen Versuch unternommen, auszusteigen und sie in den Wagen zu zerren.

Das war die Geschichte, die dazu geführt hatte, dass Claudia an diesem sonnigen Spätsommermorgen an Bord des grünen Delfins saß. So hieß nämlich das Linien-Schnellboot, das im Winter (und in dem befand man sich dem saisonalen italienischen Zeitgefühl zufolge bereits ab dem 7. September) zweimal täglich zwischen Triest und Grado verkehrte.

 

 

 

 

Verträumt blickte sie auf das endlose Dunkelblau der Adria, auf deren Oberfläche sich das Sonnenlicht brach und wie Sterne blitzte und funkelte. Unter ihnen zogen blasse Fische sowie zwei Oktopusse vorbei. Sie waren so schnell unterwegs, dass sie beinahe schräg im Wasser lagen. Kopf in Richtung Triest, Tentakel Richtung Venedig. Etwas weiter vom Schiff entfernt schaukelte eine Möwe auf den Wellen, und oben am Himmel war keine einzige Wolke.

Claudia lächelte und als sie sich zur anderen Seite drehte, sah sie Festland. Ein flaches Land, spätsommerlich gedämpftes Ocker und Grün; jene Farben, die sie seit ihrer Kindheit mit Italien in Verbindung brachte. Denn Italien, das war bis zum Ende ihrer Schulzeit einzig und allein das Veneto, genauer gesagt: Jesolo und Venedig, gewesen. Und heute kehrte sie nach einem Vierteljahrhundert zum ersten Mal in die Region zurück.

Ach, seufzte sie und schlang die Arme im frischen Fahrtwind um sich. Wie schön es war. Schön und vertraut.

 

 

Von der Milchstraße und Seesternen

Nach rund eineinhalb Stunden schwamm der Delfino Verde, der weder grün war, noch sonst irgendwie einem Delfin glich, langsamer und schipperte zwischen kleinsten Inselchen hindurch. Diese irdenen Flecken im Meer waren oft nur groß genug für ein Haus mit Garten, oder wären es zumindest, hätte man sie bebaut.

Holzpfeiler ragten aus dem, wie für die Adria bis weit vor dem Ufer typisch, seichten Wasser und bildeten eine breite, einladende Einfahrtschneise für das Schiff, das kurz darauf anlegte.

Voll unbegründeter Vorfreude ließ sie den Tagestouristen den Vortritt und ging als eine der letzten zusammen mit ihrem sonnengelben Koffer von Bord. Sie staunte, dass dies kein richtiger Hafen, sondern nur ein Anlegeplatz war, an dem es weder einen großen Parkplatz noch einen Taxistand gab. Nanu? Wo war sie denn gelandet? Das sollte Grado sein?

Nun, folgerte sie leichthin, kein großer Hafen, das bedeutete, dass die Stadt schön klein und das Zentrum nicht weit entfernt sein konnte. Die Gehsteige waren leer und so zog sie ihren Koffer in die Richtung, in der sie die Innenstadt vermutete. Nach wenigen hundert Metern war von den Touristen niemand mehr zu sehen, dafür kam ihr ein Mann entgegen.

„Mi scusi“, machte sie auf sich aufmerksam. Er blieb stehen und hörte ihr freundlich lächelnd zu, nickte und schüttelte den Kopf.

„Ein Taxi? Um diese Zeit? Hm. Da müsste man anrufen. Wo hab‘ ich denn die Nummer ...“

Gespannt wartete Claudia, denn nach Pineta waren es vier Kilometer und sie wollte so schnell wie möglich im Hotel einchecken und sich an den Strand legen, um keine Minuten des Faulenzertums zu vergeuden.

Er lächelte. Claudia lächelte. Sie wartete, er suchte.

„Ach ja! In meinem Büro hab‘ ich sie. Kommen Sie mit, ich helfe Ihnen mit dem Koffer. Es ist nicht weit von hier!“

Der Mann hatte vieles von dem, was Claudia an Männern gefiel: dunkelbraune Augen und noch dunklere Haare. Ein gepflegtes Äußeres und eine angenehm ruhige Art zu sprechen. Dazu war er hilfsbereit und lächelte gern. Leider war er alt. Ungefähr 25 Jahre zu alt.

„Oh nein, bitte keine Umstände! Das Angebot ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich finde bestimmt bald eins“, wehrte sie ab.

Er neigte den Kopf, sah sie prüfend an, drehte sich um und zeigte gerade aus. „Ja, das kann sein. In der Stadtmitte ist es leichter. Gehen Sie einfach da lang. Es ist nicht weit.“

Claudia bedankte und verabschiedete sich herzlich.

Fünfzig Meter weiter kam zwar nicht das Zentrum, dafür aber eine nicht unwesentliche Errungenschaft europäischer Zivilisation in Sicht: ein Café, auf Italienisch Bar. Der Espresso war stark, kräftig und günstig, und sie hätte zufrieden sein können, hätte man ihr dort nicht die letzte Hoffnung auf ein Taxi geraubt.

„Ein Taxi? Jetzt? Hm. Eher nicht. Vielleicht ist der Bus besser ...“

Bus? In so einem kleinen Ort? Noch dazu in Italien; Norden hin oder her? Ihr schwante Übles und sie sah schon ihren Tag auf dem Liegestuhl im Meer versinken. Beträufelt nickte sie.
„Er fährt überall dort, wo diese gelben Zeichen sind“, erklärte ihr die freundliche Barbesitzerin und verkaufte ihr gleich ein Ticket, weil zu der Bar auch eine Trafik gehörte.

Nun, ein italienischer Bus war immer noch besser als ein tadschikischer, dessen war sie sich sicher, und so ging sie schicksalsergeben weiter Richtung Zentrum. Hinaus aus dem Neubaugebiet und -

Das war es!

Das hier fanden die Leute so entzückend-einzigartig- wunderschön, dass sie gar nicht mehr heimwollten!

Bunt gestrichene, gut renovierte, etwa zwei- bis vierhundert Jahre alte Häuser. Schmiedeeiserne Straßenlaternen. Ein Kanal, auf dessen dunkelblauem Wasser zu beiden Ufern schneeweiße Segelboote schaukelten. Eine weiße Brücke, die sich im Bogen darüber spannte. Und Blumen, überall Blumen, und fast kein Verkehr.

„Der Bus, der fährt die ganze Zeit. Alle halbe Stunde!“, rief ihr eine Frau auf wienerisch zu und zeigte zu einem Pavillon, in dem bereits einige Menschen saßen und offenkundig ebenfalls warteten. Nicht lange, denn nach wenigen Minuten bog schon der moderne Bus um die Ecke. Claudia setzte sich und ließ sich entspannt über Land schaukeln, bis ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie den Namen der Bushaltestelle nicht wusste. Dann jedoch kombinierte sie: Ihr Hotel lag in der Viale Andromeda. Es gab eine Fermata mit dem Namen Orsa Maggiore, also Großer Bär. Folglich konnte es von dort aus nicht weit sein.

Was für süße Namen das doch waren! Typisch italienisch. Vorhin der Ritt auf dem grünen Delfin, jetzt ein Ausflug zu den Sternen ... Wenn das kein gutes Omen war! Dabei war sie doch gar nicht zum Flirten oder Jemanden-Kennenlernen, sondern zum Jemanden-Vergessen hierhergekommen!

 

Wie herrlich ruhig es hier war. Weit und breit war niemand zu sehen oder zu hören. Kein Wunder, waren alle Kinder doch wieder in den Schulen und die Eltern in den Büros. Sicherlich urlaubten nur noch Rentner hier, dachte sie beklommen und sah sich um, während sie den Koffer auf die abgefallenen, braunen Piniennadeln zog, die auf der Straße lagen wie Laub. Aber selbst wenn: Sie hatte genügend Romanzen für ein halbes Jahr auf dem Reader und zudem nicht vor, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, weil sie die Tage nicht verkatert verbringen wollte. Ja, das war in der Tat der Gipfel der Langweiligkeit, den sie soeben glamourös erklommen hatte. Oder - nein, nicht Langweiligkeit! Warum langweilig? Gemütlich. Oder geruhsam. Na, also, dachte sie und grinste breit, das klang doch schon viel freundlicher.

Und wie himmlisch es hier duftete! Wer hätte gedacht, dass die Milchstraße so gut roch! Nach den hohen Pinien, die überall wuchsen und dem in den 1960ern mit wenig Geld und noch weniger Sinn für Ästhetik gebautem Badeort den Namen gaben. Aber sei’s drum! So war die obere Adria eben häufig: verbaut. Das hatte sie gewusst. Ebenso wie, dass die Liegestühle in Reih‘ und Glied standen. Doch unergründlicherweise hatte gerade dieses Bild einen unwiderstehlichen Sog auf sie ausgeübt.

Gewiss kam hier nicht oft jemand mit dem Bus an, denn vor den Hotels und Ferienwohnungen parkten ordentlich gepflegte Mittelklassewagen mit fast jedem verfügbaren österreichischen Ortskennzeichen.

Gut, aufregend würde es nicht werden, dachte sie noch einmal, als sie den halbleeren Koffer die drei Stufen zum Hotel hinauf hievte. Sofort wurde sie freundlich in astreinem österreichisch, mit leicht italienischem Einschlag begrüßt: „Grüß Gott, Frau Müller!“

„Buon giorno!“, versuchte sie, ihr Italienisch noch während ihres Aufenthalts vor dem erneuten Einrosten zu bewahren, oder um zumindest ein wenig Eindruck zu schinden. Denn Holla-die-Waldfee! Mit so einem Schnuckel als Rezeptionist hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Braunes Haar, braune Augen, reine Haut, ebenmäßige Gesichtszüge, nicht zu groß, nicht zu klein – das war genau nach ihrem Geschmack! Allerdings war der Gute mindestens zehn, wenn nicht mehr, Jahre jünger als sie. Hatten denn alle Italiener das falsche Alter? Und warum genau war sie noch mal hier?

Er lächelte und bewegte den Oberkörper nach vorn. „Wir sprechen auch Deutsch.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739447094
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Liebesgeschichten Budapest Liebesroman Sammelband Adria Triest kurzgeschichten Grado Urlaubslektüre Erzählungen Kurzgeschichten

Autor

  • Annabelle Benn (Autor:in)

Annabelle Benn ist das Pseudonym von Anja C. Richter, die 1976 im Berchtesgadener Land geboren wurde, wo sie nun wieder wohnt. Schon als kleines Kind zog es sie in die weite Welt. Ihre Faszination für fremde Kulturen, Sprachen und in letzter Zeit auch Heilmethoden fließen ebenso wie ihre Liebe zu Musik, Tennis und Literatur in ihre Geschichten ein.
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Titel: Viele Küsse