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Der Fantast 1

von Michaela Göhr (Autor:in)
480 Seiten
Reihe: Der Fantast, Band 1

Zusammenfassung

NEUAUFLAGE!

Stell dir vor ...
eine einzigartige Gabe verliehe dir unvorstellbare Macht,
mit der du aufbauen oder einreißen,
helfen oder vernichten könntest.
Was würdest du damit tun?

Simon erscheint auf den ersten Blick wie ein durchschnittlicher junger Mann. Seine mentale Kraft ist jedoch phänomenal: Alles, was er sich vorstellt, wird real, gegenständlich, lebendig! Merkwürdige, aufreibende Ereignisse sind seit seiner frühsten Kindheit an der Tagesordnung, was die verzweifelten Eltern dazu bringt, sich Spezialisten anzuvertrauen. Ein Entschluss, der das Leben der kleinen Familie in große Gefahr bringt. Simon wehrt sich auf seine ganz eigene Art. Seine Vorstellung wächst mit ihm, bis er mit der geballten Macht seiner Fantasie zurückschlägt ...

Mit diesem Buch beginnt die spannende Lebensgeschichte des Fantasten, einem der ungewöhnlichsten Helden unserer Zeit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Michaela Göhr

 

Der Fantast

 

Band 1

 

 

 

 

Urban-Fantasy-Roman

 

 

 

 

 

 

Zur Autorin

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Das Schreiben begann sie schon in ihrer Kindheit, wo sie ihre Gedanken in Gedichten, Liedern und kurzen Geschichten ausdrückte. Ihre Leidenschaft für längere Texte fand sie jedoch erst vor kurzer Zeit - die Fantasy-Reihe um die Figur des Fantasten ist ihr Debüt im Bereich der Romane.

 

Dank

Ich danke Kathrin Franke-Mois von Epic Moon – Coverdesign für die geniale Gestaltung des neuen Covers und allen Beteiligten, die mitgeholfen haben, dieses Buch zu erstellen. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Lesern. Ohne sie wäre der Fantast nie erwachsen geworden.

 

 

Alle Bände der Reihe

Der Fantast (Band 1)
Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2)
Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3)
Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4)
Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

Sämtliche im Buch vorkommenden Charaktere sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Prolog

 

Vorsichtig zog ich meine Hand von dem Körper vor mir zurück. Wie erwartet hielt mein Spezialverband bombig. Die Blutung war dadurch vorübergehend gestoppt und der Mann, der reglos am Boden lag, würde zumindest so lange überleben, bis der Krankenwagen eintraf. Meine ziemlich verschwitzten Laufsachen waren voller Blut, aber darum wollte ich mich später kümmern.

Ach ja, den Notruf musste ich noch absetzen. Dazu war ich bisher nicht gekommen, da ich alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, den schweren Kerl von dem Pfahl zu befreien, in den er wahrscheinlich aus voller Fahrt mit dem Mountainbike gerast war. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte! Der sportliche, junge Fahrer, dessen Bike verbeult in der Böschung lag, hatte zum Glück das Bewusstsein verloren, bevor ihm das ganze Ausmaß seiner Verletzung klar geworden sein dürfte. Und ich hatte mein Bestes getan, um ihn nicht unnötig wieder aufzuwecken, ihn damit Todesängsten und vermutlich mörderischen Schmerzen auszusetzen. Die 112 anzurufen war nun noch der letzte Schliff, sozusagen die Vollendung eines Kunstwerks. Ich tat es fast ohne nachzudenken und mit beinah schlafwandlerischer Sicherheit - kaum eine Telefonverbindung war mir vertrauter. Die Stimme des Mannes in der Zentrale kannte ich von zahllosen Anrufen. Meine eigene wurde selbstverständlich verzerrt - ich konnte und wollte es mir nicht leisten, erkannt zu werden.

Noch einmal kontrollierte ich Atmung und Puls meines ‚Patienten‘, den ich diesmal völlig zufällig gefunden hatte. Alles schien bestens. Der Radfahrer mit dem hässlichen Loch in der Bauchgegend schlummerte tief und fest, wurde durch die stabile Seitenlage sicher davor bewahrt, seine Zunge zu verschlucken. Der blutverschmierte Zaunpfahl ragte etwas ekelig neben ihm auf. Natürlich kannte ich die Regel, dass man niemals irgendwelche Gegenstände aus einem Körper rausholen sollte, wenn sie drinsteckten. Das Risiko von inneren Blutungen, die von einem Laien nicht gestoppt werden konnten, war viel zu groß. Meine präzise Kenntnis der menschlichen Anatomie und meine besonderen Fähigkeiten ließen mich jedoch ziemlich sicher wissen, wo ich wie zupacken oder zudrücken musste, um den Mann nicht noch mehr zu verletzen. Ich hoffte, dass irgendwer auf die Idee kommen würde, das lebensgefährliche Teil auszugraben und zu entsorgen. Zunächst wurde es allerdings gebraucht, um den Unfallhergang plausibel zu machen. Denn ich gedachte auf keinen Fall hier stehenzubleiben, bis die Rettungskräfte eintrafen. Erleichtert hörte ich bereits kurze Zeit später eine Sirene und machte mich schleunigst vom Acker, laufenderweise querfeldein. Während des Joggens wusch ich T-Shirt, Hände und Gesicht. Danach betrachtete ich - noch immer laufend - kritisch mein Spiegelbild. Alles wieder sauber, Fleckentferner sei Dank.

Schließlich erreichte ich den Ausgangspunkt meines meditativen Fitnesstrainings, den asphaltierten Weg, auf dem ich mein Fahrzeug benutzen konnte. Es war ein speziell von mir entwickelter Roller mit extrem niedriger Standhöhe. Trotz der winzigen Räder war das Teil verflixt schnell. Darauf stehend sah es aus, als würde ich direkt über den Boden gleiten oder eben in raschem Tempo laufen. Genau das war beabsichtigt, denn außer mir sah niemand dieses Fortbewegungsmittel. Genauso wenig, wie mein Handy, das ich zum Telefonieren benutzte oder den Verband, den ich dem Fremden angelegt hatte. Er würde sich auflösen, sobald ihn jemand anders berührte. Keiner würde wissen, dass er je existiert hatte. Niemand konnte die Spuren zu mir zurückverfolgen, was absolut wichtig war. Zufrieden mit mir fuhr ich nach Hause.

 

Wer ich bin, fragt ihr? Nun - ich bin Simon.

Ich bin der Fantast.

Teil 1

 

Kindheit mit Hindernissen

1.

 

Wahrscheinlich sollte ich weiter vorne anfangen, um mich vorzustellen. Sonst könnte jemand glauben, ich hätte einen ernsthaften Dachschaden. Okay, vielleicht habe ich den auch - kommt auf die Sichtweise an. Meine Freunde behaupten zumindest, ich habe einen Riesenknall. Keine Ahnung, ob sie damit recht behalten, aber bevor ihr euch ein Urteil über mich bildet, solltet ihr wenigstens vorher das eine oder andere von mir erfahren. Dann könnt ihr immer noch den Spinner in mir sehen - oder eben nicht.

Wie schon gesagt ist mein Name Simon. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und gerade dabei, den Master in Physik zu machen. Bis zum Beginn des Studiums habe ich zumindest phasenweise noch bei meinen Eltern gewohnt, aber seit mehr als vier Jahren hause ich mit meinem Kumpel zusammen in unserem eigenen kleinen Reich in Form einer Studentenbude. Alles normal soweit. Allerdings ist diese Normalität eher sorgfältige, teilweise hart erkämpfte Tarnung, um mich und meine Familie zu schützen. Wie nötig ein solcher Schutz für uns ist, haben wir leider bereits ziemlich früh und sehr bitter erfahren müssen.

Dabei lief es für mich als Kind zunächst absolut easy - meiner Meinung nach. Meine Eltern hatten es mit mir allerdings nicht immer leicht. Ich war nämlich von Geburt an anders. Nein, nicht äußerlich sichtbar anders. Es war schwierig für sie, dieses Anderssein unserer Umwelt begreiflich machen, da ich auf Außenstehende stets wie ein total durchschnittliches Baby wirkte. Kaum jemand außer ihnen bekam jemals mit, dass zwischendurch Dinge geschahen, die sich niemand erklären konnte. Beispielsweise erzählte mir meine Mutter, dass ich die ersten zwei Monate lang an ihrer Brust getrunken und auch Fläschchen genommen hatte. Urplötzlich hörte das auf. Selbstverständlich machten meine Eltern sich Sorgen darüber und rannten mit mir zum Kinderarzt. Dieser wog mich, ließ sich die zufälligerweise gerade schweren Windeln zeigen und zuckte dann mit den Schultern. „Ich kann nichts feststellen“, sagte er, „Ihr Bengel ist kerngesund. Er wiegt genug, ist gut genährt, die Pampers sind voll ... Also, wenn Sie mich fragen, nimmt er ausreichend Flüssigkeit zu sich und leidet auch keinen Hunger. Da kann ich Sie beruhigen.“

Natürlich beruhigte es meine Eltern keinesfalls, da sie wussten, dass ich zu Hause schon seit Tagen fast gar nichts mehr trank. Ich verweigerte die Mutterbrust, nahm höchstens mal einen winzigen Schluck Tee aus der Flasche. Einige aufreibende Tage und Nächte lang beobachtete meine Mutter mich daraufhin äußerst genau und stellte fest, dass ich alle paar Stunden unruhig wurde. Sobald sie mich auf den Arm nahm, schmiegte ich mich an sie und machte komische saugende Bewegungen mit dem Mund. An ihre Brust wollte ich aber trotzdem nicht. Sie erzählte dieses merkwürdige Verhalten sofort meinem Vater. Der hatte eine geniale Eingebung und meinte: „Leg ihn doch einfach mal an, bevor er unruhig wird. Vielleicht klappt es dann?“

Ich glaube, mein Pa ahnte etwas, tief in sich, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Er selbst beschreibt sich als ‚zu dem Zeitpunkt total ahnungslos und völlig unbedarft‘.

Meine Ma befolgte diesen verzweifelten Rat - siehe da: Klein Simon trank wieder! Des Rätsels Lösung war damit zwar noch lange nicht gefunden, aber zunächst waren alle Beteiligten mit dem Erfolg zufrieden.

Das Nächste, was meiner Familie auffiel, war mein nicht alltägliches Spielverhalten. Manchmal schüttelte ich die leeren Fäuste, als wäre eine Rassel oder ein Musikinstrument darin und lächelte glücklich. Dann wieder jammerte ich erst, als ob mir langweilig wäre. Wenn daraufhin nicht sofort jemand erschien - vorzugsweise der Papa - fing ich plötzlich an, mich im Ställchen zu winden, gluckste und kreischte vor Vergnügen. Als ob mein Vater mit mir Späße machte, mich mit seinem Bart kitzelte oder mir in den Bauch pustete.

Als ich älter wurde, laufen und sprechen lernte, wurde meinen Eltern bei immer mehr Gelegenheiten deutlich, dass ich ‚nicht ganz normal‘ war. Ich ritt auf vorgestellten Pferden durch die Wohnung, warf mit nicht vorhandenen Bällen meine Stofftiere um, baute mit unsichtbaren Holzklötzen riesige Türme, die beim Umfallen eine Vase zerschmetterten und schmiss meinem Vater in einem Wutanfall eine gedachte Triangel so feste an den Kopf, dass dieser eine Platzwunde davontrug.

Glücklicherweise geschah es äußerst selten, dass ich wütend wurde, sodass solche schwer erklärbaren Unfälle nur begrenzt auftraten. Selbstverständlich hielten meine Eltern trotzdem zu mir und verteidigten mich wie die Löwen gegen alle widrigen Umstände. Sie überlegten für Freunde, Nachbarn und Verwandte die genialsten Ausreden für mein Verhalten, redeten sich jedes Mal ein, dass es für alles eine logische Erklärung gab. Nur leider fanden sie diese immer weniger und mussten sich schließlich eingestehen, dass sie rat- und machtlos mir und meinen gegenständlich werdenden Fantasien gegenüber waren.

Ich zolle ihnen noch heute größten Respekt dafür, dass sie es mit mir aushielten, mir stets ihre große Liebe zeigten, mich ermutigten, meinen Weg zu gehen, und mich nie als Sonderling behandelten. Ich dankte es ihnen damals zumindest, indem ich mich Fremden gegenüber weitestgehend normal verhielt. Anscheinend hatte ich die Predigten meiner Mutter ordentlich verinnerlicht und mochte es gar nicht, wenn mich andere Kinder als ‚komisch‘ bezeichneten. So besuchte ich sowohl den Kindergarten am Ort als auch wohnortnahe Schulen. Unser Wohnort änderte sich allerdings von Zeit zu Zeit. Diesen Umstand, der definitiv mit meinen besonderen Fähigkeiten zusammenhing, möchte ich euch nicht vorenthalten.

Meinen ersten Besuch beim Kinderpsychologen hatte ich ungefähr mit vier. Ich hatte mit einem Nachbarskind gespielt - Alina, damals sieben und damit meine große Aufpasserin. Alina war der böse Wolf und wollte mich fangen. Ich war das kleine Schweinchen und mochte nicht gefangen werden. Also rief ich Hugo zur Hilfe. Hugo war mein Hund. Eigentlich ein Stoffhund, aber der war gerade nicht zur Hand. In meiner Vorstellung hatte Hugo ein recht ansehnliches Gebiss, auch wenn er nicht der Größte war. Hugo biss Alina ins Bein. Natürlich nicht feste, es war ja nur ein Spiel. Meine Aufpasserin weinte trotzdem und lief damit zu ihren Eltern. Sie behauptete, ich habe sie gebissen. Bei näherer Betrachtung konnten die Abdrücke an ihrer Wade zwar überhaupt nicht von mir stammen, aber Alina hatte geschrien, geweint und beteuert, ich habe es gemacht. Auch wenn ihr Vater mit meinem übereinkam, dass ich es nicht wirklich gewesen sein konnte, empfahl er ihm einen guten Therapeuten für mich. Vermutlich, weil ich darauf beharrte, mein Stoffhund sei schuld an dem Unglück.

Der Psychologe untersuchte mich von Kopf bis Fuß, stellte meinen Eltern Fragen, die diese kaum zu beantworten wussten und schien nicht die Hälfte von dem zu glauben, was sie letztlich mehr gegen ihren Willen preisgaben. Ich machte die Sache nicht besser, indem ich mich plötzlich an das Verbot meiner Mutter erinnerte, bei Fremden irgendwas zu erfinden, und das ‚normale Kind‘ spielte. Auf diese Weise glaubte der gute Mann den überbesorgten Eltern noch weniger und schickte sie schließlich leicht verärgert unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Inzwischen hatten sie ihre eigene Theorie, was die Verrücktheiten ihres Sohnes betraf. Besonders mein Vater begann sich mit dem Thema ‚paranormale Fähigkeiten‘ auseinanderzusetzen. Das Internet bot da eine reichliche Plattform an Foren sowie eine Fülle an nutzlosen, da völlig an meinen Symptomen vorbeigehenden Informationen und Spekulationen. Es spuckte auch den Namen eines Instituts in der Nähe unseres damaligen Wohnortes aus, das sich mit derartigen Fällen beschäftigte. An diese Adresse wandten sich meine Eltern als Nächstes und bereuen es bis heute noch.

Die Einrichtung zeigte sofort reges Interesse an mir und meinen Besonderheiten. Zunächst schien es, als würde jetzt alles besser werden, als bekämen wir endlich die dringend ersehnte Hilfe und Unterstützung. Zumindest fühlten meine Eltern sich das erste Mal wirklich ernstgenommen und verstanden. Unsere Familie wurde nach einem kurzen Gespräch zum Kennenlernen mit offenen Armen empfangen. Während dieser Unterhaltung hatte ich der netten, aber viel zu dünn angezogenen Dame einen kuscheligen Mantel verpasst und Fellstiefel dazu. Ihren Gesichtsausdruck dabei vergesse ich nie. Vor allem, als ich besorgt fragte: „Ist dir jetzt warm genug? Oder willst du noch eine Hose haben?“

Meine Mutter schüttelte leicht schmunzelnd den Kopf und meinte bloß: „Lass doch die liebe Frau in Ruhe, Simon. Bestimmt ist ihr viel zu heiß. Wer weiß, was du ihr alles angezogen hast.“

Mein Vater versuchte derweil vergeblich, einen heftigen Lachanfall zu unterdrücken. Den Leuten vom Institut wurde also sehr schnell klar, dass sie es bei mir mit etwas Besonderem zu tun hatten - Vergleichbares hatte es nie zuvor gegeben. Sie wollten mich am liebsten gleich dabehalten und ließen mich - nach endlosen, furchtbar langweiligen Gesprächen und noch langweiligeren Untersuchungen - nur äußerst widerwillig gehen. Nicht, ohne meinen geschmeichelten Eltern das feste Versprechen abgenommen zu haben, in der folgenden Woche erneut mit mir zu erscheinen.

Mein Vater gestand mir später, dass er sich ernsthaft eine Lösung für unsere Probleme erhofft und deswegen trotz aller Bedenken zugestimmt hatte. Und das, obwohl ihn eine innere Stimme eindeutig davor gewarnt hatte. Zu falsch erschien das Lächeln der sogenannten Wissenschaftler, zu viel Gier blitzte in ihren Augen. Nie wieder sollte er ein solch naives Vertrauen zu jemandem fassen, das steht fest!

Sieben Tage später standen wir also erneut auf der Matte. Meine Ma hatte eine große Tasche mit Sachen für mich und sich gepackt. Der zuständige Abteilungsleiter für paranormale Phänomene hatte nämlich bereits angedeutet, dass die Tests, die sie mit mir vorhatten, auch ein Langzeit-EKG und Schlaf-Untersuchungen beinhalten würden. Dafür sollte ich ein paar Tage im Labor zubringen. Natürlich nahm meine Mutter an, dass sie selbst ebenfalls dableiben würde, ähnlich wie bei einem Krankenhausaufenthalt. Aber der wichtige Mann lächelte nur und meinte: „Sie können Simon nach den ersten zwei Tagen ganz oft besuchen, doch zuerst brauchen wir ihn allein, ohne Sie.“

Meine Eltern mussten das zunächst einmal verdauen. Besonders meine Mutter wollte sich damit überhaupt nicht abfinden und mich gleich wieder mitnehmen. Aber diese Leute waren nahezu perfekt darin, Erklärungen für unerklärliche Dinge zu finden, warfen mit Fachbegriffen um sich und machten meinen Sorgeberechtigten unmissverständlich und völlig einleuchtend klar, wie wichtig es für meine Entwicklung, für das Institut und letztendlich auch für sie selber sei, dass diese Untersuchungen gemacht würden. Schließlich unterschrieben sie eine Einwilligung, die der Einrichtung scheinbar unbegrenzte Freiheit bei meiner Behandlung erlaubte. Und das, ohne es wirklich zu realisieren.

Meiner Meinung nach gab es in dieser Abteilung des Instituts zumindest einen Menschen, der ebenfalls über besondere Fähigkeiten verfügte - Hypnose halte ich für gar nicht mal so unwahrscheinlich.

2.

 

Ich blieb also dort, nur begleitet von meinem treuen Freund Hugo und einer Reisetasche voller Kleidung. Ohne meinen Stoffhund hätte ich die Geschichte, die nun folgte, sicherlich nicht durchgestanden. Aber vielleicht hätten sie mich dann auch wieder nach Hause geschickt, wer weiß? Jedenfalls begriff ich in diesem Moment nicht im Mindesten die Tragweite dessen, was kommen sollte. Ich war noch ein Kind. Recht störrisch zwar und gewohnt, mal eine Nacht ohne Mama auszukommen (wenn ich bei Oma übernachten durfte), aber eben doch ziemlich klein.

Die wenigen Leute, denen ich später meine Erlebnisse erzählte, wunderten sich darüber, dass ich so viele Details behalten hatte. Doch ich versichere euch, dass mein gutes Gedächtnis sich rein auf diese speziellen Ereignisse beschränkt. Manche Dinge brennen sich unauslöschlich in die Erinnerung ein - meistens diejenigen, die man am liebsten wieder löschen würde.

Mein Abenteuer begann damit, dass ich in ein Gästezimmer gebracht wurde. Es lag in einem oberen Stockwerk des Gebäudes, jedenfalls fuhr ich zum ersten Mal mit dem Fahrstuhl. Das allein war schon aufregend. Der junge Mann, der mich begleitete, sah nett aus und lachte über meine Späße. Dann schloss er eine Tür auf. Ich betrat einen Raum, in dem alles farblos und langweilig war. Ein weißes Bett mit weißem Bettzeug, ein weißer Stuhl, ein weißer Tisch, weiße Wände ohne Bilder. Puh! Meine Tasche wurde neben dem Bett abgestellt. Der Mann begann, ein paar meiner Sachen auszuräumen: Schlafanzug, Zahnputzzeug, Hausschuhe.

„Hast du gar nichts zum Spielen dabei?“, fragte mein Begleiter verwundert, indem er alles durchsuchte.

Ich schüttelte den Kopf. „Mama meint, das nimmt nur unnötig Platz weg, weil ich eh nicht damit spiele.“

Der Mann zuckte leicht bedauernd die Achseln und verabschiedete sich. „In einer Stunde möchte Dr. Riefert dich sehen“, sagte er. „Bis dahin sollst du hier im Zimmer bleiben. Tschüss!“

„He, warte!“, rief ich ihm hinterher. Ich wollte absolut nicht so lange Zeit ganz alleine in diesem langweiligen Raum verbringen. Aber der Mann hatte bereits die Tür hinter sich ins Schloss gezogen. Ich rüttelte an der Klinke - es war abgeschlossen!

„He!“, schrie ich noch mal lauter, zog vergeblich am Türgriff. Keine Reaktion. Wütend trat ich nach der Tür und stieß mir den dicken Zeh an. Jetzt tat der zusätzlich weh. Also weinte ich ein bisschen und schmiss mich dabei aufs Bett. Da lag Hugo, dem ich mein Leid klagte. Mein Freund war verständnisvoll und leckte mir die Wange ab. Ich vergrub das Gesicht in seinem Fell und war erst mal eine Weile beleidigt. Dann aber siegte mein kindliches Gemüt und ich fing an, mit Lego zu bauen. Lego war für mich damals das Größte. Ich erdachte mir bei jeder Gelegenheit enorme Mengen von Steinen und verbaute sie zu den höchsten und schönsten Türmen, Flugzeugen und Fahrzeugen. So vertieft war ich ins Spiel, dass ich gar nicht bemerkte, wie jemand leise die Tür öffnete und das Zimmer betrat. Erst als dieser Jemand mein Raumschiff wegkickte und die zugehörige Raumstation dabei zerstörte, blickte ich auf.

„Hey, du machst mein Gebautes kaputt!“, schrie ich - nun wieder die blanke Wut verspürend. Der Mann, der mich vorhin hergebracht hatte, zuckte erschrocken zurück.

„Was ...“, begann er und bückte sich. Dabei stieß er mit dem Hintern den Tower an, der über einen Meter hoch aufragte. Krachend fiel er um.

„Du machst alles kaputt!“, kreischte ich, nahm das restliche Raumschiff und schmiss es dem perplexen Mann an den Kopf.

„Entschuldige, ich wollte nicht ...“, stammelte der Angegriffene, erhob sich taumelnd, rutschte auf dem verstreuten Lego aus, hielt sich die schmerzende Stirn, auf der rasch eine dicke Beule entstand und ergriff panisch die Flucht. Die Tür ließ er dabei offen. Ich lief ihm sofort hinterher und rief: „Das war nicht so gemeint, komm zurück!“

Der Flüchtige verschwand schon um eine Ecke.

„Warte auf mich!“, jammerte ich, sah jedoch niemanden mehr, als ich die Biegung erreichte. Vor mir befand sich der Fahrstuhl. Ich drückte auf den Knopf, aber es passierte nicht sofort etwas. Da betrat ich das Treppenhaus direkt nebenan. Es waren ziemlich viele Stufen und ich konnte sie noch nicht alle zählen. Ich machte mir einen Spaß daraus, bei jedem Absatz von ganz oben hinunter zu springen. Das tat ich zu Hause auch gerne. Mama meinte, ich würde sie damit in den Wahnsinn treiben, aber bisher hatte sie es noch immer recht ordentlich verkraftet. Vor allem, weil ich mir nie dabei wehtat. Das lag hauptsächlich daran, dass ich mir am Ende ein großes weiches Kissen vorstellte. Kissen sind superpraktisch, kann ich euch sagen! Sie haben bislang die meisten meiner Stürze problemlos aufgefangen.

Ich war beinah unten, als mir zwei Männer in weißen Kitteln entgegenkamen. Sie waren in ein hitziges Gespräch vertieft und bemerkten mich zunächst nicht. Erst als ich „Platz da, ich kooomme“ rief und sprang, blickten beide auf. Natürlich gingen sie nicht beiseite, sondern standen wie die Salzsäulen, bis ich direkt vor ihren Füßen landete, mich elegant seitlich an ihnen vorbei über das Kissen abrollte und wieder aufstand. Dann erst kam Leben in sie.

„Hast du dir was getan, mein Junge?“, rief der eine aufgebracht, indem er mich von den Haarspitzen bis zu den Schlappen musterte. Der andere schüttelte fassungslos den Kopf und murmelte: „Ich hab’s dir gesagt, er ist total irre!“

Nun erkannte ich den zweiten Sprecher, es war der Mann, den ich vorhin aus meinem Zimmer vertrieben hatte. Auf seiner Stirn prangte jetzt eine Schramme, die in allen Regenbogenfarben zu schillern begann. Erschrocken sah ich die Verletzung an.

„Ich bin ok“, sagte ich hastig. „Aber es tut mir leid mit deiner Beule. Das ... das wollte ich gar nicht. Ich war bloß wütend, weil du mein ganzes Lego kaputtgemacht hast!“

„Das war Lego?“

Der ohnehin schon bleiche Mensch wurde noch eine Spur käsiger. „Entschuldige, aber ich halt das nicht länger aus!“, stöhnte er. Mit einem verzweifelten Blick zu dem zweiten Mann hielt er sich die Hand vor dem Mund, drehte auf dem Absatz herum und lief die wenigen Treppenstufen hinunter bis zur Glastür. Der Zurückgebliebene lächelte mir zu. In seinen Augen war zu sehen, dass er keineswegs erschrocken war, sondern nur berechnend und neugierig. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich diesen Mann auch schon mal gesehen hatte - heute Morgen bei den Untersuchungen. Aber da hatte er nicht diesen Kittel getragen. Als Dr. Riefert hatte er sich vorgestellt und schien der Boss hier zu sein. Er legte mir die Hand auf die Schulter.

„Da hast du ja gleich richtig was angestellt, Junge. Simon heißt du, nicht wahr?“

Ich nickte beschämt. Aber der Doktor lachte bloß. Irgendwie klang es nicht echt, sogar etwas nervös. Obwohl ich den zweiten Mann offensichtlich verletzt hatte, wäre mir seine Gesellschaft jetzt wesentlich lieber gewesen.

„Mein Assistent hat mir gerade berichtet, dass du ihn mit irgendwas beworfen hast, als er kam, um dich abzuholen. Da wollte ich selbst nachsehen. Und dann kommst du wie ein Kamikaze-Flieger im Sturzflug die Treppe runtergehüpft!“

Er lachte wieder dieses unangenehme Lachen, während er mich die paar Stufen hinunter sowie durch die gleiche Tür führte, durch die sein Assistent soeben gehechtet war.

„Wie hast du das eben übrigens gemacht?“, wollte er beiläufig wissen.

„Was denn?“, fragte ich unschuldig.

„Na, das mit dem tollen Sprung“, erklärte Dr. Riefert und sah mich verwundert an. „Das muss doch wehtun, wenn man von so hoch runterspringt. Ein Wunder, dass du dir nichts dabei gebrochen hast!“

Ich merkte, dass er mich dazu bringen wollte, mein Geheimnis preiszugeben. Aber da hatte er sich geschnitten! Der Mann war mir alles andere als sympathisch, solchen Leuten verrät man seine Geheimnisse nicht.

„Ich hab genug Übung“, sagte ich deshalb ausweichend. „Zu Hause haben wir auch Treppen. Nur nicht ganz so viele.“

Mittlerweile waren wir bei einer Tür am Ende eines langen Flures angelangt. Wir traten hindurch und befanden uns in einem Labor. Staunend betrachtete ich die zahlreichen Apparate, die herumstanden, lief von einem zum nächsten und erkundigte mich, was man damit machte. Die Namen sagten mir nichts, aber Dr. Riefert erklärte mir schmunzelnd die Funktionen einzelner Geräte. Die meisten davon fanden sich in jeder gut ausgestatteten Klinik: Vom Röntgengerät über Ultraschall, EKG und EEG, Computertomographie bis hin zu verschiedenen Instrumenten zur Untersuchung von Augen und Ohren gab es hier alles. Darüber hinaus fanden sich ein Lügendetektor, mehrere PCs mit modernen Zufallsgeneratoren sowie weitere Möglichkeiten zur Erforschung von Psi-Kräften. Besonders auf die letztgenannten Geräte schien der Mann stolz zu sein.

„Wie ich deinen Eltern heute Morgen schon sagte - wir haben hier das bestausgestattete Labor dieser Art in ganz Deutschland“, meinte er.

In diesem Moment betrat eine Frau den Raum. Sie hatte ebenfalls einen weißen Kittel an und lächelte mir etwas unsicher zu. Ich erkannte in ihr die Dame, der ich bei unserer ersten Begegnung die warmen Sachen angezogen hatte.

„Das ist Frau Santer“, stellte der Doktor sie vor. „Sie wird sich ab jetzt um dich kümmern, zusammen mit einem weiteren Kollegen. Die beiden werden hauptsächlich die Untersuchungen leiten. Wenn du mich also entschuldigen würdest - ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Wir sehen uns heute Abend wieder.“

Damit verschwand er und ließ mich mit Frau Santer allein. Ich weiß nicht mehr genau, was sie alles mit mir angestellt hat. Es war ähnlich wie beim Kinderarzt, nur viel ausführlicher. Ich wurde geröntgt, gewogen, gemessen, bekam überall Saugnäpfe angebracht und noch einiges mehr. Zwischenzeitlich kam ein weiterer Mann dazu. Er stellte sich als Bernd vor und war mir gleich sympathisch. Allerdings nur, bis er versuchte, mir Blut abzunehmen. Ich hasste Blutabnehmen! Der Kinderarzt hatte es damals mit einem Trick geschafft, indem er mich abgelenkt hatte. Aber das war ihm nur ein einziges Mal gelungen. Danach war ich gewarnt und ließ solche miesen Sachen nicht mehr mit mir anstellen. Schon als Bernd deshalb mit der Spritze ankam und mir den Ärmel hochschob, wusste ich, was das werden sollte. Ich schüttelte vehement den Kopf.

„Nein, das will ich nicht!“

„Es ist aber nötig, tut auch gar nicht weh!“, versuchte Frau Santer ihr Glück. Sie war ein wenig nervös, weil sie ahnte, dass ich mich irgendwie wehren würde. Bernd hielt mich auf einem Stuhl fest, während seine Partnerin Anstalten machte, mir die fiese Nadel in den Arm zu schieben.

„Neeeiiin!“, brüllte ich diesmal energisch und erdachte eine Panzerung, an der sich die Spitze verbog. Triumphierend sah ich die verdutzten Leute an. Die hatten erst mal keine Lust mehr, mir Blut abzunehmen. Kopfschüttelnd trug Bernd die gekrümmte Tülle davon und legte sie sorgsam in einen kleinen Behälter. Danach gab es ein Spiel, das etwas mehr Spaß machte, zumindest am Anfang. Frau Santer erklärte es mir. Ich sollte herausfinden, welche Karte ihr Kollege sich auf seinem Bildschirm ansah und sie aus vier Bildern heraussuchen. Da meine Ansätze telepathischer Fähigkeiten damals noch völlig brachlagen, waren die beiden mit dem Ergebnis vermutlich nicht gerade zufrieden. Ich bekam Hunger, doch Bernd bestand darauf, ein weiteres Spiel zu machen. Dazu sollte ich die Augen schließen und immer auf den Körperteil von mir tippen, von dem ich meinte, dass er als Nächstes auf dem Bildschirm erscheinen würde. Erst war das lustig, doch dann verspürte ich plötzlich einen Pikser am linken Arm und riss die Augen auf. Da stand der freundliche Bernd, grinsend mein Körperteil haltend, während eine ebenfalls schmunzelnde Frau Santer mir Blut abnahm. So gemein waren die also! Ich war furchtbar wütend und wollte sofort zu meiner Mama. Aber natürlich war das nicht möglich. Wir besuchten stattdessen die kleine Kantine des Instituts für ein verspätetes Mittagessen, bei dem sich mein Groll wieder etwas legte. Allerdings wirklich nur ein bisschen. Ich mochte es hier nicht. Ich mochte diesen Doktor nicht, diese Frau Santer noch weniger. Bernd fand ich jetzt auch nicht mehr nett und der andere Mitarbeiter war ja leider fort, weil ich ihn vertrieben hatte. Obwohl ich es gewöhnt war, ab und zu lange im Kindergarten zu bleiben und meine Eltern dann erst am späten Nachmittag wiedersah, überfiel mich eine Welle von Heimweh.

„Ich will nach Hause!“, nörgelte ich deshalb, als wir vor meiner Zimmertür ankamen. Frau Santer sah mich etwas mitleidig an und schüttelte den Kopf.

„Aber das geht nicht, Simon“, sagte sie sanft. „Wir haben doch schon geklärt, dass du erst übermorgen zurück zu deinen Eltern kommst. Nur zweimal schlafen, danach siehst du Mama und Papa wieder. Versprochen!“

Ich schniefte leicht und ließ mich von ihr ins Zimmer schieben. Dann drehte ich mich hoffnungsvoll um.

„Darf ich sie wenigstens anrufen? Das geht doch, oder?“

Erneut schüttelte Frau Santer den Kopf.

„Tut mir leid, Kleiner, doch der Doktor hat gesagt, dass du diese zwei Tage lang überhaupt keinen Kontakt zu deinen Eltern haben sollst. Sonst werden die Ergebnisse verfälscht.“

„Aber wie ... aber – ich will aber anrufen!“, schrie ich und weinte jetzt wirklich. Wie der Blitz wollte ich an der Frau vorbei aus dem Zimmer laufen, um ein Telefon zu suchen, doch sie schob mir rasch die Tür vor der Nase zu und schloss ab. Anscheinend hatte sie Angst, dass ich ihr ansonsten irgendwas antun konnte in meiner Wut. Wenn ich an meinen Ausbruch vom Vormittag dachte, war ihre Sorge berechtigt. So rüttelte ich nur vergeblich an der Klinke, trommelte mit den Fäusten dagegen und kreischte: „Ihr seid alle so gemein! Na wartet, das werdet ihr noch bereuen!“

Aber die Frau auf der anderen Seite, die garantiert hinter der Tür stand, antwortete nicht. Bitterböse schlug ich ein letztes Mal gegen das Metall, dass es schepperte. Dann lief ich laut heulend zum Bett. In diesem Moment fühlte ich mich so hilflos und allein wie nie zuvor in meinem Leben. Alle hatten mich im Stich gelassen. Die Tränen kullerten in das weiße Kissen sowie auf Hugo, den ich zitternd vor Wut und Traurigkeit an mich gepresst hielt.

Natürlich war ich nicht einen Moment unbeobachtet geblieben. Keins der gewechselten Worte, keine Aktivität war meinen Peinigern entgangen. Alles wurde genau aufgezeichnet und am Bildschirm live verfolgt. Aber das ahnte ich zu dieser Zeit nicht. Die Möglichkeit versteckter Kameras und Mikros war mir noch nicht vertraut. Krimis durfte ich natürlich nicht anschauen, nur Kindersendungen, die meine Eltern für absolut harmlos hielten. Selbst manche Trickfilmserien befanden sie für zu brutal. Sie achteten sehr streng darauf, dass ich niemals Gewaltszenen zu sehen bekam. Vielleicht haltet ihr das für übertrieben, aber ihr steckt sicherlich nicht in der Haut meiner Eltern. Diese wollten bloß mich und sich davor bewahren, durch irgendwelche unbedacht nachgeahmten Handlungen verletzt oder getötet zu werden. Ich glaube, alle Eltern schützen ihre Kinder instinktiv vor gefährlichen Gegenständen oder lebensgefährlichen Aktionen. Bei mir bestand dieser Schutz hauptsächlich darin, mir die fraglichen Dinge gar nicht erst zu zeigen. Sinnvoll, wenn man bedenkt, worin meine Begabung besteht. Alles, was ich schon mal gesehen habe, kann ich erdenken. Und sofern ich weiß, wie es funktioniert, bin ich auch fähig, es zu benutzen. Ich war zwar damals noch keine fünf, konnte mir allerdings bereits eine ganze Menge vorstellen.

Auf meiner Liegestatt ersann ich Rachepläne - einer furchtbarer als der andere. Bernd sollte Kekskrümel im Bett vorfinden, Frau Santers Eis wollte ich mit Senf garnieren. Das hatte ich mal bei Papa gemacht und durfte dafür drei Tage lang keine Hörspiel-CDs hören. Als schlimmste aller Strafen überlegte ich, dem doofen Doktor Uhu ins Haar zu schmieren. Das hatte ich bei Jannis aus meiner Kindergartengruppe getan. Dieser hatte mich zuvor dermaßen geärgert, dass ich nicht anders konnte. Der Junge hatte geschrien und geweint, als der Flüssigkleber alles zugekleistert hatte, sich seine Haare nicht mehr kämmen ließen, ganz hart wurden und in unmöglichen Formationen abstanden. Es gab einen Riesenaufstand, weil niemand wusste, was da wie geschehen war. Jannis gab mir die Schuld, konnte es aber nicht beweisen. Die Erzieherinnen standen vor einem Rätsel, das sich nicht lösen ließ. Erst am Ende des Kindergartentages, kurz bevor Jannis abgeholt wurde, verschwand der Kleber auf wundersame Weise, sodass ihm seine Eltern die Geschichte nicht mal glauben wollten. Das war Rache pur! Zumindest in den Augen eines Viereinhalbjährigen.

Letztlich tat ich nichts von alledem. Nicht, weil ich plötzlich Skrupel bekommen hätte, sondern weil mir irgendwann noch eine viel schlimmere Strafe einfiel - ich würde ihnen einfach gar nichts zeigen, wenn sie irgendwelche Dinge von mir sehen wollten. Das war beschlossene Sache. Wer mich und meinen Dickkopf kennt, wird wissen, dass ich es auch durchhielt.

Sie ließen mich diesmal ziemlich lange in der kahlen Umgebung schmoren. Sensorische Deprivation nennt sich das, wie ich heute weiß. Aber nachdem ich mich wieder gefangen hatte, nutzte ich die Zeit, um zu spielen, mir mit meiner Freundin Tinkerbell einen Ball zuzuwerfen und Hugo beizubringen, Stöckchen zu apportieren. Der eintönige Raum sah für mich weder weiß noch langweilig aus, sondern wie das Zimmer eines kleinen Jungen - bunt, chaotisch, mit Spielzeug überall auf dem Boden, wo man drauftreten konnte. Wenn ich geahnt hätte, dass ich die ganze Zeit über beobachtet wurde, hätte ich sicherlich nicht so sorglos gespielt - und dem guten Doktor keine so großen Rätsel damit aufgegeben.

Erst spät am Nachmittag wurde ich wieder aus meinem Gefängnis befreit. Frau Santer kam, um mich abzuholen. Vorsichtig betrat sie den Raum. Da ich durch ihr Anklopfen diesmal vorbereitet war, hatte ich das Zimmer in seinen langweiligen Urzustand versetzt. Sie hätte sich also gar keine Mühe geben müssen. Trotzig starrte ich sie an und folgte ihr nur widerwillig. Bedauernd dachte ich dabei, dass es vermutlich überhaupt keinen Spaß machen würde - aber es war ja mein voller Ernst, das sollten sie auch merken! Die drei Erwachsenen, die bei den folgenden Tests anwesend waren, begriffen rasch, dass mit mir an diesem Abend kein Staat zu machen war. Ich weigerte mich, ihre blöden Spielchen mitzumachen, dachte mir nicht das kleinste bisschen aus. Die Ratespiele mit Karten, Bildern und Symbolen gingen mir ohnehin auf die Nerven und als Dr. Riefert von mir verlangte, einen Würfel schweben zu lassen, lachte ich bloß.

„Das geht gar nicht“, sagte ich nüchtern. „Der Würfel kann doch nicht schweben!“

Das war nicht mal gelogen. Schweben lassen kann ich nämlich nichts. Die Gesetze der Schwerkraft gelten für mich genauso wie für jeden anderen Menschen. Aber auch bei den weiteren Dingen, die der Doktor von mir wollte, stellte ich mich dumm. Schließlich verlor er die Geduld, schüttelte mich und schrie: „Du kleines Miststück, ich weiß genau, dass du dir Sachen ausdenken kannst, die gegenständlich werden, also tu es endlich!“ Meine Antwort bestand darin, ihm eine Hand voll Matsch ins Gesicht zu werfen - mitten in den offenen Mund. Er spuckte, hustete, würgte, wischte sich darüber (und gab dem Ganzen dadurch ein interessantes Muster) und rannte eilig zum Spiegel. Selbstverständlich sah er meinen gedachten Schlamm nicht, doch er spürte ihn genau. Keine Ahnung, ob das Zeug wirklich nach Matsche schmeckte, aber richtig gut schien es ihm nicht zu gefallen. Ich musste lachen. Endlich wurde es trotzdem lustig! Bevor Dr. Riefert sich jedoch darüber auslassen konnte oder wusste, wie ihm geschah, ließ ich den Dreck bereits wieder verschwinden und nichts blieb zurück. Seine Fragen danach, was das eben war und wie ich es gemacht hatte, beantwortete ich ebenso wenig. Stattdessen sagte ich: „Ich will jetzt mit meiner Mama sprechen, sonst spiel ich gar nicht mehr mit!“

Diesen Wunsch bekam ich nicht erfüllt, aber ich musste auch nichts weiter tun, da die Erwachsenen beschlossen hatten, dass ich ins Bett gehen sollte.

3.

 

In der Zwischenzeit waren meine Eltern keinesfalls untätig geblieben, auch wenn ich davon erst viel später erfuhr. Bereits auf dem Heimweg, der immerhin knappe zwei Stunden dauerte, kamen ihnen Bedenken wegen der Sache. Sie schienen langsam wie aus einer Narkose zu erwachen und zu sich zu kommen.

„Was haben wir uns bloß dabei gedacht?“, jammerte meine Mutter. „Wie konnten wir Simon nur ganz alleine bei diesen Leuten lassen! Er wird sich zu Tode ängstigen. Wir kennen diese Menschen nicht einmal!“

„Es sind Wissenschaftler“, sagte mein Vater. „Sie werden ihm schon nichts antun. Er amüsiert sich bestimmt prächtig.“

Er bemühte sich nach Kräften, es selbst zu glauben, doch er schaffte es nicht vollständig. Meine Mutter ließ sich auch nicht wirklich beruhigen. Eigentlich wollte sie gleich wieder umkehren. Aber schließlich siegte der Verstand über den Instinkt und die beiden fuhren erst mal nach Hause. Dort wählte mein Vater sofort die Nummer des Instituts. Er nannte seinen Namen und sein Anliegen. Die Frau am Ende der Leitung ließ ihn daraufhin warten. Nach endlosen Minuten in der Warteschleife meldete sie sich erneut und meinte: „Hören Sie bitte, Ihr Sohn befindet sich momentan mitten in einer wichtigen Untersuchung und darf auf keinen Fall gestört werden.“

„Wann kann ich denn mit ihm sprechen?“

Die Antwort ließ wieder lange auf sich warten. Dann sagte die Stimme: „Rufen Sie morgen früh ab acht Uhr noch mal an.“

„Was?“, explodierte mein Vater. „Hören Sie mir jetzt mal zu: Mein vierjähriger Sohn ist bei Ihnen. Ganz allein. Bei völlig Fremden. Meine Frau und ich würden ihm wenigstens gerne gute Nacht sagen, wenn schon niemand von uns bei ihm bleiben darf. Das verstehen Sie doch wohl!“

Die Frau am Ende der Leitung hörte sich bedauernd, aber resolut an.

„Ich kann Ihnen da leider nicht helfen. Doktor Riefert besteht darauf, dass Ihr Sohn keinen Kontakt zu seinen Bezugspersonen haben soll, bevor die Examination abgeschlossen ist. Das könnte die Ergebnisse verfälschen. Und das wollen Sie nicht, oder?“

Mein Vater verlangte, diesen Mann zu sprechen, doch auch da gab ihm die Dame einen Korb.

„Tut mir ebenfalls leid“, sagte sie, „aber er leitet die Untersuchungen und braucht dazu absolute Ruhe. Nach Feierabend nimmt er keine Kundengespräche mehr an. Versuchen Sie es lieber morgen noch mal. Auf Wiederhören.“

Damit legte sie auf. Mein Vater starrte auf das Telefon, als wäre es ein Ungeheuer, konnte nicht glauben, was er eben erlebt hatte. Er sah auf die Uhr - es war früher Nachmittag.

„Ich fahre zurück“, beschloss er, „und hole Simon wieder ab. Das ist mir jetzt wirklich zu dumm!“

„Wir fahren“, berichtigte ihn meine Mutter kämpferisch. „Du denkst nicht allen Ernstes, ich bleibe hier, um Däumchen zu drehen!“

Gesagt, getan. Sie betankten den Wagen und bewältigten die gesamte Strecke bis zum Institut ein weiteres Mal. Doch am Tor wurden sie nicht eingelassen. Der Empfang war nicht mehr besetzt, auf ihr Klingeln reagierte niemand. Mittlerweile war es kurz nach fünf Uhr. Auch der Versuch, übers Handy die Institutsnummer anzurufen, scheiterte. Es meldete sich nur eine Bandansage, die sie darüber informierte, dass sie außerhalb der Sprechzeiten anriefen.

„Die machen hier echt früh Feierabend!“, stöhnte mein Papa, der sich für den Tag extra frei genommen hatte. Er ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut, während meine Mutter die Hände vors Gesicht schlug. Sie machte sich heftige Vorwürfe. Beide konnten es nicht fassen, dass man sie so behandelte.

„Wir müssen doch irgendwas tun können!“, rief meine Ma. „Ich will jetzt nicht ohne Simon wieder fahren.“

Mein Vater zögerte. Immerhin hatten sie nichts Greifbares in der Hand und keinen Grund, sich wirklich Sorgen zu machen. Es war ja schließlich so vereinbart, dass ihr Sohn dablieb. Das hatte er sogar schriftlich. Mit zitternden Händen holte er das Stück Papier aus der Jackentasche. Er überflog den Vertrag und blieb am Kleingedruckten hängen. Dort stand in einem Absatz:

Hiermit erkläre(n) ich / wir uns damit einverstanden, dass die Beschäftigten des Instituts (...) während des Aufenthaltes in einer der Einrichtungen alle notwendigen Maßnahmen im Rahmen der Untersuchungen ergreifen dürfen, die der Aufdeckung, Klärung und Erforschung von paranormalen Fähigkeiten dienen, sofern diese Maßnahmen dem Probanden keinen gesundheitlichen Schaden zufügen (...).

Weiter unten hieß es zudem:

 ... Ich / wir verzichte(n) auf jegliche Regressansprüche gegenüber der oben genannten Institution und nehmen zur Kenntnis, dass die Untersuchung auf paranormale Fähigkeiten immer auf eigenes Risiko geschieht. Bei Minderjährigen geben die Erziehungsberechtigten mit der Unterschrift des Vertrags automatisch ihr Einverständnis dazu.

Was ihm am Morgen so einleuchtend und verständlich vorgekommen war, erschien ihm nun eher verdächtig, fast schon kriminell.

„Was haben wir uns nur dabei gedacht?“, murmelte er ungläubig den Kopf schüttelnd.

„Was meinst du?“, fragte meine Ma verwundert.

„Ich meine, dass wir absolute Volltrottel waren. Das hier bedeutet nämlich, dass wir zugestimmt haben, dass diese Leute mit Simon im Grunde machen können was sie wollen, solange er sich in ihrem Gebäude aufhält. Verstehst du? Da steht nur, dass sie ihm keinen wirklichen Schaden zufügen dürfen. Aber weißt du, was die untersuchen und wie diese ominösen Tests aussehen? Sie könnten sonst was mit unserem Sohn anstellen - und wir haben allem zugestimmt!“

Die letzten Worte schrie er fast und knüllte das Dokument dabei in der Faust.

Jetzt packte meine Mutter ebenfalls das nackte Entsetzen.

„Das wäre ja ... das ... oh nein! Das können die doch nicht einfach machen! Das ist doch garantiert nicht erlaubt, so was in einen Vertrag reinzuschreiben. Als Kleingedrucktes auch noch!“

Schweren Herzens fuhren sie schließlich unverrichteter Dinge wieder nach Hause und versuchten dabei, sich gegenseitig Mut zu machen. Alles würde sich morgen aufklären, bestimmt.

 

*

 

Der zweite Tag im Institut begann ziemlich früh. Ich wurde unsanft aus dem Bett geworfen, als Bernd in den Raum stürmte. Er hatte es sehr eilig. „Hallo Simon, du musst sofort aufstehen!“, sagte er hastig, während er bereits anfing, meine verstreuten Anziehsachen einzusammeln und in die Tasche zu stopfen.

„Warum denn?“, fragte ich verschlafen.

„Wir machen einen Ausflug zu einem anderen Labor. Dort wollen dich zwei weitere Wissenschaftler kennenlernen.“

„Ok. Aber wieso müssen wir so früh losfahren?“

Ich war immer noch reichlich verwirrt.

„Wir sind für eine bestimmte Zeit verabredet und dürfen nicht zu spät kommen“, sagte Bernd. Mittlerweile hatte er alle meine Sachen eingepackt und mir geholfen, mich anzuziehen. Normalerweise mochte ich so was nicht, aber im Augenblick war ich viel zu müde und zu irritiert, um mich gegen diese Kleinkind-Behandlung zu wehren.

„Komm mit!“, drängte der Mann, der sich meine Reisetasche umgehängt hatte und zog an meiner Hand. Ich schnappte mir schnell noch Hugo und ließ mich schlaftrunken zum Aufzug ziehen. Als wir ausstiegen, roch es nach Benzin. Dr. Riefert erwartete uns am Ausgang, der direkt in eine Tiefgarage führte.

„So, Kleiner“, begrüßte er mich. „Bereit für dein neues Abenteuer? Wir müssen uns jetzt verabschieden, aber ich glaube, das fällt dir nicht allzu schwer.“

„Komme ich denn nicht wieder hierher zurück?“, fragte ich verwundert. Ich hatte mir zuvor nichts dabei gedacht, nun jedoch fiel mir auch die Tatsache auf, dass Bernd alle meine Sachen eingepackt hatte. Der Doktor schüttelte den Kopf.

„Nein, die Untersuchung im zweiten Labor dauern zu lange. Das lohnt sich nicht.“

„Aber Mama und Papa wollten mich doch morgen hier abholen!“, rief ich erschrocken.

„Deine Eltern wissen Bescheid. Die kommen dann dorthin“, sagte er beruhigend.

„Bestimmt?“, fragte ich misstrauisch. „Davon habt ihr vorher überhaupt nichts gesagt!“

„Wir haben ja jetzt erst festgestellt, dass wir weitere Untersuchungen brauchen. Das konnten wir gestern früh noch gar nicht absehen. Deshalb haben wir vorhin deine Eltern angerufen und es ihnen mitgeteilt. Sie holen dich morgen Nachmittag bei unserem zweiten Labor ab.“

„Wo ist denn dieses Labor?“, wollte ich wissen.

„Weit außerhalb der Stadt“, sagte Bernd. „Wir müssen ein paar Stunden mit dem Auto fahren. Komm jetzt, es geht los!“

Nur zögerlich stieg ich in den Van. Etwas in mir sträubte sich dagegen, als ahnte ich bereits, dass die Reise viel länger dauern würde, als diese Menschen mir weismachen wollten.

 

*

 

„Was soll das heißen - er ist nicht mehr hier?“, brüllte mein Vater entsetzt. Er starrte den Mitarbeiter des Instituts fassungslos an, der ihm soeben die gleiche Geschichte erzählt hatte wie Bernd mir einige Zeit zuvor. Meine Eltern saßen seit Punkt acht Uhr im Empfangsbereich, um mich abzuholen. Aber in den vergangenen zwei Stunden hatte ihnen niemand sagen können, wo ich mich befand. Und nun das! Die Nachricht von meiner ‚Verlegung‘ schlug dem Fass den Boden aus. Vor allem meine Mutter schien einem Zusammenbruch nah, obwohl der Angestellte sich nach Kräften bemühte, sie zu beruhigen. Mein Vater atmete dreimal tief durch, bevor er den Mann wieder ansah.

„Und was schlagen Sie vor, sollen wir jetzt tun? Wir wollen unsern Sohn wiederhaben, und zwar sofort!“

Sein Gesprächspartner, der immer mehr einem nervlichen Wrack glich, schluckte schwer.

„Am besten rufen wir erst mal Frau Doktor Richter an, die Institutsleiterin. Das hätten wir gleich machen müssen.“

Keine fünf Minuten später saßen meine blassen Eltern in einem geschmackvoll eingerichteten Büro gegenüber einer rigide wirkenden Frau. Sie hörte mit steinerner Miene zuerst den gestammelten Bericht ihres Institutsmitarbeiters und danach die ergänzenden Erklärungen ihrer Besucher an. Als diese geendet hatten, nahm sie wortlos den Telefonhörer und wählte eine kurze Nummer. „Richter. Hallo, Herr Salomo, könnten Sie mir bitte Dr. Riefert aus Abteilung C geben?“

Die Antwort schien die Frau nicht sonderlich zu erfreuen. „Dann holen Sie ihn, woher auch immer. Es ist sehr wichtig. Ach, kontaktieren Sie freundlicherweise auch Frau Santer. Ich würde sie ebenfalls gerne umgehend in meinem Büro sehen. Danke!“

Frau Richter sah meine Eltern an. Ihr Blick war schwer zu deuten, aber es lag eine ungeheure Härte darin.

„Wenn es stimmt, was Sie mir erzählen - und es scheint mir fast so - dann geschehen hier ungeheuerliche Dinge. Es ist tragisch, dass Sie die Leidtragenden dabei sind ...“

Sie sagte noch einiges mehr, aber keiner meiner Erziehungsberechtigten konnte sich später genau daran erinnern. Sie erzählten mir bloß, dass es ihnen unheimlich schwergefallen sei, zu warten, und dass sie am liebsten direkt zur Polizei gegangen wären. Natürlich verstanden sie, dass das Institut zunächst alle Möglichkeiten ausschöpfen wollte, um diese Angelegenheit intern zu regeln. Die Leiterin schien sehr kooperativ und beteuerte, in keiner Weise Kenntnis von den Vorgängen gehabt zu haben. Aber während meine Eltern ihre kostbare Zeit mit sinnloser Warterei vergeudeten, entfernte ihr Kind sich immer weiter von ihnen.

 

*

 

Die Fahrt dauerte endlos. Normalerweise hätte ich mir die Zeit mit selbst erdachten Spielen und Spielzeugen vertrieben. Aber ich hatte mir ja vorgenommen, mir in Gegenwart dieser Leute nichts auszudenken. Also ließ ich es bleiben. Den einzigen Luxus, den ich mir erlaubte, war ein gedachter Lolli.

Die Straßen wurden immer schlechter, bis wir schließlich in einen Feldweg einbogen, der uns kräftig durchschüttelte. Als wir anhielten, war es sicherlich bereits Mittag. Wir befanden uns auf einer Art Rastplatz mitten im Wald. Es war still und friedlich, jedoch sah ich weit und breit weder ein Haus noch eine Menschenseele. Hier sollte ein Labor sein? Bernd beantwortete meine Frage danach nicht. Er telefonierte. Dann sah er auf die Uhr und meinte: „Wir haben zwanzig Minuten Zeit, bis unsere Verabredung kommt. Sie bringen dich bis zum Ziel.“

„Warum fährst du mich nicht dorthin?“, fragte ich.

„Weil ich andere Sachen zu tun habe und der Weg bis dahin zu weit ist“, gab er kurz angebunden zurück. Ich stöhnte. Noch weiter fahren!

„Wie weit ist es denn noch?“, jammerte ich, während Bernd mich aus meinem Sitz befreite.

„Ein ganzes Stück“, antwortete er bedauernd, wobei er Zuversicht und Ehrlichkeit ausstrahlte. Aber mir wurde die Sache langsam immer unheimlicher. Ich dachte an seine List mit dem Blutabnehmen. Plötzlich befiel mich eine unerklärliche Angst.

„Ich möchte zurück!“, forderte ich. „Nimm mich bitte wieder mit, ich will nicht in dieses Labor!“

Ich blickte den Mann vor mir flehentlich an. In seinen Augen entdeckte ich Mitleid und dachte, dass er tatsächlich darüber nachdachte, meinem Wunsch nachzukommen. Aber dann schüttelte er den Kopf.

„Das geht leider nicht. Doktor Riefert wäre sehr böse auf mich, wenn er erfahren müsste, dass ich dich nicht wie geplant abgegeben habe. Und die Wissenschaftler, die dich untersuchen wollen, wären total enttäuscht. Sie freuen sich schon darauf, dich kennenzulernen. Möchtest du, dass sie enttäuscht sind?“

Mir war völlig egal, was diese Leute von mir dachten. Ich wollte eigentlich nur nach Hause.

 

*

 

Meine Eltern verbrachten die nächsten zwei Stunden damit, sich mit der Leiterin des Instituts zu unterhalten und Kaffee zu trinken. Die äußerst clever wirkende Professorin mit insgesamt zwei Doktortiteln schien sich sehr für mich zu interessieren. Sie stellte viele Fragen, durch die sich meine Eltern geschmeichelt fühlten. Natürlich vergaßen sie keinen Augenblick, weswegen sie hier waren. Endlich kam der Mann, mit dem sie bereits vergangene Woche Bekanntschaft geschlossen hatten. Er schüttelte ihnen strahlend die Hand, als wäre alles in bester Ordnung.

„Wir haben Sie eigentlich erst morgen erwartet“, stellte er dabei unbekümmert fest. „Was führt Sie jetzt schon her?“

„Wir möchten unseren Sohn abholen“, erwiderte mein Vater eisig. „Sie haben uns dabei bemerkenswert viele Hindernisse in den Weg gelegt. Also, wo befindet er sich?“

„Ihr Sprössling ist ein wahres Wunder. Er gibt uns weiterhin eine Menge Rätsel auf, von denen wir bisher offen gestanden nur wenige lösen konnten. Bitte verzeihen Sie mir, dass Sie so lange auf mich warten mussten, doch der Weg von unserem Zweitlabor bis hierher nahm viel Zeit in Anspruch. Simon befindet sich seit einigen Stunden dort. Als Sie hier ankamen, haben Sie ihn vermutlich knapp verpasst.“

„Ihr Mitarbeiter hat uns bereits gesagt, dass er nicht mehr hier im Haus ist“, knurrte mein Vater. „Aber das bedeutet nicht, dass wir damit einverstanden sind, dass er die Einrichtung verlassen hat. Wer gibt Ihnen das Recht, unser Kind ohne unser Wissen irgendwohin zu bringen? Und überhaupt - warum durften wir ihn gestern nicht mal anrufen, um mit ihm zu sprechen? Das hat uns vorher niemand gesagt! Wir hätten niemals zugestimmt, dass Sie Simon untersuchen, wenn wir das alles von Anfang an gewusst hätten! Er ist noch viel zu klein ...“

„Geht es ihm gut?“, unterbrach ihn meine Mutter.

„Selbstverständlich ist er wohlauf“, strahlte Dr. Riefert. An meinen Vater gewandt fügte er hinzu: „Sie haben recht, an Ihrer Stelle würde ich genauso reagieren. Ich muss mich für diesen Mangel an Information entschuldigen. Wir hatten einfach nicht bedacht, wie stark die Gabe Ihres Sohnes ist. Dafür waren unsere Messinstrumente hier im Labor nicht ausgerichtet. Simon hat zwei Psiometer kaputtgemacht, etwas das vor ihm noch nie einem Probanden gelungen ist. Ein weiteres haben wir hier nicht. Unser Personal fühlte sich zudem durch die Anwesenheit eines mit derartigen Kräften ausgestatteten Kindes bedroht. Ein Mitarbeiter, der den Jungen in seinem Zimmer besuchen wollte, berichtete, dass ihm unsichtbare, scharfkantige Gegenstände an den Kopf geworfen wurden. Sie können ihn gern sprechen, wenn Sie mir nicht glauben. Ihr Sohn verhielt sich phasenweise sehr störrisch bei den Untersuchungen, sodass unsere Wissenschaftler sich teilweise weigerten, weiter mit ihm zu arbeiten. Deshalb haben wir gestern Nacht beschlossen, ihn aus Sicherheitsgründen in das abgelegene, besser ausgestattete Zweitlabor des Instituts zu bringen. Nur noch einer meiner Mitarbeiter, der sehr zuverlässig ist und sich freiwillig dafür gemeldet hat, ist außer mir für Simon zuständig, sodass der Rest des Personals davon nicht mehr betroffen ist. Natürlich habe ich gleich heute früh versucht, Sie telefonisch zu erreichen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie sich bereits auf dem Weg hierher befanden.“

„Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass ein vierjähriger Knirps Ihnen auf der Nase herumgetanzt ist und dass Sie ihn deshalb irgendwohin abgeschoben haben, wo er keinen Schaden mehr anrichten kann? Das ist wirklich der Gipfel! Simon tut keiner Fliege was zuleide!“

Mein Vater war schon wieder auf hundertachtzig.

„Nun, bei Ihnen verhält er sich sicherlich friedlich, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Sie noch nie unter seinen Launen gelitten haben“, meinte der Doc listig. „Aber an einem fremden Ort mit lauter unbekannten Personen - wer weiß da schon, was in so einem kleinen, fantasiebegabten Kinderhirn alles vorgeht? Vielleicht fühlte er sich von meinen Mitarbeitern oder von mir bedroht? Eventuell passte es ihm einfach nicht in den Kram. Diese Untersuchungen sind ja mitunter lästig und anstrengend, selbst für Erwachsene ...“

„Was haben Sie denn bloß mit ihm angestellt?“, jammerte meine Ma. „Er ist noch so klein. Sie können ihm doch nicht die gleichen Tests zumuten, wie einem Erwachsenen!“

Die Institutsleiterin, die bis jetzt geschwiegen hatte, schaltete sich ein: „Nun beruhigen Sie sich erst mal wieder. Das führt doch zu nichts! Doktor Riefert hat sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse des Instituts gehandelt, als er den Ortswechsel anordnete. Er hatte schließlich die Verantwortung sowohl für Ihren Sohn als auch für seine Mitarbeiter. Ist es nicht so, Doktor?“

Der Mann nickte eifrig. „Sehen Sie, Frau Dr. Richter sieht es genauso! Es war zum Wohle aller. Und Ihrem Nachwuchs geht es ja blendend. Davon können Sie sich gleich morgen selbst überzeugen.“

„Morgen erst? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Wir nehmen Simon heute mit. Und wenn ich ihn persönlich bei ihrem Zweitlabor irgendwo in der Pampa abholen muss. Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt!“

Mein Pa bemühte sich darum, nicht wieder zu schreien, aber er war kurz davor, aufzuspringen und den Raum zu verlassen. Die beiden Institutsangehörigen schienen das zu spüren. Sie sahen sich rasch an, dann befahl die Leiterin: „Sie haben den Vater des Jungen gehört, Doktor. Die Eltern möchten, dass Simon mit nach Hause kommt. Also brechen Sie die Versuchsreihe bitte sofort ab und senden Sie ihn hierher zurück, und zwar umgehend.“

Ihr Tonfall dabei war äußerst hart. Der Wissenschaftler zuckte leicht zusammen. Er schien widersprechen zu wollen, besann sich jedoch mit Blick auf meine bereits reichlich aufgeheizten Eltern sowie seine eiskalte Chefin eines Besseren und eilte wortlos hinaus. Diese seufzte, indem sie sich mit sehr viel mehr Wärme und Anteilnahme in den Augen an ihre übrigen Gäste wandte, die schon seit Stunden das Büro blockierten und sie von wichtigen Arbeiten abhielten.

„Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie so viel erdulden müssen“, sagte sie. „Das lag sicherlich nicht in unserer Absicht, auch nicht in der des Doktors. Selbst wenn er im Sinne des Instituts gedacht hat, war sein Handeln dennoch zu eigenmächtig und bestimmt nicht in meinem Sinne. Zudem widerspricht es sowohl unserer Philosophie als auch der gängigen Praxis, solche Tests an Minderjährigen durchzuführen, auch wenn Sie sich als Erziehungsberechtigte damit einverstanden erklärt haben. Möchten Sie eine Kleinigkeit essen? Wir haben eine recht brauchbare Kantine ...“

Nach dem späten Mittagessen dauerte es noch fast drei Stunden, bis meine Eltern wieder zu Doktor Richter ins Büro gerufen wurden. Mittlerweile war es kurz nach 17 Uhr, das Institut schien wie ausgestorben.

„Ah, Gott sei Dank, dass Sie noch da sind!“, empfing sie die besorgt wirkende Frau hinter dem großen Schreibtisch.

„Wo ist Simon?“, rief meine Mutter. „Ist etwas passiert?“

„Ich denke nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist. Leider ist er jedoch auch nicht hier angekommen“, sagte die Institutsleiterin. „Wir versuchen seit geraumer Zeit, Doktor Rieferts Assistenten zu erreichen, der den Jungen begleiten sollte, doch es geht niemand ans Handy. Der Doktor hat mir berichtet, dass er sofort nach unserem Gespräch veranlasst hat, dass Simon zum Hauptinstitut zurückgefahren wird. Diese Anweisungen wurden von seinem Mitarbeiter bestätigt. Als er jedoch gut zwei Stunden später wieder anrief, um zu erfahren, wo der Junge bleibt, bekam er keinen Kontakt. Im Labor befand sich auch niemand mehr. Wir vermuten, dass das Transportfahrzeug irgendwo festhängt, wo kein Handyempfang besteht.“

„Bitte erklären Sie uns den Weg, den der Wagen nehmen sollte, dann fahren wir sofort los und suchen Simon!“, bat mein Vater aufgeregt.

„Nicht nötig“, wehrte die Institutsleiterin ab. „Dr. Riefert ist bereits auf dem Weg. Er fährt die Strecke häufig und kennt sich in der Gegend aus. Für Sie und mich wäre es wahrlich leicht, sich in diesem ländlichen Gebiet zu verfahren. Vor allem, weil ich Ihnen keine genaue Adresse nennen könnte. Das Labor liegt sehr abgelegen und einsam. Es hat sogar einen eigenen Stromgenerator und ist nicht ans öffentliche Netz angeschlossen.“

„Warum haben Sie uns nicht direkt informiert? Wir wären doch hinterhergefahren!“, rief meine Mutter aufgebracht.

„Ich wollte Sie nicht unnötig beunruhigen. Doch nun sieht es so aus, als würde Dr. Riefert den Wagen nicht finden. Eben rief er an und berichtete, er habe bereits über die Hälfte der Strecke zurückgelegt und noch immer keinen Kontakt zu seinem Mitarbeiter.“

Mein Papa, der langsam komplett die Kontrolle zu verlieren drohte, konstatierte tonlos: „Mir reicht’s. Ich mache jetzt das, was ich schon längst hätte tun sollen - ich gehe zur Polizei! Kommst du, Schatz?“

Die Inhaberin des Büros nickte. Sie wählte eine Nummer und reichte meinem perplexen Vater das Telefon.

„Das wollte ich gerade vorschlagen. Wenn Sie möchten, dürfen Sie gerne zuerst mit den Beamten sprechen. Nur zu!“

In dem Moment als ein Streifenwagen vor dem Haupteingang vorfuhr, klingelte Doktor Richters Handy. Meine Eltern, die neben ihr in der Eingangshalle standen, hörten gespannt zu.

„Hallo? Ah, Dr. Riefert, gut dass Sie dran sind ... Oh nein! Genau, wie wir dachten. Das ist schlimm ... Die Polizei ist zum Glück schon hier.“

Zwei Uniformierte waren inzwischen eingetreten und begrüßten die Anwesenden. Die Institutsleiterin erklärte ihnen rasch, wer am Apparat war und was er mit dem Fall zu tun hatte. Natürlich wollte einer der Beamten den Mann sofort sprechen. Der zweite Polizist stellte meinen Eltern inzwischen viele Fragen über mich. Name, Aussehen, unverwechselbare Kennzeichen. Sogar Hugo wurde auf einem Zettel notiert.

„Wir tun alles, was wir können“, versicherte ihr Gesprächspartner. Bevor sie jedoch dazu kamen, sich über das Institut und dessen Handlungsweise zu beschweren, gesellte sich Professor Richter bereits zu ihnen.

„Dr. Riefert ist jetzt beim Zweitlabor“, berichtete sie. „Weder auf dem Weg noch beim Labor gibt es die geringste Spur von Simon oder seinem Begleiter. Niemand weiß etwas über ihren Verbleib. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.“

Erst jetzt fing meine Mama an zu weinen. Sie bekam einen richtigen Nervenzusammenbruch, schluchzte und begann sogar zu hyperventilieren. Der Beamte, dem sie soeben ein Interview gegeben hatte, begleitete sie und meinen Vater nach draußen, wo sie sich beruhigen sollte. Sobald sie außer Hörweite waren, erholte sich meine Mutter auf wundersame Weise. Meine Eltern berichteten dem Polizisten alles. Der Mann bekam immer größere Augen.

„Das sind ja tolle Neuigkeiten. Vielen Dank für Ihre Offenheit. Meine Kollegen werden sich dieses Institut, insbesondere Abteilung C, mal genauer anschauen. Was Sie erlebt haben, klingt zumindest merkwürdig. Haben Sie den Vertrag zufällig dabei, den Sie unterschrieben haben?“

Mein Vater zeigte ihm das Papier. Der Beamte pfiff nach dem Lesen anerkennend. „Ich bin zwar kein Jurist, aber dieser Text unterstreicht Ihre Aussage in meinen Augen noch mal kräftig. Darf ich mir eine Kopie davon machen?“

4.

 

Wir fuhren in raschem Tempo, Stunde um Stunde. Erst hatte ich versucht, von den beiden Erwachsenen vor mir etwas über unser Ziel zu erfahren, aber es war vergeblich. Der Mann am Steuer wirkte groß, stark, grimmig und unfreundlich. Die schlanke, recht zierliche Frau neben ihm sah jedoch auf eine eigentümliche Art sogar noch mehr zum Fürchten aus. Ihr Gesicht war eigentlich nicht hässlich, doch ihre Augen blickten mich so kalt an, dass ich eine Gänsehaut bekam.

Wir hielten nur einmal kurz an, um etwas zu essen. Der Mann drängte sofort danach wieder zum Aufbruch. Er gefiel mir immer weniger. Wenn die beiden Erwachsenen sich unterhielten, benutzten sie eine seltsame Sprache. Solche Laute hatte ich noch nie gehört. Ich verstand kein Wort, doch es interessierte mich ohnehin nicht, was sie sagten. Ich befand mich auf dem Rücksitz des Wagens in einer anderen Welt, nämlich in der von Winnie Puuh. Dieser Knuddelbär mit seinen Stofftierfreunden hatte es mir angetan. Besonders I-Aah fand ich klasse. Ich ließ ihn auf meinem Schoß herumlaufen und neben mir auf dem freien Sitz. Dabei verlor er ständig seinen Schwanz und Tigger sprang hinter ihm her, um das Teil mit der Nadel wieder anzustecken. Das Spiel nahm mich derart gefangen, dass ich gar nicht merkte, wie viel Zeit verging. Erst als wir anhielten und die beiden Erwachsenen ausstiegen, kam ich in die reale Welt zurück. Erschrocken bemerke ich, dass es draußen bereits stockdunkel war. Wütend klopfte ich an die Scheibe, bis mir jemand öffnete. Es war der grimmige Mann.

„Mach nicht so ein Theater und steig aus!“, knurrte er. Aber ich war furchtbar sauer.

„Ich will sofort zu Mama und Papa!“, forderte ich lautstark. „Ihr habt versprochen, dass ich abgeholt werde. Und jetzt ist es schon abends. Ich will keine Tests mehr machen!“

Der Mann lachte glucksend. „Du bist lustig“, sagte er und rief etwas in der komischen Sprache. Die Frau lachte nicht, nahm meine Hand und führte mich zu einem imposanten, alt aussehenden Haus, das scheinbar mitten im Wald lag. Jedenfalls befanden sich ringsherum hohe Bäume, deren tiefe Schatten in der Dunkelheit bedrohlich wirkten.

„Wo bin ich hier?“, fragte ich eingeschüchtert. „Und wo sind Mama und Papa? Warten sie drinnen auf mich?“

Die Frau antwortete nicht, griff lediglich meine Hand fester und zog mich zur Eingangstür. Auf ihr Schellen hin wurde die Tür geöffnet. Die Person sah aus wie eine Köchin. Sie hatte eine Schürze umgebunden und ein Häubchen auf dem Kopf. Meine Begleiterin sagte etwas zu ihr in der fremden Sprache, während das Mädchen ihr den Pelzmantel abnahm. Sie zog mir auch meine Jacke aus und nahm die Sachen mit sich. Wir gingen durch einen langen schmalen Flur und eine dunkle steile Treppe hoch. Dann durch einen weiteren beengten Gang mit mehreren Türen. Vor der letzten blieb sie stehen, öffnete sie. Dahinter lag ein kleiner Raum mit weiß getünchten Wänden.

„Das ist dein Zimmer“, sagte die Frau. „Hier schläfst du.“

„Schlafen? Aber ...“

Bevor ich noch etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Deine Eltern sind nicht hier. Sie kommen erst später, um dich abzuholen, tut mir leid. Du wirst jetzt eine Weile in diesem Haus wohnen. Ein paar Wissenschaftler möchten dich morgen kennenlernen. Du sollst ihnen zeigen, was du kannst.“

„Nein!“, schrie ich, riss mich aus dem Griff der Frau los und rannte zur Tür hinaus. „Ich will zu Mama!“

Weit kam ich nicht. Vor mir stand wie aus dem Boden gewachsen wieder der unheimliche Mann. Er sah jetzt noch böser aus.

„Du wirst schön in deinem Zimmer bleiben, Freundchen!“, drohte er mir. „Sonst bekommst du kein Essen und ich nehme dir deinen Wauwau weg!“

Er griff nach Hugo. Der knurrte und schnappte zu.

„Au!“, schrie der Angreifer, entsetzt auf die tiefen Zahnabdrücke an seinem Handrücken starrend. Es blutete sogar ein bisschen. Hugo hatte viel fester zugebissen als bei Alina, weil der Kerl so gemein zu mir war. Er schimpfte etwas Unverständliches und rief: „Du kleine Ratte, was hast du gemacht? Schau dir bloß meine Hand an!“

„Das hast du davon, du Hundedieb!“, schrie ich wütend, drehte mich um und lief ins Zimmer zurück. Der Mann hinter mir fluchte noch immer, machte aber keine Anstalten, mich zu verfolgen. Stattdessen folgte mir seine Partnerin, räumte meinen Krempel aus der Tasche. Schniefend wandte ich mich schließlich an sie. „Kommt Papa denn bald?“, fragte ich hoffnungsvoll. Meine Stimme bebte. Die Frau schüttelte den Kopf. Sie warf die dreckigen Sachen auf einen Haufen und meinen Schlafanzug auf das Bett. „Nein, Junge, das sagte ich doch schon. Morgen kommen zwei wichtige Männer, um dich zu untersuchen. Es dauert nur einige Tage, die wirst du überleben.

„Aber ich will mit meiner Mama sprechen!“, jammerte ich. „Geht das nicht wenigstens?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ... das Telefon kaputt ist.“

„Hast du denn kein Handy?“, fragte ich erstaunt. Bei uns hatte eigentlich jeder eins, sogar Alina. Meins war zwar nur ein Spielzeughandy, allerdings hatte ich damit schon mal aus Versehen bei dem Mädchen im Nachbarhaus angerufen. Zum Glück wusste das außer uns beiden damals niemand.

„Doch, aber du bekommst es nicht. Es ist nicht gut, wenn du deine Mama anrufst. Davon kriegst du nur noch mehr Heimweh.“

Die Frau drehte sich um und verließ den Raum. „Sobald du dich beruhigt hast, darfst du zum Abendessen runterkommen“, rief sie im Hinausgehen und schloss die Tür.

 

*

 

Meine Eltern hatten auf der Polizeiwache noch einmal die komplette Geschichte erzählt und das gewünschte Foto von mir abgegeben. Der zuständige Kommissar wollte jede Einzelheit wissen. Besonders interessierte ihn Dr. Riefert, der die Schlüsselfigur zu sein schien - oder zumindest einer der Hauptverdächtigen. Aber auch Frau Dr. Richter wurde ganz oben auf die Liste der in den Fall verwickelten Personen gesetzt.

Die Wartezeit bei der Polizei nutzte mein Vater dazu, den Begriff ‚Psiometer‘ zu recherchieren, den er zuvor noch nie gehört hatte. Es gab ihn nicht. Für ihn der Beweis dafür, dass er von Anfang an nach Strich und Faden belogen worden war.

Endlich gab es Nachrichten von den Beamten, die das Institut bis in den hintersten Winkel durchkämmt hatten. Das Gebäude war bis auf den Nachtwächter und Professor Dr. Richter verlassen. Weder von Dr. Riefert noch von seinem Assistenten gab es die geringste Spur. Die Institutsleiterin wurde vernommen, allerdings ebenfalls ohne Ergebnis. Die Beamten rieten meinen Eltern schließlich, nach Hause zu fahren. Immerhin war denkbar, dass eine Lösegeldforderung eintraf. Beim Gedanken an eine Entführung wurde den beiden zwar noch elender zumute, aber es stellte zumindest eine logische Erklärung für mein Verschwinden dar.

 

*

 

Nachdem ich mich ein bisschen ausgeheult hatte, siegten Neugier und Hunger. Es war schon spät, aber ich wollte unbedingt ein Abendbrot haben - ein echtes, wenn möglich. Außerdem gedachte ich, mich in diesem komischen Haus etwas umzusehen. Vielleicht fand ich ja das kaputte Telefon und durfte es benutzen? Ich hegte die Hoffnung, dass die Erwachsenen noch zu wenig über mich wussten, um es mir zu verbieten. Zu meiner Überraschung war die Tür nicht abgeschlossen und ich konnte einfach herausspazieren. Auf dem langen Flur war niemand.

„Hallo?“, rief ich zaghaft. Als keine Antwort erfolgte, marschierte ich kurzerhand den Weg zurück, den ich gekommen war. Unten begegnete ich dem Dienstmädchen, das mich zum Esszimmer brachte. Die kalte Frau, die mich hergefahren hatte, saß dort an dem langen Tisch in eine Zeitung vertieft. Seitlich hinter ihr war ein Durchgang zu einem Raum, der aussah wie ein Arbeitszimmer oder ein Wohnzimmer. Ich futterte so rasch ich konnte das Brot auf, das für mich bereitlag, und stand dann unauffällig auf. Die Frau schien nichts zu merken. Leise schlich ich mich nach nebenan. Leider war das Zimmer nicht leer, wie ich erst angenommen hatte. Der unsympathische Mann saß in einer Ecke und beschäftigte sich mit einem Handy. Um seine rechte Hand war ein Verband gewickelt. Ich beschloss, ihn auf die Probe zu stellen.

„Darf ich jetzt Mama anrufen?“, fragte ich unschuldig.

„Nein“, brummte der Mann mürrisch, ohne aufzublicken.

„Aber ich kann doch nicht schlafen, wenn sie mir nicht gute Nacht sagt!“, jammerte ich.

Der Kerl sah auf und musterte mich einen Moment lang. Dann lachte er böse. „Guck, da hinten ist ein Telefon für dich. Damit darfst du deine Mama anrufen.“ Er deutete auf eine andere Ecke des Raumes, in der ein Schreibtisch stand. Darauf befand sich ein uraltes schwarzes Ungetüm. So eins hatte ich noch nie gesehen. Es hatte einen riesigen Hörer und eine Wählscheibe mit Zahlen. Das Gerät sah komisch aus, doch ich strahlte trotzdem. Hurra, es klappte! Ich nahm den Hörer in die Hand und horchte. Wie erwartet herrschte völlige Stille - kein Tuten ertönte. Also war das Teil defekt. Ich sah dann auch, dass das Kabel nutzlos herumlag. Ich wusste zwar noch nicht gut Bescheid mit solchen Dingen, aber ein Kabel musste immer zu einer Steckdose führen oder in eine Wand hineingehen, sonst konnte das Gerät nicht funktionieren. Der Mann auf der anderen Seite des kleinen Raumes beobachtete mich schadenfroh, doch es war mir egal. Ich musste mich jetzt ganz stark konzentrieren. Vielleicht war dies die einzige Chance, mit meinen Eltern zu reden! Die wollte ich nicht verpassen.

Zu Hause durfte ich nie telefonieren und kannte nicht mal unsere Nummer. Ich hatte es jedoch schon mal zufällig hinbekommen, indem ich mir genau vorstellte, wie mein Telefon mit dem von Alina durch eine lange Schnur verbunden war. Dann hatte ich mir das Schellen von Alinas Spielzeughandy gedacht und das Mädchen war drangegangen, sodass ich ihre Stimme durch mein Kindertelefon gehört hatte. Ja, genauso musste es jetzt auch klappen. Ich nahm also meine ganze Vorstellungskraft zusammen, konzentrierte sie auf dieses eine Ziel: Das Telefon am anderen Ende der Schnur sollte klingeln. Es tutete. Auf einmal war Papa dran. Er meldete sich mit dem Nachnamen, wie immer. Ich war so verzückt, seine Stimme zu hören, dass ich erst mal gar nichts sagte.

„Wer ist denn da?“, fragte er und hörte sich aufgeregt an.

„Hallo Papa, ich bin es!“, rief ich. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Mann sich langsam aus dem Sessel erhob. Seine Augen waren weit aufgerissen.

„Simon!“, schrie mein Vater. Dann wieder leiser: „Wo bist du bloß, mein Junge?“

„In einem großen Haus. Ein Mann und eine Frau haben mich hierhergebracht. Sie sagen, dass ihr mich nicht abholen kommt. Aber ihr müsst mich abholen! Bitte kommt doch und holt mich! Ich will wieder zu euch nach Hause!“, jammerte ich erstickt. Der Mann stürmte mit gewaltigen Schritten heran, riss mir den Hörer aus der Hand. Er schrie ein Wort in seiner Sprache, starrte erst das Telefon und dann mich entsetzt an. Aus dem Apparat drang laut und deutlich die Stimme meines Vaters, der rief: „Aber natürlich wollen wir dich abholen, Simon! Wir wissen bloß nicht, wo du bist! Kannst du es uns nicht sagen? Hallo? Hallo!“

Der Mann zischte noch ein Wort in seiner Sprache, es hörte sich an wie ein Fluch oder ein Schimpfwort. Dann schmiss er den Hörer auf die Gabel und zerrte mich vom Telefon weg.

„Wie hast du das gemacht, du kleiner Teufel?“, schrie er. Die Frau aus dem Nebenraum war bei seinem Ausbruch aufgesprungen und herbeigeeilt.

„Was ist passiert?“, fragte sie irritiert.

Der Grobian stieß mich wieder von sich und sah mich ebenso fassungslos wie aufgebracht an. Dabei redete er rasch und mit überschnappender Stimme auf seine Partnerin ein. Ich verstand noch immer kein Wort, doch die Augen der Frau wurden groß. Ich wusste genau, dass der Mann ihr von meinem Telefongespräch berichtete. Im Grunde war ich mächtig stolz auf mich und triumphierte innerlich, weil ich es geschafft hatte, sie zu überlisten. Aber ich war auch traurig und wütend, dass der Blödmann so schnell wieder aufgelegt hatte. Die Frau blickte mich an wie ein Monster. Sie sagte etwas in der fremden Sprache, griff mich energisch am Arm und zog daran.

„Du kommst jetzt mit!“, erklärte sie mit eisiger Stimme. „Du warst sehr ungezogen, weißt du das?“

„Aber er hat mir erlaubt, mit dem Telefon anzurufen!“

Ich zeigte heulend auf den Mann. Der lachte hysterisch.

„Ja, aber ich habe nicht gedacht, dass du wirklich damit telefonieren kannst! Du bist ehrlich ein Dämon, Junge! Mach das nie wieder, hörst du?“ „Er wird keine Gelegenheit mehr dazu haben“, sagte die Frau, „weil er ab jetzt in seinem Zimmer eingesperrt wird.“

Zu mir gewandt fuhr sie fort: „Und deine Eltern wissen gar nicht, wo sie dich suchen sollen, Kleiner. Also mach dir bloß keine Hoffnungen, dass sie dich abholen. Du wirst erst gehen, wenn wir es erlauben!“

Sie zog mich am Arm mit sich. Ich wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war, und ließ mich schluchzend von ihr mitschleifen. Sie rief: „Anna!“

Das Dienstmädchen kam aus der Küche geeilt. Die Frau redete rasch auf sie ein und stieß mich zu ihr hin. Dann ging sie zurück. Die laute Diskussion hörte sich an wie ein Streit. Anna beugte sich zu mir runter, wischte mir eine Träne aus dem Auge. Sie lächelte bedauernd. Dabei sprach sie ein paar sanfte Worte. Auch meinen Namen sagte sie. Es hörte sich seltsam an, aber ich verstand zumindest, dass sie mich trösten wollte. Sie war lieb zu mir und hatte Mitleid. Ich glaube, wenn Anna nicht gewesen wäre, hätte ich es nicht in dem Haus aushalten können. Vielleicht wäre mir dann schon viel eher der Gedanken an Flucht gekommen oder ich hätte dieses Abenteuer seelisch nicht unbeschadet überstanden. So aber ließ ich mich von ihr trösten, flüchtete in ihre warmen Arme. Sie hob mich hoch und trug mich die Treppen hinauf. Schließlich war ich wieder in dem kleinen Raum im obersten Stockwerk, ließ es geschehen, dass das Mädchen mich umzog, mir die Zähne putzte und mich ins Bett steckte. Wie gerne hätte ich jetzt meiner echten Mama gute Nacht gesagt! Gedachte Personen sahen bei mir eher wie Puppen oder Trickfilmfiguren aus. Einen realen Menschen zum Leben zu erwecken, gelingt mir bis heute nicht. Zur Not genügte mir Kuscheln mit Hugo, der war wenigstens aus richtigem Stoff.

 

*

 

In dieser Nacht gab es für meine Eltern so gut wie keinen Schlaf. Sie hatten sofort die Notfallnummer angerufen, um von dem Telefongespräch zu berichten. Der diensthabende Beamte gab die Meldung zu Protokoll und informierte den leitenden Kommissar. Sonst geschah nichts. Die Stunden vergingen ohne ein weiteres Lebenszeichen ihres Kindes und ohne eine Nachricht von der Polizei. Sie verbrachten die Zeit mit Rekapitulieren, was sie durch den kurzen Anruf alles erfahren hatten und trösteten sich gegenseitig damit, dass sie nun wenigstens wussten, dass es ihrem Sohn den Umständen entsprechend gut ging. Aber das hieß nicht, dass sie sich weniger Sorgen machten. Im Gegenteil - die Männerstimme hatte sich äußerst wütend angehört. Mein Vater hatte das aufgeschnappte Wort sofort in den Computer eingegeben und herausgefunden, dass es sich um ein recht derbes polnisches Schimpfwort handelte. Vielleicht ein Hinweis darauf, wohin Simon verschleppt worden war? Früh am nächsten Morgen erschienen zwei Kriminalbeamte, um das Telefon anzuzapfen. Natürlich stimmten meine Eltern zu, obwohl sie sich nicht vorstellen konnten, dass jemand Lösegeldforderungen stellen würde. Schließlich waren wir nicht wohlhabend, geschweige denn reich.

„Sie wollen ihn studieren“, sagte mein Vater. „Simon ist jetzt garantiert außer Landes, irgendwo im Ostblock oder wer weiß wo. Ich hoffe bloß, dass sie ihm nichts antun.“

Der Gedanke machte meiner Familie viel Angst, die Sorge wuchs. Leider schenkte die Kripo der Ansicht meiner Eltern überhaupt keine Aufmerksamkeit.

 

*

 

Nach dem Frühstück bekam ich bald Besuch. Anna führte zwei Männer ins Esszimmer. Sie redeten untereinander in einer Sprache, die der im Haus gesprochenen ähnlich klang, aber doch irgendwie anders. Später erfuhr ich, dass es Russisch war. Meine Bewacherin, die offensichtlich kein Russisch konnte, redete mit den beiden in einer weiteren Sprache. Die kannte ich von zu Hause, weil sich meine Mama ab und zu auf Englisch mit mir unterhielt. Sie meinte, dass ich dann zweisprachig aufwachsen würde, aber Englisch war nicht so mein Ding. Ich verstand zwar einiges davon, sprechen wollte ich es jedoch nicht. Immerhin bekam ich auf diese Art etwas von dem Gespräch der Erwachsenen mit, ohne dass die es merkten. Schließlich brachten sie mich über einen Innenhof zu einem flachen, unscheinbaren Gebäude ohne Fenster. Als das Licht aufflammte, bemerkte ich, dass hier alles ebenso weiß gestrichen und makellos sauber war wie im Labor des Instituts. Viele von den Geräten, die hier standen, hatte ich dort schon gesehen. Allerdings gab es noch etliche Sachen, die ich bisher nicht kannte.

„Dann wollen wir mal“, sagte der jüngere Mann, der schwarze Haare sowie einen Vollbart trug auf Englisch und rieb sich erwartungsvoll die Hände. Ich seufzte und fügte mich meinem Schicksal.

5.

 

Dr. Riefert tauchte am späten Vormittag in Begleitung von Bernd beim Polizeirevier auf und erzählte eine abenteuerliche, aber durchaus glaubhafte Geschichte.

„Nach meinem Anruf bin ich die gesamte Strecke zum Labor auf etwas anderem Wege zurückgefahren“, berichtete er. „Erst dort fiel mir auf, dass mein Handy fehlte. Ich musste es in dem Schnellimbiss vergessen haben, wo ich unterwegs Rast gemacht hatte. Als ich beim Zweitlabor ankam, war es schon so spät, dass ich beschloss, an Ort und Stelle zu übernachten. Leider gibt es noch immer keinen Festnetzanschluss in unserem Dschungelcamp, deshalb konnte ich mich nicht bei Dr. Richter melden. Heute Morgen setzte ich mich sofort nach dem Hellwerden wieder ins Auto und untersuchte die nähere Umgebung des Labors. Dabei fand ich den Van des Instituts mehr zufällig auf einem Wanderparkplatz, keine fünf Fahrminuten entfernt. Mein Assistent lag gefesselt und geknebelt auf der Rückbank!“

Bernd nickte bestätigend und ergänzte: „Ich war heilfroh, Dr. Riefert zu sehen, da ich schon die komplette Nacht so verbracht hatte. Gestern Nachmittag, als ich den Kleinen zum Institut zurückbringen wollte, stand ein dunkler Van mit Warnblinklicht am Straßenrand. Eine Frau stieg aus und fragte, ob ich ihr Starthilfe geben könne. Natürlich stimmte ich zu. Als ich die Motorhaube öffnete, presste mir jemand von hinten einen Lappen mit Betäubungsmittel aufs Gesicht. Es ging verdammt schnell. Irgendwann mitten in der Nacht bin ich mit irren Kopfschmerzen auf diesem Parkplatz aufgewacht und konnte mich nicht rühren. Der Junge war weg, mein Handy ebenfalls.“

Der Doktor führte die Kriminalbeamten sowohl zu dem abgelegenen Zweitlabor als auch zu der kleinen Lichtung, auf der ich in das zweite Fahrzeug umgestiegen war und wo er Bernd angeblich gefunden hatte. Niemand stellte die Geschichte in Frage. Es passte alles zusammen. Viele Reifenspuren des Vans belegten, dass dieser wirklich dort gestanden hatte. Weitere Abdrücke stammten von einem anderen Wagen. Da es kein ständiges Personal im Zweitlabor gab, konnten lediglich die beiden Verdächtigen über meine An- oder Abwesenheit Auskunft geben. Sämtliche Aussagen deckten sich. Nichts deutete darauf hin, dass dies eine ‚große Verschwörung‘ war, woran meine Eltern mittlerweile felsenfest glaubten.

 

*

 

Die Untersuchung dauerte endlos. Ständig wollten die Männer, dass ich etwas tat. Sie baten mich auf Russisch und auf Englisch. Ich stellte mich dumm und zuckte nur mit den Achseln. Ein bisschen Spaß machte es, die Gesichter zu beobachten, wie sie zunehmend genervter wurden und immer wieder mit der Sprechanlage drüben im Haus anriefen. Die Frau übersetzte mir, was die Männer wollten, ich erklärte ihr daraufhin, dass ich es nicht konnte. Schließlich fluchte der jüngere Doktor irgendwas und sagte streng: „Du machst jetzt, was wir sagen oder du wirst eingesperrt und kommst nie wieder zu deinen Eltern zurück!“

Ich blickte ihn erschrocken an, konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen kamen. Der Wissenschaftler bemerkte stirnrunzelnd etwas auf Russisch, was seinen Partner zum Grinsen brachte. Sehr deutlich formulierte er: „Na, sieh mal an, der kleine Mann versteht uns also! Nicht wahr, Simon?“

Ich schüttelte erst den Kopf, merkte dann, wie dämlich das war und nickte zerknirscht. Der Jüngere knurrte etwas, doch der Ältere lachte schallend. Er knuffte mich in die Seite und sagte: „Du bist echt ein cleverer Bursche. Bestimmt kannst du uns ganz viel zeigen, wenn du möchtest.“

Ich ärgerte mich zwar über mich selbst, aber der Spaß an dem Spiel war längst vorbei. Ich hatte Hunger, Durst und wollte absolut nicht mehr. Das sagte ich dann auch - auf Englisch. Daraufhin legten wir eine Pause ein. Danach ging es allerdings endlos weiter. Nun, da die Wissenschaftler wussten, dass ich sie zumindest ein bisschen verstand, steigerten sie ihre Ansprüche. Genau erinnere ich mich heute nicht mehr daran, was sie alles von mir wollten. Es war sehr viel. Und es endete keinesfalls am Abend dieses ersten Tages, denn am nächsten Morgen fingen sie schon früh wieder an. Ich weiß nur noch, dass ich ihnen schließlich einige harmlose Dinge zeigte, nur damit sie mich endlich mal in Ruhe lassen sollten. So ließ ich ein Plastikboot in einer gedachten Badewanne schwimmen, warf es mit einem vorgestellten kleinen Ball um und gab den Männern solche Gummibälle zum Fühlen. Allerdings lösten sich die Sachen immer schon nach kurzer Zeit auf, sobald die Doktoren sie in die Hand nahmen. Das schien sie zu enttäuschen. Doch je mehr ich ihnen zeigte, desto mehr wollten sie. Ruhe bekam ich nur, wenn sie merkten, dass ich wirklich nicht mehr konnte.

Auf diese Weise vergingen drei endlos lange Tage. Abends weinte ich beim Gedanken an meine Ma. Aber ich hatte keine Energie, um mir irgendetwas auszudenken. Zu sehr forderten mich die beiden Männer. Sie erschienen jeden Morgen nach dem Frühstück und gingen erst nach einem späten Abendessen wieder. Dazwischen saugten sie jedes bisschen Vorstellungskraft aus mir heraus, das sie bekommen konnten. Sie verlangten immer schwierigere Sachen. Manchmal wusste ich nicht, was zu tun war, weil ich die Wörter nicht verstand. Aber viel öfter kam es vor, dass sie Dinge von mir forderten, die ich nicht beherrschte. Zum Beispiel wollten sie von mir, dass ich durchs Zimmer schwebe. Ich blickte sie nur hilflos und verzweifelt an. Wie sollte ich das machen? Auf die Idee, dass dieses ‚Schweben‘ auf unendlich viele Arten für mich erreichbar war, kam ich nicht. Zu meinem Glück kannten sich die beiden Männer ziemlich wenig mit kleinen Kindern aus und wie geradeaus die Gedankengänge in diesem Alter nun mal sind. Deshalb gaben sie es irgendwann auf und sagten sich, dass ich so was wohl wirklich nicht hinbekäme. Sie hätten mich garantiert noch wesentlich besser bewacht, wenn sie geahnt hätten, wie einfach Schweben für mich war - bloß, dass ich es völlig anders genannt hätte. Ich konnte sie ebenfalls davon überzeugen, dass ich nicht dazu in der Lage war, Gegenstände kaputtzumachen oder zu verändern, ohne sie zu berühren. So was lag auch nicht in meiner Macht. Dass jemand anders diese Dinge für mich erledigen konnte, fiel mir Gott sei Dank überhaupt nicht ein. Indem mich die Männer keine Minute lang zur Ruhe kommen ließen, beschränkten sie meine überbordende Fantasie auf ein absolutes Minimum. Auch das wurde ihnen glücklicherweise nie richtig bewusst. Nur so ist es zu erklären, dass sie selbst nach zahllosen Untersuchungsstunden noch immer relativ wenig über mein tatsächliches Potential wussten und mich folglich radikal unterschätzten.

Am Morgen des vierten Tages brachte nicht Anna mir das Frühstück, sondern die kalte Frau, die mich hergebracht hatte. Diese war schon länger nicht mehr bei mir aufgetaucht, da sie meine Betreuung normalerweise dem Dienstmädchen überließ. Sie sagte: „Heute hast du mal frei, Simon. Die beiden Doktoren haben etwas anderes zu tun. Ich soll dich von Anna fragen, ob du unten auf dem Hof spielen möchtest. Sie meint, du brauchst dringend frische Luft. Und ich finde, sie hat recht. Du siehst blass aus, Kleiner.“

Auch wenn ich die Frau absolut nicht leiden konnte, musste ich zugeben, dass mich das Angebot total freute. Endlich mal rausgehen! Wie der Blitz zog ich mich an. Meine Besucherin war schon wieder runtergegangen, doch als ich an die Tür klopfte, wurde sie sofort von Anna geöffnet.

„Gehen wir raus?“, fragte ich aufgeregt. Ich wusste, dass sie mich nicht gut verstehen konnte, aber sie lernte meine Sprache ziemlich rasch.

„Raus, ja“, nickte sie lachend. Sie trug einen Wintermantel und Stiefel. Draußen war es eisig kalt. Meine dünne Fleecejacke war überhaupt nicht für dieses Wetter gedacht, auch nicht meine Halbschuhe. Als ich vor ein paar Tagen - es kam mir vor wie eine Ewigkeit - zum Institut gefahren war, um dort zweimal zu schlafen, hatten wir schönstes Herbstwetter gehabt. Jetzt wurde es auf einmal Winter. Aber das machte mir rein gar nichts. Ich genoss die frische Luft, zog mir einfach eine warme Winterjacke an und eine Mütze auf den Kopf. Anna guckte erst etwas besorgt, als ich jedoch lachte und überhaupt nicht zu frieren schien, entspannte sie sich. Ich rannte trockenes Laub aufwirbelnd über den Hof. Es stammte von einer uralten Eiche, die jenseits der hohen Mauer wuchs und deren Zweige kahl ins blasse Morgenlicht ragten. Sehnsüchtig blickte ich zu den Ästen hinauf. Schon immer war ich ein Klettermax gewesen, und dieser Baum sah so verlockend aus, wie nur was. Allerdings hatte Anna ihre Augen wachsam auf mich gerichtet. Ich hütete mich davor, ihr einen Anlass zu geben, mit mir zu schimpfen. Vermutlich hätte es ihr gar nicht gefallen, wenn ich an der glatten Mauer emporgestiegen wäre und mich auf den höchsten Ästen dieses majestätischen Baumes niedergelassen hätte. Schwer war es für mich nicht - Leitern und Trittstufen stellten meine Spezialität dar. Sie waren so einfach zu erdenken, dass es sogar ab und zu bereits unbeabsichtigt geschehen war. Mit solch einer Kletteraktion hatte ich die Erzieherinnen im Kindergarten einmal mächtig geschockt und meine Eltern in Verlegenheit gebracht. Zumindest hatte die darauffolgende Gardinenpredigt bewirkt, dass ich danach mehr über mein Tun und die möglichen Folgen nachdachte. Das war auch gut so, denn wenn Anna gemerkt hätte, wie einfach ich in der Lage war, die Mauer hinaufzuklettern, wäre sie garantiert nicht mit mir rausgegangen. Ich begnügte mich also damit, die Blätter durch die Luft fliegen zu lassen. Sie waren wie kleine Segelflugzeuge für mich. Deshalb segelten sie sicherlich etwas länger, als sie es normalerweise getan hätten und auch in Richtungen, die der Wind nicht unbedingt vorgab. Aber wenn Anna das komisch fand, sagte sie zumindest nichts. Sie lachte nur und warf ebenfalls Blätter in die Luft. Ich ließ ihre ebenso weit segeln wie meine. Unter dem Laub lag ein Stück Holz. Ich hob es auf, um es genau zu betrachten. Irgendwie sah es aus wie ein Handy, flach und rechteckig. Zum Spaß tippte ich ein wenig darauf herum. Dann kam mir die Erleuchtung: Dies hier war ein Handy für mich! Ich blickte zu Anna hinüber, die einige Meter entfernt stand. Zum Glück sah sie gerade mal nicht in meine Richtung. Rasch steckte ich meinen Schatz unter die Jacke, lief zu ihr und sagte: „Ich habe Hunger. Können wir wieder reingehen?“

„Reingehen?“

„Ins Haus gehen.“ Ich deutete auf die Tür. Dann klopfte ich auf meinen Bauch. „Hunger.“

Zur Sicherheit zog ich die Schultern hoch und machte: „Brr, kalt!“

Das verstand Anna endlich. „Kalt? Ah - Haus!“

Ich wäre gerne noch länger draußen geblieben, doch ich wollte ungestört sein, um meine Entdeckung auszuprobieren. Anna war zwar nett, aber sie wusste, dass ich auf keinen Fall telefonieren sollte. Also gingen wir wieder in mein Gefängnis, das Dienstmädchen begleitete mich aufs Zimmer.

„Geh spielen“, sagte sie. „Ich Essen mache.“

Ungeduldig wartete ich, bis sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. Dann zog ich das Holzstück unter der Jacke hervor. Ich hatte noch nie mit einem Handy telefoniert. Zuschauen war nicht das Gleiche, wie es selbst zu tun. Ich erinnerte mich an das Gefühl, das ich bei meinem ersten Anruf zu Hause gehabt hatte. Wieder konzentrierte ich mich aufs Äußerste und wartete darauf, dass es tutete. Aber es tat sich nichts! Enttäuscht blickte ich auf das Stück Holz und stellte fest, dass es wirklich nur ein solches war. Ich konnte mir das Handy nicht vorstellen! Leicht entsetzt kam mir der Gedanke, dass ich mir vielleicht gar nichts mehr ausdenken konnte, doch bei anderen Dingen ging es noch prima. Nur mit dem Handy klappte es nicht. Vermutlich, weil ich zu fixiert darauf war und es unbedingt wollte. Und weil das Holz nicht echt genug aussah. Während ich enttäuscht dasaß, überlegte ich, wie das Telefon bei uns zu Hause ausgesehen hatte. Die Vorstellung gelang mir recht leicht. Es war ein kleines Gerät, das man in eine Ladestation stellen konnte. Zum Telefonieren nahm man es irgendwohin mit. Es hatte Tasten und ein Display, auf dem die Nummer des Anrufers angezeigt wurde. Meine Erinnerung daran wurde immer lebendiger. Plötzlich war das Telefon da. Es stand direkt vor mir in der Box. Ich brauchte nur danach zu greifen, zögerte jedoch. Zum ersten Mal misstraute ich meiner eigenen Fantasie. Aber schließlich griff ich beherzt zu und hielt das Gerät an mein Ohr. Ich stellte mir vor, wie es zu Hause klingelte, hörte es tuten und strahlte. Es dauerte ziemlich lange, knackte zwischendurch ein paarmal und tutete danach anders weiter. Endlich vernahm ich eine bekannte Stimme.

„Ja, wer ist da?“

„Hallo Mama!“, rief ich begeistert. „Ich bin es, Simon! Ich telefoniere mit unserem Telefon, stell dir vor!“

„Simon!“ Meine Mutter kreischte fast. Dann stöhnte sie, ein dumpfes Poltern ertönte.

„Mama? Geht es dir gut?“, fragte ich besorgt.

„Ja, mein Schatz, natürlich ... Wo bist du?“

Stimmen erklangen im Hintergrund, ein paar komische Geräusche und ein Schniefen, als würde meine Mutter sich die Nase putzen.

„Mama? Ich bin in einem großen Haus. Anna ist hier und jeden Tag holen mich zwei Doktoren, die Sachen mit mir machen. Und da sind noch eine Frau und ein Mann, die kommen nur manchmal. Sie haben mich von dem Parkplatz abgeholt und sprechen eine komische Sprache. Die heißt Polska. Die Doktoren reden englisch mit mir ...“

Ich sprudelte alles auf einmal hervor. Mama gab ein merkwürdiges Geräusch von sich. Es hörte sich an, als ob sie lachen wollte, aber eigentlich weinen musste. Ihre Stimme klang merkwürdig, als sie wieder sprach.

„Geht es dir gut, Simon? Ich hoffe, sie tun dir nicht weh und du bekommst alles, was du brauchst!“

„Ich bin okay, Mama“, beruhigte ich sie. „Ich möchte nur so gerne nach Hause, aber sie lassen mich nicht! Sie wollen auch nicht, dass ich mit euch telefoniere, doch ich habe mir ein eigenes Telefon gemacht, genau das gleiche wie bei uns!“

Ich war zugegebenermaßen mächtig stolz auf mich. Mama lachte wieder etwas und schluchzte gleichzeitig.

„Wir haben dich so sehr vermisst, Simon! Wenn wir gewusst hätten, wo du bist, wären wir längst gekommen und hätten dich geholt. Die Polizei sucht überall nach dir. Doch sie hat überhaupt keine Spur, wo du abgeblieben sein könntest. Es ist wunderbar, dass du es geschafft hast anzurufen.“

Ich hörte Anna auf dem Flur. Sie war schon fast da!

„Ich muss jetzt Schluss machen“, sagte ich eilig. „Aber ich rufe noch mal an, ja?“

„Ja, melde dich bald wieder!“

Anna schloss die Tür auf. Hastig drückte ich den roten Knopf am Telefon. Damit war das Gespräch beendet, die Stimme meiner Mutter verstummte. Ich legte das Gerät beiseite und blickte dem Dienstmädchen völlig unschuldig entgegen. Anna sah mich seltsam an. Sie stellte das Tablett mit dem Mittagessen achtlos auf den Tisch und ging zielstrebig auf das Holzstück zu, das auf dem Boden neben meinem Bett lag. Dabei murmelte sie etwas auf Polnisch. Leider verstand ich noch kein Wort von dieser Sprache. Sie hob das Teil auf und hielt es mir unter die Nase.

„Wo das da?“, fragte sie streng.

„Ich habe es vom Hof mitgenommen, zum Spielen.“

„Du sprechen Mama“, stellte Anna vorwurfsvoll fest.

Ich blickte sie groß an. Woher wusste sie das bloß? Hatte sie mich von draußen gehört?

„Ich habe doch nur gespielt“, behauptete ich. Leider konnte ich noch nie gut lügen. Das Dienstmädchen sah mir sofort an, dass das nicht stimmte. Oder wusste sie es besser? Jedenfalls schüttelte sie energisch den Kopf und sagte: „Mit Mama Telefon. Ich weiß. Wie im Zimmer.“

Ich war sprachlos, ahnte damals nichts von der im Raum installierten Überwachungskamera. Diese Leute ließen mich nie aus den Augen. Deshalb hatte Anna auf dem Monitor gesehen, was ich tat und gehört, was ich sagte. Mir war das Ganze nicht geheuer. Ich überlegte, ob die Erwachsenen ebenfalls über besondere Fähigkeiten verfügten. Vielleicht konnten sie durch Wände sehen? Das war zwar ziemlicher Blödsinn, aber ich war halt noch klein und hatte sehr viel Fantasie. Da kommen einem schon mal solche Gedanken.

„Mach nicht“, sagte Anna. „Du nicht Telefon!“

Sie sah mich fast flehentlich an. Anscheinend wollte sie Stress mit dem polnischen Paar vermeiden. Ich hatte auch nicht vergessen, wie der Mann mich bei meinem letzten Telefonat mit dem defekten Apparat angeschrien hatte. Ich schüttelte erst den Kopf, dann nickte ich und streckte zustimmend den Daumen hoch.

„Okay, ich mach’s nicht wieder, versprochen!“

Ich wollte nicht, dass Anna Ärger bekam. Und ich mochte selbst eigentlich auch keine Schimpfe mehr. Vielleicht würde sie den anderen nichts davon erzählen, wenn ich ihr mein Wort gab? Sofern die Erwachsenen mich im Zimmer beobachten konnten, musste ich mir halt etwas Neues einfallen lassen.

 

*

 

Meine Familie war unendlich erleichtert, von mir zu hören. Doch der Anruf gab der Polizei weitere Rätsel auf. Er ließ sich verständlicherweise nicht zurückverfolgen. Die Beamten vom Kriminalamt löcherten meine Eltern mit der unangenehmen Frage, was ich mit ‚eigenes Telefon gemacht‘ gemeint haben könnte. Sie gaben vor, es nicht zu wissen, da die Ermittler ihnen ohnehin keinen Glauben geschenkt hätten.

Neben vielen nutzlosen Hinweisen aus der Bevölkerung gab es zumindest einen brauchbaren. Er stammte von der Angestellten eines McDonald’s Restaurants an der deutsch-polnischen Grenze. Das Mädel behauptete, mich an einem Abend gesehen zu haben, und konnte auch meine Begleiter beschreiben. Daraus schlossen die Beamten nach einiger Recherche, dass ich vermutlich von dem polizeilich bekannten Geschwisterpaar Gregor und Anastasia Nowaczek entführt worden war und mich höchstwahrscheinlich im Nachbarland aufhielt. Die Nowaczeks waren berüchtigt für ihre kriminellen Machenschaften. Man konnte ihre Dienste regelrecht mieten - ob nun Drogenschmuggel, Diebstahl, Handel mit Diebesgut oder Entführungen. Nachdem meine Eltern dies erfahren hatten, rannte mein Vater wie elektrisiert im Zimmer auf und ab.

„Wir müssen etwas unternehmen! Diese Idioten wissen überhaupt nicht, womit sie es zu tun haben ... Simon mag vielleicht nicht in Lebensgefahr sein, aber wenn sie zu lange brauchen, um ihn zu finden, ist er auf dem Weg nach Kasachstan oder sonst wohin!“

„Die Polizei tut doch schon, was sie kann“, meinte meine Ma diplomatisch und versuchte dabei, keine Maschen zu verlieren. Sie strickte verbissen, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Während meiner Abwesenheit hatte sie bereits etliche Päckchen Wolle verstrickt. Meine Sammlung an Wollmützen, Pullovern, Schals und Socken war beträchtlich angewachsen.

„Die Polizei weiß nicht einmal, was sie da tut!“, behauptete mein Vater erregt. „Die Beamten stolpern blind durch die Gegend und finden ab und zu mal ein Körnchen. Doch wenn sie eins entdecken, dann können sie nicht erkennen, was sie da gefunden haben, weil sie die Wahrheit nicht sehen wollen. Nein, wir müssen etwas tun, Schatz!“

Meine Mutter blickte von ihrer Strickarbeit auf. „Aber was denn?“, fragte sie erschöpft. Das vormittägliche Telefonat mit mir und die Aufregung danach hatten sie ziemlich mitgenommen.

Mein Pa blieb stehen, sah seine Gattin an. „Ich würde gerne selbst mit der Frau von diesem Schnellimbiss reden“, meinte er und nahm seine unermüdliche Wanderung wieder auf.

„Aber Simon ruft vielleicht nochmal an. Und ich bleibe garantiert nicht hier, während du versuchst, ihn zu finden. Das halte ich nicht aus ...“

„Dann komm und nimm das Handy mit!“, war die Antwort, die schon aus dem Flur erklang. Nicht ohne Grund hatten sie vor mehreren Tagen eine Rufumleitung auf Mamas mobiles Gerät eingerichtet, damit sie eben nicht immer zu Hause neben dem Telefon sitzen musste. Sie verloren keine Zeit, packten ein paar Sachen zusammen, sowohl für sich selbst als auch für mich und stiegen ins Auto. Mama rief von dort aus ihre Eltern an.

„Wir fahren jetzt zu McDonald’s und dann wahrscheinlich nach Polen.“

Oma meinte bloß: „Passt auf euch auf, Kinder. Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen, glaub mir. Und bringt den Jungen wieder mit, ja?“

Mein Vater fuhr ohne Pause bis zu dem Parkplatz des Schnellrestaurants, auf dem der Van mit den Nowaczeks und mir vor einigen Tagen gehalten hatte. Ein Bediensteter fragte routinemäßig nach der Bestellung. Mein Papa antwortete: „Zweimal das Bigmac-Menü mit Cola und eine Auskunft bitte.“

Der Mann sah irritiert auf. „Was suchen sie denn?“

„Wir suchen jemanden“, schaltete sich meine Mama ein. „Kennen Sie eine Frau namens Hannah Monheim? Sie soll hier arbeiten.“

„Die hat hier gearbeitet“, sagte der Angestellte. „Und zwar genau bis vorgestern.“

„Wissen Sie zufällig, wie man Frau Monheim erreichen kann oder kennen Sie jemanden, der es uns sagen könnte?“, hakte mein Vater nach. Er bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Der Bursche - vermutlich Student - sah das Paar stirnrunzelnd an. „Sind Sie von der Presse?“, fragte er interessiert. Mein Papa beugte sich leicht vor. „Nein“, gab er ruhig zurück. „Wir sind die Eltern des entführten Jungen.“

Die Augen des Angestellten wurden rund.

„Tatsächlich? Ohne Scheiß?“

Er blickte sich sichernd um, ob sie unbeobachtet waren. Zum Glück befand sich sonst niemand in der Nähe. Dann raunte er ihnen zu: „Sie sollten sich keine großen Hoffnungen machen, dass Hannah mit Ihnen redet. Sie hatte die Nase gestrichen voll von dem Polizei-Rummel, deshalb hat sie das Handtuch geworfen, ihren Telefonanschluss abgeklemmt und sich komplett zurückgezogen. Doch wenn Sie wirklich die Eltern des entführten Kindes sind, dann haben Sie vielleicht noch eine kleine Chance ...“

Er kritzelte rasch etwas und schob meinem Vater zusammen mit der Bestellung einen Zettel zu. „Hier ist die Adresse. Aber sagen Sie nicht, dass Sie die von mir haben! Die Frau bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich jemanden zu ihr geschickt habe!“

„Danke“, murmelte mein Pa. „Sie haben uns sehr geholfen.“

„Bedanken Sie sich nicht zu früh.“

Der Angestellte winkte zum Abschied. Es dauerte keine zwanzig Minuten, bis sie an ihrem Ziel anlangten. In der ruhigen Wohngegend standen mehrstöckige Häuser mit kleinen, billigen Mietwohnungen. Auf den abgenutzten Klingelschildchen war nirgendwo der Name Monheim zu finden, aber da nur eins davon völlig leer war, musste es das gesuchte sein. Es war genau, wie der Angestellte es vorausgesagt hatte. Hannah Monheim wollte mit niemandem über die Geschichte reden.

„Bitte gehen Sie“, flehte sie inständig, mit Tränen in den Augen, sobald sie meine Eltern erblickte. „Ich habe nichts mehr zu sagen. Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“

„Geben Sie uns eine Minute“, bat meine Mama ebenso flehentlich zurück. „Wir sind keine Reporter! Ich bin Simons Mutter und das ist sein Vater. Wir sind den weiten Weg hierhergereist, um selber nach unserem Sohn zu suchen. Und Sie sind die einzige Spur, die wir haben.“

„Aber ich habe der Polizei schon alles gesagt, was ich weiß. Wieso denken Sie, dass ich Ihnen helfen kann?“

„Weil Simon ... anders ist als andere Kinder. Und weil die Polizei das nicht wahrhaben will. Sie haben eventuell Dinge bemerkt, die Sie keinem erzählt haben, da sie Ihnen zu merkwürdig oder unglaubwürdig vorkamen. Oder Sie haben darüber gesprochen und man hat uns diese Dinge verschwiegen, weil sie als unwahrscheinlich abgetan wurden. Glauben Sie mir, Sie können uns unter Umständen viel besser weiterhelfen als die Polizei.“

Die Frau zögerte noch einen Moment und meinte dann seufzend: „Also schön, kommen Sie rein.“

 

*

 

Ich wagte es nicht mehr, zu telefonieren, nicht mal auf der Toilette. Wenn diese Leute durch Wände gucken konnten, war ich auch dort nicht wirklich allein. Schließlich besuchte mich meine kalte Gefängniswärterin in der Zelle. Sie war freundlich zu mir, was mich zu der Überzeugung brachte, dass Anna ihr nichts von dem Telefonat erzählt hatte. Puh, Glück gehabt! Innerlich atmete ich auf. Fast hatte ich befürchtet, dass eine Strafe auf mich warten würde. Aber Anna hatte dichtgehalten. Also war ich umso entschlossener, ihr gegenüber mein Wort nicht zu brechen.

„Morgen kommt noch jemand, um dich zu besuchen“, meinte die Frau lächelnd. „Er möchte, dass du ihm alles zeigst, was du kannst. Wenn du dir Mühe gibst, darfst du bald nach Hause.“

„Das hast du schon so oft gesagt“, brummelte ich. „Aber dann darf ich doch wieder nur ins Zimmer zurück.“

„Diesmal ist es anders. Der Besucher morgen wird sich deine Künste genau ansehen. Er ist der Boss. Wenn er sagt, dass du gehen kannst, dann schicken wir dich nach Hause. Es liegt also bei dir.“

„Was ist das denn für ein Mann?“, fragte ich neugierig.

„Er sucht jemanden wie dich, der besondere Fähigkeiten hat. Er möchte wissen, wie das funktioniert, was du machst. Wenn er es nicht herausfinden kann, wird er sehr böse. Und dann geschehen schlimme Dinge. Das möchtest du doch nicht? Also zeig ihm lieber alles.“

An meinem erschrockenen Gesichtsausdruck musste die Frau gemerkt haben, dass sie einen Fehler gemacht hatte, doch es war zu spät. Ich verzog weinerlich das Gesicht und jammerte: „Ich will nicht, dass der Mann kommt! Schick ihn bitte wieder weg, ja!“

Die Frau sah aus, als wollte sie mich anfassen, überlegte es sich jedoch scheinbar anders und sah mich nur streng an.

„Du brauchst dich überhaupt nicht zu fürchten, wenn du genau das machst, was der Boss sagt. Dann geschieht dir gar nichts. Im Gegenteil - wenn du brav mitmachst, darfst du nach Hause zu deiner Familie. Das möchtest du doch, oder nicht?“

Ich schniefte und nickte.

 

*

 

Frau Monheim führte meine Eltern in ihre kleine, kärglich eingerichtete Wohnung im dritten Stock.

„Es tut uns leid, dass wir Sie belästigen“, entschuldigte sich meine Ma. „Aber vielleicht verstehen Sie, wie verzweifelt wir sind. Die Polizei sucht bereits so lange vergeblich nach Simon. Wir glauben, dass die Ermittler wichtige Hinweise übersehen haben könnten, weil sie nicht begreifen wollen, wie ... besonders unser Kind ist. Fällt Ihnen irgendetwas ein, das ungewöhnlich war?“

„Also, Ihr Kleiner kam mir schon etwas komisch vor“, gestand Hannah mit entschuldigendem Blick. „Ich wollte es eigentlich keinem erzählen, aber während des Essens hat er merkwürdige Sachen gemacht. Zufällig habe ich beobachtet, wie er sich einen Strohhalm nahm und daran saugte. Er tat so, als würde er einen Becher in der Hand halten. Das machen viele Kinder, ist also nix Besonderes. Doch dann stellte er sein imaginäres Getränk mit dem Trinkhalm darin auf dem Tisch ab - und der Halm schwebte in der Luft! Es war nur einen Moment lang zu sehen, weil der Mann, der dabei war, das Teil direkt ergriff und hinlegte. Aber ich bin mir sicher, dass es so war! Oder meine Augen haben mir einen echt bösen Streich gespielt. Sofort sprang der Kerl auf und fluchte auf Polnisch. Er schüttelte die Hände und benahm sich, als sei ihm etwas über die Hose gelaufen. Doch da war nichts an seiner Kleidung, jedenfalls konnte ich von meinem Platz aus nichts erkennen. Er sah den Jungen giftig an, der jammerte: ‚Du hast meinen Saft umgekippt‘.“

Die Frau schüttelte bei dem Gedanken daran den Kopf. „Der Kleine hatte überhaupt kein Getränk bestellt. Er mochte nichts von der Karte und meinte, er wolle Apfelsaft.“

Mein Papa lachte auf. „Das ist typisch Simon. Er möchte immer das haben, was es gerade nicht gibt.“

„Was geschah dann?“, bohrte meine Mutter ungeduldig. Mit dem, was die Frau bisher von sich gegeben hatte, konnten meine Eltern rein gar nichts anfangen.

„Nichts Besonderes. Sie haben bezahlt und sind gegangen. Mehr weiß ich nicht, tut mir leid. Das habe ich den Bullen auch schon erzählt.“

„Können Sie sich noch daran erinnern, ob diese Leute irgendwas gesagt haben?“, hakte mein Vater nach. Er konnte nicht glauben, dass ihr Besuch bei Frau Monheim völlig umsonst gewesen sein sollte.

„Eigentlich nicht ... Sie sprachen polnisch miteinander. Ihr Sohn schien etwas zu suchen und folgte nicht sofort. Da wurde der Mann grob zu ihm. Ich weiß noch, dass mir der Kleine irgendwie leidtat. Ich dachte, es wäre sein Vater und malte mir aus, dass der Junge es zu Hause gewiss nicht leicht hätte mit solchen Eltern.“

Frau Monheim sah schon wieder schuldbewusst aus. „Sorry, ich ahnte ja nicht, dass er gerade entführt wurde.“

„Sie können doch nichts dafür!“, rief meine Mutter entsetzt. „Bitte versuchen Sie nur, sich an alles zu erinnern, was Simon oder einer der Entführer gesagt oder getan haben. War da nicht noch was?“

Die Frau blickte einen Moment lang nachdenklich an meinen Eltern vorbei aus dem Fenster. Dann wurden ihre Augen groß. „Das mir das nicht eher eingefallen ist!“, rief sie. „Da war tatsächlich etwas – das habe ich der Polizei nicht erzählt!“

„Was denn, nun sagen Sie schon!“, platzte meine Mutter heraus, die es nicht mehr aushielt.

„Es war kaum zu hören. Völliger Zufall, dass ich es mitbekam. Ihr Sohn - Simon heißt er, ja? - passierte den Schalter, hinter dem ich stand. Er hatte die Arme um den Körper geschlungen, als wolle er irgendetwas beschützen. Beim Vorbeigehen murmelte er vor sich hin, schien mit jemandem zu sprechen und ihn zu trösten. Er sagte etwas wie: ‚Bald sind wir da - die Frau meint, nur noch hundertfünfzig Kilometer. Mama und Papa kommen ja morgen und holen uns wieder ab, wenn die Doktoren mich untersucht haben. Keine Angst, ich pass auf dich auf.‘

Dann war er vorbei. Ich dachte, es sei bloß ein Spiel.“

An mehr konnte Hannah Monheim sich nicht erinnern. Meine Eltern bedankten sich herzlich bei ihr und wünschten ihr alles Gute für die Zukunft.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht viel sagen konnte“, meinte die Frau beim Abschied an der Tür. „Es würde mich nur interessieren, ob der schwebende Trinkhalm bloß eine Halluzination von mir war.“

Sie blickte meine Mutter erwartungsvoll, flehentlich, zugleich etwas ängstlich an.

„Nein, Sie haben sich das bestimmt nicht eingebildet. Simon hat besondere Fähigkeiten. Wir können es auch nicht genau erklären, doch seine Begabungen sind unserer Meinung nach der Grund dafür, dass er entführt wurde. Geld wollte nämlich bisher niemand von uns haben.“

Sie lachte bitter. „Viel wäre bei uns eh nicht zu holen gewesen. Aber wir hätten es bezahlt, glauben Sie mir!“

Es war bereits dunkel, als meine Eltern das Mietshaus wieder verließen. Dabei beratschlagten sie, was zu tun war.

„Immerhin wissen wir jetzt, in welchem Umkreis wir suchen müssen“, meinte mein Vater und holte eine Karte des Nachbarlandes heraus.

„Aber das Gebiet ist riesig!“, stöhnte meine Mutter. Das Gespräch eben hatte sie mehr mitgenommen als gedacht. Vor allem waren die Informationen sehr dürftig. Dann hatte mein Pa die Erleuchtung.

„Er sprach doch von ‚Doktoren‘, die ihn untersuchen wollten“, überlegte er langsam. „Das könnte bedeuten, dass es in Polen ebenfalls Leute gibt, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und an Simons Fähigkeiten interessiert sind. Es wäre doch möglich, dass in dem Land ein weiteres Institut existiert, bei dem wir suchen sollten - oder zumindest in der Umgebung. Ich denke immer noch, dass unser Sohn an einem einsam gelegenen Ort gefangen gehalten wird, damit ihn niemand erkennt.“

Schon zückte er sein Handy, um einen Arbeitskollegen anzurufen. Dieser hatte einen Internetanschluss zu Hause. Etwas, das damals längst nicht selbstverständlich war. Es dauerte eine Zeit, bis sie einen Treffer landeten. Aber das Wunder geschah. Ein Vergleich mit der Karte erbrachte, dass die Entfernung in etwa hinkam. Der Ort, den sie herausfanden, lag mitten in einer größeren Stadt.

„Egal, auch wenn Simon nicht dort ist, finden wir vielleicht Hinweise auf diese komischen Doktoren“, meinte mein Vater grimmig und startete endlich den Motor.

6.

 

An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen. Immer wieder hörte ich die beunruhigenden Worte der Frau.

„Wenn er es nicht herausfindet, wird er sehr böse ... dann geschehen schlimme Dinge ...“

Ich befürchtete, dass der Mann ärgerlich werden würde, weil er nicht verstand, wie ich das alles machte. Ich hätte es ihm nicht mal ansatzweise erklären können, selbst wenn ich dazu bereit gewesen wäre. Die Angst wurde immer heftiger, je mehr ich darüber nachdachte. Es gab nur einen Ausweg - ich musste hier weg! Aber wie sollte ich das anstellen? Die Tür war verschlossen. Selbst wenn ich rechtzeitig herausfand, wie man den Schlüssel bediente, kam ich nicht ungesehen und unbemerkt nach draußen. Die Großen blieben gewiss noch lange wach und beobachteten mich mit ihren unheimlichen Methoden. Was war mit dem Fenster? Das konnte ich zwar öffnen, doch von außen waren eiserne Gitterstäbe angebracht. Außerdem lag es bestimmt hundert Meter über dem Hof. Na ja, eigentlich waren es ungefähr sechs Meter, aber mir kam es damals sehr hoch vor. Die Höhe an sich war kein Problem, ich hatte schon in höheren Bäumen gesessen und war längere Leitern hinauf- und hinuntergestiegen. Die Gitter bekam ich jedoch nicht auf. Zudem war es stockdunkel draußen und bitterkalt. Alles in allem war es für einen knapp Fünfjährigen reichlich beängstigend. Ich lag also erst mal da und schmiedete Fluchtpläne. Mehr und mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass ich es nicht schaffen würde. Ich war einfach noch zu klein! Selbst wenn es mir gelang, unbemerkt aus dem Haus zu fliehen, war ich ja längst nicht in Sicherheit. Von meinem Fenster aus konnte ich bei Tag nur Wald sehen. Und kein einziger Lichtschein verriet in der Dunkelheit, dass irgendwo da draußen weitere Menschen wohnten. Erst weinte ich ein bisschen, weil ich mich so einsam und elend fühlte. Aber nur leise, damit die Erwachsenen mich nicht hörten. Dann hatte ich auf einmal eine glänzende Idee. Wenn ich nicht alleine fliehen konnte, musste ich mir halt Hilfe ausdenken! Und zwar sehr starke und große Hilfe. Einen Riesen. Natürlich einen netten Vertreter seiner Art, er sollte mir ja nichts tun, sondern bloß die Gitterstäbe von außen verbiegen und mich auf seinen Schultern tragen. Langsam nahm der Gigant in meiner Vorstellung konkrete Gestalt an. Ich kannte ihn aus einer Fernsehsendung. Er hatte ein freundliches Gesicht mit einer dicken Kartoffelnase und trug Fellkleidung. Ich stellte mir vor, wie er über die Mauer stieg, die ihm gerade mal bis zu den Oberschenkeln ging. Er schlich lautlos bis zu meinem Fenster. Sein breiter Kopf tauchte darin auf und füllte einen Großteil der Fensterfläche aus. Rasch und ohne Licht anzumachen, tastete ich nach meinen Sachen, die dank Anna ordentlich auf dem Stuhl lagen. Ich zog mir alles einfach über den Schlafanzug. Die Jacke hatte ich leider nicht, sie hing unten im Flur am Haken. Aber das war egal. Ich zog noch die Schuhe an und schnappte mir Hugo. Den stopfte ich unter den Pulli, um die Hände frei zu haben. Dann sah ich zu, wie mein Helfer mit seinen gewaltigen Pranken das Gitter packte und die Stäbe vorsichtig zur Seite bog. Es sollte ja möglichst leise sein. Ich lächelte den Riesen an, er lachte zurück. Schließlich öffnete ich das Fenster und schwang mich aufs Fensterbrett. Es war eisig draußen, deshalb dachte ich mir einen wärmenden Schneeanzug und eine Mütze aus. Geschickt kletterte ich am Arm des Giganten hoch und krallte mich dabei in das dicke weiche Fell des Pelzumhangs. Blitzschnell war ich auf der Schulter angelangt. Die langen Haarzotteln waren wie geschaffen, um mich daran festzuhalten. Ich war sehr dankbar für diesen Halt, als der Riese sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, um über die Mauer in den Wald zu stapfen.

Ich weiß nicht, wie lange wir mit gewaltigen Schritten durch die Gegend liefen. Von meinem hohen Platz aus konnte ich weit sehen, doch alles war finster und der Wind pfiff um mich her. In dem weichen Fell fühlte ich mich trotzdem geborgen, die zottelige Mähne gab mir sicheren Halt. Der Gang meines Helfers war holprig, sodass ich kräftig durchgeschüttelt wurde. Bei jedem Auftreten schien die Erde zu erbeben, gleichzeitig war jedoch nur das Krachen und Bersten zu hören, mit dem der Riese durch die Bäume brach. Es war nicht einfach, auf die Zweige aufzupassen, doch mein Beschützer war vorsichtig und versuchte alles, damit ich nicht von seiner Schulter gefegt wurde. Endlich kamen wir aus dem Wald heraus und trafen auf eine schmale Straße. Ich hatte zwar keine Ahnung, wo wir uns befanden, aber ein solcher Weg musste irgendwohin führen, wo es Menschen gab. Deshalb folgten wir dem dunklen Band. Das war auch bequemer als sich durch die dicht stehenden Bäume zu quetschen. Der Riese rannte jetzt fast. Er wusste ja genau, dass unsere Flucht bald entdeckt werden konnte und die Leute aus dem Haus dann die Verfolgung aufnehmen würden. Als ich in der Ferne Autoscheinwerfer sah, versteckten wir uns deshalb hinter einer Eiche. Ich machte mich ganz klein, damit ich noch etwas Deckung in den oberen Zweigen fand. Leider hatte der Baum fast keine Blätter mehr, doch das Fahrzeug fuhr trotzdem vorbei. Schließlich war es dunkel und niemand kam auf die Idee, so weit oben nach einem Jungen zu suchen. Es war ein heller Kleinwagen und nicht der große schwarze Van der Nowaczeks. Obwohl ein vorbeifahrendes Auto Menschen bedeutete, die mir hätten helfen können, versteckten wir uns immer, wenn sich eins näherte. Ich konnte nicht sagen, ob meine Verfolger darinsaßen oder nicht, denn meistens hatte ich keinen guten Blick auf die Insassen. Und im Dunkeln sahen mindestens zwei der passierenden Fahrzeuge so aus wie der Van, in dem ich einst gesessen hatte. Ich wusste nicht, in welcher Richtung das Haus lag, deshalb wichen wir jedes Mal aus.

Schließlich entdeckte ich Lichtschein voraus. Ich hatte das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein. Bis heute weiß ich nicht, wie lange unsere Flucht gedauert hat. Beim Näherkommen entpuppten sich die Lichter als eine Art Gasthaus oder Restaurant. Ungefähr hundert Meter entfernt befahl ich dem Riesen, mich abzusetzen. Er packte mich sanft, stellte mich auf die Straße. Dafür hockte er sich hin. Sein sympathisches Gesicht befand sich dicht vor meinem. Erneut grinste er und entblößte dabei unregelmäßig geformte, schiefe Zähne. Ich lachte zurück und streichelte meinem Freund über die Kartoffelnase. „Danke, lieber Riese.“

Er grunzte, richtete sich wieder auf, stapfte lautlos davon - zurück in das geheimnisvolle Irgendwo, aus dem er gekommen war, um mich zu retten. Es hört sich vielleicht komisch an, dass ich mich bei meiner eigenen Fantasie bedankte, aber für mich war dieses Wesen so real, wie etwas nur sein kann. Rasch lief ich auf das hell erleuchtete Gebäude zu und öffnete die Tür. Sie war schwer, ich musste meine ganze Kraft aufbieten. Endlich schaffte ich es und schlüpfte durch den Spalt nach innen. Der düstere Raum, den ich betrat, wurde nur von wenigen spärlichen Lämpchen an den Wänden und auf den Tischen erhellt. Hinter einer Theke stand ein älterer Mann, der rauchte. Ein weiterer Typ saß auf einem der Barhocker und hatte ein Glas vor sich. An der Wand flimmerten die Bilder eines Fernsehers. Ansonsten war die Schankstube leer. Der Barkeeper sah überrascht auf, als die Tür hinter mir zuschlug. Ich muss einen ziemlich zerzausten und erbärmlichen Eindruck gemacht haben, nur im dünnen Pulli, mit einer zerkratzten Wange - das war ein Ast gewesen, den ich nicht gesehen hatte - und mit Fichtennadeln im Haar. Hugo hielt ich an mich gepresst. Der Mann mit dem Glas sprach mich auf Polnisch an. Er wirkte streng und unfreundlich. Als ich ihm nicht antwortete, redete er mit dem Barmann. Er tippte auf seine Uhr, deutete auf mich und schien eindeutig der Meinung zu sein, ich solle wieder verschwinden. Der Raucher drückte die Zigarette aus und kam hinter dem Tresen hervor auf mich zu. Auch er sagte etwas, das ich nicht verstand. Aber er wirkte nicht mürrisch, eher neugierig und besorgt.

„Ich heiße Simon“, sagte ich rasch. „Ich bin den bösen Leuten entwischt, die mich untersuchen wollten. Helft mir bitte!“

Dabei streckte ich flehend die Hand vor. Der Mann sah plötzlich überrascht aus. Er musterte mich eingehend, bevor er sich zu dem anderen Kerl umdrehte, der inzwischen sein Glas leer getrunken hatte und Anstalten machte zu gehen. Er rief ihm etwas zu, deutete auf mich, auf den Fernseher, redete noch schneller und brüllte ohrenbetäubend: „Eva!“

Eine Tür öffnete sich. Heller Lichtschein fiel in den düsteren Schankraum und blendete mich. Die Silhouette einer Frau erschien in dem Rechteck. Erst, als sie auf mich zutrat, erkannte ich, dass sie eine weiße Schürze trug und mich freundlich anlächelte. Der ältere Barkeeper äußerte wild gestikulierend weitere unverständliche Worte. Der andere Mann war wieder nähergetreten und hob mein Kinn, um mich genau anzusehen. Dann nickte er und redete auf den Barmann ein. Dieser hob abwehrend die Hände und deutete auf Eva. Die Frau sah mich groß an und nickte ebenfalls.

„Woher kommst du?“, fragte sie mit starkem Akzent.

„Aus Deutschland“, antwortete ich.

Niemcy“, sagte Eva. Und dann noch viel mehr, das ich nicht verstand.

Danach sah sie mich erneut an. „Wie heißt du, Junge?“

„Simon. Ich will zu meiner Mama. Darf ich sie anrufen?“

„Ja, gleich. Wo ist Mama?“

„Keine Ahnung ... zu Hause wahrscheinlich. Sie wartet darauf, dass ich mich melde.“

In der Zwischenzeit war der Raucher aktiv geworden. Er tippte eine Nummer ins Telefon ein, das auf der Theke stand und sprach aufgeregt in den Hörer.

Die Frau schenkte ihm keine Beachtung und fragte weiter: „Bist du Junge aus Deutschland, den suchen alle?“

„Ja, kann schon sein ...“

Ich war verwirrt. Woher wussten diese Leute von mir? Oder suchten sie einen anderen Jungen? Ich hatte ja keine Ahnung davon, dass die polnische Polizei mein Bild in allen Medien hatte verbreiten lassen und die Männer mich wiedererkannt hatten. Eva nahm meine Hand, um mich in den Nebenraum zu ziehen.

„Komm, hier darfst du nicht, ist Bar. Nicht für Kinder. In Küche ist besser. Schön warm da. Gibt heißen Tee und Essen.“

„Ich muss meine Mama anrufen. Jetzt gleich!“

Ich rührte mich nicht vom Fleck, starrte unverwandt auf das Telefon, in das der Barmann immer noch sprach. Doch die Frau schüttelte den Kopf und zog energischer an meinem Arm. „Alles später. Erst in Küche. Los, komm!“

Widerwillig ließ ich mich mitschleifen. Dann dachte ich daran, dass ich dieses doofe Telefon gar nicht brauchte. Bereits bevor wir an dem kleinen Tisch ankamen, hatte ich es geschafft, mir unser Gerät zu Hause vorzustellen. Triumphierend blickte ich Eva an und hielt den Apparat ans Ohr, den sie nicht sehen konnte. Schon tutete es am anderen Ende. Wieder dauerte es etwas, bis ich die Stimme meiner Ma vernahm. Eva hörte sie auch und sog überrascht die Luft ein.

„Hallo Mama, ich bin abgehauen. Ein Riese hat mir geholfen. Jetzt sitze ich in der Küche von einer Bar und da sind zwei Männer, die Polska sprechen und eine Frau, die Eva heißt. Die kann ein bisschen Deutsch ...“

Meine Ma lachte und schluchzte gleichzeitig. „Das ist großartig, Schatz! Wir sind auf dem Weg zu dir - wo bist du?“

„Ich weiß nicht ... Wo bin ich hier?“

Die letzte Frage war an Eva gerichtet, die dicht neben mir stand und mich ungläubig ansah. Mit zitternden Fingern deutete sie auf meine Hand und krächzte gebrochen: „Was machst du da? Woher kommt Stimme?“

„Ich telefoniere“, sagte ich stolz. „Mit unserem Telefon von zu Hause. Und Mama ist dran. Sie will wissen, wo ich bin. Dann kommt sie und holt mich ab!“

„Gibst du mir mal diese Eva?“, bat meine Mutter.

„Okay ... da!“ Ich hielt Eva das Telefon hin. Sie guckte zweifelnd, rückte aber doch mit dem Ohr näher dran.

„Hallo?“, fragte sie unsicher.

„Hallo, sind Sie Eva?“, erkundigte sich meine Ma.

„Ja, Eva. Sie die Mama von dem Jungen? Wie ... das geht nicht, Junge HAT KEIN TELEFON IN HAND!“ Eva klang jetzt schrill und panisch.

„Der kleine Teufel kann einem wirklich Angst einjagen, nicht wahr? Besser, wir nehmen ihn wieder mit.“

Die Stimme ertönte eiskalt und leicht spöttisch von der offenen Tür her. Darin standen meine Entführer.

„Ich will nicht wieder mit!“, sagte ich trotzig, obwohl mir die Tränen kamen. „Ich bleibe hier bei Eva, bis Mama und Papa mich abholen!“

„Deine Eltern sind weit weg, du kleiner Rotzbengel. Und du gehorchst jetzt oder es setzt was!“

Der Sprecher wirkte sehr wütend und deshalb noch gemeiner als sonst. Drohend schritt auf mich zu. Eva stand auf. Sie redete rasend schnell auf die beiden Neuankömmlinge ein. Dabei stellte sie sich schützend vor mich. Aber der Mann schob sie grob zur Seite und packte mich am Arm. Glücklicherweise hatte ich vorher das Telefon in die andere Hand genommen. Ich ließ es möglichst sanft auf den Boden fallen und hoffte, dass meine Eltern jetzt schweigen würden. So konnte ich behaupten, es gebe kein Telefon. Leider stieß die Frau es mit dem Fuß an, als sie ebenfalls zu mir kam, sodass es wegschlidderte. Zum Glück bemerkte sie es nicht.

„Lass mich los, du fieser Kerl!“, schrie ich. „Sonst rufe ich meinen Riesen, der gibt dir was auf den Hintern!“

„Riese? Haha, guter Witz!“, lachte der Mann hämisch. Doch dann zögerte er und lockerte den Griff, als er den Blick auffing, den ihm die Frau zuwarf. Anscheinend erinnerte er sich plötzlich an die vielen unerklärlichen Dinge, die er mit mir bereits erlebt hatte. Seine Begleiterin schob sich jetzt an ihm vorbei zu mir und lächelte mich etwas schief an. „Beachte meinen Bruder nicht, Simon. Er ist immer so ein Griesgram. Weißt du, er hat sich solche Sorgen um dich gemacht, genau wie ich. Wie konntest du einfach weglaufen und dazu noch im Dunkeln. Mutterseelenallein in dieser gefährlichen Gegend! Wir haben dich die ganze Zeit gesucht.“

„Ich war gar nicht alleine, außerdem mag ich nicht mehr bei euch wohnen. Ihr seid so gemein! Ich will auch nicht von dem Fremden untersucht werden, weil der sowieso nix versteht und dann lässt er mich vielleicht nie wieder gehen ...“ Meine Stimme versagte kläglich, ging in Schluchzern unter. Eva schaltete sich jetzt ein und meinte fest: „Lass Jungen los - policja kommen!“

Der Mann sah erschrocken auf und fuhr meine Beschützerin auf Polnisch an. Dann hörte man Stimmen von der Tür her, die aufflog. Zwei bewaffnete Polizisten in Uniform standen dort. Der Barmann spähte ihnen über die Schulter und zeigte mir die Daumen hoch. Ich war viel zu entsetzt, um etwas zu erwidern. Aber auch unendlich erleichtert. Die Beamten riefen ein paar Worte in ihrer komischen Sprache und die Geschwister hoben langsam die Hände. Einer der Uniformierten legte ihnen Handschellen an. Dabei redete er auf sie ein. Der andere hielt weiter seine Waffe auf sie gerichtet, bis die Fesseln saßen. Dann ließ er die Pistole sinken, steckte sie weg und kam auf Eva und mich zu. Ich bückte mich rasch, um das Telefon aufzuheben, das ich nicht einen Moment lang aus den Augen gelassen hatte.

„Mama?“, rief ich in den Apparat. „Bist du noch dran?“

„Ja mein Schatz!“, antwortete sie besorgt. „Was ist da bloß bei dir los?“

„Die Policja ist da und hat die gemeinen Leute verhaftet. Jetzt ist alles gut!“

„Gott sei Dank!“ Mein Vater seufzte erleichtert. „Spricht einer von den Beamten Deutsch oder Englisch? Dann erfahren wir vielleicht endlich, wo du steckst!“

Die Polizisten waren zwar mehr als erstaunt, Papas Stimme quasi aus dem Nichts zu hören, aber einer überwand seine Verblüffung und teilte meinem Vater auf Englisch mit, wo wir uns befanden. Es war ein winziges Kaff, nicht besonders weit von der Stadt entfernt, auf die meine Eltern zugesteuert waren. So hatten sie durch einen glücklichen Zufall den ‚richtigen Riecher‘ gehabt und ich sah sie viel schneller wieder als gedacht.

7.

 

Das Ganze hatte natürlich noch ein Nachspiel. Jedoch bekam ich davon zunächst nicht einmal die Hälfte mit. Meine Eltern sorgten dafür, dass ich nur wenige Fragen der polnischen Polizei beantworten musste. Sie machten selbst ihre Aussagen, erstatteten Anzeige gegen die Nowaczeks wegen Kindesentführung sowie gegen die beiden russischen Wissenschaftler, die trotz intensiver Fahndung nicht gefasst werden konnten. Vermutlich hatten sie meine Flucht zum Anlass genommen, ebenfalls von der Bildfläche zu verschwinden. Den Geständnissen der beiden polnischen Geschwister und meiner Aussage war es zu verdanken, dass auch die Anklage gegen diverse Institutsmitarbeiter wieder erhoben werden konnte. Bereits vor unserer Ankunft zu Hause wurden Dr. Riefert und sein Assistent Bernd in Gewahrsam genommen - buchstäblich in letzter Minute, bevor sie sich ins Ausland absetzen konnten.

Zunächst genoss ich es, meine Eltern wiederzuhaben und endlich mein Zuhause wiederzusehen. Ich freute mich darüber, in den Kindergarten zu gehen und meine Freunde dort zu treffen. Selbstverständlich erzählte ich ihnen von meinen Erlebnissen - unter strengster Geheimhaltungsstufe. Sie glaubten mir eh nur die Hälfte oder noch weniger. Die Klatschpresse wurde natürlich nicht müde, die wildesten und abenteuerlichsten Vermutungen über meine Entführung und Flucht anzustellen, die der Wahrheit zumeist nicht annähernd das Wasser reichten. Die Artikel der seriösen Tageszeitungen waren dagegen kurz, nüchtern und wenig spektakulär: Ein knapp Fünfjähriger wurde entführt, konnte nach fast einwöchiger Gefangenschaft fliehen, die Täter wurden von der Polizei verhaftet, der Junge war wieder glücklich zu Hause bei seiner Familie.

Erst einige Monate später wurde die Sache erneut aufgerollt. Mittlerweile hatte ich meinen fünften Geburtstag gefeiert, das Weihnachtsfest überwiegend friedlich verlebt und jede Menge Hörspiel-CDs geschenkt bekommen. Meine Eltern wussten schon, womit sie mich glücklich machen konnten. Geschichten waren - und sind immer noch - so ziemlich das Einzige, was ich mir nicht nach Belieben vorstellen kann. Ich verschlang sie heißhungrig, verinnerlichte sie, machte sie zu einem Teil von mir und meiner Fantasie. Natürlich konnte ich mir eigene Storys ausdenken, aber das war nicht dasselbe. Genauso, wie es einen Unterschied macht, ob man ein Buch liest oder selbst eins schreibt. Lesen, Hören oder Sehen waren und sind für mich wie Sprit für ein Auto - pure Energie, die mich antreibt.

Aber ich wollte von dem Prozess berichten, der mit dem Frühling begann. Auch wenn meine Eltern gedachten, mich aus der Gerichtsverhandlung rauszuhalten, machte ihnen der Richter einen Strich durch die Rechnung. Er befragte mich nämlich persönlich und befand mich für fähig, an dem Verfahren teilzunehmen. Er sagte, das sei nötig, weil nur ich bestimmte Sachverhalte aufklären könne. Was er damit meinte, wurde mir erst viel später richtig klar. Damals genügte es mir, dringend gebraucht zu werden und von einer bedeutenden Persönlichkeit wie dem obersten Richter darum gebeten zu werden, etwas Wichtiges zu tun. Ich fühlte mich wie Zorro, der sich in der Verantwortung sah, die Bösen zu bekämpfen. Trotzdem war ich am Abend vor dem Gerichtstermin total nervös und konnte nicht einschlafen. Ich fragte Mama tausend Sachen, sie musste mir genau erklären, wie alles ablaufen würde. Da es auch für sie die erste Verhandlung sein würde, konnte sie mir nur die Dinge darüber sagen, die sie mal in einer Gerichtssendung gesehen hatte. Eines wusste ich aber nur zu genau: Ich würde die Leute wiedersehen, die mich eingesperrt und untersucht hatten, kurzum meine Peiniger. Ich fragte mich bloß, ob sie die Chance bekämen, mich erneut gefangen zu nehmen. Dieser Gedanke verursachte bei mir Schweißausbrüche und es kamen auch ein paar Tränen. Darum begann ich mir vorzustellen, was ich dagegen tun wollte. Es gelang mir recht gut, meinen Papa mit Tigerklauen und großen Zähnen auszustatten. Ja, das könnte klappen. Leider war mein Vater in diesem Moment im Bad und versuchte sich zu rasieren. An seinem Aufschrei merkte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Deshalb stellte ich mich schlafend und hoffte, auf diese Weise der Gardinenpredigt zu entgehen. Tatsächlich sah ich erst am nächsten Morgen, was ich angerichtet hatte - Papas Wange zierte ein langes Pflaster, das hässliche dunkle Flecken aufwies. Meine Mama, die anscheinend eher zu Bett gegangen war als er, guckte ihn entgeistert an.

„Wie ist das denn passiert?“, jammerte sie. „Ausgerechnet heute!“

„Beim Rasieren geschnitten“, brummte mein Vater und sah mich dabei aus den Augenwinkeln an. Irrte ich mich, oder zwinkerte er mir zu? Ich war jedenfalls unendlich erleichtert, dass er es mir nicht besonders krummzunehmen schien, obwohl er sicherlich wusste, dass ich der Übeltäter war. Ob er ahnte, wie sehr mir diese Gerichtsverhandlung an die Nieren ging? Oder fühlte er selber das Gleiche und konnte meine Nervosität nachempfinden? Jedenfalls verlor er kein Wort darüber, weder beim Frühstück noch bei der Fahrt zum Gericht. Wir hatten alle unsere besten Sachen angezogen. Papas Gesicht sah dank Mamas Fürsorge auch wieder recht manierlich aus. Erst kurz vor Beginn der Verhandlung nahm mein Vater mich beiseite. Er ging mit mir aufs Männerklo - angeblich, damit ich noch mal flüssigen Ballast abwerfen konnte, bevor es losging. Aber in Wahrheit wollte er ungestört mit mir reden.

„Stell bitte keinen Unsinn an“, bat er mich sehr ernst. Ich sah ihn groß an. „Aber das mach ich doch gar nicht!“, protestierte ich. Mit Blick auf sein derangiertes Gesicht fügte ich kleinlaut hinzu: „Na ja, mach ich nicht mehr ...“

Papa betastet seine Wange, dabei zuckten seine Mundwinkel leicht. „Ich weiß nicht, was du dir dabei wieder gedacht hast, aber du hattest bestimmt nicht vor, mich zu verletzen, stimmt’s?“

Ich nickte verlegen auf den Boden starrend. Mein Vater hob mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen.

„Verstehst du mich jetzt? Deine Fantasie kann manchmal ungeahnte Folgen haben und etwas hervorrufen, das du eigentlich gar nicht möchtest. Also bitte denk dir nicht so gefährliche Sachen aus.“

„Aber wie soll ich mich denn sonst vor den Bösen schützen?“, fragte ich krächzend, während mir wieder die Tränen kamen.

„Diese Leute haben dir viel angetan. Ich kann mir vorstellen, wie furchtbar es für dich sein muss, sie alle wiederzusehen. Aber denke immer daran, dass sie jetzt die Gefangenen sind. Sie können dir nichts mehr tun. Das verspreche ich dir.“

Ich schluckte und wischte mir eine kleine Träne aus dem Augenwinkel, bevor ich nickte. „Okay, Papa.“

Er nahm meine Hand, drückte sie fest. Dann gingen wir gemeinsam in den großen Saal.

Genau kann ich mich an den Ablauf der Verhandlung nicht mehr erinnern. Ich war furchtbar kribbelig und konnte dem vielen Gerede der Erwachsenen nicht recht folgen. Immer wieder wanderte mein Blick zu der Reihe, in der die Angeklagten saßen. Zum Glück war es weit genug weg von mir und meiner Familie, sodass ich nicht direkt Angst vor ihnen hatte. Aber sie blickten von Zeit zu Zeit zu mir rüber. Das gab mir das Gefühl, auf dem Präsentierteller zu sitzen. Auch die übrigen Prozessteilnehmer beobachteten mich, manche heimlich, andere mit unverhohlener Neugier. Meine Eltern schirmten mich vor den meisten der indiskreten Blicke ab. Trotzdem konzentrierte ich mich lieber auf das Geschehen vorne beim Richter. Langsam wurde es interessant, denn der erste Zeuge wurde aufgerufen. Es war mein Vater. Mama ergriff meine Hand und lächelte mich an. Ich spürte das leichte Zittern ihrer Finger, das verriet, wie nervös sie war. Aber Papa wirkte wie die Ruhe selbst, als er auf dem Zeugenstuhl Platz nahm und schwor, die Wahrheit zu sagen. Erst erzählte er von unseren gemeinsamen Besuchen im Institut, von seiner Hoffnung auf Antworten bezüglich meiner besonderen Begabungen und davon, wie Mama und er dazu überredet worden waren, den merkwürdigen Vertrag zu unterschreiben. Es ging ein bisschen hin und her, Papa reagierte etwas hitziger, aber schließlich wurde er aus dem Zeugenstand entlassen und ich war an der Reihe. Ich musste schwören, die Wahrheit zu sagen, das konnte ich. Zunächst mal ging alles gut. Ich erzählte, was im Institut geschehen war - von den Untersuchungen, dem abgeschlossenen Zimmer und davon, dass ich meine Eltern nicht anrufen durfte. Dies rief einen Sturm der Empörung hervor, aber der Richter bat energisch um Ruhe. Es dauerte recht lange, bis ich endlich alles berichtet hatte - die heimliche Fahrt mit Bernd zum Parkplatz, die Abholung durch die Nowaczeks mit dem schwarzen Van und unsere Reise zu dem großen Haus. Ich erzählte, wie ich es geschafft hatte, meine Eltern mit dem alten Telefon anzurufen, wobei ich verschwieg, dass es kaputt und nicht angeschlossen war, wie die polnischen Geschwister mich daraufhin immer im Zimmer eingeschlossen und dafür gesorgt hatten, dass ich nicht wieder an einen Apparat herankam. Von den russischen Doktoren berichtete ich, dass sie mich gezwungen hatten, ihnen Dinge zu zeigen, jeden Tag viele Stunden lang. Ich erzählte von Anna, die als Einzige freundlich zu mir gewesen war, obwohl sie kaum Deutsch konnte. Schließlich sprach ich von meiner großen Angst, weil der Boss kommen wollte und von der Flucht. Bis dahin war alles verständlich. Dann wurde es schwierig.

„Wie bist du denn aus dem Haus entkommen?“, fragte der Richter neugierig. „Ich dachte, man hätte dich eingesperrt?“

Die Sache mit der Wahrheit ist zuweilen etwas kompliziert. Manchmal bringt sie einen sogar in Schwierigkeiten, so wie mich in dieser Situation. Bei der Erwähnung des Riesen erntete ich großes Gelächter. Der Anwalt meiner Widersacher schaltete sich sofort ein. Er bestand darauf, dass meine Aussage überhaupt nicht glaubwürdig sei und deshalb nicht vor Gericht gelten dürfe. Daraufhin wurde ich leicht sauer und rief: „Wenn das mit dem Riesen nicht stimmt, wer hat dann wohl die Gitterstäbe verbogen, hmm?“

Alle fanden, dass dies eine gute Frage sei. Anastasia Nowaczek wurde in den Zeugenstand gerufen und ich durfte erst mal gehen. Mama und Papa waren mächtig stolz auf mich, weil ich so eine verständliche und umfassende Aussage gemacht hatte. Die Frau erzählte kein bisschen davon, was ich alles an komischen Sachen angestellt hatte. Sie ließ es so aussehen, als sei ich komplett unzurechnungsfähig, eben noch ein kleines Kind, das nicht wusste, was es redete und als hätte sie es nur gut mit mir gemeint. Alles in allem log sie, dass sich die Balken bogen. Irgendwann reichte es mir. Ich sprang auf und schrie: „Das ist doch alles Quatsch mit Soße, was du da erzählst! Ihr wolltet nur nicht, dass mich Mama und Papa finden konnten. Die haben nämlich die ganze Zeit nach mir gesucht, stimmt’s?“

Meine Eltern nickten. Der Richter meinte bloß, ich solle mich wieder setzen, ich könne mich später dazu äußern. Also setzte ich mich und schäumte innerlich weiter. Mein Vater legte mir beruhigend die Hand auf den Arm, flüsterte mir zu: „Nur Geduld, Simon, du kriegst noch deine Chance - und dann zeigst du es ihnen allen! Versuch bloß, nicht zu viel zu verraten. Wir wollen schließlich unsere Ruhe haben.“

Okay, wenn sie es so wollten ...

Während ich versuchte, mich in Geduld zu fassen, schmiedete ich einen Plan, wie ich den Richter davon überzeugen konnte, dass ich kein Lügner war und trotzdem nicht alle von meiner besonderen Fantasie erfuhren. Ein bisschen zermarterte ich mir das Hirn, dann hatte ich die rettende Idee. Bis ich wieder an der Reihe war, verging aber noch geraume Zeit, da erst viele andere Zeugen aussagen mussten, darunter auch Anna. Für sie war extra eine Übersetzerin anwesend, die ihren polnischen Redeschwall für uns verständlich machte. Anna war meine Freundin, das wurde allen deutlich. Sie erwähnte auch als Einzige, dass ab und zu merkwürdige Dinge in meinem Zimmer geschehen seien - zum Beispiel, dass ich mit unsichtbarem Spielzeug gespielt habe. Als Anna fertig war, winkte ich ihr zu und sie erwiderte die Geste. Ich hoffte bloß, dass man sie nicht ins Gefängnis steckte, weil sie nett war und nichts getan hatte, wofür sie eine solche Strafe verdiente. Endlich wurde ich wieder aufgerufen und schritt hoch erhobenen Hauptes zu dem erhöhten Sitz.

„Kommen wir noch mal zu deiner abenteuerlichen Flucht“, begann der Richter, indem er mir zulächelte. „Du weißt ja, dass du unter Eid stehst. Das bedeutet, dass du nur die Wahrheit sagen darfst. Das gilt jetzt immer noch.“

Ich nickte würdevoll.

„Ich weiß, Herr Richter. Du wirst die Wahrheit und nichts als die Wahrheit von mir hören, so wahr dir Gott helfe.“

Der Saal war kurze Zeit von einem allgemeinen Heiterkeitsausbruch erfüllt. Auch der Richter schmunzelte, bevor er wieder ernst wurde und sich zu mir vorbeugte.

„Jetzt mal ganz ehrlich - wie war das mit den Gitterstäben und wie bist du aus dem Zimmer entkommen, das im zweiten Stock liegt?“

„Das mit dem Riesen glaubst du mir ja nicht, obwohl es die Wahrheit ist“, sagte ich. „Aber vielleicht glaubst du mir, dass ich mir Sachen ausdenken kann, die wirklich werden?“

Der Richter runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Na, genau wie ich es sage“, entgegnete ich geduldig. „Den Doktoren habe ich es nicht gezeigt, weil ich sie nicht leiden konnte und weil sie so gemein zu mir waren. Und die anderen da sollten es auch nicht sehen, weil sie mich eingesperrt haben und ich nicht mit Mama sprechen durfte.“

Ich deutete auf die Reihe mit den Angeklagten. „Denen will ich es nicht zeigen. Aber wenn ihr anderen versprecht, es nicht weiterzuerzählen, zeige ich es euch. Versprecht ihr das? So, wie ihr versprochen habt, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit?“

Ein Blick in die Runde verriet mir, dass manche lachten, aber die meisten Leute sahen gespannt aus. Meine Eltern guckten verblüfft. Dann erhob sich ein aufgeregtes Raunen. Der Anwalt der Gegenseite wollte erneut Einspruch erheben, aber der Richter hob die Hand und schnitt ihm damit das Wort ab. Es wurde wieder mucksmäuschenstill.

„Du meinst also, du kannst uns etwas zeigen, das beweist, dass du die Wahrheit gesagt hast, aber du tust es nur, wenn wir versprechen, es niemandem zu erzählen?“, fragte er mich leicht amüsiert.

„Ja“, nickte ich. „Mein Papa meint nämlich, dass wir endlich unsere Ruhe haben wollen. Und ich will auch endlich meine Ruhe haben.“

Ein allgemeines Gelächter drang erneut durch den Saal, bis der Richter um Ruhe bat.

„Nun, dies ist ein Gerichtssaal“, erklärte er mit weit ausholender Geste. „Das Verfahren findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, aus gutem Grund, wie ich nun deutlich erfahre. Alle hier Anwesenden, mich selbst eingeschlossen, sind also von vornherein dazu verpflichtet, kein Wort von dem nach draußen dringen zu lassen, das hier gesprochen wird. Also kann ich dir mit gutem Gewissen versprechen, dass die Öffentlichkeit nichts davon erfährt.“

„Und was ist mit denen?“ Ich deutete auf die Angeklagten.

„Sie haben ein Recht darauf, gewisse Dinge zu erfahren, um sich gegen Anschuldigungen verteidigen zu können. Ich kann sie leider nicht solange rauswerfen, bis du deine Vorführung beendet hast.“

Weiteres Gelächter, bis das Schweigezeichen kam.

„Na gut!“, brummte ich ärgerlich. Den Triumph von Dr. Riefert spürte ich förmlich, würdigte ihn jedoch keines Blickes mehr. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Riesen. Er passte nicht durch die Tür, deshalb musste ich ihn im Saal selbst entstehen lassen. Der war gerade noch hoch genug für ihn. Im Mittelgang war wenig Platz, aber direkt vor mir konnte er stehen, wenn die Anwälte zur Seite gingen. Sie taten es natürlich nicht. Also schubste der Riese sie sanft, sodass sie überrascht nach hinten stolperten. Zischende, leicht entsetzte Geräusche überall im Raum. Mein Vater machte ein besorgtes Gesicht. Ich nickte ihm beruhigend zu, um zu zeigen, dass ich alles unter Kontrolle hatte. Das freundliche Wesen tat niemandem etwas zuleide.

„Das war mein Riese“, sagte ich. „Und jetzt zeige ich euch, wie er mir bei der Flucht geholfen hat.“

Schnell kletterte ich wieder an dem ausgestreckten Arm meines Geschöpfs hoch, das sich zu mir runtergebeugt hatte. Den anschwellenden Tumult, den diese Aktion im Saal hervorrief, ignorierte ich. Schließlich saß ich auf der Schulter und wurde emporgehoben, bis ich mich knapp unter der hohen Decke befand und die erschrockenen, entsetzten Blicke sah, die mir folgten. Das einzige Gesicht, das nicht völlig entgeistert aussah, gehörte meinem Vater. Meine Mutter konnte gar nicht hinsehen. Papa schaute eher fröhlich drein und stieß Mama an, damit sie endlich auch hinguckte. Ich ließ den Riesen zwei, drei kleine Schrittchen gehen und sich um sich selbst drehen, dann durfte er mich wieder von der Schulter heben und auf dem Boden absetzen. Dabei streifte er eine Zimmerpalme, die umkippte. Der Blumentopf ging leider zu Bruch.

„Oha, keine Absicht!“, sagte ich, nickte meinem Freund dankbar zu und drehte mich zum Richter um, der in komischer, halb erhobener Position erstarrt war. Der Riese hatte sich inzwischen wieder in Luft aufgelöst. Endlich kam Leben in den Juristen und er stand vollständig auf. Anscheinend rang er um Fassung. Der Saal tobte. Irgendwer fing an zu applaudieren. Schließlich klatschten alle Beifall, bis erneut um Ruhe gebeten wurde. Der Richter räusperte sich und sagte mit kieksender Stimme: „Das war ... äußerst beeindruckend, junger Mann. Auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, was da eben passiert ist - ich glaube dir auf jeden Fall, dass du auf diese Art und Weise aus dem Zimmer und über die Hofmauer gekommen bist.“

Die Verhandlung wurde kurz vertagt, weil der Vorsitzende eine Pause brauchte. Jedenfalls behauptete mein Papa das. Er und Mama beteuerten immer wieder, wie stolz sie auf mich waren, wie gut ich die Sache gemeistert hätte. Die Anwälte beider Parteien kamen zu meinen Eltern, um sie zu beglückwünschen. Auch die anderen Teilnehmer - hauptsächlich Polizisten und der leitende Kommissar Henkel - gingen zu uns. Viele reichten mir die Hand und sagten, dass sie etwas Derartiges noch nie gesehen hätten. Das Ende bekam ich kaum mehr mit, weil mir mein Erfolg zu Kopf gestiegen war und ich eher auf die bewundernden Blicke um mich herum achtete als auf die Worte vorne beim Richterstuhl. Aber schließlich stand fest, dass die Angeklagten in allen Punkten für schuldig befunden wurden. Wie das Strafmaß im Einzelnen aussah, kann ich nicht mehr sagen, vielleicht wurde es auch gesondert ohne mein Beisein festgelegt. Zumindest die Drahtzieher der Aktion wanderten für einige Jahre ins Gefängnis. Anna musste zum Glück nicht dorthin. Sie bekam mildernde Umstände, weil sie unwissend in die Sache reingezogen worden war. Und ich durfte endlich nach Hause. Wie der Richter versprochen hatte, drang kein Wort von meiner Show oder vom Rest der Verhandlung an die Öffentlichkeit, nur die Urteile wurden bekanntgegeben.

Leider hielten sich offensichtlich nicht alle bei der Gerichtsverhandlung Anwesenden an ihr Schweigegelöbnis. Auch wenn in der Presse zunächst nicht ein Wort darüber verloren wurde, kam meine Familie deshalb nach dem Prozess trotzdem nicht zur Ruhe. Wir alle hatten unter regelrechten Stalkern zu leiden, die uns zeitweise überall hin verfolgten und Fotos von mir schossen, ob ich nun auf dem Spielplatz oder mit meinen Freunden im Garten spielte. Ungestört spazieren zu gehen war nicht möglich. Selbst ins Schwimmbad wagten wir uns nach einiger Zeit nicht mehr, weil mich dort ein wildfremder Mann ansprach und mich bat, ihm doch mal ‚ein paar Tricks‘ zu zeigen. Nicht einmal die Polizei, die zeitweise unser Haus überwachte, konnte uns wirklich helfen. Dann erschienen die ersten Artikel in einschlägigen Zeitschriften über mich. Inklusive Fotos und angeblich exklusiven Interviews, die ich nie im Leben gegeben hatte. Auch meine Eltern blieben nicht verschont. Einige Nachbarn wurden furchtbar aufdringlich, andere, mit denen wir bisher prima ausgekommen waren, wollten nichts mehr mit uns zu tun haben. Im Kindergarten wurde ich behandelt wie ein rohes Ei. Einige Kinder meinten, sie dürften nicht mit mir spielen, weil ich angeblich gefährlich sei. Schließlich wollte ich nicht mehr dorthin.

Das Ende vom Lied war unser erster Umzug - in eine völlig andere Gegend, weit weg von der alten Heimat und von allen bisherigen Freunden. Heute weiß ich, dass wir damals in ein so genanntes ‚Zeugenschutzprogramm‘ aufgenommen wurden. Von da an hatten wir nämlich nicht nur ein Haus mit Garten in einem ruhigen Vorort, sondern auch einen neuen Namen. Dafür ließen wir fast unseren gesamten Besitz, Freunde, Verwandten und unser altes Leben zurück. Mama und Papa mussten ihre Jobs aufgeben und bekamen jeder eine Stelle nah des neuen Wohnorts. Selbst Oma und Opa konnte ich nicht mehr besuchen. Da auch sie unter den Attacken der Neugierigen zu leiden hatten, zogen sie ebenfalls fort. Zwar taten sie es nicht bei Nacht und Nebel wie wir, sie durften ihren Namen und ihre Möbel behalten, aber das änderte nichts daran, dass sie ihr altes Leben nicht weiterführen konnten. Offiziell sollte ich weder zu ihnen noch zu sonst irgendwem meiner Bekannten Kontakt haben. Selbstverständlich rief ich Oma und Opa trotzdem an, sooft ich Lust dazu verspürte. Verbieten konnte mir das keiner mehr, denn ich wusste ja jetzt, wie man telefoniert.

Erst dann hatten wir eine ganze Weile lang unsere Ruhe - zumindest so viel Ruhe, wie man haben kann, wenn man mich in der Familie hat.

8.

 

Unser neues Heim war für mich eine äußerst wichtige Station in meinem Leben, obwohl wir nur wenige Jahre dortbleiben sollten. Wir zogen in eine Reihenhaussiedlung am Rande einer größeren Stadt, weit weg von unserem ehemaligen Zuhause. Ich hatte ein kleines Zimmer für mich, ähnlich dem letzten. Und obgleich ich nur wenige Spielsachen mitnehmen durfte, war ich völlig zufrieden. Ich hatte ja ohnehin alles, was ich mir wünschte. Meine Eltern waren mit der Situation erst mal nicht so glücklich, glaube ich, obwohl sie es mir nie offen zeigten. Nur zögernd knüpften sie neue Kontakte durch ihre Arbeit und freundeten sich auch mit einigen der netteren Nachbarn an.

Direkt nebenan wohnte eine Familie mit zwei Kindern. Das jüngere davon hieß Timo und wurde mein bester Freund. Er war nur einen Monat älter als ich. Wir besuchten den gleichen Kindergarten in der Siedlung. Es war nicht weit bis dahin und es mussten auch keine gefährlichen Straßen überquert werden. Deshalb erlaubte Mama mir nach einigen Tagen, allein hinzugehen. Ich war ja schon bei den Großen, darum durfte ich das ohne Probleme. Bei Timo lag die Sache etwas anders, denn er war blind. Es dauerte eine kleine Weile, bis ich das herausbekam. Der Junge machte nicht viel Aufhebens um seine Behinderung und sagte es auch keinem. Wenn man seine Augen nicht ganz genau betrachtete, konnte man es wirklich nur schwer erkennen. Heutzutage bin ich durch die langjährige Freundschaft mit Timo quasi Fachmann für Blindenangelegenheiten, deshalb fällt es mir meistens sofort auf, wenn jemand nicht, beziehungsweise nur schlecht sieht. Man bemerkt es nicht bloß an den Augen, sondern auch daran, wie er sich bewegt oder etwas tut.

Timo war anders als die übrigen Kinder. Teilweise war dieses Anderssein sicherlich in seinem Handicap begründet, aber eben wirklich nur zum Teil. Seine weitaus größere Besonderheit bestand in seinem großartigen Denkvermögen. Er gehört bis heute zu den klügsten, kreativsten Persönlichkeiten, die ich kenne. Und er ist einer der wenigen Menschen, denen ich vollkommen, bedingungslos vertraue.

Als ich ihn im Kindergarten kennenlernte, war ich noch völlig ahnungslos. Wir spielten erst mal eine Weile zusammen, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Der Junge baute nämlich genauso leidenschaftlich gern Lego wie ich. Nach einer Zeit gemeinsamen, eher schweigsamen Legospiels sagte er neben mir: „Guck mal, was ich gebaut hab!“

Er hielt eine Art Flugzeug in die Luft. Ich sah kurz hin und nickte anerkennend: „Ist ja toll.“

Dann zeigte ich ihm mein Werk: eine Raketenabschussbasis mit Mondfähre. Es war noch nicht ganz fertig, aber man konnte mit gutem Willen schon alles daran erkennen. Mein Spielgefährte äußerte sich natürlich nicht dazu. Ich war ein bisschen beleidigt, dass er überhaupt keine Reaktion zeigte. Also hakte ich nach: „Und, gefällt dir meine Basis?“

„Wo ist sie denn?“, kam die überraschende Gegenfrage. Da erst fiel mir auf, dass er gar nicht hinsah, sondern mit der Hand suchend über den Boden fuhr. Dabei traf er mein Werk und fegte die Hälfte der Teile durcheinander, bevor er sich bremste.

„Oh, tut mir leid!“, sagte er erschrocken. „War das deine Basis?“

„Du hast sie kaputtgemacht, du Trottel!“, jammerte ich verärgert. „Dabei sind das echte Teile, die siehst du doch!“

Ich wollte in meiner Wut schon zum naheliegendsten Mittel greifen, indem ich sein Gebautes ebenfalls zerstörte, aber sein unglücklicher, nahezu verzweifelter Gesichtsausdruck hielt mich davon ab. Er schien mit sich zu kämpfen, um mir etwas Wichtiges zu sagen, brauchte jedoch einen Moment, bis er die Worte herausbrachte.

„Kann ich leider nicht“, schniefte er leise.

„So ein Quatsch, das sind richtige Legosteine, die sieht doch jeder!“ Erregt warf ich ein paar Teile durch die Gegend.

„Ich nicht.“ Seine Stimme war noch leiser geworden, dafür jedoch entschlossener.

Verblüfft schaute ich den Jungen vor mir genauer an. Er sah völlig normal aus, seine Augen wirkten gesund. Aber nun, wo ich sie genauestens betrachtete, fiel mir ein ganz leichtes, unstetes Zittern auf, als wüssten sie nicht, wo sie hinschauen sollten. Er sah mich auch nicht wirklich an, sondern eher durch mich hindurch. Mit einem Schlag war ich nicht mehr wütend.

„Ehrlich?“, fragte ich neugierig. „Siehst du gar nichts?“

„Nein, nichts. Bin blind, schon von Geburt an.“

„Oha!“ Mehr wusste ich nicht zu sagen. War mir ziemlich peinlich, mein Wutausbruch eben.

„Ich bin Timo“, sagte er dann. „Und du bist der Neue, stimmt’s?“

„Ja“, gab ich kleinlaut zurück. „Ich heiße Simon. Wir sind gerade erst hierhergezogen, in eins von den Häusern direkt um die Ecke.“

„Ach, ihr seid das im Haus nebenan? Ich hab gehört, dass da jetzt eine Familie mit einem Jungen in meinem Alter wohnt.“

„He, du wohnst neben uns? Das ist ja prima! Da können wir auch nachmittags zusammen spielen!“, rief ich erfreut und aufgeregt.

„Echt? Du würdest wirklich mit mir spielen?“

Timo klang etwas misstrauisch, als hätte er jede Menge schlechte Erfahrungen mit solchen Aussagen gemacht. Und das hatte er wohl auch.

„Klar!“, sagte ich großspurig. „Du kannst zu mir kommen und wir bauen Lego. Ich zeig dir meine Sammlung ...“

Bei dem Gedanken daran wurde ich ganz aufgeregt. Timo konnte die Steine nicht sehen, so wenig wie alle anderen. Aber er konnte sie fühlen, so wie jeder, der es versuchte. Also waren sie für ihn genauso echt wie für mich!

„Mal schauen“, meinte Timo und dämpfte damit meinen Optimismus. „Ich muss erst meine Mama fragen.“

Ich stöhnte innerlich. Mamas bei solchen Kleinigkeiten fragen zu müssen war so was von lästig!

„Aber wenn sie ja sagt, komme ich gerne.“

Ich strahlte und zeigte ihm den Daumen nach oben. Dann fiel mir ein, dass er es nicht sehen konnte, und ergänzte: „Das wär prima, Timo!“

Damit war die Sache geritzt.

Am Ende des ersten Tages hatte ich nicht nur Timo kennengelernt, sondern auch einige der anderen Kinder, meine Erzieherinnen sowie Alexis, Timos Babysitterin, wie er sie nannte. Aber nur, wenn sie nicht dabei war. Alexis war eine Integrationskraft, die sich speziell darum kümmern sollte, dass der blinde Junge im Kindergarten zurechtkam. Allerdings ging Timo bereits seit drei Jahren hierher und kannte sich seit mindestens zwei davon überall aus, sodass sie sich eigentlich völlig überflüssig vorkommen musste. Er machte eh alles komplett alleine: zur Toilette gehen, Zähne putzen, aus- und anziehen, frühstücken und so weiter. Deshalb kümmerte Alexis sich mehr um die anderen Kinder, speziell die kleineren, die ihre Hilfe sehr viel dringender brauchten. Mein neuer Freund führte mich selbstbewusst herum und beschrieb mir, wo alles war: Bauecke, Spieleregale, Kochecke, Kletter- und Toberaum, Frühstückstisch und Küche. Er machte das so perfekt, dass ich zwischendurch misstrauisch wurde und ihn fragte: „Meinst du nicht, dass du schummelst? Du kannst bestimmt doch etwas sehen!“

Timo lachte und Alexis, die unbedingt auch an der Führung teilnehmen wollte, lachte ebenfalls.

„Du bist lustig, Simon“, kicherte Timo. Er konnte sich kaum beruhigen, als hätte ich einen wirklich guten Witz gemacht. Obwohl ich es eigentlich ernst gemeint hatte und nicht wusste, was daran so witzig sein sollte, lachte ich schließlich mit, weil es ansteckend war. Wir lachten und lachten. Frau Meermann, die Chefin des Kindergartens kam vorbei und wunderte sich über unseren Heiterkeitsausbruch.

„Nanu, so fröhlich heute, Timo?“

„Ja, Frau Meermann. Der Simon ist urkomisch!“

Ich grinste etwas verlegen und verteidigte mich: „Das war überhaupt kein Witz!“

Daraufhin brach Timo völlig zusammen und kugelte sich am Boden. Ich musste ebenfalls wieder lachen und wir steckten uns gegenseitig an. Die Leiterin der Einrichtung schüttelte lächelnd den Kopf, bis Alexis es ihr erklärte.

„So, so“, meinte die Chefin, „unser Neuzugang macht sich also gleich allseits beliebt.“

Sie drohte mir scherzhaft mit dem Finger. „Aber nicht übertreiben, Simon, hörst du? Timo braucht trotzdem ein wenig Rücksicht von uns allen.“

Das brachte Timo wieder auf den Boden zurück. Er schnaufte, wischte sich eine Lachträne aus dem Auge und sagte dann: „Oh ja, Simon, nimm bitte Rücksicht auf meine Lachmuskeln.“

Das wiederum fand ich komisch und wir lachten noch eine Weile ohne die Erwachsenen weiter, bis Timos Mama kam. Er bestürmte sie sofort damit, dass er am Nachmittag zu mir wollte. Ich zeigte mich von meiner besten Seite und strahlte die Frau an. Sie war mir gleich sympathisch. Ihre Augen waren genau wie Timos, nur dass sie mich freundlich ansahen. Auch ihr Lächeln war dem meines neuen Freundes ähnlich. Sie freute sich, dass ihr Sohn jemanden zum Spielen gefunden hatte, begrüßte mich herzlich und meinte, dass sie nichts dagegen hätte, sofern meine Eltern damit einverstanden seien. Natürlich waren sie das. Sie hatten mir noch nie verboten, ein Kind zu uns einzuladen.

Meine neue Bekanntschaft erwies sich an diesem Nachmittag bereits als absolute Bereicherung für mich. Nicht nur als Freund, mit dem man herrliche Späße machen konnte, sondern auch als Lehrer. Ich lernte bei ihm, meine Begabung viel kreativer einzusetzen und zu perfektionieren. Er zeigte mir tausend Möglichkeiten, auf die ich allein nie gekommen wäre. Mit ihm gemeinsam wurde das Leben doppelt so spannend - und das beruhte sicherlich auf Gegenseitigkeit. Zunächst einmal gab ich ihm einige meiner selbst kreierten Legosteine, die er eingehend befühlte. Dann fragte er: „Sollen das etwa Legosteine sein?“

„Ja klar. Wieso, was ist denn damit nicht in Ordnung?“, gab ich leicht pikiert zurück. Noch nie hatte jemand Kritik an meiner Fantasie geäußert!

„Na, sie fühlen sich ... irgendwie komisch an“, meinte er. „Nicht richtig wie Plastik.“

Ich nahm selbst einen meiner Steine in die Hand und verglich ihn, ohne hinzusehen, mit einem echten Legostein. Von denen hatte ich glücklicherweise auch einige gesammelt. Tatsächlich gab es da einen Unterschied. Wenn ich die Augen öffnete, sahen die Steine für mich genau gleich aus, vom Gefühl her war mein eigener irgendwie weicher. Wahrscheinlich, weil es sich für mich besser zum Bauen anfühlte. Aber für Timo zählte ja nur das Anfassen. Also konzentrierte ich mich etwas mehr und gab ihm dann eine neue Kreation. Er lächelte und meinte: „Ja, jetzt ist es Lego! Wieso war der andere Stein so komisch?“

Ich erzählte ihm von meiner Begabung. Einfach so, weil ich das Gefühl hatte, ihm alles anvertrauen zu können. Und weil ich wusste, dass er mich nicht auslachen würde. Natürlich glaubte er es nicht sofort. Er schüttelte den Kopf und meinte, das sei doch verrückt. Aber er musste zugeben, dass er vorher noch nie solches Lego gefühlt hatte, wie mein eigenes. Dann überlegte er und meinte: „Kannst du dir auch was Essbares ausdenken - Eis zum Beispiel?“

„Logo! Welche Sorte soll’s denn sein? Lieber im Becher oder im Hörnchen?“

Ich war ganz in meinem Element. Ich wusste zwar, dass meine Eltern mir untersagt hatten, zwischen den Mahlzeiten zu viel Süßes zu naschen, aber bei Timo konnte ich ruhig mal eine Ausnahme machen, er war schließlich bei mir zu Gast. Mein ausgedachtes Eis machte auch nicht lange satt, vor allem, wenn jemand anders es aß. Papa sagte das jedenfalls, weil er kaum eine halbe Stunde später wieder Hunger hatte, wenn er etwas von meinem Selbstgedachten verspeiste. Für mich selbst reichte es dagegen eine Zeit lang. Mein neuer Freund bekam also ein Schokoladeneis im Hörnchen und schleckte begeistert daran. Schokoeis war meine Spezialität, weil ich es selbst am liebsten aß.

„Hmm, lecker!“, schwärmte er. „Mit Stückchen! Oh ...“

Er stockte.

„Was ist denn?“, fragte ich eifrig. Mit Timo war Erfinden noch viel spannender als mit Mama und Papa, die einfach alles toll fanden, was ich machte und es nie hinterfragten.

„Das Eis ist überhaupt nicht richtig kalt“, sagte er verwundert. „Ich hab noch nie Eis gegessen, das sich warm anfühlt. Schmeckt aber trotzdem klasse. Super, dass du so was kannst. Ist bestimmt furchtbar praktisch manchmal.“

„Hmpf“, sagte ich nur und brütete etwas vor mich hin. Timo schaffte es, ein bisher unbekanntes Maß an Ehrgeiz in mir zu wecken.

„He, wo ist mein Eis hin?“ Timo fuhr sich suchend über den Schoß und fühlte überall um sich herum. „Verflixt - gerade hatte ich es doch noch!“

„Vergiss es“, sagte ich wegwerfend. „Hier, versuch das mal.“

Ich gab meinem Freund eine neue Kreation, die ich extra vorher probiert hatte. Ich fand, sie war kalt.

„Ah, danke!“ Timo strahlte und leckte vorsichtig.

„Ist es jetzt besser?“, fragte ich eifrig.

„Ist kalt und schmeckt genauso lecker“, bestätigte der Tester anerkennend. „Ist das jetzt ein echtes Eis?“

„Was denkst du denn?“

Ich war ehrlich gespannt wie ein Flitzebogen. Er leckte ein Weilchen, überlegte, dann fuhr mit dem Finger durch das Schokoeis und strich sich etwas davon an die Wange.

„Oh, doch kein echtes Eis!“, rief er.

Ich sah ihn empört an. „Was? Aber wieso ... Was stimmt denn jetzt noch nicht?“

„Es schmilzt nicht“, erklärte Timo. „Wenn ich es direkt runterschlucke, merke ich es nicht. Aber wenn ich es an die Wange streichen will, geht das gar nicht richtig, weil es nicht flüssig wird. Es läuft auch nicht runter. Hier, fühl mal!“

Er deutete auf seine Wange mit dem Schokostrich. Ich sah, was er meinte. Im gleichen Moment löste sich das Eis auf, weil ich es nicht mehr haben wollte. Timo seufzte.

„Ist doch egal, wenn es nicht perfekt ist. Es schmeckt trotzdem! Darf ich noch was davon haben?“

„Okay - aber ich arbeite daran“, sagte ich zerknirscht und gab ihm eine weitere Portion von dem fast perfekten, nicht schmelzen wollenden Eis. Ich stellte mir vor, wie es langsam flüssig wurde und sah, wie es an Timos Hand herablief.

„Vorsicht, es schmilzt jetzt!“, rief ich erschrocken. Timo reagierte fix und leckte die Finger ab, bevor etwas auf den Boden tropfte. Wäre auch nicht tragisch gewesen, weil die Flecken verschwanden, sobald ich nicht mehr daran dachte. Trotzdem wollte ich, dass dieses Eis aufgegessen werden konnte. Also hörte ich sofort wieder auf, mir das Schmelzen vorzustellen. Timo lachte und aß das Eis rasch auf, bevor ich es mir anders überlegte.

Viel zu schnell verging der Nachmittag und wir sehnten weitere herbei. Vormittags planten wir, was wir später am Tag alles anstellen wollten. Und wir blieben beileibe nicht immer im Haus! Erst gingen wir nur in den Garten - entweder in Timos oder in meinen, wobei dazwischen nur eine kleine Hecke gepflanzt war, die bald einen Durchgang hatte, weil wir uns der Bequemlichkeit halber hindurchquetschten. Später, als Timos Mama mich besser kannte und wusste, dass sie sich auf mich verlassen konnte, machten wir Ausflüge auf den nah gelegenen Spielplatz oder in den Wald. Besonders in Letzterem tobten wir uns richtig aus. Wenn niemand uns zusah, konnten wir alles erfinden, wonach uns der Sinn stand. Mit meiner Hilfe lernte Timo nicht nur Fahrrad fahren, Inlineskaten und Waveboarden, sondern wir erklommen gemeinsam die höchsten Bäume, machten Kunststücke auf dem größten Trampolin der Welt und taten alles, was sich ein blinder Junge nur erträumen konnte, wahrscheinlich sogar noch viel mehr. Glücklicherweise erfuhr Timos Mutter nie, was ihr Sohn und ich alles ausprobierten. Vieles davon war sicherlich von außen betrachtet gefährlich und hätte sie es auch nur geahnt, hätte sie es uns garantiert verboten. Vielleicht wäre unsere wunderbare Freundschaft dann zu Ende gewesen, bevor sie richtig begonnen hatte.

Unser Glück währte etwas über drei Jahre - eine Zeit, die mir als die sorgloseste und schönste meiner Kindheit in Erinnerung blieb. Dann holte uns meine Vergangenheit ein.

9.

 

Inzwischen besuchten Timo und ich die Grundschule im Ort, waren neun Jahre alt und hatten soeben unser erstes richtiges Zeugnis mit Noten erhalten - sprich wir waren im dritten Schuljahr angelangt und stolz wie Oskar auf unsere guten Zensuren.

Wenn ich davon spreche, dass Timo und ich in die gleiche Klasse gingen, hört sich das so selbstverständlich an wie die Tatsache, dass wir noch immer die dicksten Freunde waren. Aber das war es in Wirklichkeit nicht. Timos Eltern hatten ihre liebe Not damit gehabt, ihren Sohn an der normalen Grundschule anzumelden. Er musste natürlich spezielle Tests machen und bestand sie alle mit Leichtigkeit. Die Lehrerin der Blindenschule, die wegen Timo gekommen war, stellte fest, dass er ‚vermutlich hochbegabt‘ sei. Trotzdem weigerte sich die Schule am Ort zunächst, ihn zu nehmen, weil keine der Lehrerinnen Punktschrift lesen konnte und sie nicht wussten, was sie mit einem blinden Jungen anstellen sollten. Auch die Stadt wollte die Kosten für eine ‚Einzelintegration‘, wie es sich damals nannte, nicht übernehmen. Dies stellte eine noch viel größere Hürde dar, weil Timos blindenspezifische Ausstattung richtig teuer war. Tage- und wochenlang bangten mein Freund und ich darum, dass Timo nicht täglich in eine entfernte Sonderschule gekarrt werden musste, die ich anfing zu hassen, obwohl ich sie gar nicht kannte. Timos Vater schaltete schließlich die Presse und das Fernsehen ein. Auf einmal ging es doch mit dem Schulbesuch. Die Stadt stimmte zähneknirschend zu, weil sie verpflichtet wurde, die Kosten zu übernehmen. Die Rektorin lenkte auf Druck der Öffentlichkeit hin auch ein und meinte, man könne es ja mal versuchen. Und siehe da - letztendlich gab es gar kein Problem. Timo und ich waren glücklich, gehörten seit Beginn der Schulzeit zu den Klassenbesten und saßen nie weiter als einen Tisch voneinander entfernt. Unsere Klassenlehrerin Frau Böttcher staunte immer wieder über Timos Einfälle, sein tolles Gedächtnis und über den Blödsinn, den wir beide so gern gemeinsam verzapften.

Wie schon gesagt waren soeben die ersten Halbjahreszeugnisse der Klasse drei für uns fällig gewesen, als ein altbekanntes Gesicht auf dem Schulhof auftauchte. Es hatte in der Nacht geschneit. Der Hof glich zu den Pausenzeiten einem Schlachtfeld mit schlitternden, kletternden und schneeballwerfenden Kindern. Die zweite Pause fing gerade an, und wie üblich wollten Timo und ich unseren Lieblingsplatz erobern, als mir die Gestalt auffiel, die nicht zu dem bunten Treiben passte. Erst konnte ich sie nicht recht einordnen. Kurz überlegte ich, wo ich den Mann schon mal gesehen hatte, bevor es mir blitzartig wieder einfiel. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich erstarrte mitten in der Bewegung und zog dann Timo mit zurück ins Gebäude, gegen den Strom der hinausdrängenden Schüler.

„Was ist los?“, brummte mein Freund unwillig. Ich wusste, wie sehr er es hasste, wortlos irgendwohin gezerrt zu werden.

„Sei still“, flüsterte ich heiser. „Da hinten ist einer der Bösewichte, von denen ich dir erzählt habe!“

Zum Glück hatte mich der russische Wissenschaftler nicht gesehen - zumindest konnte ich es mir nicht vorstellen, weil wir ja mitten in einem Pulk von Kindern gesteckt hatten. Zum ersten Mal war ich froh über die dicke Wollmütze, die ich auf Anweisung meiner Ma aufsetzen musste. Sie war zwar mehr als überflüssig, machte mich zwischen all den anderen Mützen aber viel unauffälliger und bedeckte mein Gesicht etwas. Vorsichtig linste ich um die Ecke, durch das Glasfenster der Tür hinaus. Der Mann unterhielt sich kurz mit einer der Aufsichtspersonen und schritt dann auf den Haupteingang zu.

„Echt jetzt?“, fragte Timo aufgeregt, während seine Hände flatterten. Das taten sie immer, wenn er nervös war.

„Ja, ehrlich!“

Meinem gepressten Tonfall musste er entnehmen, wie ernst es mir war.

„Aber ihr seid doch extra umgezogen und habt euren Namen geändert. Wie hat er dich bloß gefunden?“, überlegte Timo. Ich wusste es nicht. In mir erstarrte alles zu Eis, nackte Panik überfiel mich.

„Ich muss sofort nach Hause!“, stieß ich hervor. Schon wollte ich wieder hinausrennen, als mein Freund mich an der Jacke zu fassen bekam und mit starkem Griff festhielt.

„Bleib hier“, befahl er streng. „Du kannst nicht einfach nach Hause!“

„Aber sie sind hier! Sie haben meine Schule gefunden. Ich muss doch meine Eltern warnen ...“

„Eben - sie haben deine Schule gefunden, dich aber nicht. Wenn du nach Hause rennst, warten sie dort vielleicht schon.“

Das leuchtete mir ein. Timo hatte vollkommen recht. In Windeseile zückte ich mein gedachtes Handy und stellte eine Verbindung nach Hause her. Leider ging niemand dran. Enttäuscht legte ich wieder auf. Eine Lehrkraft sah uns im Flur rumlungern und schickte uns nach draußen. Der Mann war inzwischen im gegenüberliegenden Eingang verschwunden. Wir drückten uns unauffällig zwischen den anderen Kindern herum, während wir aufs Schellen warteten. Dann ließen wir uns mit der Masse zurück ins Gebäude schwemmen, schlossen uns dem Strom zum Klassenraum an. Inmitten der vielen Schüler fühlte ich mich halbwegs sicher. Trotzdem schielte ich die ganze Zeit immer wieder nervös und ängstlich zur Tür und erwartete jeden Moment, dass der Russe den Raum betrat. Frau Böttcher schalt mich wegen der Unaufmerksamkeit. Sie wunderte sich etwas über mein ungewöhnlich stilles und abwesendes Verhalten. Als die Stunde zu Ende war, trödelte ich absichtlich. Auch Timo räumte umständlicher seine Sachen ein, als es sonst seine Art war. So blieben wir als letzte zurück und konnten ungestört mit unserer Lehrerin reden, die noch etwas ins Klassenbuch eintrug.

„Na ihr zwei, habt ihr keine Lust, nach Hause zu gehen?“, fragte sie lächelnd. Sie sah mir an, dass etwas nicht stimmte und runzelte die Stirn. „Ist etwas nicht in Ordnung mit dir, Simon? Du bist so blass!“

Ich schluckte. „Da war ein Mann auf dem Schulhof, den ich von früher kenne. Er ... hat schlimme Dinge getan. Er darf mich nicht finden, Frau Böttcher.“

Die Augen der Lehrerin wurden groß. Vermutlich nahm sie an, dass der Mann mich vergewaltigt hatte oder so.

„Bist du dir sicher, dass du ihn kennst Simon? Kann es nicht sein, dass du dich irrst?“

Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich irre mich nicht! Ich kenne den Mann, er ist ein gemeiner Schurke, der mich viele Tage lang immer wieder untersucht, ausgefragt und Tests mit mir gemacht hat. Aber eigentlich darf ich das keinem erzählen, weil es geheim ist.“

Frau Böttcher lachte unsicher. Sie fragte sich sicherlich, ob das ein neues Spiel war und ob ich ihr etwas vormachte. Aber meine Panik war ebenso echt wie die Tränen, die jetzt doch kamen. Deshalb nahm sie mich in den Arm und meinte: „Sollen wir bei dir zu Hause anrufen, damit dich jemand abholt? Dann kann der gefährliche Mann dir nichts tun!“

Ich schüttelte wieder den Kopf. „Das hab ich vorhin schon probiert, es ging niemand dran. Ich hab Angst, dass der Mann herausgefunden hat, wo ich wohne und dort auf mich wartet!“

Timo, der bisher schweigend zugehört hatte, mischte sich ein. „Ich denke auch nicht, dass Simon nach Hause gehen sollte, Frau Böttcher. Ich kenne die Geschichte und weiß, wie gefährlich diese Kerle sind. Mein Freund hat mir alles erzählt. Aber ich darf dir auch nicht mehr darüber sagen, weil es wirklich geheim ist. Simons Familie ist in einem Schutzprogramm.“

Da wurde unsere Lehrerin mindestens ebenso blass wie ich.

„Vorhin war ein Mann im Lehrerzimmer“, berichtete sie, während sie aufstand. „Er hat nach einem Simon gefragt, der in die dritte Klasse geht. Da er den Nachnamen nicht wusste, haben wir ihn zunächst an Frau Dittrich aus der 3b verwiesen. Der Mann sprach nur gebrochen Deutsch, vom Akzent her schien er aus Russland oder aus der Ukraine zu stammen. Könnte das der Mann sein, Simon?“

Ich nickte bedrückt. „Ja, das war er. Gut, dass er mich noch nicht gefunden hat.“

Unsere Rektorin schaltete die Polizei ein, nachdem ihr Frau Böttcher, Timo und ich abwechselnd die Story erzählt hatten. Sie selbst hatte den Russen ebenfalls gesehen und wie er nach einem Telefonat sehr rasch wieder verschwunden war. Der zweite Anruf bei uns zu Hause erbrachte endlich den gewünschten Erfolg. Meine Mutter kam keine fünf Minuten später panisch über den Schulhof gerast. Auch sie durfte den beiden Beamten nicht viel erzählen, die in der Zwischenzeit vergeblich versucht hatten, uns über den Fremden auszuquetschen. Aber zumindest konnte sie bestätigen, dass die Situation wirklich ernstzunehmend war. So kam es, dass Timo und ich an diesem Tag mit Polizeischutz nach Hause gebracht wurden. Dort war alles in Ordnung, niemand hatte nach mir gefragt und es waren auch keine verdächtigen Gestalten umhergeschlichen. Die Nachricht erleichterte mich ungemein. Mein Vater bekam jedoch einen riesigen Schock, als er am Nachmittag die Neuigkeiten erfuhr. Blass und nervös wählte er die Notruf-Nummer, die wir für einen Fall wie diesen bekommen hatten. Nachdem er dem Beamten am Telefon die Lage geschildert hatte, versicherte dieser ihm, dass wir umgehend besonderen Schutz erhalten würden. Bis dahin sollten wir aber besser nicht draußen spielen. Sehr viel Lust verspürte ich an diesem Tag sowieso nicht, mich vom Haus zu entfernen. Auch Timo kam nicht mehr rüber - vermutlich hatte seine Mutter genauso reagiert wie meine Eltern, als sie hörte, dass sich ein gefährlicher Verbrecher in der Gegend rumtreiben könnte. Wir redeten allerdings noch lange über unser Geheimtelefon. Das Band hatte ich erfunden, damit wir uns auch abends und nachts unterhalten konnten, ohne dass es die Erwachsenen mitbekamen. Wir standen dadurch jederzeit in Verbindung miteinander. Das Geniale daran war, dass es in beide Richtungen klappte. Üblicherweise konnte ich von überall auf bekannte Telefone anrufen und sie klingeln lassen. Bei Handys gelang mir das damals noch nicht, weil ich die Funktionsweise nicht durchschaute. Aber unser Kommunikationsmittel funktionierte auch für Timo. Das Geheimnis bestand darin, dass mein Freund sein Gerät immer dabeihatte, das mit einem bei Bedarf unendlich langen Band mit meinem Apparat verbunden war. Mein Telefon trug ich natürlich ebenfalls stets mit mir herum. Es konnte niemand sehen, also hing es lässig am Gürtel. Das Band war Timos Idee gewesen und ziemlich raffiniert. Gar nicht leicht, es zu erdenken! Es durfte sich ja nicht irgendwo verheddern oder an irgendwelchen Dingen hängenbleiben, musste aber stabil genug sein, um nicht einfach zu zerreißen, und so materiell, dass wir gegenseitig merkten, wenn der andere daran zog. Dreimal kurz, dreimal lang war der Code. Es bedurfte einige Wochen Übung, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, aber mittlerweile hatte ich fast drei Jahre Erfahrung und das Band gelang mir perfekt. Ich brauchte auch gar nicht mehr darüber nachzudenken, weil es ein Teil von mir war, automatisiert wie Gehen und Sprechen.

Am frühen Abend parkte ein unscheinbarer weißer Lieferwagen auf dem Gehsteig gegenüber. Ein ‚Handwerker‘ erschien, um unser Telefon anzuzapfen und Kameras anzubringen, die den Bereich vor der Tür und den Garten filmen sollten. Wir alle hofften insgeheim, dass die beiden Gangster sich nun bald blicken lassen würden, damit unsere Bewacher sie verhaften konnten und wir wieder sicher wären. Aber sie kamen nicht. Weder an dem Abend noch in den darauffolgenden Tagen. Dafür hatten Timo und ich auf dem Schulweg ständig Begleitung. Timos Mama ging mit, weil sie Sorge um ihren Sohn hatte, und ich wusste, dass mir ebenfalls ein Schatten folgte. Wir konnten uns also völlig sicher fühlen. Aber als sich diese Prozedur tagelang wiederholte, fanden wir es nicht mehr spannend.

Bereits eine Woche später war es mir derart lästig, dass ich einen Ausweg suchte. Ich schmiedete also einen Plan, wie wir unseren Bewachern für kurze Zeit entkamen. Mein besonnener Freund wollte erst nichts davon wissen und meinte, das sei viel zu gefährlich. Aber schließlich überredete ich ihn doch dazu. Wir planten, nach der Schule direkt aufs Klo zu gehen und dann durchs Fenster zu entwischen. Von dort konnten wir durch die Hecke kriechen, am hinteren Ende des Schulhofs auf das Dach des niedrigen Gebäudes steigen und auf der anderen Seite runterspringen. Außer mir käme niemand auf diese Idee, weil es zu hoch war, um ohne Leiter hinauf und wieder runter zu gelangen. Ich hatte diesen Weg jedoch schon öfters genommen, um einigen älteren Schülern aus dem Weg zu gehen, die unbedingt Ärger suchten. Vom Schulhof und vom vorderen Eingang aus konnte man die Strecke nicht einsehen, und so war es der ideale Fluchtweg. Gesagt, getan. Direkt am nächsten Tag machten wir uns ohne Schwierigkeiten aus dem Staub. Bald schon rannten wir jubelnd in den Wald, um unsere neu gewonnene Freiheit eine Zeit lang zu genießen. Nachdem wir uns genug ausgetobt und einige Lieblingsspiele gespielt hatten, fragte Timo: „Und was jetzt? Wie kommen wir wieder aus der Sache raus, ohne Ärger zu kriegen? Die werden uns schon suchen!“

Auch dafür hatte ich eine Idee parat. „Wir gehen einfach den gleichen Weg wieder zurück und kommen mit Bauchschmerzen vom Klo.“

„Du glaubst, die nehmen uns das ab?“ Timo klang zweifelnd.

„Warum nicht?“ Ich zuckte die Achseln. „Kann doch sein, dass mir schlecht war und du auf mich gewartet hast ...“

„Und wenn sie die Toiletten schon untersucht haben?“, bohrte mein scharfsinniger Freund weiter.

„Dann ... sagen wir halt, dass wir hinter dem Gebäude gespielt haben und dass du dort etwas verloren hattest. Das mussten wir noch suchen.“

„Okay, das könnte klappen“, räumte Timo ein.

Tatsächlich funktionierte die List. Zwar hatte Timos Mama bereits auf uns gewartet, aber sie war erst überall rumgelaufen, um nach uns zu fragen. Gerade als sie alle Räume durchsucht hatte und anfangen wollte, sich Sorgen zu machen, kamen wir schon unversehrt mit unserer Ausrede aus dem Toilettengebäude. Ermutigt durch den Erfolg stahlen wir uns ab da immer öfter auf diesem Weg davon. Wir achteten stets darauf, nur kurz fortzubleiben und rechtzeitig zurück zu sein, bevor sich jemand ernsthafte Gedanken machte.

Ungefähr eine Woche lang ging alles glatt, niemand schöpfte Verdacht. Dann wurden wir waghalsiger und hatten unseren Ausflug diesmal etwas länger ausgedehnt als sonst. Deshalb beeilten wir uns auf dem Rückweg und näherten uns halb rennend über die ruhige Seitenstraße von hinten dem Schulgebäude. Den am Straßenrand geparkten Van beachteten wir nicht weiter. Als wir kurz davor waren, öffnete sich plötzlich die Beifahrertür und ein Mann stieg aus. Es war der zweite russische Wissenschaftler, der bisher nicht in Erscheinung getreten war. Ich erstarrte.

„Hallo Simon“, sagte er und blickte schadenfroh in mein entsetztes Gesicht. „Nett, dich wiederzusehen, alter Freund!“

Timo neben mir flüsterte entgeistert: „Oh nein! Tu doch etwas, irgendwas!“

Aber ich konnte nichts tun. Es kam mir vor, als wären mein Körper und Geist plötzlich gelähmt. Der Mann packte mich am Arm und zog mich ins Auto. Ich wehrte mich nicht einmal. Timo schrie: „Nein, lasst ihn los! Hilfe, Hiiilfe!“

Er schlug mit seinem Blindenstock um sich, aber der Mann wich ihm mühelos aus und lachte hämisch. Dann war ich im Auto, wurde grob in den Sitz gedrückt. Verzweifelt wandte ich den Kopf zu meinem Freund.

„Bitte tut ihm nichts!“, jammerte ich. Aber Timo stand bloß hilflos da, Tränen liefen ihm übers Gesicht.

„Simon!“, hörte ich ihn schreien, bevor der Motor aufheulte und der Wagen mit einem Affenzahn losfuhr.

„Anschnallen!“, befahl die knurrige Stimme des Mannes, den ich vor Kurzem erst auf dem Schulhof gesehen hatte. Er blickte mich finster durch den Rückspiegel an. Der zweite Kerl, der mich so brutal ins Auto gezerrt hatte, saß neben mir und fummelte an meinem Gurt herum. Ich war noch immer zu sehr gelähmt und verzweifelt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wir verließen unseren Ort und bogen auf die Schnellstraße, die zur Autobahn führte. Der Mann am Steuer trat kräftig aufs Gas. Etwas sagte mir, dass ich mir die Richtung einprägen sollte, in die wir fuhren, aber ich konnte es nicht. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, die in Tränen schwammen. Nun war es also doch passiert! Der einzige Gedanke, den ich festzuhalten vermochte. Etwas zog an meinem Bauch - kurz, kurz, kurz, lang, lang, lang. Das war Timo! Ich hielt den Apparat mit beiden Händen vors Gesicht und murmeltet unauffällig: „Jetzt nicht!“

Timo schaltete sofort und antwortete nicht. Aber er zog einmal lang an der Schnur. Das hieß so viel wie ‚okay‘.

Timos Anruf hatte mich ein wenig aus meinem panischen Dämmerzustand gerissen. Ich wusste jetzt wieder, dass ich keineswegs im Stich gelassen worden war. Das gab mir Kraft, auch wenn ich noch immer so viel Angst hatte, dass ich eine Art lähmendes Gift in meinen Gliedern und im Kopf verspürte. In Ermangelung jeglicher Einfälle wartete ich schweigend bis zum Ende der Autofahrt. Überrascht stellte ich fest, dass wir am Flughafen anhielten. Dort war ich bisher erst einmal gewesen - letzten Sommer, als wir unseren Urlaub auf den Kanaren verbracht hatten. Der Mann neben mir stieg aus und zerrte mich aus dem Wagen. Er verdrehte mir den Arm, während er heiser eine Warnung auf Englisch flüsterte. Dann gingen wir in das Gebäude. Mir schoss durch den Kopf, wo sie wohl mit mir hinwollten und ob wir ein Flugzeug dafür nehmen würden. Einerseits mochte ich Fliegen, andererseits bedeutete dies, dass es bestimmt viel weiter wegging, als mir lieb sein konnte. Während wir durch die weitläufige Halle marschierten - ich in der Mitte, je ein Bewacher rechts und links von mir - überlegte ich fieberhaft, was zu tun sei. Ich wollte mit Timo sprechen und natürlich mit meinen Eltern, aber das konnte ich erst machen, wenn mich die beiden Gorillas einen Augenblick aus den Augen ließen. Also zeigte ich auf ein WC-Schild, stöhnte: „Toilet“ und hielt mir die Hose. Die beiden wechselten einen Blick sowie zwei, drei Worte auf Russisch. Dann grummelte einer der Ganoven: „Komm mit!“

Er stieß mich förmlich in den kleinen Raum und drängte hinter mir her. Sogar in die Kabine wollte er mitkommen, aber sie war zu eng für uns beide. Der Mann war äußerst misstrauisch, tastete mich von oben bis unten ab, bevor er mich aufs Klo gehen ließ. Meine Telefone hatte ich geistesgegenwärtig fallengelassen, sodass er sie nicht fand. Puh, das war knapp! Sobald ich mich unbeobachtet wähnte, nahm ich sie wieder an mich und zog an unserer Schnur. Timo war klug genug, um nur zu flüstern. „Wo bist du?“

Ich brabbelte laut vor mich hin, als würde ich mit mir selbst reden. „So ein Mist, jetzt bin ich also auch noch am Flughafen gelandet mit den beiden Mistkerlen. Wo die wohl mit mir hinwollen? Hoffentlich sehe ich Mama und Papa bald wieder! Wenn Timo doch hier wäre ... Papier gibt’s auch nicht.“

Der Mann klopfte fluchend an die Tür. Ich öffnete ein Stück, sah ihn unschuldig an und fragte höflich in meinem besten Englisch: „Hast du etwas Klopapier für mich?“

Mein Bewacher gab mir grunzend eine Rolle aus der Nachbarkabine und raunzte: „Hurry up!“

Timo wisperte: „Am Flughafen? Welcher denn?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739447193
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Lebensgeschichte Freundschaft Abenteuer Fantasy Spannung Vorstellungskraft Humor paranormal Roman

Autor

  • Michaela Göhr (Autor:in)

Geboren im Sommer 1972 in einer sauerländischen Kleinstadt, dort aufgewachsen, von Beruf Lehrerin, mittlerweile wieder seit vielen Jahren fest am Heimatort verwurzelt mit Haus, Mann und Kind. Die Liebe zum Schreiben und zu weiteren kreativen Tätigkeiten bestand schon von klein auf. Seit 2014 widmet sie sich neben Kurzgeschichten, Reisetagebüchern, Gedichten und Liedern auch längeren Texten. Die fünfbändige Urban-Fantasy-Reihe ‚Der Fantast‘ ist ihr Debüt im Bereich der Romane.
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Titel: Der Fantast 1