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Erben ist menschlich

Kriminalroman

von Klaudia Jeske (Autor:in) Torsten Seemann (Herausgeber:in)
129 Seiten

Zusammenfassung

Altenpflegerin Paula Adam ist hinter dem Familienschmuck des 91jährigen Rudolph Poppinga her. Der Anziehungskraft der Juwelen können auch der leutselige Hausarzt Dr. Kolbe sowie Rudolphs smarter Sohn Winfried nicht widerstehen. Als der alte Poppinga in seinem Bett stirbt, hat keiner der Protagonisten ein gänzlich reines Gewissen. Trotzdem wiegen sich zunächst alle in Sicherheit, dann auf dem Totenschein lautet die Todesursache: Herzversagen. Dann kommt es doch zur Obduktion und die Nerven beginnen zu flattern … Printausgabe: 196 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Tag, Mittwoch

1.

Mit angehaltenem Atem betrat Paula Adam die düstere Diele der Villa ihres Arbeitgebers. An die Duftkombination aus Kot, Urin, Kamillentee und altem Schweiß würde sie sich niemals gewöhnen können. Während Paula ihren kieselsteinfarbenen Übergangsmantel auszog, ließ sie die herbstliche Morgenluft durch die geöffnete Eingangstür ins Haus strömen.

„Huhu, Herr Poppinga, ich bin da!“

Es war fast halb acht. Höchste Zeit, den Tag mit dem Alten zu beginnen. Paula schloss die Haustür, durchschritt leicht hinkend die Eingangshalle, klopfte kurz an eine Eichenholztür und trat in das abgedunkelte Schlafzimmer von Rudolph Poppinga. Die Ausdünstungen hier waren besonders penetrant. „Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Poppinga. Haben wir gut geschlafen?“, zwitscherte Paula. Der Alte im Bett grunzte eine Antwort, die niemanden in der Welt interessierte.

Schon gar nicht Paula.

Wie jeden Morgen machte sich die Altenpflegerin als erstes daran, Licht und Luft in den muffigen Raum zu lassen. Sie zog die dunkelgrünen Samtvorhänge auf und öffnete die hohen Fensterflügel. Während Paula Frischluft in ihre Lunge pumpte, beobachtete sie ein Spinnennetz, das oben im Winkel des äußeren Fensterrahmens im Wind zitterte. Eine kleine Fliege hatte sich darin verfangen und kämpfte mit letzter Kraft gegen ihr Schicksal an.

„Mein Frühstück! Hunger! Ich will…“, nörgelte Rudolph Poppinga.

Seufzend wandte Paula sich ihrem Arbeitgeber zu. Der Alte brabbelte, nuschelte, krächzte.

Lauter unverständliches Zeugs.

Seit drei Jahren pflegte Paula Adam den Greis. Anfangs hatte er sie pausenlos herumkommandiert. Doch obwohl in seinem Blick weiterhin ein ungebrochener Wille lag, gehorchte dem 91jährigen sein Befehlsorgan, die Stimme, nicht mehr. Abgesunkener Kehlkopf. Ausgetrocknete Schleimhäute. Ausgeleierte Stimmbänder.

Kurz: der Verfall.

Mit einem nachsichtigen Lächeln setzte sich Paula auf seine Bettkante. „Eins nach dem anderen, Herr Poppinga. Sie wissen doch: Erst mal lege ich Sie trocken, dann wasche ich Sie. Danach können Sie frisch und sauber das Frühstück doppelt genießen.“ Mit einem Ruck schlug sie seine Bettdecke zurück. Fäkaliengestank schlug ihr entgegen.

„Verhungern lassen willst du mich“, begann der Alte zu lamentieren, „Erbschleicher, Versager, missratene Brut …“

Wieder verlor sich die dünne Stimme.

Paula Adam schob das Baumwollnachthemd des Alten hoch. Die Windel sah prall gefüllt aus.

Sie machte sich an die Arbeit.

*

Eine halbe Stunde später saß Rudolph Poppinga angezogen und gekämmt in der Küche am Esstisch und schlürfte lauwarmen Haferbrei. Seine Pflegerin blätterte in der Zeitung, auf der Suche nach Artikeln, die den alten Mann interessieren oder vielleicht sogar aufheitern könnten.

„Hören Sie mal, Herr Poppinga: Ein drei Monate altes Baby ist angeblich wegen eines Streits der Eltern an der Pinnwand der Stadtbibliothek zum Verkauf angeboten worden. Vernehmungen der Eltern hätten den ersten Eindruck bestätigt, dass ein Dritter hinter der Annonce steckt, so die Staatsanwaltschaft.“ Kopfschüttelnd klopfte Paula auf die Zeitung. „Sagen Sie mal, in was für einer Welt leben wir eigentlich?“

Erwartungsvoll blickte die Altenpflegerin in Herrn Poppingas Origami-Gesicht. Manchmal bereitete es Paula Freude, seine Empörung hervorzukitzeln. Wenn er wütend wurde, schien er lebendiger. Doch heute starrte er sie nur aus geröteten Augen an. Von seinem schlaffen rechten Mundwinkel aus zog sich eine feine Haferschleimspur über das Kinn. Paula griff nach dem feuchten Lappen, der für solche Fälle auf dem Tisch bereit lag, und wischte dem alten Mann mit einer schnellen Bewegung den Schleim ab. Unbeabsichtigt versetzte sie dabei seinen Truthahnhals in Schwingungen.

„Herr Poppinga, was halten Sie von einem schönen Spaziergang heute Vormittag?“

Aus dem Dielenschrank holte sie Schuhe und das praktische Cape, das sie ihm nur über die Schultern zu legen brauchte, und das vorne am Hals mit zwei Druckknöpfen zu schließen war. Dann bückte sie sich – dafür nahm Paula den Schmerz in ihrem linken arthritischen Knie in Kauf –, um dem alten Mann die Schuhe anzuziehen.

Sie spürte, wie Herr Poppinga dabei auf ihre gewaltigen Brüste starrte.

„Komm, Kindchen“, schnaufte der Alte.

Verwundert schaute Paula zu ihrem Arbeitgeber hoch. „Nanu, Herr Poppinga, ich hab schon gedacht, ihre erotischen Triebe sind inzwischen verdorrt!“

„Komm!“

Gehorsam setzte sie sich auf seinen Schoß. Im Sitzen war sie einen Kopf größer als der eingefallene Greis. Sanft bettete er sein kahles Haupt auf ihre üppige Brust. Aus den Poren seiner Kopfhaut strömte ihr der strenge Geruch des Alters entgegen. Langsam begann er ihren Busen zu kneten, er seufzte wohlig. Paula ließ es geschehen und dachte dabei an ihren Lohn. Für jeden ihrer raren kleinen Liebesdienste gab es ein Schmuckstück aus der Schatulle der verstorbenen Frau Poppinga, in der sich noch so manches schöne Geschmeide befand. Paula sehnte sich danach, die niedlichen kleinen Ohrringe mit den funkelnden Rubinen an sich zu nehmen, und die Brosche in Form eines Löwenkopfs, den wunderbaren Diamantring, das schwere Goldarmband, den Bernsteinanhänger und überhaupt … Alles!

Paula konnte nicht anders, sie musste Sachen horten. Das war ihre Leidenschaft. Ihr Lebenselixier. Ihr Laster. Dabei ging es nicht mal so sehr um den Wert der Gegenstände. Das Protzen mit Reichtum hielt Paula für unanständig. Paula Adam war eine einfache, genügsame Frau, und sie kannte ihren Platz im Leben.

Unter ihr ächzte der alte Mann.

„Herr Poppinga, bin ich Ihnen auch nicht zu schwer?“

Als Antwort ließ er die Hände sinken. Paula richtete sich auf und rückte ihre Oberweite zurecht. „Ich glaube, jetzt wird uns ein bisschen frische Luft ganz guttun“, sagte sie.

Herr Poppinga nickte erschöpft.

*

Warm eingepackt saß Rudolph Poppinga in seinem Rollstuhl und ließ sich von Paula Adam durch das Lüneburger Kurparkviertel schieben. Der herbstliche Nebel löste sich allmählich auf, erste Sonnenstrahlen verzauberten Vorgärten, Tau glänzte auf gut getrimmten Rasenflächen und das Laub leuchtete in glühenden Farben.

„Was für ein herrlicher Morgen. Wir können das Leben genießen. Was, Herr Poppinga?“

„Unrat überall, ekelhaft!“ Er deutete auf eine leere Blechdose am Wegesrand. Paula stoppte und bückte sich mit steifen Knien, um die bunte Coladose aufzuheben. Bis auf eine kleine Delle sah sie noch wie neu aus. Paula ließ den Fund in die geräumige Tasche ihres Mantels gleiten.

„Heute Abend läuft eine schöne Volksmusiksendung im Fernsehen. Das ist doch was für uns, nich´, Herr Poppinga?“ Paula schob den Rolli wieder an.

Der Postbote kam ihnen auf seinem gelben Fahrrad entgegen und grüßte die beiden alten Leute freundlich. Paula mochte den drahtigen kleinen Mann. Sie hielt gern einen Plausch mit ihm, wenn er einmal ein Einschreiben oder ein Päckchen an der Haustür der Villa abzugeben hatte. Sie lächelte zurück.

„Der will auch nur mein Geld!“, bellte Herr Poppinga.

„Aber, Herr Poppinga! Neulich, da mussten Sie etwas per Nachnahme bezahlen. Da haben wir dem Herrn Postboten natürlich Geld geben. Das war schon recht so.“

„Das Pack will nur mein Geld! Aber keiner findet es …“ Paula sah, wie die Schultern des Alten zuckten. Er kicherte leise vor sich hin.

Während sie den Rollstuhl umsichtig über den Asphalt dirigierte, musterte sie die schicken Appartementhäuser, die in den letzten Jahren zwischen den gediegenen Backsteinvillen aus dem Boden geschossen waren. Kein Vergleich zum sechzehnstöckigen Wohnsilo, in dem Paula lebte.

Manch einem flogen die gebratenen Tauben in den geöffneten Mund, andere schufteten sich ab, und trotzdem blieben ihnen nur die Brotkrumen der Reichen übrig, dachte Paula und sah auf die gestreifte Wollmütze hinunter, die den kahlen Hinterkopf des Alten bedeckte. Rudolph Poppinga hatte seinen Wohlstand seiner Frau, einer Juwelierstochter, zu verdanken. Nach Emilies Tod vor dreißig Jahren war das respektable Erbe an ihn gefallen. Glück gehabt, dachte Paula.

Sie selbst war nach zwei kinderlosen gescheiterten Ehen, und nachdem sie sich vierzig Jahre lang mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR arrangiert hatte, kurz nach dem Mauerfall in den Westen gezogen. Als private Altenpflegerin hatte Paula zunächst verschiedene pflegebedürftige Senioren betreut. Inzwischen war Poppinga ihre einzige Einnahmequelle. Er zahlte besser als alle anderen, und es gab keine Angehörigen, die ihre Nase dauernd in Paulas Pflegearbeit steckten und besserwisserische Tipps gaben, blödsinnige Vorstellungen entwickelten und sich immer dann einmischten, wenn es nun gar nicht passte. Winfried, Poppingas einziges Kind, tauchte zweimal im Jahr in der Villa auf – am Geburtstag des Alten und am zweiten Weihnachtstag. Vater und Sohn konnten sich nicht ausstehen.

Das war Paula ganz recht.

Es gab viele alte Leute, die ihre Schätze lieber einer freundlichen und willigen Pflegerin überließen als ihren undankbaren, gierigen Erben.

Paula beugte sich hinunter zu Herrn Poppinga und flüsterte ihm zu: „Gleich darf ich mir etwas Schönes aus der Schatulle aussuchen, nich´, Herr Poppinga?“

Der Alte reagierte nicht.

„Herr Poppinga!“ Paula schüttelte ihn an den Schultern. Wieder keine Reaktion. Schlief er? Leicht beunruhigt stoppte sie den Rolli und schaute sich Rudolph Poppinga an. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen wirkten schlaff, die Haut schien aschfahl, fast bläulich.

Atmete er noch?

2.

Winfried Poppinga saß eingeklemmt zwischen einem übergewichtigen, in ein Buch vertieften Mann und einer vor sich hindösenden Blondine mit IPod-Stöpseln in den Ohren auf dem Mittelplatz in Reihe 19 einer in London gestarteten Boeing 737.

Economy Class!

49 Jahre alt, Besitzer von Vielflieger-Karten diverser Fluggesellschaften, seit zwanzig Jahren gewohnt, Business Class zu reisen oder auch First Class, wenn ein Auftraggeber es bezahlte, und nun der Abstieg in die Holzklasse! Winfried wand sich auf seinem Platz und bemühte sich vergeblich, seine langen Beine noch einige Millimeter weiter unter dem Vordersitz auszustrecken.

Vor wenigen Minuten war der Landeanflug auf Hamburg angekündigt worden. Ein adretter Flugbegleiter huschte durch den engen Gang und sammelte die Plastikbecher ein, die den Passagieren kurze Zeit zuvor mit Getränken ihrer Wahl kredenzt worden waren. In Reihe 19, links, hatte der dicke Mann es ungefragt übernommen, die Becher einzusammeln. Wortlos reichte er dem Steward den Plastikmüll, in dem Reste einer rötlichen Substanz schimmerten. Im Gegensatz zu Winfried, der sich stets an Stilles Wasser hielt, hatten sich sowohl der korpulente Mann als auch die hübsche Blondine am Fenster für Tomatensaft entschieden. Nun, zum Glück war die Sache gut gegangen, und das sämige Gesöff hatte ohne Kleckereien den Weg in die Mägen gefunden. Winfried schauderte. Tomatensaft und Plastik! In der Business Class gab es gut gespülte, appetitlich glänzende Gläser.

Um sich zu beschäftigen, fingerte Winfried das nappalederne Brillenetui aus der Innentasche seines maßgeschneiderten Jacketts und schob sich eine randlose Gucci- Lesebrille auf die Imperatornase. Dann zog er das Bordmagazin aus dem Ablagenetz, das sich ebenso wie das hochgeklappte Tischchen eine halbe Armlänge vor ihm befand. Flüchtig betrachtete er das Titelbild, auf dem ihm ein junges Paar entgegenlachte. Im Hintergrund sah man die Silhouette von San Marco im Abendrot. Gelangweilt blätterte Winfried in dem Werbeblatt herum. Kurze Reportagen über einen Wellness-Urlaub auf Bali, ein romantisches Wochenende in Venedig und die ultimative Shopping-Tour in Dubai, dann das Angebot an Bord: edle Parfüms, Uhren, Spirituosen, Tabakwaren, aufblasbare Mini-Boeings für die Kinder – ein käufliches Stück Glück. Er stopfte das Magazin zurück zu Kotztüte und Safety-Anleitung in die Ablage.

Winfried spürte, wie sich langsam Druck in seinen Ohren aufbaute. Er schluckte kräftig und linste an seiner mit geschlossenen Augen Musik hörenden Sitznachbarin vorbei – ihre Brüste waren kaum größer als Tischtennisbälle, das hatte er schon beim Einsteigen bemerkt – hinaus in den weißgrauen Nebel. Seit die Boeing ihre maximale Reiseflughöhe verlassen hatte, befand sie sich im Wolkendickicht.

Trübe Suppe!

Bedacht darauf, sich dabei nicht die Knie zu stoßen, gelang es ihm, seine Beine übereinander zu kreuzen. Abgesehen davon, dass Start und Landung die schwierigsten Parts beim Fliegen waren und die Gefahr eines Absturzes dabei am größten, mochte Winfried die Situation nicht, in der man sich weder in maximaler Flughöhe befand noch mit beiden Beinen auf dem Erdboden. Winfried verabscheute Schwebezustände in allen Lebenslagen, beruflich genauso wie privat.

Das Flugzeug schaukelte und vibrierte, sackte in ein Luftloch, fing sich rasch. Der feiste Schenkel des Dicken links neben ihm drückte sekundenlang an Winfrieds Bein, während sich unvermittelt eine knochige Hand von rechts in seinen Unterarm krallte.

„Ups!“, kicherte die junge Frau am Fensterplatz nervös, „´tschuldigung. Ich hab mich total erschrocken. Dabei ist es fast wie in der Achterbahn. So´n luftiges Kribbeln im Bauch.“

Langsam ließ sie seinen Arm wieder los. Winfried war entzückt von seiner Sitznachbarin. In ihrem niedlichen Gesicht strahlten babygroße, helle Augen. Wie alt mochte sie sein? Siebzehn, oder doch schon älter? Sie war ziemlich sexy.

„Fliegen Sie oft?“, fragte das Mädchen.

„Ja, aber normalerweise Business.“

„Dachte ich mir schon.“ Die junge Frau ließ ihren Blick kokett von seinem markanten Gesicht auf das Designerjackett und noch ein Stückchen tiefer schweifen. „War wohl schon ausgebucht? Die Maschine ist ja auch rappelvoll.“ Sie lächelte. „Ich bin Liza. Wer bist du?“

Winfried betrachtete es als ein gutes Zeichen, dass diese junge Frau so rasch zum Du überging, Offensichtlich hielt sie ihn nicht für einen Grufti. Er nahm seine Brille von der Nase und grinste gerade so breit, dass seine Lachfalten noch attraktiv wirkten.

„Hi, Liza, ich bin Win“, sagte er locker und legte die Brille wieder in das Etui zurück. „Was hast du vor in Hamburg?“

Endlich nestelte Liza die hässlichen Stöpsel aus ihren Ohrmuscheln. Dann straffte sie ihren Oberkörper so, dass die beiden kleinen Wölbungen unter ihrem Pullover besser zur Geltung kamen. „Och, ich war als Au-Pair bei so einer saureichen Familie in Knightsbridge, und nun geht es zurück nach Hause. Such mir einen Job oder fang ein Studium an. Vielleicht Psychologie. Und du? Lass mich raten …“ Liza taxierte ihn eingehend. „Staranwalt, verheiratet, Kinder und der ganze Kram, oder?“

Einen Moment lang verlockte Winfried der Gedanke, seinen angestauten Seelenmüll bei diesem jungen Mädchen abzuladen, einem wehrlosen Opfer sozusagen. Was wäre schon dabei? Er würde sie nicht wiedersehen. Allerdings, man konnte nie wissen … vielleicht standen seine Chancen, sie intensiver kennenzulernen, gar nicht mal schlecht. Winfried entschied: Kein Wort zu ihr über seine völlig missglückte Ehe mit Edwina, nichts über die jämmerliche Schlammschlacht bei der Scheidung. Wozu sollte er ihr erzählen, dass er zwei Jungen hatte, die er nur noch alle zwei Wochen sehen durfte? Ganz zu schweigen von der Privatschule, die seine Kinder besuchten, weil Edwina darauf bestand. Das völlig überhöhte Schulgeld trieb ihn noch schneller in den Ruin. Doch wozu, um alles in der Welt, etwas verraten von dem finanziellen Desaster und allen anderen beruflichen Tiefschlägen, die ihn seit einem Jahr fertig machten? Und auch über seinen Vater, den er in dem norddeutschen Provinznest besuchen wollte, in dem er aufgewachsen war – nothing. Was ging es die Kleine an, dass er seinen Alten anpumpen musste, um überleben zu können?

„He? Entschuldigung, bekomme ich heute noch eine Antwort?“, meldete sich Liza.

„Ich bin nicht verheiratet“, sagte Winfried, und er log dabei nicht einmal, „und mir gehört eine Werbeagentur.“ Winfried fuhr sich mit der Hand über das volle, leicht wellige, graumelierte Haar. „Nach dem Abitur habe ich tatsächlich ein Semester Jura in Hamburg studiert, aber dann bin ich aus Deutschland weg. Erst nach Südfrankreich, später nach London. In England habe ich mir eine Existenz aufgebaut“, fügte er hinzu.

Sie nickte. “Du verdienst jede Menge Kohle, Win, das sieht man. Ich habe einen Blick dafür.“

Winfried lächelte wie Buddha.

Liza zog ihre Handtasche, einen ockergelben Stoffbeutel, hervor, und packte den IPod hinein. Dann verschwand sie beinahe mit ihrem ganzen Gesicht in dem Beutel, offensichtlich auf der Suche nach irgendetwas.

Winfried registrierte, dass er immer noch einen Druck auf den Ohren spürte, zum Glück konnte es nicht mehr lange bis zur Landung dauern. Durch das Fenster sah er Gebäude, Äcker, Rasenflächen, herbstfarbene Landschaft, hie und da Wasserläufe, kleine Seen, Bassins. Fahrzeuge in Spielzeuggröße schlichen über sich windende Asphaltpisten.

Von hier oben sah das Leben so geordnet aus.

Etwas später schwebte die Boeing träge auf das Flughafengelände zu, die Landebahn rückte immer näher, dann setzte die Maschine hart auf. Endlich wieder Bodenhaftung! Winfried spürte, wie sich der Körper seines beleibten Sitznachbarn bei der Landung für einen Moment an ihn drückte. Der dicke Mann entschuldigte sich dafür und klappte sein Buch zusammen. Liza starrte Kaugummi kauend vor sich hin. Mit überraschend kieksiger Stimme machte der Steward die obligatorische Durchsage mit der Bitte an die Passagiere, noch sitzen zu bleiben, bis die Maschine ihre endgültige Parkposition erreicht habe.

An den Fensterscheiben klebten dicke Wassertropfen. Draußen konnte man die Gebäude des Flughafens Hamburg-Fuhlsbüttel im Nieselregen erkennen. Tristes Herbstwetter. Passend zu seiner Seelenlage, fand Winfried, und tröstete sich damit, dass es auch in den düsteren Monaten goldene Tage gab. Seine Stimmung hellte sich auf, eigentlich war die Sache doch glasklar: Erstens, sein angekratztes Selbstwertgefühl verlangte nach Politur. Zweitens, hatte ihm nicht geradezu der Himmel das attraktive Mädchen an seiner Seite geschickt?

„Sag mal, wie alt bist du eigentlich, Liza?“

„Einundzwanzig! Und du?“

„Auf jeden Fall erwachsen wie du.“ Winfried ging zu seiner in den achtziger Jahren hinlänglich bewährten Abschleppmasche über: „Also, ich finde, du bist eine wirklich interessante Persönlichkeit. Ich würde dich gerne näher kennen lernen.“

Sie zog eine Augenbraue hoch und kaute weiter.

Klong! Das Leuchtzeichen für die Gurte erlosch. Leute schälten sich eilig aus ihren Sitzen, froh, der Enge gleich entfliehen zu können. Der Gang füllte sich im Nullkommanichts. Die Reisenden hatten den nächsten Termin, das nächste Ziel bereits vor Augen. Das merkwürdige Gefühl, sich gerade eben irgendwo zwischen Raum und Zeit befunden zu haben, geriet sofort in Vergessenheit. Alles war gut gegangen. What´s next?

Obwohl auf dem Gang Stau herrschte, weil die Tür noch gar nicht geöffnet war, wuchtete sich nun auch der dicke Mann aus seinem Sitz. Unwillkürlich drängten sich die Leute enger aneinander, um Platz für das respektable Schwergewicht zu schaffen. Winfried, der hager und lang war, nutzte die Lücke und schlüpfte einigermaßen geschmeidig hinterher. Beide Männer machten sich daran, ihr Handgepäck aus dem Fach über ihren Sitzen zu bergen. Winfried hievte seinen kleinen Koffer hinunter. Mehr Gepäck benötigte er nicht. Sein Rückflug war für übermorgen Abend gebucht.

In die Schlange vor ihnen kam zögerlich Bewegung, Liza ergriff die Chance, sich vor ihn in die Reihe einzufädeln. Sie war größer, als er vermutet hatte. Ihre staksigen Beine steckten in engen Röhrenjeans. Im Schneckentempo schoben sie sich ein Stückchen voran. Winfried drängte sich gegen Liza. Er spürte die eckigen Rückenknochen und das kleine, stramme Hinterteil.

„Mann, erdrück mich nicht!“, motzte Liza, die mit Hilfe des ockergelben Beutels Abstand zu ihrem übergewichtigen Vordermann hielt, nach hinten.

Die kleine Zurechtweisung ignorierend, kniff Winfried sie in die Seite. Seiner Erfahrung nach schätzten flirtbereite Frauen unter fünfundzwanzig forsches Verhalten bei Männern. Tatsächlich wandte sich Liza leise aufkreischend zu ihm um. Sie grinste: „Alberner Kerl.“

„Was ist, kommst du noch mit in eine Bar, hier auf dem Flughafen?“

„Ich muss noch zur Gepäckabholung, hab tausend Koffer.“

„Ich kann dir helfen.“

„Nein. Nicht nötig.“

Ehe Winfried weiter insistieren konnte, kam Bewegung in die Schlange. Alles drängte nun zügig aus der Maschine hinaus. Winfried und Liza wurden von der Menge mitgezogen. Erst im Flughafengebäude kamen sie dazu, ihr Gespräch wieder aufzunehmen.

„Hast du eine Handynummer?“, fragte Liza.

Winfried nickte und fummelte eine Visitenkarte – Reliefdruck auf echtem Bütten – aus der Jackentasche.

„Ich melde mich bei dir.“ Liza stellte sich auf die Zehenspitzen, zog Winfried zu sich heran und drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, verschwand sie in Richtung Gepäckausgabe.

Nach einer Toilettenpause ging Winfried an den Gepäckbändern vorbei, um die sich die Reisenden scharten, hinaus in die öffentliche Ankunftshalle. Dort lauerten Angehörige und andere Abholer hinter einer Absperrung. Sehr auffällig verhielt sich eine aufgekratzte Gruppe gut aussehender junger Leute mit Luftballons und Bannern, auf denen Welcome back, Lieschen stand sowie einem Plakat, auf dem ganz unverkennbar seine Sitznachbarin aus dem Flugzeug als Strandschönheit im Bikini abgebildet war. Und in der Mitte des aufgeregten Haufens stand ein junger Adonis mit einer einzelnen roten Rose. Winfried spürte seine Chance, die Schöne noch einmal wieder zu sehen, in den Keller sinken. Er trug es mit Fassung und strebte dem Ausgang entgegen. Am Taxistand warteten bereits jede Menge Menschen. Winfried seufzte. Bis er endlich bei seinem Vater eintreffen würde, konnte es noch eine Weile dauern.

3.

Ein Auto sauste viel zu schnell durch die Straße, in der Paula stand und den völlig leblos in seinem Rollstuhl zusammengesunkenen Rudolph Poppinga anstarrte. In ihren 63 Lebensjahren hatte Paula keinerlei einschlägige Erfahrungen mit Toten gesammelt. Nie war jemand in ihrer Anwesenheit gestorben. Ob es sich um Angehörige oder um Pflegepatienten handelte, immer hatte sie den entscheidenden Augenblick verpasst. Ihre Eltern waren bei einem Segelausflug ums Leben gekommen. Paulas erste Schwiegermutter segnete, so wenig rücksichtsvoll sie auch zu Lebzeiten gewesen war, das Zeitliche, als Paula sich mit ihrem ersten Mann Ludger eines kurzen Zelturlaubs am Plattensee erfreute. Auch der Anblick von Johnny Schmitz´ Leiche war ihr erspart geblieben. Paula hatte den hinfälligen Hamburger Lotsen, den sie betreute, zum Arzt begleitet. Während Paula im Wartezimmer saß, war Schmitz im Behandlungszimmer seines Arztes tot umgefallen.

Als gruselig empfand Paula von jeher die Sitte, Toten die letzte Ehre zu erweisen, indem man sich die aufgebahrten Leichen kurz vor der Beerdigung noch einmal anschaute. Nach Paulas Überzeugung sollte man Tote möglichst als Lebendige in Erinnerung behalten.

Vielleicht war Herr Poppinga nun ihr erster Toter?

Paula fühlte seinen Puls: schwach, sehr schwach. Der geht über den Jordan, dachte sie. Einen Moment lang erwog sie, Alarm zu schlagen, Hilfe zu rufen und in einem der Häuser zu klingeln, um darum zu bitten, einen Notarzt zu verständigen. Doch etwas in ihr sträubte sich dagegen.

Als sei nichts geschehen, schob sie den Rolli wieder an.

Poppinga war uralt, der hatte sein Leben gelebt. Im Krankenhaus würden sie ihn nur mit fiesen Schläuchen quälen, ihn notdürftig wieder aufpäppeln, und dann würde sie den noch hinfälliger und vergrätzter gewordenen Greis weiter pflegen müssen. Womöglich war er sowieso schon ins Koma gefallen. Von solchen Dramen konnte man ja fast täglich in der Zeitung lesen. Und dann? Paula würde mit leeren Händen dastehen. Tod oder Koma, egal – der versprochene Schmuck wäre futsch. Der rechtmäßige Erbe war Winfried Poppinga. Sie würde ihn schlecht um den verdienten Schmuck bitten können. „Ihr Vater hat an mir herumgefummelt, und als Dankeschön hat er mir dafür ein bisschen Geschmeide versprochen“, wie klänge das wohl in den Ohren eines Unbeteiligten? Sie war ja schließlich keine Straßendirne. Nein, so ging das ganz und gar nicht.

Abrupt hielt Paula wieder an. Sie bückte sich zu Rudolph Poppinga.

„Herr Poppinga!“

Nichts.

Und dann, ehe sie sich selbst ihrer Tätigkeit richtig bewusst wurde, machte sich Paula bereits an den Druckknöpfen des Capes zu schaffen. Sie wusste, das Schmuckkästchen ließ sich mit dem zierlichen Schlüssel öffnen, den Rudolph Poppinga ständig bei sich trug. Sie knöpfte das gestreifte Oberhemd vom Kragen her auf und fand sofort, was sie suchte. Zwischen dünnem, weißem Brusthaar baumelte eine schwere Goldkette, die im Ansatz des Unterhemdes verschwand. Paula zog an der Kette, und ein ovales Goldamulett kam zum Vorschein. Ihre ungelenken Finger verfluchend, brauchte sie eine Weile, bis der Verschluss des Amuletts aufschnappte. Dann endlich konnte sie das Schlüsselchen bergen. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie es in ihre Manteltasche gleiten ließ, wo es leise klirrend gegen die Coladose stieß.

Geschafft, dachte Paula, und setzte den Spaziergang mit gespannten Nerven fort. Jetzt erst bemerkte sie, dass das schöne Wetter umgeschlagen war. Grauen Vorhängen gleich hatten sich die Wolken zugezogen. Es fing an zu nieseln. Paula beschleunigte ihren Schritt. Da sah sie den Postboten auf seinem gelben Fahrrad aus einer Auffahrt biegen. Er fuhr direkt auf sie zu. Einen Moment lang dachte Paula, ihr Herz bliebe stehen. Der Postbote schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, das jedoch erstarb, als er den Blick auf Poppinga richtete. Er bremste scharf.

„Mit Herrn Poppinga stimmt was nich´. Schau ´n Se mal. Ich glaube …“

Pflichtbewusst stellte sich Paula neben den Mann, der unterdessen an dem Alten herumrüttelte.

„Wir müssen einen Arzt rufen“, sagte der Postbote besorgt, und ehe sich Paula versah, zog er sein Handy hervor und bestellte einen Rettungswagen.

*

Drei Stunden später – draußen goss es inzwischen in Strömen – ruhte sich Paula auf dem Sofa im Wohnzimmer der Poppinga Villa aus. Die ganze Sache hatte sie doch ziemlich mitgenommen. Rudolph Poppinga befand sich längst im Krankenhaus. Der Notarzt hatte sich um ihn gekümmert, dann war Poppinga von Sanitätern auf einer Trage in den Krankenwagen verfrachtet worden. Paula hatte einige Fragen beantworten müssen, dann konnte sie gehen. Der freundliche Postbote, Ronny Dreher hieß er, hatte sie auf einen Kaffee ins nahe gelegene Ristorante Roma eingeladen. Es hatte sich herausgestellt, dass Dreher genau wie Paula ursprünglich aus dem Osten stammte. Sie waren ins Plaudern geraten, und dann hatten sie noch zusammen Pizza gegessen.

Paula rülpste kräftig – die Pizza Diavolo lag ihr jetzt doch etwas im Magen – und griff zum Telefon neben dem Sofa.

„Silke, ich bin´s. Störe ich?“

„Nein. Ich räume nur gerade mein Bücherregal auf.“

„Kannst du mir einen Gefallen tun und mich in der Villa abholen? Der alte Poppinga hat einen schweren Kreislaufkollaps erlitten, als wir gerade spazieren waren. Der Rettungswagen hat ihn mitgenommen. Ich bin völlig erledigt.“

„Ach Gott. Das kann ich mir vorstellen.“ In Silkes warmer Stimme lag Anteilnahme. „Kein Problem, Tante Paula, wenn es dir nichts ausmacht, etwas zu warten. Ich habe gleich einen Termin, kann etwas dauern. Aber danach komme ich direkt zu dir.“

„Das ist lieb von dir … Silke? Wir müssten auch noch beim Krankenhaus vorbei, um ein paar Sachen für Poppinga abzugeben. Medikamentenliste, Zahnbürste und so etwas. “

„Kein Problem, ich habe dann Zeit für dich.“

Zufrieden legte Paula den Hörer auf. Silke war wie eine Tochter für sie. Mit ihrer inzwischen auf Mallorca lebenden Mutter Ruth – Paulas Schwester – hatte sich ihre Nichte nie gut verstanden. Silke war achtunddreißig, Grundschullehrerin und wie Paula unverheiratet und kinderlos. Seit der Lösung einer Dauerverlobung vor drei Jahren hatte sie jede Menge Zeit für ihre Tante. Die beiden Frauen besuchten Konzerte, gingen spazieren oder unternahmen Streifzüge über Flohmärkte. Dann passte Silke immer auf, dass Paula nicht zu viel Krimskrams mit nach Hause schleppte. Paula lächelte in sich hinein. Bestimmt würde ihre Nichte eines Tages die Schmuckstücke zu schätzen wissen, die sich Paula im Hause Poppinga verdient hatte.

Ja, der Schmuck! Paula konnte sich nicht vorstellen, dass der Alte die nächste Nacht überleben würde, so wie er ausgesehen hatte. Es ging jetzt darum, sich das zu sichern, was ihr zustand. Nur kurz schoss es Paula in den Sinn, Rudolph Poppinga könne genesen und entdecken, dass der Schlüssel weg war. Fiele sein Verdacht nicht automatisch auf Paula? Nun, es waren schließlich auch Krankenwagenfahrer, Ärzte und Krankenhauspersonal um ihn herum gewesen … Und so wischte Paula den Gedanken so energisch weg wie sonst den Speichel von Poppingas Kinn und tastete nach dem Mantel, den sie vorhin über das Sofa geworfen hatte. Aus der Manteltasche zog sie den Schlüssel hervor. Paula verschloss ihn fest in ihrer geballten Faust und wuchtete sich dann aus dem Sofa.

*

Im Schlafzimmer öffnete sie den großen Wäscheschrank. Zum zweiten Mal an diesem Tag – nachdem sie Rudolph Poppinga seine Schuhe morgens angezogen hatte – war Paula genötigt, in die Knie zu gehen. Ausgerechnet im untersten Fach, verborgen zwischen einem Stapel angegrauter Angora-Skiunterwäsche, befand sich das Schmuckkästchen. Paula wusste es so genau, weil sie es im letzten Jahr einmal für Poppinga hatte hervorholen müssen. Angestrengt wühlte sie in dem flauschigen Wäschestapel herum. Obwohl ihr Knie schmerzte, bückte sie sich noch ein Stückchen tiefer und schob ihren Kopf in das Innere des Schranks. Es half alles nichts. Die Schatulle war nicht an ihrem Platz! Immer beunruhigter durchforstete Paula die anderen Fächer.

Ohne Erfolg.

Fieberhaft überlegte sie, wo das Schmuckkästchen sein konnte. Hatte der Alte – misstrauisch wie er war – all seine Kräfte zusammengenommen und den Aufbewahrungsort geändert? Dann musste sich der Schmuck irgendwo im Erdgeschoss befinden, denn allein wäre Herr Poppinga niemals ins obere Stockwerk gelangt. Und wen außer Paula hätte er schon um Hilfe bitten können? Valentina, die zweimal im Monat das Haus gründlich putzte, kam wohl kaum infrage. Paula hatte das Mädchen mit der großporigen Haut und dem leichten Silberblick als Putzhilfe eingestellt. Valentina war, was das Denken anbelangte, ziemlich schwerfällig. Sie hatte vor allen Dingen Jungs im Kopf. Dauernd sprach sie davon, so bald wie möglich heiraten zu wollen. Paula war sich ziemlich sicher, Valentina und Herr Poppinga hatten kaum jemals mehr als eine Begrüßung ausgetauscht. Eher war es ihr so vorgekommen, als mache das Mädchen einen Bogen um den miesepetrigen Greis.

Paula atmete durch.

Sie wusste, der Alte hielt überall im Haus Geld verborgen. Den Verstecken fehlte jede Originalität. Unter der Matratze hatte Paula einmal ein Bündel von fünftausend D-Mark entdeckt, Euros fanden sich im ganzen Hause nicht. In einem vergilbten Tennissockenknäuel war sie auf fünfhundert Mark gestoßen, und beim Abstauben von Büchern hatte sie Geldscheine im Wert von zehntausend Mark in diversen alten Schwarten gefunden.

Paula beschloss, zuerst einmal den Schlafraum auf den Kopf zu stellen. Dabei konnte sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und Wäsche für das Krankenhaus zusammensuchen. Danach würde sie sich die anderen Räume vornehmen. Vorausgesetzt das Kästchen befand sich überhaupt noch in der Villa, würde sie es bestimmt entdecken.

4.

„In welcher Beziehung standen Sie zu Arne Goldbek?“

„Beziehung? Nun, ich bin die Klassenlehrerin von Tristan Goldbek …“

„… das ist der Sohn von Arne Goldbek. Laut unseren Unterlagen ist Tristan acht Jahre alt.“

„Ja, er geht in meine 2b. Ich unterrichte die Klasse in Deutsch und Kunst. Natürlich habe ich Kontakt zu den Eltern meiner Schüler. Es gibt Elternabende, Elterngespräche. Manchmal begleiten uns Väter und Mütter auf Ausflügen oder helfen beim Weihnachtsbasteln und diesen Sachen. Von solchen Anlässen her kenne ich auch Tristans Vater, der sich außerdem im Elternbeirat engagiert hat, recht gut.“

„Goldbeks Frau Melanie glaubt, Sie hätten eine Affäre mit ihm gehabt.“

„Wie kommt sie denn auf so etwas?“

„Sie hatten also keine sexuelle Beziehung zu dem Toten, Arne Goldbek?“

„Ja … ich meine, nein …“

„Sie bestreiten, vor einer Woche mit Arne Goldbek in einem Hotel in Cuxhaven gewesen zu sein, wo Sie sich ein Doppelzimmer mit ihm geteilt haben?“

„Wer behauptet das?“

„Melanie Goldbek hat die Rechnung für das Doppelzimmer in den Unterlagen ihres Mannes gefunden. Wir haben im Hotel nachgeforscht. Die Beschreibung trifft auf Sie zu, Frau Drösel.“

„Wie denn? Groß, brünett, blauäugig, Ende dreißig? So wie ich sehen doch viele Frauen aus.“

„Wir konnten ein Klassenfoto der 2b zeigen. Die Hotelangestellten haben Sie darauf wiedererkannt, Frau Drösel. Also, hatten Sie nun ein Verhältnis mit dem Ermordeten oder nicht?“

5.

Die Zimmerdecke war schmutzig weiß und mit Flecken übersät. Mücken, Fliegen, Spinnen, Falter hatten vor mehr als drei Jahrzehnten hier ihr Ende gefunden. Als Jugendlicher hatte Winfried es gemocht, die kleinen Viecher zu töten. Jagen, Nachspüren, Auflauern, ein akkurater Treffer – Klatsch, und aus war es mit dem Hin- und Hergesumme, Geflattere, Gekrabbel.

Winfried – obgleich er in London nie Eingang in derlei Kreise gefunden hatte – verstand die Leidenschaft der englischen Oberklasse für die Jagd nur allzu gut. Trotz Protesten der Öffentlichkeit fühlten sich Prinz Charles und seinesgleichen außerstande, von diesem erregenden, archaischen Treiben zu lassen, bei dem der Mensch sich an seiner Macht ergötzte.

Winfried löste seinen Blick von der Zimmerdecke und rieb sich die Augen. Unbeabsichtigt hatte er einen Mittagsschlaf in seinem ehemaligen Kinderzimmer gehalten.

Zwei Stunden zuvor war er in seiner Heimatstadt Lüneburg eingetroffen. Auf sein Klingeln hatte niemand in der Villa reagiert. Zum Glück besaß er noch immer einen Schlüssel. In aller Ruhe war Winfried durch sein Elternhaus gestreift. Spießbürgerlicher Mief in allen Räumen. Lag das Aroma von Angstschweiß nicht noch immer in der Luft? Oder bildete er es sich nur ein?

Die Jahre hatten der Villa zugesetzt. Besonders die sanitären Räume und die Küche strahlten eine eigenartige Tristesse aus. Die Kacheln an den Wänden waren mit einem grauen Schleier überzogen. Vermutlich war der nicht mehr wegzuscheuern, dachte Winfried.

Am Anfang ihrer Ehe war Edwina einmal mitgereist. Mit ihren tausend Veränderungstipps für die Wohnungseinrichtung war Winfrieds Frau, die wirklich Geschmack besaß, bei Rudolph Poppinga auf taube Ohren gestoßen.

„Sie hat einen hübschen Arsch, aber sie ist eine überdrehte Ziege“, lautete das derbe Urteil seines Vaters. Nun, im Grunde genommen hatte Rudolph Poppinga seine Schwiegertochter damit umfassend beschrieben, aber das war Winfried erst einige Jahre später aufgegangen. Die Abneigung beruhte jedenfalls auf Gegenseitigkeit. Als „beasty old man“, bezeichnete Edwina den Alten, und die Kinder Roderick und Rupert weigerten sich, den deutschen Opa zu besuchen, den sie für eine Art außerirdisches Monster hielten.

Zum Abschluss seines Rundgangs hatte sich Winfried im alten Kinderzimmer aufs Bett gelegt und sich dann an den Jungen erinnert, der er einmal gewesen war. Darüber musste er eingeschlafen sein …

Winfried gähnte herzhaft. Er setzte sich auf. Aus dem Kulturbeutel fischte er ein Fläschchen, schraubte den Verschluss auf und träufelte sich Eau de Toilette auf die Handinnenflächen. Nachdenklich klopfte er sich das erfrischende Duftwasser ins Gesicht.

Es machte keinen Sinn, die Begegnung mit dem Alten weiter aufzuschieben.

Er ging hinunter ins Erdgeschoss.

Im Wohnzimmer hörte er es rumoren. Was war da los?

Er drückte die Türklinke hinunter …

„Herr Poppinga, mein Gott“, stieß Paula kurzatmig hervor. „Sie können mich doch nicht so erschrecken!“

Die Altenpflegerin hielt ein Buch in den Händen. Neben ihr, auf der Konsole aus Carrara-Marmor, war ein stattlicher Stapel mit Geldscheinen aufgeschichtet. Ein blauer Hundertmarkschein lag obenauf.

„Was machen Sie da, Paula?“, fragte Winfried misstrauisch. „Und wo ist mein Vater?“

Paula klappte das Buch zusammen und sackte aufs Sofa.

„Ich muss Ihnen was erzählen.“ Auffordernd klopfte sie auf die freie Stelle neben sich.

Etwas unwillig ließ Winfried sich neben ihr nieder. „Nun legen Sie schon los, Paula.“ Er lehnte sich im Polster zurück und verschränkte die Arme.

„Ihr Vater ist heute Vormittag ins Krankenhaus eingeliefert worden“, sagte sie behutsam, „ein schwerer Zusammenbruch. Ich habe in der Agentur in London angerufen, aber ich habe Sie nicht an den Apparat bekommen. Sie wissen ja, ich kann kein Wort Englisch. Wir haben doch Russisch lernen müssen in der DDR …“

„Ja, ja“, sagte Winfried nervös, „ich war längst unterwegs hierher. Ist es schlimm mit Vater?“

„Es sah gar nicht gut aus. Also, ich fürchte …“

In Winfrieds Brust machte sich ein wundervoll leichtes Gefühl breit. War er bereits Erbe des Vermögens? Würde ihm das Betteln erspart bleiben?

„Vielleicht sollte ich im Krankenhaus anrufen?“, schlug er vor.

„Die wollten sich zwar bei mir melden, falls … Trotzdem, es ist sicherlich eine gute Idee, wenn Sie als Sohn mal nachfragen täten“, riet Paula.

„Die Nummer vom Krankenhaus?“

„Weiß ich nicht auswendig. Gucken Sie mal oben nach.“

Vis-à-vis vom ehemaligen Kinderzimmer befand sich das Arbeitszimmer. Winfried setzte sich auf den ausladenden Chefsessel des Vaters. Alles lag an seinem Platz wie dreißig Jahr zuvor.

Er griff nach dem Telefonbuch.

*

Kaum war Winfried Poppinga aus dem Zimmer verschwunden, hielt es Paula nicht mehr auf dem Sofa. Sie nahm den Geldstapel von der Marmorkonsole und stopfte sich die Scheine in ihr Mieder. Gewissensbisse plagten sie kaum. Winfried Poppinga war stinkreich und damit nun wirklich nicht auf die paar Kröten angewiesen, die in der Villa herumlagen, fand Paula.

Ihr Kopf war ganz heiß, es war, als habe sie ein Jagdfieber ergriffen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas so sehr begehrt zu haben wie Poppingas Schmuck. Sie würde die Stücke hüten wie ihren Augapfel und sich jeden Tag aufs Neue daran erfreuen. Und Winfried Poppinga? Hatte der nicht so etwas unanständig Gieriges im Blick? Überhaupt, seine Frau war ihm davongelaufen, das war bekannt. Was sollte er also mit dem Geschmeide anfangen – außer, es zu verscherbeln? Aus Paulas Sicht der Dinge stand fest: Sie musste die neue Eigentümerin der Schatulle werden, koste es, was es wolle. In Gedanken ging sie noch mal alle möglichen Verstecke im Haus durch. Wo nur war der Schmuck verborgen?

*

„Ja, gut. Ich komme vorbei. Auf Wiedersehen!“

Enttäuscht legte Winfried den altmodischen grauen Telefonhörer auf die Gabel zurück. Die Stationsschwester hatte ihm gerade mitgeteilt, dass sich der Zustand des Patienten stabilisiert habe. Er müsse sich keine Sorgen machen, sein Vater besäße eine beneidenswert robuste Konstitution. Winfried fröstelte: Der alte Knochen lebte noch!

Bevor er ins Krankenhaus fuhr, musste er auf alle Fälle der Altenpflegerin auf den Zahn fühlen. In Gedanken versunken stieg Winfried die knarrende Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

Als er auf der untersten Stufe angelangt war, klingelte es.

*

„Meine Tante? Paula Adam?“

Winfried taxierte die fremde Frau einen Moment lang: so um die vierzig, sah etwas müde aus, ebenmäßiges Gesicht, natürliche Ausstrahlung, brünett, fast so groß wie er selbst, schlank, aber doch kräftig gebaut – gar nicht mal schlecht.

„Kommen Sie doch rein, Frau …“

„Silke Drösel.“

*

Sie roch es sofort. In den üblichen dumpf-muffigen Geruch mischte sich heute eine angenehm frische Komponente. Die leichte Moos- und Sandelholznote ging zweifelsohne von dem gepflegten Mann aus, der ihr gerade seine Hand reichte und sich vorstellte. Das war also Poppingas angeblich so undankbarer Sohn, dachte Silke.

*

„Herr Poppinga …“ Paula kam aus der Küche. „Die Silke fährt mich in die Klinik. Ich nehme dies und jenes für ihren Vater mit.“

„Nicht nötig“, sagte Winfried entschieden. „Ich habe gerade mit dem Krankenhaus gesprochen und …“

Paula schlug sich auf den Mund.

„Vater geht es wesentlich besser. Die Sachen werde ich ihm persönlich bringen.“

„Vorhin sah er aber doch wie eine Leiche aus!“, rief Paula. „Sein Puls war so schwach.“

Winfried zuckte die Achseln. „Bringen Sie uns Kaffee, Paula?“

„Die Bewirtung von Gästen gehört zwar nicht zu meinen Aufgaben …“, maulte Paula, aber der junge Poppinga war schon auf dem Weg ins Wohnzimmer.

„Ich helfe gern“, bot Silke an.

„Gibt es Probleme?“, rief Winfried den Frauen zu.

„Blödmann“, murrte Paula.

Sie versetzte Silke einen Schubs in Richtung Wohnzimmer und verschwand dann in der Küche.

*

Im Wohnzimmer fiel Winfrieds erster Blick auf die Marmorkonsole.

Leer.

Suchend schaute er sich um.

Nichts.

Dieser scheinheilige Raffzahn von Altenpflegerin hatte alles eingesackt, dachte er empört.

„Sie haben wohl kein Auto dabei?“, fragte Silke Drösel in seine Gedanken hinein.

Statt zu antworten, ging er zur Konsole und wischte mit der Hand über den kühlen Stein.

„Also, wenn Sie möchten, kann ich Sie zum Krankenhaus fahren“, schlug Silke vor. „Tantchen könnten wir auf dem Weg absetzen.“

Wortlos tigerte Winfried im Zimmer umher. Vor dem Bücherregal blieb er stehen. Sein Blick schweifte über die Bücherrücken.

„Darf ich?“ Silke setzte sich aufs Sofa.

Winfried zog ein Buch aus dem Regal und blätterte darin. „Anna Karenina“, murmelte er. „Eine Lektüre, die wohl eher dem Geschmack meiner Mutter zugeordnet werden kann. Mein Vater war eindeutig der Jerry-Cotton-Typ. – Sie kennen meinen Vater, Frau Drösel?“

„Sicherlich. Ich hole meine Tante manchmal von der Arbeit ab.“

Er stellte das Buch ins Regal zurück. Dann sah er Silke forschend an. „Paula ist sehr vertraut mit meinem Vater, finden Sie nicht auch?“

„Wenn man einen Menschen derart intensiv betreut, ist das wohl kein Wunder, oder?“ Silke lächelte. „Sie leben in England? Ein Überraschungsbesuch?“

„In der Tat.“ Er setze sich ihr gegenüber in den Ohrensessel. „Und Sie, Frau Drösel? Wohnen Sie auch hier im Ort?“

„Ich komme aus Hamburg und arbeite dort als Grundschullehrerin. Momentan sind Herbstferien.“ Sie schlug die Beine übereinander. „Ich habe ein freundschaftliches Verhältnis zu meiner Tante. Wir unterstützen uns gegenseitig in Alltagsdingen. Paula besitzt ja zum Beispiel keinen Führerschein …“

Die Tür wurde aufgestoßen. Paula Adam trat mit einem voll beladenen Silbertablett ins Zimmer. Noch ehe sie den Tisch erreicht hatte, fragte Winfried anklagend: „Wo ist das Geld hin, das vorhin auf der Konsole lag?“

Leicht zitternd stellte Paula das Tablett ab. „Entschuldigung. Welches Geld, bitte?“

„Als ich vorhin ins Wohnzimmer kam, standen Sie hier mit einem Buch in der Hand herum, und auf der Konsole lag so ein dicker Stapel mit alten Hundertmarkscheinen.“ Er deutete mit der rechten Hand die Höhe des Stapels an.

„Davon weiß ich nichts“, behauptete Paula.

Sie lügt, wusste Winfried, der keinen Augenblick erwog, an seiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln.

Sie lügt, durchschaute auch Silke ihre Tante.

Ich lüge, dachte Paula.

Aber, wie willst du, Poppinga junior, es mir beweisen?

*

Silke Drösels Fahrstil war schnell und schnittig.

Sie sauste bei orangerot über die Ampel, überholte riskant und fuhr den anderen Verkehrsteilnehmern viel zu dicht auf. Paula saß hinter ihrer Nichte auf der Rückbank und klammerte sich, wie immer, wenn Silke am Steuer saß, an der Griffstange fest.

Winfried verfolgte die Fahrt vom Beifahrersitz aus.

Grundschullehrerinnen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, dachte er. Vor seinem geistigen Auge tauchte Fräulein Hehn, seine ehemalige Klassenlehrerin, auf. Die hatte noch streng zurück gebundene Haare gehabt und war von gediegener Erhabenheit gewesen.

Im Golf herrschte Schweigen.

Silke, deren Kopfweh nach drei Tassen starken Kaffees nachgelassen hatte, konzentrierte sich aufs Fahren. Paula blickte nachdenklich aus dem Fenster. Winfried ärgerte sich noch immer über Paulas Unverfrorenheit. Obwohl er momentan nicht gerne Zeit mit der verlogenen Altenpflegerin verbrachte, hatte er Silkes Angebot angenommen, ihn ins Krankenhaus zu fahren.

Sie befanden sich im südöstlichen Stadtgebiet. Vor ihnen ragte eine Kolonie von backsteinroten Hochhausriesen auf.

„Diese Wohnsilos aus den 70ern sind aber auch zu abscheulich“, sagte Winfried Poppinga.

Silke drosselte das Tempo und steuerte den Wagen durch die voll geparkte Straße. Sie hielt in zweiter Reihe.

Als das Auto abfuhr, sah Paula sich nicht um, doch sie hörte, wie sich das Motorengeräusch langsam entfernte.

Hoffentlich fällt Silke nicht auf diesen aufgeblasenen Kerl herein, schoss es ihr durch den Kopf.

6.

Im Erdgeschoss des Gebäudes, in dem Paula Adam lebte, gab es eine kleine Ladenzeile. Ein Schlüsseldienst, ein Drogerie-Discounter und ein Tante-Emma-Laden, der für seine besonders krossen, frisch aufgebackenen Frühstücksbrötchen bekannt war, befanden sich dort. Paula benötigte Milch für den Grießbrei zum Abendbrot. Sie betrat den engen, mit Waren des täglichen Gebrauchs vollgestopften Wagner´s Lebensmittel Shop.

Enno Röpers, die männliche Klatschbase aus dem dritten Stock, redete gerade etwas abseits des Eingangs auf die Kassiererin ein. Helene Raiser, die eine Etage tiefer direkt unter Paula wohnte, stand vor dem Gemüseregal und versperrte mit ihrem ausladenden Hinterteil den Durchgang.

„Helene, lässt du mich mal vorbei?“

Schwerfällig drehte sich Helene zu Paula um. „Ach, du bist das! Guck mal, was hältst du von den Bananen?“ Helene senkte ihre Stimme, damit die Kassiererin Ulla, die um keine bissige Erwiderung verlegen war, nichts davon mitbekam. „Die sehen doch aus, als wären sie schon mal tiefgefroren gewesen, oder?“

Paula zuckte mit den Achseln. Das Thema Bananen war ihr noch immer zu heikel. Nach dem ebenso akuten wie berühmten Bananenmangel in der DDR hatte sie sich nach der Wende an der gelben Südfrucht regelrecht überfressen. Sie schob sich an Helene vorbei und bog in einen der beiden engen Gänge ein. An der Kühltheke blieb sie stehen. Paula fischte nach der letzten Tüte Frischmilch mit einem Fettanteil von 3,5 Prozent. Bis übermorgen haltbar. Na, immerhin, dachte Paula. Sie hätte sich auch für die pasteurisierte Milch entscheiden können, die in größerer Menge am Ende des Ganges zur Auswahl stand, aber Paula schätzte frische Produkte. Sie überlegte, ob sie noch etwas für den morgigen Tag gebrauchen konnte. Nudeln, Graupen, Reis hatte sie immer vorrätig, es könnte aber nichts schaden, ein paar Tomaten und ein bisschen frisches Obst mitzunehmen.

Sie ging zum Obst- und Gemüseregal zurück. Helene hatte sich noch keinen Zentimeter weiterbewegt. Sie hielt zwei Äpfel prüfend in den Händen.

„Na, Helene, suchst du Würmer?“

„Ich will einen richtig schönen Apfelkuchen backen.“ Helenes Augen glänzten vor Freude.

„Ich dachte, du wolltest etwas mehr auf deine Linie achten“, sagte Paula.

„Schon. Aber ich bekomme morgen Kaffeebesuch.“ Wieder senkte Helene verschwörerisch ihre Stimme: „Jaroslav kommt zu mir. Er liebt Apfelkuchen!“

Helene sprach von dem polnischen Bauarbeiter mit dem wettergegerbten Gesicht und der beachtlichen Arm- und Brustmuskulatur, die er den ganzen Sommer über täglich zur Schau getragen hatte. Bei seinem Anblick war so manche Frau im Wohnblock stärker ins Schwitzen geraten, als die Temperaturen es gerechtfertigt hätten. Jaroslaw hatte eine samtweiche Stimme, sprach ein sehr charmantes, gutes Deutsch und war nicht mehr ganz jung – viele Frauen, besonders die in die Jahre Gekommenen, hatten ein Auge auf ihn geworfen. Es war Paula schleierhaft, wieso er sich ausgerechnet von der fetten Helene einladen ließ.

„Helene? Wie alt bist du eigentlich?“ Paula stopfte Tomaten in eine Papiertüte.

„Bei neununddreißig habe ich aufgehört zu zählen“, kicherte Helene. „Jaroslaw ist übrigens schon achtundfünfzig – hättest du das gedacht?“

Paula zuckte mit den Achseln. „Dann viel Glück mit dem Kuchen“, sagte sie, schnappte sich eine Apfelsine und ging zur Kasse.

Sie packte ihren Einkauf auf das Rollband: ein Tetrapack Milch, die Orange, drei mittelgroße Tomaten. Ulla tippte die Beträge stoisch in die Kasse und erwies sich als ungewohnt mundfaul. Paula ließ sich eine Plastiktüte geben, in der sie ihre Einkäufe verstaute. Sie zahlte und war froh, als Ulla sich damit begnügte, sie mit dem vertrauten „Tschüssie! Einen schönen …!“ zu verabschieden.

Der Fahrstuhl hielt im sechsten Stock. Paula stieg aus und ging den kargen Flur entlang bis zu ihrer Wohnung. Achtundvierzig Quadratmeter, Wohnzimmer mit Küchenzeile, separates Schlafzimmer, Bad und Flur. Sie stellte die Einkaufstüte ab, drehte den Wohnungsschlüssel ins Schloss und sperrte die Tür auf. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde.

Blöder Spanner, dachte sie verächtlich.

Dennoch ließ sie die Wohnungstür geöffnet, während sie ihren Mantel und die Schuhe auszog und ihren Pulli mit dem V-Ausschnitt glattstrich, bevor sie sich nach der Tüte mit den Einkäufen bückte. Sie wusste, ihr Nachbar von gegenüber würde den Ansatz ihrer Brüste durch den Türspäher sehen können. Sollte er sich doch immer wieder bewusst werden, was er sich hatte entgehen lassen.

Und es bereuen.

Paula ahnte in dem Moment, als sie sich in ihren Ausschnitt griff, dass es eine Torheit war, aber sie konnte sich die Geste einfach nicht verkneifen. Triumphierend zog sie die versteckten Hundertmarkscheine aus der Tiefe ihres Dekolletés hervor, wedelte damit kurz vor ihrer Nase herum, zwinkerte fröhlich und legte das Geld auf den Schuhschrank aus Kiefernholz.

Dann schloss sie die Wohnungstür und ging zum Küchentresen, auf dem sie die Einkaufstüte zwischen leeren Wein- und Likörflaschen, Pralinenschachteln und Blechdosen parkte. In der gesamten Wohnung sah es aus wie in einer Schatzkammer, fand Paula. Einen türkischen Basar oder eine Rumpelbude nannte es ihre Nichte Silke. Aber genau so mochte Paula ihr Zuhause: vollgestopft mit einem Sammelsurium aus Kostbarkeiten und Ramsch, Geschmackvollem genauso wie Nippes.

Sie nahm einen der ausgewaschenen Quarkbecher und packte die Tomaten hinein. Dann griff sie sich ein kleines scharfes Messer und begann nachdenklich die Orange zu schälen.

Was war heute eigentlich passiert? Der Alte hatte einen Kollaps erlitten, war dann zwar im Krankenhaus gelandet, aber bedauerlicherweise nicht in die ewigen Jagdgründe eingegangen.

Außerdem hatte sie den Schlüssel für die Schmuckschatulle an sich genommen. Und dann war auch noch der junge Poppinga wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Paula häutete die Orange gewissenhaft und entfernte jedes weiße Zipfelchen. Es war ihr herzlich egal, wenn Winfried Poppinga sie scheel anschaute, weil er sie verdächtigte, das Geld eingesteckt zu haben. Sie hatte zwar kein so breites Hinterteil wie Helene Raiser, aber davon, Dinge auszusitzen, verstand sie etwas.

Genüsslich stopfte sich Paula ein Stückchen Orange in den Mund. Süß und saftig – so müsste das Leben immer sein. Ob der alte Poppinga den Verlust von Schlüssel und Geld überhaupt jemals bemerken würde? Und falls doch? Rudolph Poppinga würde mit absoluter Sicherheit nicht wissen können, wer ihm den Schlüssel und das Geld gestohlen hatte. Vielleicht interessierte es den Alten auch gar nicht mehr. Bloß irgendwie am Leben zu sein und wahrhaftig zu leben war ein erheblicher Unterschied. So kam es Paula jedenfalls vor.

Das wahre Problem war ein anderes.

Paulas Stirn umwölkte sich. Der Schmuck, auf den sie schließlich einen gewissen Anspruch erworben hatte, war im Erdgeschoss nicht auffindbar gewesen.

Sie spülte sich die klebrigen Finger ab, nahm sich Stift und Zettel und machte eine Liste. Wo konnte die Schatulle sein?

1. Versteckt in der Villa (sehr wahrscheinlich)

2. Bei Dr. Kolbe (möglich)

3. Bei Putzkraft Valentina (sehr unwahrscheinlich)

4. Bei Ilsa Schott auf Norderney (???)

Die Türglocke dingdongte. Paula schrak aus ihren Gedanken hoch. Kurz darauf lugte sie durch den Späher. Und grinste breit.

Jaroslaw, der Nachbar von gegenüber, hatte endlich angebissen.

7.

„Was hältst du von dieser Silke Drösel? Ist sie glaubwürdig?“ Hauptkommissarin Carola Karberg sah ihren Kollegen Lars Thede an.

„Sie macht einen ehrlichen Eindruck. Allerdings hat sie eine ganze Weile gebraucht, bis sie mit der Sprache herauskam“, meinte der Oberkommissar.

„Kann man irgendwie verstehen.“ Carola Karberg fuhr sich durchs stoppelkurze, rotblonde Haar. „Stell dir mal das Gerede an der Schule vor, wenn das bekannt wird!“

„Es geht rum wie ein Lauffeuer: Grundschullehrerin hat heiße Affäre mit Elternvertreter. Ehefrauen, nehmt euch in Acht vor den verführerischen Pädagoginnen!“ Thede ließ ein jungenhaftes Lächeln aufblitzen. Er hatte ungewöhnlich scharfe Eckzähne. „Na, wenn meine Kleine erst mal schulreif ist … Ich bin schon gespannt.“

„Wie alt ist Marie? Ein Jahr?“ Carola Karberg kratzte sich einen eingetrockneten Fleck vom Ärmel ihres schwarzen Blazers.

„Siebzehn Monate“, sagte Thede stolz, „sie ist unheimlich früh dran mit allem …“

„Na, trotzdem hat es mit der Einschulung noch ein bisschen Zeit, oder?“ Carola Karberg hasste es, Unterhaltungen über Kleinkinder zu führen. „Fassen wir zusammen, was wir haben: Silke Drösel hat bei der Befragung schließlich eingeräumt, seit einem halben Jahr eine sexuelle Beziehung zu Arne Goldbek gehabt zu haben. Richtig?“

„Es gab regelmäßige Treffen in ihrer Wohnung. Und am vergangenen Wochenende haben sie eine Liebesnacht im Hotel Seemöwe in Cuxhaven verbracht“, bestätigte Thede. „Goldbeks Frau Melanie hat gedacht, er übernachtet bei seiner Mutter. Ab Sonntagmittag war er bei seiner Familie. Alles schien in Ordnung zu sein. Aber am Montagabend kam er nicht vom Büro heim.“ Thede verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Am Dienstagmorgen wurde seine Leiche im Mittelkanal entdeckt. Von Passanten. Arne Goldbek hing zwischen Kaimauer und Duckdalbe fest.“

„Der Todeszeitpunkt ist auf …“, Carola Karberg warf einen Blick auf den Bericht aus der Gerichtsmedizin, „… Montag zwischen zwanzig Uhr dreißig und dreiundzwanzig Uhr festgelegt worden. Goldbek weist Schädelfrakturen auf, die auf Fremdeinwirkung schließen lassen. Außerdem gibt es Prellungen am gesamten Körper. Die Obduktion hat ergeben, dass er schon tot war, als er ins Wasser kam.“

„Dann können wir einen Unfall ausschließen, er kann sich ja nicht selbst ins Wasser gerollt haben, wenn er schon tot war“, schlussfolgerte Thede.

Sprachlos fixierte Carola Karberg ihren Kollegen. Ein starker Wirbel am Haaransatz ließ sein dunkles, volles Haar keck an der Stirn abstehen. Manchmal benahm sich Thede wie ein echtes Greenhorn.

„Die Zeitungen haben geschrieben, der Mann sei ertrunken“, sagte sie. „Ich finde, wir lassen die Öffentlichkeit vorerst in diesem Glauben. Vielleicht verrät sich der Täter mit seinem Wissen.“

Thede nickte.

„Was meint die Spurensicherung?“, fragte sie.

„Der Regen hat alles abgewaschen in der Nacht.“

„Mist.“ Carola Karberg dachte nach. „Stellen wir uns doch einmal Folgendes vor: Arne Goldbek hält sich aus irgendeinem Grund an diesem regennassen Abend in der Dunkelheit am Kanal auf. Was hat er dort gesucht?“

Thede zuckte die Achseln. „Eine Verabredung?“

„Bei dem Sauwetter? Draußen? Im Dunkeln?“ Sie runzelte die Stirn.

„Goldbek gerät mit jemandem in Streit …Vielleicht saß da ein Penner herum oder ein Drogentyp, der sich gestört fühlte“, entwarf Thede das Szenario.

Carola Karberg seufzte. „Was wissen wir also konkret?“

Lars Thede überflog eine mit krakeliger Schrift bedeckte Seite seines Notizblocks. „Die Ehefrau Melanie Goldbek hat als Alibi angegeben, ihren Sohn gegen acht Uhr ins Bett gebracht zu haben. Sie ist die ganze Nacht über bei ihm geblieben. Die Geliebte Silke Drösel hat ausgesagt, sie habe abends Klassenarbeiten korrigiert …“

„Wir sollten die jeweiligen Nachbarn fragen, ob sie bestätigen können, dass die Frauen zu Hause waren“, unterbrach ihn die Hauptkommissarin. Wusste Melanie Goldbek etwas von dem Verhältnis ihres Mannes?“

„Nun, sie hatte seit kurzem einen Verdacht. So drückte sie es jedenfalls aus. Außerdem ist sie sich zu hundert Prozent sicher, dass ihr Mann das Verhältnis beenden wollte.“

„Wie kommt sie denn darauf?“

„Sie hat ihm wenige Tage vor seinem Tod gesagt, dass sie ein Kind erwartet. Arne Goldbek war super glücklich darüber. Nie hätte er seine Familie verlassen, sagt seine Frau.“

„Was?“, entfuhr es Carola Karberg. „Und dann trifft sich der Kerl trotzdem mit seiner Geliebten?“

Thede grinste. „Männer sind so. Wahrscheinlich war der Ausflug lange geplant, den wollte er sich nicht entgehen lassen.“

„Noch einmal nach Herzenslust rummachen und dann als Abschiedsgeschenk der Laufpass. Das kommt bei Frauen gar nicht gut an!“, sagte die Kommissarin. „Sonstige Verdächtige? Hatte Goldbek Feinde?“

„Schwer zu sagen“, meinte Thede. „In der Firma hält man sich bedeckt. Die Kollegen sind schockiert über seinen Tod, na klar.“

„Wo war Goldbek beschäftigt?“

„Bei einer Versicherung in der City Süd.

„Was wissen wir bisher über ihn?“

Lars Thede lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. „Goldbek spielte Tennis im Verein. Er war ein begeisterter Familienmensch, heißt es. Dazu passt auch das Engagement in der Schule. Außerdem kümmerte er sich um seine Mutter, die auf Norderney lebt.“

„Was ist mit dem Vater?“

„Arne Goldbek wurde unehelich geboren, Vater unbekannt. Die Mutter hat als Haushälterin gearbeitet und ihn ziemlich vergöttert.“

„Weibergeschichten? Ich meine, außer der Affäre mit der Drösel?“, bohrte Carola Karberg weiter.

„Die Witwe schweigt dazu. Ein Kollege, der sich als guter Freund bezeichnet, sagt, Goldbek soll kein Kind von Traurigkeit gewesen sein.“

„Wusste der Kollege etwas von Goldbeks außerehelicher Affäre?“

„Stig-Sebastian Hansen, so heißt er, hat eine Weile herumgedruckst. Dann konnte er aber nicht an sich halten und hat die Loyalität gegenüber dem toten Freund vollständig fahren lassen. Er war ziemlich gut im Bilde darüber, was mit der Lehrerin lief. Goldbek scheint Stig-Sebastian Hansen dafür eingespannt zu haben, ihm Alibis für seine Treffen mit Silke Drösel zu verschaffen.“

„Kennt dieser Hansen die Lehrerin?“

„Flüchtig. Interessant ist aber, dass Hansen das Gefühl hatte, die Drösel würde dem Goldbek zunehmend auf den Pelz rücken, ihn einengen. Und sie wollte wohl ein Kind von ihm.“

„Wenn das kein Grund für einen Familienvater ist, in Panik zu geraten“, sagte Carola Karberg trocken.

„Ich halte Hansen für ziemlich glaubwürdig“, sagte Thede. „Ein Mensch, der nichts hinter dem Berg halten kann.“

„Vielleicht hat der Hansen ja auch Melanie Goldbek etwas gesteckt?“, überlegte die Hauptkommissarin.

8.

Seit fünf Jahren lebten die Goldbeks in einem spitzgiebeligen Rotklinker-Einfamilienhaus aus den dreißiger Jahren im ruhigen Stadtteil Hamburg-Sasel. Wegen der guten Lage und der wachsenden Beliebtheit dieser Bauart war der Wert des Hauses stetig gestiegen. Vor zwei Jahren hatten die Goldbeks den Dachboden zu einem Spielzimmer für den achtjährigen Tristan ausgebaut. Es war ein verwunschenes Plätzchen entstanden, auch weil sich Melanie gegenüber ihrem Mann durchgesetzt hatte (was selten genug vorkam), und die ursprünglichen Holzdielen erhalten geblieben waren.

Der fast tausend Quadratmeter große Garten, gepflegt und wunderschön eingewachsen, war bisher Arnes Revier gewesen. Weil sie ihm sowieso nichts hatte Recht machen können, hatte Melanie ihrem Mann im wahrsten Sinne des Wortes das Feld überlassen.

Das war nun vorbei.

Melanie Goldbek machte sich mit der Astschere am Schmetterlingsstrauch zu schaffen. Sie kappte zuerst die vertrockneten Dolden und schnitt dann die Äste zurück. Jetzt merkte sie, wie gut es ihr tat, sich im Freien zu beschäftigen. Zum Glück regnete es nicht mehr, und der frische Wind pustete den Kopf frei. Sie trug Gummistiefel. Über Arnes Seemannspulli, an dem Wollmäuse klebten, hatte sie sich eine dunkelgrüne Wachsjacke gezogen, in der sie zu schwitzen begann.

Melanie war nervös. Wurde sie von der Kripo verdächtigt, Arne getötet zu haben? Der junge Beamte hatte sie ziemlich ausgequetscht. Was der alles wissen wollte! Dafür, dass sie gerade erst Witwe geworden war, hatte man sie nicht gerade zartfühlend behandelt.

Doch auch an Silke Drösel als Verdächtige kamen die Kripoleute nicht vorbei, dafür hatte Stig-Sebastian gesorgt. Arnes Kollege bei der Versicherung hatte sofort verstanden, dass Tristans Klassenlehrerin ein hinterhältiges Luder war. „Die Pädagogin unseres Vertrauens“ war Arnes Spitzname für die scheinbar so nette, allseits beliebte Frau Drösel gewesen.

Der schäbige Heuchler!

Was hatte ihr Mann nur an diesem stämmigen Weib gefunden? Wäre Arne wenigstens mit einem Victoria-Beckham-Typ fremdgegangen, bis zu einem gewissen Grad hätte Melanie es akzeptieren können. Sie fragte sich, wozu sie sich selbst immerzu kasteite mit geschmackloser Low-Fat-Kost und endlosen Fitness-Einheiten im Studio. Seit Tristan auf der Welt war, befand sie sich im ständigen Kampf um einen optimalen Body-Mass-Index. Zurzeit gab es kein überflüssiges Gramm Fett an ihrem Körper, und der Bauch hing auch nur minimal durch, wenn sie sich nach vorne beugte. Immer auf der Hut vor Arnes entlarvendem Blick, vermied sie solche unvorteilhaften Bewegungen sowieso schon seit Langem. Ihr Mann hatte sehr verletzend sein können. Niemals körperlich, nein, das nicht.

Er gab grobe Sätze von sich, die in Bewusstsein und Seele wie wahllos gesetzte Messerhiebe stachen. Dann wieder punktierte er die Wunde, die von ihren Selbstzweifeln eiterte, chirurgisch präzise. Und manchmal, da schlichen sich die abwertenden Bemerkungen hinterhältig und unglaublich gemein aus dem Verborgenen heran und überfielen Melanie völlig unvorbereitet in trügerisch harmonischen Augenblicken der Zweisamkeit. Rare Momente.

Mit Tristan war Arne zum Glück nie so gemein umgesprungen wie mit ihr. Natürlich war der Junge ganz durcheinander wegen des Todes seines Vaters. Bis zur Beerdigung würde Tristan erst einmal nicht in die Schule gehen. Sollte Silke Drösel bis dahin nicht aus dem Verkehr gezogen worden sein, so musste Tristan eben umgemeldet werden.

Melanie streckte sich, bekam eine der hoch hängenden Dolden zu fassen und trennte sie mit einem entschlossenen Schnitt vom Ast. Staubige braune Blüten rieselten ihr ins Gesicht. Sie kniff die Augen zu.

9.

Paula räkelte sich in ihrem Bett.

Lächelnd betrachtete sie Jaroslav, der mit nacktem Oberkörper, aber mit einer Jeans bekleidet, vor ihr stand. Er fächelte mit einer Handvoll der Geldscheine herum die er von der Flurkommode genommen hatte.

„Ich kaufe Champagner, wir müssen feiern“, sagte Jaroslaw mit seiner sanften Stimme.

„In der DDR hat uns der Rotkäppchensekt immer hervorragend geschmeckt“, wandte Paula ein. Doch sie lächelte: „Meinetwegen kannst du auch den sündhaft teuren Champagner kaufen.“

Sie hatte einfach zu gute Laune. Endlich hatte sich Jaroslav in ihren bereits im Sommer ausgelegten Netzen verfangen. Sie verzichtete darauf, sich einzugestehen, es könne ihn eher das Geld als ihre Verführungskünste gelockt haben.

Das Leben war so kurz. Wer etwas vom großen süßen Kuchen abbekommen wollte, der auf dem Buffet des Lebens bereitstand, musste schneller zupacken und durchsetzungsfähiger sein als die anderen. Es sei denn, man gehörte zu den wenigen Auserwählten, die sich – aus welchem Grund auch immer – zuerst bedienen durften.

Paula hatte immer kämpfen müssen.

„Was hältst du eigentlich von der Ehe, Paula?“ Aus der Halsöffnung seines Strickpullis tauchte Jaroslavs Gesicht auf.

„Willst du mir einen Heiratsantrag machen? So schnell?“

Jaroslav lachte. „Heute nicht. Warst du schon mal verheiratet?“

„Zweimal zu oft“, sagte sie trocken.

„Wie waren deine Männer? So wie ich?“

„Mit achtzehn habe ich Ludger geheiratet. Wir waren beide viel zu jung. Ludger hing noch an Mutters Nabelschnur. Und Wolfgang, mein Zweiter, war zu schön für mich. Das fanden andere Frauen auch.“ Paula schaute zu, wie sich Jaro seine Socken überstreifte. Seine Füße waren nicht sehr ansehnlich. Zu viel Hornhaut. Gelbe Zehennägel.

„Du warst bestimmt schon immer eine tolle Braut“, schmeichelte Jaroslav.

Paula lachte. „Brauchst du eigentlich gar keine Brille, Jaro?“

„Nur zum Lesen“, gestand er verlegen ein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137545
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Mord Lüneburg Eifersucht Altenpflegerin skurril Juwelen

Autoren

  • Klaudia Jeske (Autor:in)

  • Torsten Seemann (Herausgeber:in)

Klaudia Jeske wurde 1964 in Hamburg geboren und wuchs in Norddeutschland auf. Ihr Krimi "Erben ist menschlich" entstand 2010 während eines Schreibkurses an der Volkshochschule und wurde 2011 erstmals als Taschenbuch veröffentlicht. Daneben sind von Klaudia diverse Kurzgeschichten erschienen. Sie war Mitglied der Hamburger Autorengruppe "Mörderklüngel" und bei den "Mörderischen Schwestern". Weitere Projekte waren in Planung, konnten von ihr aber zu Lebzeiten nicht mehr fertig gestellt werden.
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Titel: Erben ist menschlich