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Der Fantast und das Erbe des Ra

von Michaela Göhr (Autor:in)
420 Seiten
Reihe: Der Fantast, Band 2

Zusammenfassung

NEUAUFLAGE!

Stell dir vor ...
Was, wenn dein größter Feind
zugleich dein Bruder ist -
du weißt es nur nicht mehr?

Um seine Freunde und seine Heimat vor dem Geist des Großen zu schützen, der seit über 900 Jahren im Amulett namens Auge des Ra gefangen ist, muss Simon alle Register seiner Vorstellungskraft ziehen und sogar die Grenze zwischen Leben und Tod überschreiten. Dabei erfährt er mehr über sich selbst sowie seine besondere Verbindung zu diesem mächtigen Feind, als ihm lieb ist. Ihre Schicksale sind erschreckend eng miteinander verwoben. Darüber hinaus hat Ra dafür gesorgt, dass sein gefährliches Erbe an einen Ort gelangt ist, an dem es möglichst viel Unheil anrichten kann ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

Michaela Göhr

 

Der Fantast
und das Erbe des Ra

 

Band 2

 

Urban-Fantasy-Roman

 

Zur Autorin

 

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Das Schreiben begann sie schon in ihrer Kindheit, wo sie ihre Gedanken in Gedichten, Liedern und kurzen Geschichten ausdrückte. Ihre Leidenschaft für längere Texte fand sie jedoch erst vor kurzer Zeit. Die Fantasy-Reihe um die Figur des Fantasten ist ihr Debüt im Bereich der Romane.

 

Danksagung

 

Ich danke Elisabeth Marienhagen und allen Menschen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Außerdem bedanke ich mich bei Kathrin Franke-Mois von Epic Moon – Coverdesign für die schöne Neugestaltung des Umschlags.

 

Alle Bände der Reihe

 

Der Fantast (Band 1)

Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2)

Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3)

Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4)

Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

 

 

Sämtliche Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden. Gemeinsamkeiten mit geschichtlichen Personen sind teilweise beabsichtigt, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen jedoch rein zufällig.

Impressum

 

Text: © Copyright by Michaela Göhr
Birkenweg 24, 58553 Halver
mgoehr@unitybox.de
www.facebookay.com/derfantast24/
derfantast.jimdo.com

 

independently published

 

Umschlaggestaltung: © Kathrin Franke-Mois

Epic Moon – Coverdesign / München

https://epicmooncoverdesign.com

 

Bilder: Erik Bjerkesjö

ISBN 9783739447223

 

Erstausgabe Juli 2016
letzte Überarbeitung: Dezember 2020

Glück

 

der Samen
des Glücks
ist unglaublich zäh
er wird keimen
wo immer
gesät

 

dort wachsen
wo mit Sorgfalt
gepflegt

 

nur erblühn
wo du
fest
an ihn glaubst

 

 

Über mich

 

Ich bade oder dusche fast täglich und schwimme, so oft es geht, im eigenen Pool. Dabei liegt der Wasserverbrauch meiner Wohnung nahezu bei null. Eigentlich könnten sie mir den Hahn komplett abdrehen und ich würde es wahrscheinlich nicht mal bemerken. Eher schon der seltene Besucher, der sich bei mir nicht auskennt. Das liegt jedoch nicht daran, dass ich mir nie die Zähne putze, mein Geschäft im Garten erledige oder immer beim Nachbarn bade, sondern ist Ausdruck eines sparsamen Lebensstils. Echtes Wasser ist eben kostbar. Wenn ich eins auf meinen vielen Reisen in Wüstengebiete gelernt habe, dann das.

Ich mag dieses Element, sogar sehr. Nichts bereitet mir mehr Vergnügen, als in ein natürliches Gewässer einzutauchen und mich darin aufzuhalten – möglichst stundenlang. Aber wie mein bester Freund es einmal treffend formulierte: Gedachtes Wasser ist auch ziemlich nass und es genügt mir zur täglichen Reinigung vollkommen.

Diejenigen unter euch, die mein erstes Buch gelesen haben, mögen mir diese Erklärungen verzeihen, aber es ist nützlich zu wissen, dass mein Wasser tatsächlich nass ist, nicht nur für mich, sondern für jeden, der damit in Berührung kommt. Genauso, wie man sich mit vorgestellter Zahnpasta die Zähne effektiv reinigen kann, ein selbstkreierter Sessel mindestens ebenso bequem ist wie ein echter und imaginäres Klopapier seinen Zweck erfüllt – dies sogar besonders umweltgerecht.

Wer nun glaubt, einen Spinner vor sich zu haben, der in seiner völlig eigenen Welt lebt und nie unter Leute geht, den muss ich leider enttäuschen. Ich begebe mich tagtäglich aus dem Haus und ins gesellschaftliche Gewühl, reise viel und gehe selten einem Menschen aus dem Weg. Wenn ihr mich auf der Straße seht, falle ich euch vermutlich nicht besonders auf: durchschnittliche Größe, blau-graue Augen, dunkelblonde Haare, schlank, meistens sportlich gekleidet in Jeans und Turnschuhen, vorzugsweise alles in mittelblau. Diese Farbe trage ich gern, weil sie mich bei spontanen Ausflügen auf dem Luftweg besser tarnt. Okay, das ist sicherlich nicht perfekt, aber ab und an sind solche ungeplanten eiligen Ortswechsel dringend notwendig. Sie gehören zu meinem Job, der mich ordentlich auf Trab hält. Eigentlich ist es mehr eine Berufung als ein Beruf und verhilft mir nicht eben zu Reichtum, da die meisten Hilferufe von ehrenamtlich arbeitenden Einrichtungen stammen: Rotes Kreuz, Feuerwehr, Johanniter, Malteser, Luftrettung sowie weitere humanitäre Hilfsorganisationen haben meine Nummer. Um Miete zu bezahlen, notwendige Kleidungsstücke zu kaufen und ab und zu mal ins Kino zu gehen oder mir reale Lebensmittel zu gönnen, nehme ich als ‚Geheimagent in Teilzeit‘ Aufträge vom Bundesnachrichtendienst sowie von diversen Spezialeinheiten der Polizei an. Diese Tätigkeiten entsprechen meist nicht dem intellektuellen Niveau eines diplomierten Physikers. Die Naturwissenschaft leistet mir jedoch gute Dienste, indem sie mir ermöglicht, meine Fähigkeiten effektiver einzusetzen, um Menschen zu helfen. Ich weiß, wie furchtbar naiv sich das anhört – Spiderman und Co lassen grüßen. Ungern vergleiche ich mich mit Comic-Helden, aber was würdet ihr tun, wenn euch solche Kräfte in die Wiege gelegt worden wären? Eigentlich will ich es gar nicht wissen. Ich versuche auch nicht, mich in irgendeiner Weise für meine Lebenseinstellung oder mein Handeln zu rechtfertigen, da ich zutiefst dankbar dafür bin, dass es mir möglich ist.

Dieses Buch ersetzt mir den Seelendoktor, dem ich die Erlebnisse sonst erzählt hätte. Ich denke, jeder Mensch benötigt ein Ventil, um Dinge zu verarbeiten, die ihn besonders beschäftigen. Vor Kurzem habe ich das Schreiben als eine solche Chance für mich entdeckt. Es ist wie eine Sucht und gleichzeitig eine Notwendigkeit geworden, die ich bei jeder Gelegenheit ausnutze. Es entspannt ungemein, auch wenn ich objektiv betrachtet nur wenig Zeit dafür erübrigen kann. Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass ich nicht darauf angewiesen bin, mich an einem bestimmten Ort dazu aufzuhalten oder ausschließlich diese Tätigkeit auszuführen. Ich schreibe in der Badewanne sitzend, auf dem Sofa liegend, beim Essen, Schwimmen, Radfahren, Joggen oder auf dem Weg zur Arbeit. Ist alles eine Frage der Übung.

Wer mich bereits kennt, wird das als völlig normal bei mir ansehen. Wem es befremdlich erscheint, dem erschließt es sich sicherlich beim Lesen der nachfolgenden Story, deshalb spare ich mir lange Erklärungen dazu.

Wer bereit ist, sich auf dieses ungewöhnliche und nervenaufreibende Abenteuer einzulassen, der hält sich am besten irgendwo fest, um nicht in den Sog der fantastischen Ereignisse gezogen zu werden und dabei den Boden der Realität unter den Füßen zu verlieren ...

 

Teil 1

 

Große Begegnungen

1.

 

He, Schlafmütze, Bock auf Frühstück?

„Hmm?“ Mühsam öffnete ich die Augen und stellte fest, mich im Badezimmer zu befinden, auf einer zwischen Klo und Badewanne gequetschten Matratze. Oha, ich musste sehr müde gewesen sein nach dem anstrengenden Auftrag gestern! Ich lag recht bequem und warm eingepackt. Allerdings änderte sich dieser Zustand abrupt, als mir die Lächerlichkeit meiner Lage bewusst wurde.

Da ich ohnehin seit Jahren kein reales Bett mehr besaß, war der Ort, wo ich mir eins dachte, eher nebensächlich – aber das hier war selbst mir zu peinlich.

Okay antwortete ich meinem Freund gedanklich, der mich soeben mit seinem mentalen Anklopfen geweckt hatte. Ausgiebig gähnend streckte ich mich und nahm eine kurze Dusche zum Wachwerden.

Wie lang brauchst du noch? Timo stand in seiner eigenen Wohnung in der Küche. Den Geräuschen und Gerüchen nach, die ich von ihm empfing, kochte er soeben Kaffee.

„Fünf Minuten“, gab ich lapidar zurück, zog mich an und öffnete die Wohnungstür.

Red keinen Quatsch, du stehst schon fast auf der Straße!

„Na dann eben drei Minuten.“

Im Eiltempo düste ich die Treppen hinab. Frühstück bei meinem besten Freund war eine seltene Sache. Es kam nicht oft vor, dass wir dafür Zeit fanden. Umso mehr genoss ich diese Momente, in denen ich ganz ich selbst sein durfte. Auf Inlinern benötigte ich für den knappen Kilometer nur zwei Minuten. Den ganzen Weg über begleiteten mich der Kaffeeduft sowie das Aroma der frischen Brötchen. Sinneseindrücke, die Timo so intensiv wahrnahm, dass sie mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Rasch öffnete ich die Eingangstür und lief die wenigen Stufen zur Bleibe meines besten Kumpels und seiner Freundin hinauf.

„Hi Susanna.“ Beim Ankommen gab ich Timos Schnecke rasch einen Kuss auf die Wange. Sie lachte und stieß mich mit gespielter Empörung zurück.

„Komm mir nicht zu nahe, du Unhold!“

Timo erschien mit dem Kaffee. „Na, baggerst du wieder meine Geliebte an?“

„Du kennst mich doch, ich kann einfach nicht widerstehen, wenn sie mich so ansieht ...“

„Das bildest du dir bloß ein“, knurrte die anziehende Brünette und hielt das Brotmesser wie ein Schwert vor sich. „En garde, du Schuft!“

Sie machte unbeholfene Fechtbewegungen in der Luft.

„Wie Sie wünschen, Madame“, entgegnete ich mit höfischer Verbeugung und parierte ihren Streich mit einer eleganten Bewegung meines gedachten Miniatursäbels. Wir fochten einen Augenblick verbissen, bis Timo vorsichtig das Tablett mit dem Brotbelag an uns vorbei bugsierte und zielsicher auf dem Tisch abstellte.

„Na, seid ihr fertig mit eurer Vorstellung?“, fragte er dabei spöttisch. „Ich für meinen Teil würde jetzt gern frühstücken.“

Wir schlossen sofort einen Friedensvertrag und nahmen Platz. Manchmal beneidete ich meinen Freund um diese Frau. Hübsch, klug und witzig verstand sie es perfekt, sich gegen uns beide zu behaupten. Sie akzeptierte mich, wie ich war und nahm mich als ‚Laune der Natur‘ völlig gelassen – ebenso wie die Tatsache, dass ihr Lover von Geburt an blind war und trotzdem viel von dem mitbekam, was um ihn herum geschah. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie genau wusste, welche besondere Beziehung es zwischen Timo und mir gab und dass ihre Zweisamkeit mit meinem Freund deshalb nur selten wirklich bestand. Trotzdem schien sie es mir nicht im Geringsten krummzunehmen.

„Was liegt heute an?“, fragte ich mit vollem Mund. Frische Brötchen vom Bäcker hatten bei mir Seltenheitswert.

„Also ich würde gern in die Stadt gehen“, sagte Susanna und blickte verträumt aus dem Fenster, von wo aus man den Aussichtsturm sehen konnte, das Wahrzeichen unseres Ortes. „Ihr zwei habt sowieso wieder was Geheimnisvolles vor, bei dem ich nicht dabei sein darf. Und später muss ich noch einiges für morgen vorbereiten.“

„Ursprünglich hatte ich gedacht, du kommst mit zu Meik“, sagte Timo erstaunt. „Er hat sich doch extra dieses Wochenende für uns frei genommen.“

„Oh, ja – hatte ich total vergessen!“ Susanna schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

„Apropos Meik!“, fiel mir da siedend heiß ein. „Er hat gestern am frühen Morgen angerufen und lässt sich für heute entschuldigen.“

„Ach, was du nicht sagst! Wann war das denn?“, fragte Timo verblüfft.

„Gegen halb sieben. Da wart ihr zwei ...“

„Schon gut“, wehrte mein Freund ab. „So genau brauchst du’s nicht zu beschreiben. Aber du hättest mir eher Bescheid sagen können.“

„Tut mir leid. Erst schienst du zu beschäftigt und dann war ich ziemlich eingespannt, da blieb einfach keine Luft dafür.“

„Ah, das war nicht so gemeint. Du hast die Sache gestern übrigens echt clever gelöst, wie ich finde. Nicht übel, dein Schachzug mit dem Sekundenkleber.“

Ich kicherte. „Gelöst ist dafür dann wohl das falsche Wort.“

Timo prustete ebenfalls los. Susanna sah mal wieder ratlos von einem zum anderen und schüttelte schmunzelnd den Kopf.

„Ihr zwei seid Kindsköpfe, wisst ihr das? Wenn man euch zuhört, könnte man glauben, dass ihr vollkomen abgedreht seid. Keiner, der euch zuhört, käme auf die Idee, zwischen hoch gebildeten Männern zu sitzen, die sich mit wichtigen Aufgaben für die Allgemeinheit beschäftigen.“

„Aber das tun wir doch!“, verteidigte ich mich. „Leider unterliegt der Fall nun mal strengster Geheimhaltung und solange du kein Mitglied meines Teams bist, darf ich dir nicht viel darüber erzählen.“

„Das ist unfair! Timo erfährt alles, obwohl er nicht offiziell beteiligt ist, aber ich werde nie eingeweiht!“

Es war ein rein rhetorischer Protest und keinesfalls ernstgemeint. Die Freundin meines besten Freundes wusste ziemlich viel über meine Tätigkeit beim Geheimdienst – jedenfalls mehr als sie sollte. Und sie war sich im Klaren darüber, dass ich Timo gar nichts davon verschweigen konnte – es sei denn, er war gerade sehr abgelenkt. Deshalb gingen wir nicht weiter darauf ein und besprachen, was wir an unserem freien Tag unternehmen wollten. Shoppen stellte keine annehmbare Alternative dar, darum versuchten wir uns zwischen verschiedenen Events zu entscheiden, die wir schon länger vorhatten, aber aus Zeitmangel bisher immer verschieben mussten.

„Kajak fahren in den Stromschnellen fänd ich super, das haben wir noch nie gemacht.“

„Du wolltest mir schon längst Drachenfliegen beibringen!“

„Auch gut. Aber danach fahren wir Kajak, ja?“

Susanna verabschiedete sich schließlich und ließ uns zwei allein, um ihre Kollektion an Sommerkleidung zu vergrößern. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie fort war, wechselten wir sofort das Thema.

„Und? Was hat Meik gesagt?“, hakte mein scharfsinniger Freund nach.

„Ich glaube, er hat etwas Dämliches vor. Am Telefon gab’s nur Andeutungen, aber ich befürchte, er möchte öffentlich auftreten. Er sprach von der ‚ganz großen Show‘.“

„Oh nein! Das hört sich so vertraut an.“ Timo machte ein finsteres Gesicht. Wir saßen noch immer am Tisch. Dennoch räumte ich derweil schon mal das Geschirr ab und schaffte notdürftig etwas Ordnung. Susanna mochte klug, geschickt und liebenswürdig sein, gleichzeitig war sie ebenso vielbeschäftigt, chaotisch und zerstreut wie mein bester Kumpel. Deshalb blieb oft einiges an Hausarbeit in der Wohnung liegen. Mir machte das zwar nicht viel aus, aber ich wusste, wie schwierig es für Timo war, sich in einem unaufgeräumten Zimmer zurechtzufinden. Unsere gemeinsame Zeit in der Studentenbude hatte mich gelehrt, Ordnung für uns beide zu halten.

Ich nickte. „Ja, du hast recht – wie immer. Wir müssen mit ihm reden, am besten jetzt gleich. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

Während Timo sich ausgehfertig machte, spülte ich rasch das Geschirr und räumte es ein, wischte den Tisch ab und fegte den Boden. Es war so automatisiert, dass ich dabei Zeitung las und die Zähne putzte. Alltägliches Multitasking, bei dem das Lesen bequem im Fernsehsessel eindeutig im Vordergrund stand.

Keine fünfzehn Minuten später befanden wir uns bereits auf dem Weg zu unserem gemeinsamen Freund Meik, der etwa acht Kilometer entfernt wohnte. Timos Tandem brachte uns zuverlässig und schnell überall hin – bei jedem Wetter. Susanna besaß einen Kleinwagen, doch der war hauptsächlich für ihre Dienstfahrten vorgesehen und stand an freien Tagen meistens im Carport. Von uns beiden durfte niemand offiziell damit fahren, da wir ohne Führerschein waren. Bei Timo war klar, dass er keinen machen konnte, und ich hatte ihn bisher nie benötigt. Was nicht heißt, dass ich nicht in der Lage war, bei Bedarf jedes Fahrzeug zu fahren. Aber ich bevorzugte umweltfreundliche Fortbewegungsmittel und das Tandem war zudem völlig unauffällig – zumindest, solange wir uns an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hielten.

Das Wetter an diesem milden Herbsttag lud geradezu zum Fahrradfahren ein. Deshalb wählten wir den längeren, aber schöneren Weg zum Nachbarort und genossen den Fahrtwind um die Nase. Wir hatten es nicht eilig. Unterwegs sprachen wir darüber, welche erstaunliche Entwicklung Meik gemacht hatte. Mittlerweile waren acht Monate ins Land gegangen, seitdem ich den jungen Mann verletzt im Wald gefunden und ihm das Auge des Ra anvertraut hatte. Zuvor war ich zehn Jahre lang Träger und Beschützer des Amuletts gewesen und hatte geglaubt, diese Rolle bis zum Lebensende ausfüllen zu müssen. Aber scheinbar war meine Bestimmung nun doch eine andere. Aus unserem Freund, dem bescheidenen, talentierten Medizinstudenten war mittlerweile ein hoch geachteter Naturheilkundiger geworden, dessen eigene Praxis boomte. Er hatte sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, danach jedoch nicht den konventionellen Weg eingeschlagen, sondern sich sofort selbstständig gemacht – mit durchschlagendem Erfolg. Das Auge, dessen unheimliche Kräfte mir bestens vertraut waren, diente Meik auf höchst erstaunliche Weise. Es verstärkte seine heilenden Fähigkeiten bis hin zu absoluten Wundertaten. Meine Aufgabe hatte ich bisher darin gesehen, ihn und das Amulett vor Neidern und Anfeindungen zu beschützen und ihn im Gebrauch des machtvollen Symbols anzuleiten. Denn es war nicht ungefährlich, Ras Kraft in Anspruch zu nehmen – er forderte immer seinen Preis dafür. Meistens bestand dieser darin, abhängig vom Tragen des Schmuckstücks zu werden und das eigene Handeln in Einklang mit Ras Willen zu bringen.

Bei unserer Ankunft stand ein geräumiger Transporter vor dem Anwesen des Wunderheilers. Eine Traube Schaulustiger versuchte, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Aber die hohe Mauer und die vielen Koniferen schirmten das Gelände recht zuverlässig vor Neugierigen ab. Gut für uns, denn wir nahmen wie üblich nicht den Vordereingang, sondern schlichen uns weiter hinten über die drei Meter hohe Mauer, die zusätzlich mit Eisenspitzen versehen war. Meik kannte unsere Art des Eintretens – vor allem, wenn Andrang bei ihm herrschte oder er keinen offiziellen Besuch haben wollte – und war damit bisher völlig einverstanden.

Wir fanden unseren Freund draußen im Garten, wo ein Fernsehteam emsig dabei war, eine Art Studio einzurichten. Meik saß auf einem Stuhl und wurde für seinen Auftritt zurechtgemacht. Als er uns bemerkte, umwölkte sich seine Stirn kurz, bevor er mir zulächelte. „Hi, wollt ihr doch zusehen? Ich dachte, ihr hättet an eurem gemeinsamen freien Tag etwas Besseres zu tun. Außerdem bringt der Sender es bereits in knapp drei Wochen.“

„Wir müssen mit dir reden, Meik“, sagte ich ernst.

„Du siehst doch, dass es momentan schlecht ist. Wie wär’s mit morgen Abend? Da hätte ich Zeit für euch.“

„Nein, jetzt, vor deinem Auftritt. Nur fünf Minuten, bitte!

Es war eigentlich keine Bitte. Meik hatte sich noch nie geweigert, mit mir zu sprechen, und es wäre mir nie nicht in den Sinn gekommen, ihn dazu zu zwingen, aber mir war wichtig, dass er die Dringlichkeit hinter diesen Worten bemerkte. Er wusste, dass ich durchaus in der Lage war, meinen Willen durchzusetzen. Dennoch schien er es heute darauf ankommen zu lassen – etwas, das mich noch mehr beunruhigte als die bloße Tatsache, dass er öffentlich mit seinen Wunderheilungen auftreten wollte. Wir starrten uns einen Augenblick lang unbewegt an. Timo krallte sich in meinen Arm und presste die Lippen zusammen.

Das ist nicht Meik, oder?

Ich sah den stillen Kampf im Gesicht des Mannes, dessen Make-up mittlerweile beendet war. Schließlich schloss er kurz die Augen und nickte unmerklich, gab den murrenden Fernsehleuten zu verstehen, dass er noch ein paar Minuten brauchte und ging mit uns ins Haus. Erleichtert folgten wir ihm den bekannten Weg ins Büro.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, fragte ich übergangslos. „Du erinnerst dich doch sicherlich daran, was ich dir von der Bruderschaft erzählt habe und dass es da draußen noch immer Leute gibt, die für den Besitz des Amuletts über Leichen gehen.“

„Mach dir keine Sorgen um mich“, meinte Meik leichthin. „Ich weiß genau, was ich tue. Es wird Zeit, dass die Leute von mir erfahren. Schließlich möchte ich meinen Wirkungskreis vergrößern. Umso mehr Menschen kann geholfen werden.“

„Aber was ist mit deiner Privatsphäre und Sicherheit – bedeutet dir das gar nichts?“

„Du bist nicht mein Vormund, Simon, nicht einmal mein Mentor. Du hast mir viele wertvolle Tipps gegeben, aber nun bin ich stark genug, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich brauche deinen Schutz nicht mehr. Und auch keine Belehrungen über Moral. Es ist nichts Verwerfliches daran, meine Fähigkeiten in den Dienst aller zu stellen.“

„Aber es sind nicht deine eigenen Kräfte, Meik“, sagte Timo leise. „Es sind diejenigen, die das Amulett dir verleiht. Und dieses Ding ist gefährlich! Es beeinflusst dich bereits mit seinem Streben nach Macht. Sieh dich an! Der Meik, den ich von früher her kannte, hätte so etwas nie getan.“

„Ja, ich bin anders geworden – selbstbewusster, stärker. Ich bin es leid, mich vor der Welt zu verstecken. Gerade du solltest das nachvollziehen können, Simon!

„Was willst du damit bezwecken, dass du dich outest? Es wird einen wahnsinnigen Medienrummel geben, du wirst ein Star werden – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Keine ruhige Minute mehr, kein Privatleben, Anfeindung, Neid, Missgunst und die enorm erhöhte Gefahr, dass jemand von der Bruderschaft davon erfährt, dass du das Auge besitzt.“

„Wie gesagt, ich kann auf mich selbst aufpassen. Keine Sorge, Freunde, ich werde nicht verraten, woher meine Kräfte stammen. Niemand wird das Schmuckstück zu Gesicht bekommen. Es bleibt unser Geheimnis.“

„Es ist trotzdem ein unwägbares Risiko“, sagte Timo düster. „Du solltest die Show besser abblasen oder so wenig zeigen, dass sie von alleine das Interesse an dir verlieren.“

„Bist du verrückt?“, rief Meik aufgebracht. „Ich kann jetzt nicht mehr zurück – und ich mach mich bestimmt nicht vor laufender Kamera zum Affen! Also entschuldigt mich, ich habe einen wichtigen Auftritt. Wenn ihr wollt, dürft ihr zusehen, aber ich warne euch – mischt euch besser nicht mehr in meine Angelegenheiten ein!“

Er erhob sich und marschierte zur Tür, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen.

Es ist wirklich nicht mehr Meik.

Ich stimmte meinem Freund vollkommen zu. Resigniert und betrübt folgten wir ihm nach draußen, wo er sowohl vom Fernsehteam als auch von einem geladenen Publikum empfangen wurde. Es waren nur wenige Menschen, denen der Live-Zugang zu diesem Fernsehauftritt gewährt wurde, hauptsächlich Kranke oder Verletzte, die anschließend gesund nach Hause gehen würden. Wir wussten es so sicher, dass wir nicht zusehen mussten. Eigentlich hatten wir dennoch vorgehabt, zu bleiben. Aber mein Handy vibrierte und verriet mir, dass ein Notfall mal wieder meine Anwesenheit erforderte.

„Tut mir leid“, murmelte ich, „Bombendrohung in einem Einkaufszentrum. Scheint ernst zu sein, dauert wahrscheinlich nicht lange. Soll ich dich nachher wieder abholen?“

„Nimm mich lieber mit“, stöhnte mein Freund kopfschüttelnd. „Ich ertrag das Theater hier nicht ohne dich.“

Wir verdrückten uns klammheimlich. Ich brachte Timo auf direktem Luftweg nach Hause und setzte ihn sanft mit dem Fallschirm nah seiner Bleibe ab, bevor ich in größerer Höhe beschleunigte, um den Auftrag des Sondereinsatzkommandos auszuführen.

 

2.

 

Der Fall sah nach Routine aus. Die knallharte Sprengstoffexpertin Elena, die ich bereits aus etlichen Einsätzen kannte, begrüßte mich strahlend, als ich auftauchte.

„Hallo Simon, schön dich zu sehen! Hier ist seit einer halben Stunde die Hölle los. Es gab einen anonymen Anruf und einer der Shopper hat eine Bombe entdeckt. Das Zentrum wird zurzeit evakuiert und wir warten nur noch auf das Okay für den Einsatz des Teams. Vermutlich gibt es mehrere Sprengsätze, aber sie haben erst den einen gefunden. Darf ich dir unseren Einsatzleiter vorstellen?“

Sie brachte mich zu einem Mann in Schutzkleidung, der sich angeregt mit zwei weiteren unterhielt. Einen davon kannte ich. Der junge Soko-Mitarbeiter wurde zurecht ‚Sven Glückspilz‘ genannt, war notorischer Wiederholungstäter, was gemeinsame Spezialeinsätze mit dem Fantasten anbelangte, und ich konnte ihn mit Fug und Recht als hartnäckigen Fan bezeichnen.

„Chef, hier ist der Spezialist, den ich angerufen habe! Er wird uns garantiert helfen, die Bomben zu finden, und entschärft sie auch bei Bedarf.“

Der Mann namens Henderson begrüßte mich knapp mit einem Stirnrunzeln. „Wo ist Ihre Schutzausrüstung? Nun, Sie können welche von uns haben ...“

Er erging sich lang und breit über die bisherigen Maßnahmen und mutmaßliche Anzahl von Bomben. Ich hörte ihm höflich zu und durchforstete währenddessen gründlich das Gebäude. Als er seinen Vortrag beendet hatte, war ich ebenfalls fertig und vernahm mit voller Aufmerksamkeit: „... also ziehen Sie sich besser sofort um, da wir jetzt reingehen. Alle bereit?“

Ich nickte wie die anderen auch und bemerkte: „Es wird höchste Eisenbahn. Die acht mit Zeitzündern versehenen Sprengsätze liegen im Gebäude verteilt und lassen uns nur noch wenige Minuten. Vier davon habe ich bereits entschärft, aber die restlichen sind problematisch, da sie zusammengeschaltet sind und zu weit voneinander entfernt liegen, um gleichzeitig die nötigen Kabel zu kappen. Dafür brauche ich die Hilfestellung Ihrer Truppe.“

Der Einsatzleiter sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren, aber meine beiden Bekannten lachten bloß und versicherten ihrem Boss, dass es wohl stimmen würde. Ohne weitere Diskussionen betrat ich mit den sechs Spezialisten im Schlepptau das evakuierte Gebäude. Die drei oder vier Polizisten, die sich dort aufhielten, räumten beim Anblick des Bombenkommandos eilig das Feld. Rasch verteilten wir die Aufgaben. Elena, Sven und dem Einsatzleiter beschrieb ich, wo die scharfen Bomben angebracht waren, den übrigen drei die Positionen der entschärften. Ich selbst machte mich auf den Weg zum vierten aktiven Sprengsatz. Die Zeit wurde langsam knapp – noch fünf Minuten bis zur Detonation. Aber wir brauchten nur drei davon, um uns zu koordinieren. Von den anderen bekam ich über Funk die Bestätigung, dass sie bereit waren, und schließlich kappten wir den entscheidenden Draht genau gleichzeitig. Erledigt.

„Das war verdammt knapp!“, hörte ich den Einsatzleiter durchs Funkgerät. „Gut, dass Sie da waren, sonst hätten wir es niemals rechtzeitig geschafft. Obwohl ich absolut keine Ahnung habe, wie Sie das angestellt haben.“

„Ich sage es ja nur ungern, aber der Countdown der vier anderen Bomben zeigte bei ihrer Entschärfung jeweils noch etwas über drei Minuten“, erklärte ich düster, als die Gruppe wieder beisammenstand.

Sechs Augenpaare starrten mich an. Die Schlussfolgerung, dass es jemand bewusst auf das Sonderkommando abgesehen hatte, lag nahe und jagte der Truppe manchen Schauer über den Rücken. Aber sie trugen es mit Fassung.

„Na, wenigstens hatte er dank dir keinen Erfolg mit seinem Plan“, stellte Elena nüchtern fest. „Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass du mir den Hals rettest.“

Wir redeten auf dem Weg zum Polizeirevier und auch dort noch eine Weile über die Bombenleger und ihre Motive.

„Vielleicht eine Terrorgruppe?“, vermutete Henderson, dem das Ganze nicht geheuer schien.

„Möglich. Aber hätten Terroristen vorher die Einkäufer gewarnt und genug Zeit gelassen, um das Gebäude zu evakuieren?“, überlegte einer der Männer.

„Sicherlich nicht“, entgegnete Elena kopfschüttelnd. „Ich denke, Simon hat recht – es war ein Anschlag gegen die Polizei.“

„Oder es war nur ein Ablenkungsmanöver“, murmelte ich und sah die Frau vor mir scharf an. „Wessen Vorschlag war es eigentlich, mich einzuschalten?“

„Meine natürlich. Wieso?“

„War nur eine Idee ...“

Die Art der Verkabelung und die knapp bemessene Zeit bis zur Detonation kamen mir wie eine extra für mich überlegte Fleißaufgabe vor. Der Gedanke machte mich nervös.

„Ach was, woher sollte der Bombenleger denn wissen, dass jemand vom Team auf die Idee kommen würde, den Fantasten anzurufen?“, winkte Sven ab.

„Das war gar nicht so unwahrscheinlich, weil er wusste, dass du dich freiwillig melden würdest“, meinte ich. „Immerhin hat er extra ein Einkaufszentrum gewählt, das in deinem Heimatbezirk liegt.“

Wenigstens schien bei meinen Freunden, Bekannten und bei meinen Eltern zu Hause alles bestens zu sein. Das beruhigte mich wieder ein wenig. Wir rätselten noch etwas herum, aber zu einem Ergebnis kamen wir nicht.

Bei meinem Team vom Geheimdienst versuchte ich es als Nächstes. Das miese Gefühl, als die Verbindung erst nicht zustande kam und ich ein wenig nachhelfen musste, bestätigte sich gleich darauf, als ich Sörens gedämpfte Stimme vernahm.

„Gott sei Dank, dass du anrufst! Ich hatte extra eins der Telefone versteckt für den Fall, dass du dich zufällig melden solltest. Von hier aus kommt man nämlich nicht mehr raus und die Handys haben sie uns alle abgenommen. Wir werden belagert, Simon, schon seit einer Stunde! Sie haben den Boss geschnappt und in seinem Büro eingesperrt. Die restlichen Mitarbeiter haben sie zusammengepfercht und drohen damit, jeden zu erschießen, der nicht ihren Anweisungen folgt.“

„Wer sind diese Kerle und was wollen sie?“

Ich befand mich bereits auf den Weg zu einem geeigneten Startplatz.

„Offiziell suchen sie nach irgendwelchen Geheimakten. Aber ihr Anführer scheint immens an dir interessiert zu sein. Er hat jeden einzeln rausgeholt und über dich sowie das Auge des Ra ausgefragt. Er drohte uns Folter an, um deine Adresse zu erfahren. Zum Glück kennt die niemand von uns ... nur der Boss. Ich befürchte, dass sie ihn gerade in die Mangel nehmen. Kannst du herkommen?“

„Bin schon auf dem Weg“, grummelte ich und gab Vollgas, Großstadt hin oder her. Meine Gedanken überschlugen sich. Wer hatte auf einmal ein solches Interesse an dem Amulett? Auf Anhieb fielen mir nur sehr wenige Menschen ein, die noch immer hinter dem Auge her waren. Aber es gab sie natürlich, die hartnäckigen Anhänger der geheimen Bruderschaft, die weiterhin hofften, dass eines Tages zu ihnen zurückkehren würde. Mehr als zwanzig Jahre lang warteten sie nun schon vergeblich darauf, aber manche gaben eben nie auf.

„Kannst du den Anführer der Bande beschreiben?“

„Den habe ich nur kurz gesehen“, flüsterte Sören. „Er wirkt wie ein ehemaliger Soldat. Harter Gesichtsausdruck, militärischer Haarschnitt, mittelgroß, stark wie ein Ochse.“

„Hmm, das sagt mir nichts. Komisch, aber ist ja auch egal, wer es ist. Jedenfalls werde ich ihn mir mal vorknöpfen.“„Oh Mist! Ich muss Schluss machen!“

Fluchend beendete ich die Verbindung, in der Hoffnung, dass mein Teamkollege nicht für dieses Gespräch bezahlen musste. Zumindest war ich nun fast da und machte mich für eine unauffällige Blitzlandung bereit. Gänzlich unbemerkt blieb mein Aufschlag diesmal nicht. Als ich aus dem Wäldchen heraustrat, starrte mir ein etwa siebenjähriger Junge entgegen, der einen Fußball trug.

„Ich hab dich beobachtet“, sagte er. „Du bist gerade vom Himmel gefallen.“

„Ach Quatsch“, gab ich zurück und trabte auf die Mauer des Hauptquartiergeländes zu. „Dann wäre ich doch jetzt tot oder nicht?“

„Aber ich hab’s genau gesehen!“, rief der Kleine empört und lief hinter mir her.

„Okay, du hast recht“, gab ich zu. „Behalte es bitte für dich. Ich bin nämlich Geheimagent und muss einen schwierigen Fall lösen.“

„Wirklich?“ Der Fußballer blieb vor Verblüffung stehen. Wir waren fast bei der hohen Absperrung angelangt.

„Ja, ehrlich. Weißt du, was dahinter ist?“ Ich deutete nach vorn. Der Junge schüttelte den Kopf.

„Auf diesem Gelände befindet sich das Hauptquartier des deutschen Geheimdienstes“, erklärte ich sachlich. „Soeben haben Bösewichte meine Kameraden dort drinnen gefangen genommen. Sie stecken in Schwierigkeiten. Also werde ich jetzt meine geheimen Fähigkeiten als Agent einsetzen und über die Mauer springen, um sie alle zu retten. Wenn du magst, kannst du mir helfen und die Polizei verständigen.“

„Du erzählst Quatsch!“, rief der Knabe und lachte. „Da kann doch keiner rüberspringen ...“

Ich antwortete nicht mehr, schwang mich mit einem Satz über die eisenspitzen- und stacheldrahtbewehrte Zinne. Ein Blick zurück zeigte mir einen Kinderblick, der jede Sekunde unseres kurzen Gesprächs wert war. Selbstverständlich hatte ich die entsprechenden Kameras für den passenden Moment ausgeschaltet und vorher nachgesehen, ob die Luft rein war. Dennoch musste ich vorsichtig sein, um meine Anwesenheit nicht vorzeitig publik zu machen und jemanden zu gefährden. Jederzeit konnte einer der sechs Männer auf die Idee kommen, nach draußen zu treten, um frische Luft zu schnappen. Drei von ihnen befanden sich in den größten Räumen des Hauptquartiers, wo sie alle Mitarbeiter zusammengetrieben hatten: Mensa, Sitzungssaal und Foyer. Im Büro meines Chefs fand ich diesen an seinen Bürostuhl gefesselt vor. Der Anführer der Eindringlinge stand drohend vor ihm und hatte die rechte Faust zum Schlag erhoben.

„Sie sagen mir jetzt sofort, wo dieser Bursche wohnt, oder Ihre eigene Mutter wird Sie nicht wiedererkennen!“, brüllte er außer sich vor Wut.

Mit bewundernswerter Ruhe blickte der Gefesselte seinen Peiniger an. Ein schmales Rinnsal an Blut aus seiner Nase und eine aufgeplatzte Lippe kündeten davon, dass dies nicht die ersten Schläge waren, die er einstecken würde. Und dem Grad der Gereiztheit seines Gegenübers zufolge hatte mein Boss sich bisher wenig kooperativ gezeigt.

„Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass mich Ihre plumpen Verhörmethoden beeindrucken. Diese Informationen sind streng geheim, ich nehme sie mit ins Grab, wenn’s sein muss.“

„Dann machen Sie sich bereit, Ihrem Schöpfer entgegenzutreten“, knurrte der Anführer. „Aber erwarten Sie nicht, dass es ein leichtes und schnelles Ende sein wird!“

„Ihre Drohungen können Sie sich ebenfalls sparen. Auch wenn Sie meinen, im Vorteil zu sein, werden Sie damit sicherlich nicht durchkommen. Die Polizei wird Sie finden und für alles zur Rechenschaft ziehen.“

Während dieses dramatischen Dialogs hatte ich mich durch die menschenleeren Flure und durchs Treppenhaus geschlichen und war nun bereits im richtigen Stockwerk angekommen.

„Jetzt reicht es mir aber!“, kreischte der aufgebrachte Eindringling und holte blitzschnell aus. Dennoch traf seine Faust nicht das Ziel, das er vermutete, sondern eine recht solide Betonmauer kurz vor dem Gesicht meines Chefs. In Erwartung des Schlags auf seine ohnehin schon lädierte Nase hatte dieser die Augen zusammengekniffen, die er nun bei dem dumpfen Geräusch des Aufpralls blinzelnd wieder öffnete. Er erblickte den bleich gewordenen Angreifer, der soeben wimmernd seine mitgenommen aussehende Hand mit aufgeplatzten Knöcheln zurückzog und ungläubig betrachtete. Sie schwoll rasch an. Nach einem winzigen Moment der völligen Irritation fiel bei meinem Boss der Groschen. Beinah konnte ich das Pling hören, denn danach ging ein Strahlen über sein Gesicht.

„Na endlich!“, seufzte er, noch bevor ich das Zimmer vollständig betreten hatte. „Das wurde höchste Zeit ... Wo hast du dich bloß wieder rumgetrieben?“

„Tut mir leid, Chef, ich wurde abgelenkt. Vermutlich stecken diese Kerle hinter dem Anschlag auf das Einkaufszentrum, den ich in letzter Sekunde verhindern konnte.“

Während meiner Entschuldigung versah ich den Anführer der Bande mit schmucken Stahlarmbändern an den Handgelenken, die er praktischerweise soeben stöhnend zusammenhielt. Sein Versuch, sie gleich darauf wieder auseinanderzureißen, um sich auf mich zu stürzen, scheiterte. Ebenso schlug seine Anstrengung fehl, sich vom Schreibtisch wegzubewegen. Dort hatte ich ihn vorsichtshalber festgekettet und die Fesseln meines Brötchengebers stattdessen gelöst. Dieser massierte seine tauben Arme, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und stand auf. Wir begrüßten uns herzlich ohne auf die Wutschreie des Dritten im Raum zu achten. Mit Blick auf die lästige Lärmquelle meinte der Boss: „Wärst du so freundlich, ihn zum Schweigen zu bringen? Sonst tue ich es – und dann wird’s eher unschön.“

„Okay, wir befragen ihn später“, stimmte ich zu und stopfte dem Mann einen Knebel in den Mund, der sicherlich nicht nach Erdbeerkuchen schmeckte. Er hustete und würgte ein wenig, aber ich achtete sorgsam darauf, dass er genug Luft bekam. Schließlich würden wir ihn noch lebend brauchen. Es widersprach zudem meinen Prinzipien, irgendwem – egal, wer es war – mehr Schaden als nötig zuzufügen. Danach waren seine Proteste viel gedämpfter. Wir verließen zufrieden den Raum. Dieser Kerl würde nie im Leben hier herauskommen, weder durch die Tür noch durchs Fenster. Jedenfalls nicht, solange ich an ihn dachte.

Jetzt weiß ich’s wieder! Ich kenn den Kerl von früher ... Er war einer meiner Entführer!

Timo klang aufgeregt. Ich blieb einen Moment stocksteif stehen, sodass der Chef mich fast umrannte und stirnrunzelnd ansah. „Ist etwas?“

Ich schüttelte den Kopf und fragte lautlos in Timos Richtung: „Bist du sicher? Das ist schon siebzehn Jahre her, da warst du gerade mal neun.“

Ganz sicher! Erst mal musste ich die Stimme einordnen, aber sie ist unverkennbar, vor allem, wenn sie wütend ist. Da würde ich meine rechte Hand drauf verwetten!

Timos Entführer waren nie gefasst worden, standen jedoch mit der Bruderschaft des Ra in Verbindung. Damals hatten sie auf Befehl der beiden russischen Wissenschaftler gehandelt, die mich untersuchen sollten. Ob der im Büro Eingesperrte auch diesmal für die Russen arbeitete? Ich verdrängte diesen Gedanken und schob ihn auf später, da jetzt dringendere Probleme anstanden.

Während wir gemeinsam durch die Flure nach unten eilten, berichtete ich meinem Chef von dem Gespräch mit Sören und von Timos Verdacht. Gleichzeitig sondierte ich die Lage bei den gefangenen Mitarbeitern. Dort hatte sich nicht viel verändert, seit ich das letzte Mal nachgesehen hatte. Marina und Kerim befanden sich in dem Raum, der mir am nächsten lag und hockten missmutig in einer Ecke. Ich berührte sie erst an der Schulter, bevor ich beiden den Finger auf den Mund legte, als sie herumfahren wollten. Sie sahen sich gegenseitig an. Kerim formte tonlos meinen Namen und Marina grinste. Sie machte spielerisch eine zuschnappende Bewegung, mit der sie mich verfehlte. Ich drückte ihr kurz die Hand, bevor ich der Wache unsichtbar auf die Schulter tippte. Der Kerl drehte sich überrascht um.

„Wer war das?“, fragte er drohend, seine unbrauchbare Schusswaffe erhoben.

„Das war ich!“, rief ich beim Aufreißen der Tür. Er fuhr wieder herum und starrte mich an. Diesen Moment nutzten meine beiden Teamkollegen, denen diese Ablenkungstaktik vertraut war, um den Mann zu überwältigen. Ich wartete ihren Erfolg nicht erst ab, sondern machte mich sofort auf den Weg in den nächsten Raum, wo Sören unter einem Schreibtisch hockte. Ihm klaute ich das Telefon, das in seinem Gürtel steckte und tippte die 110 ein – Zeichen dafür, dass er die Polizei damit rufen sollte. Die Leitung war zwar gekappt, aber dieses Problem hatte ich schon mit knapp fünf Jahren in den Griff gekriegt. Den Geiselnehmer in jenem Raum schaltete ich nach bewährter Manier durch Zusammenbinden von Armen und Beinen aus. Er stand in verlockend passender Position und war so schön nichtsahnend, dass ich nicht widerstehen konnte. Als Sören den Kerl stolpern und umfallen sah, brach er in Lachen aus und bemerkte erst jetzt das Telefon, das neben ihm lag. Ich wusste, dass ich mich auf meinen Teamkollegen verlassen konnte – und darauf, dass die übrigen Menschen in dem Raum dafür sorgen würden, dass ihr Peiniger nicht wieder aufstand.

Den dritten Wachmann im Sitzungssaal überwältigten Sören und mein Boss, nachdem ich ihnen zu verstehen gegeben hatte, dass seine Waffe entschärft war. Derweil kümmerte ich mich um die verbliebenen zwei Einbrecher, die sich missmutig auf dem Rückweg vom Archiv befanden. Sie hatten für ihren Diebstahlversuch den falschen Zeitpunkt gewählt, da alle wichtigen Daten bereits ins nagelneue Hauptquartier nach Berlin umgezogen waren. Mein Chef und seine Mitarbeiter saßen quasi auf gepackten Koffern und sollten in einigen Tagen ebenfalls dorthin verlegt werden. Weil schon etliche Abteilungen hier geschlossen worden waren, traf der Überfall verhältnismäßig wenige Geheimdienstler. Dementsprechend sauer sahen die beiden erfolglosen Gauner drein, als ich ihnen auf dem Kellerflur den Weg versperrte.

„Hallo Leute, wohl kein Glück gehabt, was? Ich würde euch ja bedauern, aber leider habt ihr ein bisschen viel Chaos hier angerichtet und meine Freunde bedroht. Also ergebt euch, bevor ihr noch mehr Ärger bekommt.“

„Halt’s Maul, du Hanswurst!“, knurrte der eine und zog seine Waffe.

„Ich muss doch sehr bitten“, entgegnete ich mit gespielter Entrüstung und nahm ihm das Teil kurzerhand weg. Er war so verblüfft, dass er nicht mal reagierte. Der zweite Mann war schneller, stellte sich breitbeinig hin und zielte auf mich.

„Keine Bewegung, Arschloch, oder du bist tot!“

„Also zunächst mal gefällt mir deine Vulgärsprache nicht und zweitens schaffst du es nicht, diesen Abzug zu drücken“, erwiderte ich, ging in aller Ruhe auf ihn zu und nahm ihm ebenfalls die Waffe weg. Er rührte sich keinen Zentimeter dabei, weil er ebenso wie sein Kollege vollständig in einen Gipsanzug eingepackt war. Selbst seinen Mund hatte ich zugekleistert, weswegen er mich lediglich mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen anstarrte. Wenn Blicke töten könnten, hätte ich sicherlich mindestens zweimal das Zeitliche gesegnet, bis die Verstärkung durch die Polizei eintraf.

„Du verblüffst mich immer wieder“, ertönte Sörens Stimme hinter mir. „Was hast du mit ihnen angestellt?“ Er lachte sich scheckig, als er die Sache mit dem Gips erfuhr. „Das ist sicher das erste Mal in der Geschichte, dass Halunken auf diese Weise unschädlich gemacht wurden.“ Schulterzuckend begleitete ich ihn zurück nach oben. „Ich mag halt Abwechslung, sonst wird es ja irgendwann öde.“

„Also, davon bist du sicherlich noch Ewigkeiten entfernt. Mit dir wird es nie langweilig.“

Kann ich bestätigen! Wann kommst du nach Hause? Wir wollten doch Drachen fliegen ...

Timos Wunsch musste leider noch warten. Die Täter wurden abgeführt und in Polizeigewahrsam genommen – alle, bis auf den Anführer. Mein Chef bat darum, ihn zuvor persönlich vernehmen zu dürfen. Als angesehenem Führungsmitglied des Bundesnachrichtendienstes gestattete man ihm das Privileg ohne weitere Nachfrage. Natürlich wollte ich unbedingt dabei sein. Timo war dies trotz seiner Anfrage recht, weil er mindestens ebenso interessiert an der Aussage des Kerls war. Deshalb betrat ich in Begleitung meines Bosses schon bald wieder das vertraute alte Büro, wo der Gefangene uns grimmig erwartete.

„Er sieht aus, als hätte er faule Eier im Mund“, schmunzelte der Büroinhaber.

„So was Ähnliches“, gab ich zu. „Nur halt nicht essbar.“

„Ich befürchte, du musst ihn jetzt wieder davon befreien, da er uns sonst nicht viel erzählen kann – auch wenn ich ihm gerne ein wenig mehr Zeit mit diesem Spaß gegönnt hätte.“

Ich nickte. Der Gefesselte spuckte angewidert aufs Parkett und bekam dafür eine Ohrfeige von mir.

„Sowas macht man nicht!“, schalt ich beim Aufwischen des Schadens. Statt einer Antwort würgte der Mann, der leicht grünlich aussah und spie sein Mittagessen hinterher. Ein gedachter Eimer verhinderte Schlimmeres. Aber nun war er bereit für ein ordentliches Geständnis und ich brauchte kaum weitere Überredungskunst, um ihm alles zu entlocken. Es stellte sich heraus, dass Timo recht gehabt hatte: Der Kerl war wirklich an der Entführung des blinden Jungen vor so langer Zeit beteiligt gewesen. Auch meine eigene Vermutung bezüglich des Einkaufszentrums bestätigte er mit etwas Nachhilfe. Er hatte Spezialisten für diese Aufgabe angeheuert und sie bereits fürstlich dafür entlohnt. Eigentlich hatte er vorgehabt, seine Ausgaben mit dem Verkauf der Geheimakten zu finanzieren, die als Nebenprodukt abfallen sollten. Allerdings dementierte er, für die Bruderschaft zu arbeiten.

„Ich bin mein eigener Chef“, sagte er kämpferisch. „Befehle lasse ich mir von niemandem mehr erteilen. Die Geheimgesellschaft kann mir gestohlen bleiben, sie ist tot. Aber du existierst – und dieses wertvolle Amulett ebenfalls! Ich wollte es haben, weil es einigen Leuten Unsummen wert ist. In den Kreisen, in denen ich verkehre, wird von einer halben Milliarde oder noch mehr gesprochen – in Euro.“

Es beruhigte mich ungemein, dass seine Motive rein finanzieller Art waren. Erst wollte ich fragen, woher er so gut über mich und meine Gewohnheiten sowie meinen Arbeitgeber Bescheid wusste, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich selbst hatte es ihm und aller Welt erzählt. Er hatte ganz einfach mein Buch gelesen.

 

 

3.

 

In den nächsten zwei Wochen geschah nichts weiter Ungewöhnliches. Timo schloss einen Vertrag mit einer Hilfsmittelfirma, die sein Angebot nutzen wollte, ihre Geräte im Bereich ‚Nutzung neuer Medien durch blinde Menschen‘ zu optimieren. Dieses Geschäft war sehr wichtig für ihn, denn er spülte das erste Mal richtig Geld auf sein bis dato recht leeres Konto. Susanna bestand ihr zweites theologisches Examen mit Auszeichnung und beendete damit ihr Vikariat. Sie hatte zwar noch keine Pfarrstelle in Aussicht, ihre Referenzen sprachen jedoch dafür, dass sich die Gemeinden bald um sie reißen würden.

Wir feierten beide Ereignisse bei Luigi, unserer Stehpizzeria am Ort, bei der es die besten Pizzen im gesamten Umkreis gab. Sogar Meik erschien beim zweiten Mal und brachte Glückwünsche mit sowie einen weiteren Grund zur Freude. Als er Susanna umarmte, um ihr zu gratulieren, strahlte er sie hernach an.

„Na, das ist ja mal eine Überraschung! Hast du es den anderen schon erzählt?“

Timos Partnerin sah ihn so verwirrt an, dass er verlegen wurde und murmelte: „Oha, du weißt es noch gar nicht – entschuldige bitte. Aber du bekommst ein Baby!“

Susanna unterdrückte einen Schrei und presste die Hand vor den Mund. In ihren dunklen Augen erschien langsames Begreifen. Mein Freund stieß ein leises Keuchen aus und hielt sich am Tisch fest.

„Bist du sicher?“, krächzte er schwach.

„Natürlich!“ Meik nahm sowohl Susannas Hand als auch die meines besten Kumpels, führte sie zusammen, hielt seine von oben und unten dagegen. „Und? Spürt ihr es jetzt?“

Beide nickten beklommen. Manchmal waren Meiks Kräfte selbst mir unheimlich. Aber er konnte auch unendlich behutsam damit sein. Also lagen die Verliebten sich mit tränenfeuchten Augen in den Armen.

„Ich werde Vater!“, stammelte Timo. „Ich ... brauch was zum Sitzen, Simon – jetzt gleich!“ Er ließ sich einfach nach hinten sacken. Rasch erdachte ich ihm einen Sessel. Zum Glück waren wir die einzigen Gäste bei Luigi und dieser drehte uns praktischerweise soeben den Rücken zu. Dennoch stellten wir uns sicherheitshalber vor meinen Freund und seine Begleiterin. Diese setzte sich händchenhaltend auf die Lehne.

„Falls es euch interessiert – es ist ein Mädchen“, raunte Meik den beiden zu. „Etwa vierte Woche.“

Susanna lächelte zögernd. „Das ... kommt alles sehr überraschend. War überhaupt nicht geplant. Eigentlich wollten wir damit noch warten und ich dachte, wir hätten genug Vorsorge getroffen. Aber gegen die Natur ist wohl manchmal einfach kein Kraut gewachsen, wie mir scheint.“

Mir kam es äußerst seltsam vor, dass diesem gewissenhaften, rational denkenden Paar ein Fehler bei der Verhütung unterlaufen sein sollte. Ich spürte, dass Timo sich ebenfalls Gedanken machte. Wir tauschten uns bei der nächsten Gelegenheit darüber aus. Diese bestand am folgenden Abend, an dem ich ein paar einsame Runden im Pool drehte, während mein Freund an seinem Rechner saß.

„Ich habe ausführlich mit Susanna gesprochen“, begann er. „Sie war beim Doc. Der hat Meiks Ansage bestätigt, auch was das Alter des Embryos betrifft. Wir haben zurückgerechnet und festgestellt, dass meine Liebste in den letzten Wochen weder die Pille vergessen hat, noch unter Magen-Darm-Erkrankungen litt. Also wie kann das sein?“

„Kein Medikament ist unfehlbar. Man hört immer wieder, dass es trotz Hormonzugabe zu Schwangerschaften kommt.“

„Aber in den allermeisten Fällen wurden Fehler bei der Anwendung gemacht“, konterte mein Freund. „Nein, ich denke, Meik hat da irgendwie seine Finger im Spiel. Keine Ahnung, was er damit bezweckt, doch in dem fraglichen Zeitraum war Susanna zweimal bei ihm. Einmal, als sie sich den Knöchel verstaucht hatte und das zweite Mal, um sich einen Halswirbel einrenken zu lassen.“

„Hmm. Klingt merkwürdig. Ich traue Meik durchaus zu, dass er die Wirkung der Hormone aufheben kann, aber der Sinn erschließt sich mir nicht.“

„Mir auch nicht, vielleicht erfahren wir es bald.“

Dieses Geheimnis lösten wir noch nicht. Dafür sahen wir Meik im Fernsehen und konnten nicht fassen, was er alles zum Besten gab. Es war wie eine Magier-Show ohne Tricks und doppelten Boden. Er heilte nicht nur Prellungen, Stauchungen und Brüche, Schnittwunden und einen Kreuzbandriss vor laufender Kamera – er verhalf auch einem seit fünfzehn Jahren gelähmten Mann wieder auf die Beine. Und das innerhalb weniger Minuten. Timo und ich waren regelrecht geschockt, da wir solche Dinge bisher nie live bei ihm beobachtet hatten. Am Ende kam jedoch der Hammer – Meiks Ansprache an die Welt.

„Liebe Mitmenschen“, begann er ernst. Die Großaufnahme brachte sein jugendliches Gesicht mit den weisen Augen dabei perfekt zur Geltung, verlieh seinen Worten noch mehr Wirkung.

„Es gibt eine Menge Dinge in unserer Gesellschaft, die schieflaufen. Wir erleben täglich vieles, was uns krankmacht. Ich dagegen biete euch etwas an, das gesundmacht. Jemand Großes hat mal gesagt: ‚Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‘ Genau das biete ich heute an. Wenn ihr euch mir anschließt, werdet ihr nicht nur von euren körperlichen Gebrechen geheilt, sondern ihr werdet erfahren, wie es ist, an etwas Großartigem teilzuhaben, Teil einer mächtigen Gemeinschaft zu sein. Ich will eine Organisation aufbauen, sie anführen, ihr den Weg zu dauerhaftem Frieden und Wohlergehen zeigen. Wenn ihr dazu bereit seid, kommt zu mir und holt euch als Zeichen der Verbundenheit ein solches Armband.“

Er zeigte ein schlichtes Lederarmband in die Kamera, das seinen Arm zierte. In das Band war ein stilisiertes Auge eingraviert. Mir wurde übel bei dem Anblick. Timo, der sich genau wie Susanna neben mir auf dem Sofa befand und das Ganze durch meine Augen mit angesehen hatte, saß wie erstarrt auf seinem Platz. Wir hatten uns zum Ausstrahlungstermin von Meiks Show bei meinem Freund verabredet, da ich keinen echten Fernseher besaß. Das Spektakel kam zur besten Sendezeit auf einem der beliebtesten Kanäle. Vorab war jede Menge Werbung gemacht worden, sodass wir sicher sein konnten, dass sehr viele Menschen diese hausgemachte Katastrophe mitbekommen hatten.

Den Rest der Sendung, bei dem der Moderator irgendwelche nichtssagenden Allgemeinplätze von sich gab, bekamen wir kaum mehr mit. Minutenlang herrschte Stille im Wohnzimmer. Susanna sprach zuerst wieder.

„Ganz schön große Töne, die Meik da spuckt“, sagte sie kopfschüttelnd. „Das hört sich an, als hätte er völlig den Verstand verloren.“

Timo vergrub stöhnend den Kopf in den Händen. Auch mich erfasste eine heiße Welle der Verzweiflung. Warum hatten wir das nicht eher kommen sehen? Ich hätte dafür sorgen sollen, dass die Show gar nicht erst aufgezeichnet werden konnte. Etwas legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter und gab mir zu verstehen: Dann hätte er es heimlich getan, ohne dir Bescheid zu geben. Du hättest es nicht verhindert. Aber du musst jetzt handeln!

Entschlossen stand ich auf.

„Ich gehe sofort zu ihm. Er wird mit mir reden müssen. Morgen früh steht garantiert bereits die halbe Welt bei ihm vor der Tür.“

„Und was willst du ihm sagen?“, fragte Timo tonlos. „Es ist eh zu spät – alle haben es gesehen und gehört. Er wird eine neue Bruderschaft gründen. Jeder ehemalige Bruder wird den Hinweis verstehen und sich ihm anschließen.“

„Ich werde ihn dazu bringen, das Amulett abzulegen. Er muss es tun, sonst gibt es eine Katastrophe!“

Susanna sah verständnislos von Timo zu mir. „Wovon redet ihr da? Meik hat den Verstand verloren – na und? Er wird schon wieder zu sich kommen. Kein Mensch wird ihm nachlaufen, außer ein paar Junkies und armen Irren, die auf der Suche nach einer ausgeflippten Sekte sind. Für mich klingt das viel zu abgedreht.“

Erklär du es ihr, bat ich Timo mental und war schon auf dem Weg zur Tür. „Warte!“, rief dieser. „Soll ich nicht lieber mitkommen?“

„Nein, besser nicht. Es ist sicherlich nicht ungefährlich – und du wirst bald Papa. Bleib bei Susanna. Erzähl ihr von der Bruderschaft, damit sie die Zusammenhänge begreift. Du kannst mir ja trotzdem beistehen, wenn du magst. Bis dann!“

Im Schutz der anbrechenden Nacht schwang ich mich leise ins Dunkel hinauf und schoss wie ein Pfeil Richtung Meiks Domizil. Bei meiner Ankunft sah ich, dass ich keineswegs der Einzige war, der trotz der späten Stunde den Weg zu seinem Anwesen gefunden hatte. Vor dem Tor sammelten sich Nachbarn, Bekannte, Freunde. Sie wollten ihm zu seiner Sendung gratulieren oder sich bereits eins der Armbänder abholen. Aber sie wurden wieder weggeschickt. Meik erschien nicht persönlich, doch seine Assistentin verkündete schüchtern, dass ihr Chef an diesem Abend nicht zur Verfügung stünde und erst am folgenden Morgen für sie da sei. Da gingen die meisten Neugierigen nach Hause oder setzten sich murrend in ihre Autos, mit denen sie die gesamte Straße zugeparkt hatten. Erst als wieder Ruhe eingekehrt war, landete ich und betrat das Haus durch die Terrassentür. Meik saß telefonierend im Büro. Als er mich sah, umwölkte sich seine Stirn, seine Augen wurden schmal. Er beendete das Gespräch und wandte sich mir zu.

„Was willst du?“, fragte er schroff. „Ich denke, du bist nicht gekommen, um mir persönlich zu meinem Fernseherfolg zu gratulieren, oder?“

Ich schüttelte stumm den Kopf.

„Dann geh bitte wieder“, knurrte er. „Heute habe ich weder Zeit noch Lust, mit dir zu diskutieren.“

„Du bist nicht mehr du selbst“, stellte ich leise fest. „Merkst du es nicht? Das Auge hat dich längst im Griff. Es beherrscht dich durch und durch.“

„Unsinn!“ Der Träger des Amuletts winkte fahrig ab. „Du bist bloß eifersüchtig, weil du nicht auf diese Idee gekommen bist. Niemand wird dir jetzt mehr nachlaufen ...“

„Wenn es dich nicht beherrscht, dann nimm es doch einmal ab“, bat ich freundlich. „Wärst du so nett?“

Meik sah mich an und lächelte plötzlich kalt. „Warum sollte ich das tun? Mir scheint, du möchtest selbst mal wieder ‚Träger des Auges‘ spielen. Du vermisst bloß seine Macht, ist es nicht so?“

Ich sah ihn einen Moment lang schweigend an und erkannte, dass es ihm ebenso ging wie mir damals, als Timo gedroht hatte, vom Turm zu springen. Ich konnte mich deshalb nur allzu gut in ihn hineinversetzen. Die schicksalhafte Erfahrung, bei der mir vor neun Jahren auf recht harte Weise klargeworden war, wie stark dieses Amulett mich beherrscht hatte, wirkte bis heute nach. Aber ich wusste auch, dass Meik mir längst nicht so nahestand wie mein geistiger Zwillingsbruder. Selbst auf Timo hatte ich erst nicht hören wollen, bis er mich richtiggehend dazu zwang. Was sollte ich also tun? Mit Vernunftargumenten konnte ich nichts mehr erreichen, er würde sie alle so auslegen, wie es ihm das Amulett einflüsterte. Deshalb antwortete ich: „Und wenn es so wäre? Würdest du es mir für ein paar Augenblicke ausleihen? Nur um der alten Zeiten willen!“

Ich zwang mich zu einem Lächeln und hob bittend die Hand.

Meik kicherte. „Aha, ich hab’s ja gewusst. Nicht ich werde beherrscht – du möchtest wieder herrschen! Aber da hast du dich geschnitten, ich gebe das Auge nicht her, nicht für eine Minute. Sobald ich es ablege, erlangst du die Kontrolle darüber und wirst es mir wegnehmen, vielleicht für immer, weil du nicht erträgst, was es aus mir macht.“

„Und was macht es aus dir?“, fragte ich tonlos.

„Einen Helden.“ Meik breitete die Arme aus. „Nein, mehr als das – einen Propheten, einen Führer, einen GOTT!“

Ich wartete darauf, dass ihn ein Blitz treffen würde, aber natürlich geschah dies nicht. Stattdessen begann er von innen her zu leuchten. Die Szene erinnerte mich grotesk und grausam an die Bilder, die ich als Kind von meinem Freund und Mentor Scheich Ali empfangen hatte, lange bevor ich selbst Träger des Auges wurde. Hinter meiner Stirn hörte ich Timo fluchen. Verdammt, es ist noch viel schlimmer, als ich dachte!

Ich gab ihm recht.

„Was soll ich bloß tun?“, murmelte ich lautlos.

Nimm es ihm doch ab.

Natürlich. Es war so einfach! Komisch, dass ich nicht selbst darauf gekommen war. Aber dann wurde mir klar, dass ich es nicht konnte. Keine Kopie, kein Geschöpf, nichts aus meiner Vorstellung war fähig, das Amulett zu nehmen – weil es nicht von mir berührt werden wollte. Ich musste es persönlich tun, es dazu zwingen, diese Berührung zuzulassen. Also trat ich vorsichtig näher an Meik heran, der noch immer in selbstherrlicher Pose vor mir stand, umgeben von einem unheimlichen Strahlen. Einen Schritt schaffte ich, dann sah mein Gegenüber mich an und hob warnend die Hand. Das Leuchten verblasste, dennoch wirkte  er nun regelrecht gefährlich.

„Lass das, komm nicht näher, Simon! Du möchtest doch, dass wir Freunde bleiben, oder?“

„Natürlich“, erwiderte ich sanft. „Genau deshalb solltest du zulassen, dass ich komme. Ich möchte es nur kurz anfassen, wirklich. Eine Berührung kann deiner Macht doch nicht schaden ...“

Ich ging einen winzigen Schritt vorwärts.

„Bleib stehen!“ Meiks Blick traf mich wie ein Speer an der Schulter und riss eine klaffende Wunde hinein. Es waren höllische Schmerzen, wie ich sie noch nie im Leben verspürt hatte. Vielleicht, weil es das erste Mal passierte. Nichts und niemand hatte es bisher geschafft, mich körperlich zu verletzen. Doch sein Angriff kam nicht von außen, sondern von innen. Dagegen half weder Schutzschild noch Panzerung, nichts, was ich erdenken konnte. Lediglich die Blutung vermochte ich zu stoppen und den klaffenden Schnitt zu verkleben. Mein Aufschrei erfuhr ein inneres Echo, weil Timo den Schmerz ebenso fühlte. Sofort verschloss ich mich vor ihm – er sollte dies nicht unnötig ertragen.

„Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich sei wehrlos!“, rief mein Gegenüber rau. „Jede Fähigkeit lässt sich auf zwei Arten einsetzen.“

„Selbstverständlich. Ich hätte bloß nicht gedacht, dass du sie gegen mich einsetzt – deinen Freund ...“

Keuchend schob ich die Verletzung und den damit verbundenen Schmerz in den Hintergrund, nahm meine Vorstellung zur Hilfe, um ihn zu ignorieren.

„Freund! Dass ich nicht lache! Freunde wollen einen nicht betrügen oder bestehlen. Dein blinder Busenkumpel mit seiner schwangeren Schnepfe sollte sich besser ebenfalls nie wieder hier blicken lassen!“

Er wirkte bedrohlich und finster, überhaupt nicht mehr wie Meik. Das gab den Ausschlag. Ich wusste jetzt, dass ich Ra gegenüberstand, der meinen Freund vollkommen kontrollierte. Ihn musste ich besiegen. Aber wie sollte mir das gelingen? Ra besaß eine Macht, die weit über das bisher Erlebte hinausging. Ich besann mich auf das, was ich ihm entgegenzusetzen hatte – meine Fähigkeiten und das bedingungslose Vertrauen in eine noch viel stärkere Kraft. Ich war ebenso wie mein Kontrahent einer der Großen und ihm somit vielleicht ebenbürtig. Aber ich besaß etwas, das Ra sicherlich nicht hatte, vermutlich niemals kennenlernen würde – ich hatte Glauben, Hoffnung und die Liebe als stärkste Macht überhaupt auf meiner Seite. Dieses Vertrauen gab mir den Mut zu dem, was ich als Nächstes tat, obwohl meine Stimme heiser war vor Angst.

„Ich bin dein Freund Meik. Und nur deshalb tue ich das jetzt für dich. Für niemanden sonst, hörst du? Ich liebe dich!“

Ich trat erneut einen Schritt auf ihn zu. Und noch einen. Bei jedem Näherkommen explodierte ein neuer Schmerz, entstand eine weitere Wunde, verblutete ich innerlich. Es war unerträglich, aber es musste sein. Meine gesamte Konzentration, mein Wille, alles, was ich aufbringen konnte, war auf dieses eine Ziel fokussiert: Ra musste Meik loslassen.

„WAS TUST DU DA, SIMON?“, schrie er plötzlich, als ich nur noch Zentimeter von ihm entfernt zusammenbrach. Mein Herzschlag setzte aus, als etwas in meiner Brust zerriss. Dann wurde es Nacht.

 

Ich schwebte auf ein Licht zu, leicht und gewichtslos, war weniger und zugleich mehr als jemals zuvor. Dort in dem Licht wartete jemand auf mich. Der Erste der Großen sah mich an. Er war mir vertraut wie ein Bruder, hatte mir soeben die Kraft gegeben, meinen Weg bis zum Ende durchzuhalten. Und nun stand er vor mir.

„Bin ich tot?“, fragte ich. Dämliche Frage. Natürlich war ich tot. Trotzdem musste ich es genau wissen. Denn irgendwo hegte ich noch den winzigen Funken Hoffnung in mir, dass dies hier nicht so endgültig sein könnte, wie es schien.

„Nur, wenn du dich dafür hältst.“

„Hmm?“

„Nun, du bist der Fantast.“ Die Gestalt vor mir lächelte. „Deine Vorstellung gilt. Ich bin ziemlich sicher, dass du gar nicht hier sein möchtest.“

„Nein, natürlich nicht! Da gibt es ein paar Leute, die mich brauchen und Dinge, die ich gern zu Ende bringen würde.“

„Nun, ich brauche dich auch noch. Also lass dich nicht aufhalten“, sagte er und gab mir die Hand. Die Berührung war wie ein Heimkommen, die Erfüllung einer Sehnsucht, gleichzeitig elektrisierend wie ein Blitzschlag.

„Hol Ra nach Hause ...“, hörte ich noch. Dann war ich zurück in meinem Körper, spürte meinen Pulsschlag und Nässe auf dem Gesicht.

 

„Gott sei Dank, er ist wieder da“, vernahm ich eine andere vertraute Stimme. Ich lag auf einem weichen Untergrund. Beim Öffnen der Augen erblickte ich mehrere Gestalten, die sich über mich gebeugt hatten. Soweit ich es beurteilen konnte, fehlte mir nichts. Alles schien heil. Heil?

„Meik!“, flüsterte ich heiser und sah hoch. Da saß er an der Bettkante, tropfte eine Träne auf meine Stirn. Timo stand auf der anderen Seite und hielt meine Hand. Auch Susanna war da. Beide wirkten sehr blass mit Tränenspuren im Gesicht. Meik sah mich merkwürdig an, freudig, dennoch verzweifelt.

„Es ... es ...“, brachte er krächzend hervor, dann barg er seinen Kopf in den Händen, schluchzte hemmungslos.

„Schon gut.“ Ich berührte ihn sachte am Arm. „Du warst es nicht wirklich – es war Ra. Er wollte mich vernichten. Aber du hast mich gerettet, wie mir scheint.“ „Nein, du hast mich gerettet“, gab Meik rau zurück, während er sich die Augen trockenwischte. Dann nahm er meine Hand und legte etwas hinein.

„Tu damit, was du für richtig hältst.“ Er wandte sich ab und schlurfte mit hängenden Schultern davon.

„Du kannst mich jetzt wieder loslassen“, bemerkte ich zu Timo gewandt. Er tat es und umarmte mich stattdessen wortlos. Auch Susanna fiel mir um den Hals. Tränen liefen unaufhörlich über ihre Wangen.

„Wir dachten, wir hätten dich verloren“, sagte sie schwankend. „Als Timo den ersten Hieb spürte und du dich daraufhin von ihm abwandtest, sprangen wir direkt ins Auto und überlegten, wie wir Meik dazu bringen könnten, die Tür zu öffnen. Aber als wir ankamen, zog uns sofort hinein und schrie regelrecht um Hilfe. Du lagst auf dem Boden, überall war Blut ... Es sah aus, wie nach einer Schlacht ...“

Ihre Stimme versagte kurz. Dann räusperte sie sich und fuhr fort: „Du sahst gelinde gesagt horrormäßig aus, fast wie zerfleischt. Meik bat mich, ihm zu helfen, dich auf das Bett zu legen. Es war mir beinah unmöglich, weil ich so geschockt war ... Er heilte all diese schrecklichen Wunden, aber mehr konnte er nicht tun. Dann nahm er das Amulett ab und meinte, dein Geist hätte sich gelöst, er sei nicht mehr da. Er sagte, du seist tot ...“

„Ich hab den beiden gesagt, dass du nicht so einfach totzukriegen bist“, mischte Timo sich mit schiefem Lächeln ein, wobei seine Stimme alles andere als fest klang. „Du hattest schon immer eine Ader für theatralische Auftritte, doch diesmal sah es wirklich verdammt echt aus!“

Ich sah meine Freunde an und versicherte: „Das war es. Wie mir soeben jemand mitgeteilt hat, war es genauso echt wie alles, was ich mir vorstelle.“

4.

 

Die nächsten Tage und Wochen verbrachten wir hauptsächlich damit, Meik aufzumuntern und sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Susanna und Timo übernahmen es, Besucher abzuwimmeln, die wegen der begehrten Armbänder vor der Tür standen. Aber Meik wollte sie nun nicht mehr verkaufen. Er bat mich, sie zu verbrennen oder anderweitig zu vernichten. Ich schob die Dinger kartonweise in seinen Kamin, um sie dort mit mächtiger Hitze zu verdampfen. Dabei kam mir der Gedanke, mit dem Amulett das Gleiche zu tun. Es war wieder sicher eingeschlossen, da ich es auf keinen Fall erneut umlegen wollte. Selbst wenn es mich noch einmal als seinen Träger akzeptieren würde – ich könnte es nicht um meinen Hals erdulden.

Nach und nach sprach es sich herum, dass der große Heiler nun doch keine neue Gesellschaft gründen würde, keine Besucher mehr empfing und die Quelle seiner Heilkraft versiegt war. Aber es kamen noch immer Patienten, denen Meik auch ohne das Amulett wirkungsvoll helfen konnte – er war schließlich ausgebildeter Arzt. Zunächst schien es, als wäre die Welt wieder in Ordnung und als würde das Leben seinen normalen Gang gehen. Ich nahm Aufträge vom Geheimdienst an, schrieb alles auf und half Menschen, mit dem gewöhnlichen Alltags-Wahnsinn zurechtzukommen. Aber tief in mir nagte das Wissen, dass es nicht vorbei war. Ich konnte nicht ewig vor dem Auge weglaufen.

Hol Ra nach Hause. Diese Worte hallten immer öfter in mir wider. Ich wusste nicht, wie real meine Erlebnisse in jener Welt hinter dem Leben gewesen waren, doch sie bargen eine Bedeutung für jetzt und hier. Nicht umsonst war ich dem Tod so knapp von der Schippe gesprungen und hatte diese zweite Chance erhalten. Das war mir klar. Dennoch flüchtete ich mich in spektakuläre, momentan wesentlich einfacher erscheinende Hilfsaktionen, verdeckte Ermittlungen gegen Mafiabosse, Terroristen oder Drogenringe und ähnliche nervenaufreibende Tätigkeiten, bis Bekannte bei der Polizei und beim Geheimdienst meinten, ich solle mir doch mal eine Pause zwischendurch gönnen. Diese nahm ich mir erst, als mich mein alter Freund Kommissar Henkel zu sich einlud. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr besucht und war überrascht, als er mir beim Kaffeetrinken auf seiner Terrasse eröffnete, dass er inzwischen in den Ruhestand getreten sei.

„Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich wäre gern zu deiner Verabschiedung gekommen!“

Der Vorwurf in meiner Stimme war allerdings nicht echt, da ein Zeitbudget für solche Feiern praktisch nicht existierte.

„An dem Tag warst du in Pakistan und hast islamistische Stellungen lahmgelegt“, erklärte Henkel erwartungsgemäß. „Davon wollte ich dich auf keinen Fall abhalten. Außerdem nimmt man sich als Rentner nicht mehr so wichtig. Viel schöner ist, dass du jetzt gekommen bist, damit wir mal über alte Zeiten plaudern können.“

Wir redeten lange und ausführlich. Ich erzählte meinem Vertrauten von Timo und Susanna, die überraschend ein Baby bekommen sollten, von Meiks absonderlichem Verhalten und seine Befreiung von dem Amulett. Als ich ihm von meiner Nahtoderfahrung berichtete und davon, dass ich das Auge inzwischen wieder bei mir in der Wohnung aufbewahrte, blickte der pensionierte Kommissar mich sehr ernst an.

„Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?“

Ich erwiderte seinen Blick leicht irritiert, begriff jedoch gleichzeitig, was er meinte und senkte nickend den Kopf.

„Ich muss mich ihm stellen und das Teil endgültig vernichten, bevor es noch mehr Unheil anrichten kann ... Das meinst du doch, oder?“

„Natürlich“, meinte Henkel sanft. „Und gewiss brauchst du es nicht allein zu tun, weil du nämlich Freunde hast, die dir immer zur Seite stehen – mich eingeschlossen.“

Dankbar lächelte ich ihn an. „Das ist lieb gemeint, allerdings ist dies ein Schritt, den ich nur allein gehen kann. Es ist eine Sache zwischen Ra und mir. Dennoch hast du mir schon sehr geholfen, indem du mir deutlich aufgezeigt hast, dass ich es endlich tun muss. Danke.“

Er drückte mich kurz zum Abschied und meinte, ich dürfe jederzeit wiederkommen. Ich sagte ihm, dass er auch bei mir immer willkommen sei.

„Wir haben einen wunderbaren See. Traumhaftes Ausflugsziel im Sommer, voll mit Äschen und Elritzen, Karpfen und ein paar großen Welsen. Inklusive alten Ruinen in der Mitte und in einigen Seitenbecken gibt es Seerosen sowie eine Kinderstube für Fische. Du kannst dort campen, aber von mir aus sind es keine fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad – bei langsamer Fahrweise. Es ist der gleiche See, an dem auch meine Eltern wohnen, nur genau auf der gegenüberliegenden Seite.“

Er lachte. „Jetzt, wo das Leben als Kriminalist vorbei ist, kann ich ja mal solche Abenteuer wagen. Mit dir gemeinsam stelle ich mir so eine Seebesichtigung ziemlich spannend vor. Von wo aus gucken wir denn – von der Seite, von oben oder von unten?“

„Von wo immer du möchtest“, erwiderte ich schmunzelnd. „Von mir aus auch kombiniert – erst ein Rundflug über den See, Paragliding hinein und dann mit dem Scooter weiter.“

„Vergiss es!“ Henkel winkte entsetzt ab, während er mich zur Tür geleitete. „Ich dachte eher an eine gemütliche Bootsfahrt darüber und vielleicht danach an eine Runde Schwimmen darin.“

„Langweilig – aber auch okay.“

Das Gespräch mit dem Ex-Kommissar hatte mir die Dringlichkeit meines Handelns bewusst gemacht. Nun war es an der Zeit, die Theorie einer weisen und inzwischen längst verstorbenen Beduinenfrau zu überprüfen, die mir vor einigen Jahren gesagt hatte, es könne nur mir allein gelingen, das Auge des Ra zu vernichten. Um niemanden zu gefährden, begab ich mich mit dem Amulett auf eine einsame kleine Sandinsel. Ringsum von Wasser umgeben, ansonsten nur Sand, in den ich ein tiefes Loch grub. Eigentlich konnte hier nichts schiefgehen – es sei denn, ich würde ein Erdbeben auslösen. Absichtlich hatte ich niemandem etwas von meinem Vorhaben erzählt. Bei dieser Aktion wollte ich nicht mal Timo dabeihaben. Die Versuche mit Sprengstoff, die ich gemeinsam mit dem Geheimdienst-Team durchgeführt hatte, vor allem der finale Schlag, bei dem ich durch eine Fusionsreaktion einige Quadratkilometer Wüste demoliert hatte, halfen mir bei der Entscheidung für eine Vernichtungstechnik. Ich wollte nicht mehr Gewalt anwenden als nötig, aber steigerungsfähig sein. Thermit-Plasma schien fürs Erste recht geeignet, doch ich wurde bald enttäuscht. Nach reichlichem Bad in diesem zweitausend Grad heißen Stoff holte ich das Amulett völlig unversehrt wieder hervor. Es hatte nicht mal eine geschwärzte Stelle oder einen Kratzer, ebenso wenig die Kette, die genau wie das Schmuckstück selbst aus Gold bestand. Ra schien mich geradezu auszulachen. Versuch es ruhig noch mal, du schaffst es nicht ...

Nachdem auch konventionelle Sprengstoffe keinerlei Wirkung zeigten, wurde ich langsam ärgerlich und bereitete mich auf die Wiederholung meines Experiments aus der Sahara vor. Ich ummantelte das Sandloch mit einem Hitzeschild, damit die Aktion auf den kleinen Raum beschränkt blieb. Als ausgebildeter Physiker wusste ich genau, wie der Hitzeübertritt verhindern wurde. Die notwendigen Prozesse in Gang zu setzen, war nicht einmal besonders kompliziert, sodass ich mich auf die Reaktion selbst konzentrieren konnte. Wie beim ersten Mal sammelte ich meine gesamte Energie, bündelte sie auf einen einzigen Punkt, um die Fusion in Gang zu setzen. Etwa anderthalb Minuten lang hielt ich sie aufrecht, dann war ich selbst völlig ausgebrannt. Es waren neunzig unendlich anstrengende Sekunden, auf die eine Viertelstunde Koma folgten. Mit zittrigen Knien erhob ich mich anschließend wieder und wagte es, in das Loch zu blicken. Darin lag – unversehrt – das Auge des Ra.

Stumm, unfähig, mehr als ein unflätiges Schimpfwort für Ra zu flüstern, starrte ich minutenlang auf das glitzernde Teil, das nicht einmal Sandkrümel aufwies.

Schließlich, nach unendlichen Augenblicken verzweifelten Nicht-Denkens meldete sich eine Stimme in meinem Hinterkopf. Simon, wo steckst du?

„Hier“, antwortete ich stumpfsinnig.

Blödmann. Was hast du getrieben? Ich versuch schon seit einer Ewigkeit, dich zu erreichen!

„Ich hab das Amulett geröstet.“

Du hast es endlich vernichtet? Super!

Timo hörte sich begeistert an.

„Das habe ich nicht gesagt.“

Mit unendlich schweren Bewegungen hob ich das Kleinod aus der Grube und schwang mich damit in den Heli.

Aber du hast doch gesagt ... Sag bloß, du hast nicht geschafft, es zu zerstören!

Die Begeisterung meines Freundes schlug auf einmal in Entsetzen um.

„Yep, so ist es.“

Selbst das Abheben geschah schwerfällig, als würde sich meine Müdigkeit auf den Motor des Helikopters auswirken und ihm die Pferdestärken rauben. Wahrscheinlich war dies der Fall, da meine Vorstellungskraft eng an die physische und psychische Konstitution geknüpft war. Es kümmerte mich nicht. Bis nach Hause waren es etliche Kilometer, die ich in gemütlichem Tempo zurücklegte, ohne mir allzu viele Gedanken darum zu machen, ob ich gesehen wurde.

Ich nehme an, du hast es auf jede erdenkliche Art versucht?

Die Stimme in meinem Kopf klang nun vorsichtig, als wollte Timo mich nicht zu sehr aufregen.

„Klar. Nicht mal Supernova war heiß genug. Das Scheißteil hat mich noch ausgelacht ...“

Meine depressive Stimmung verfinsterte sich weiter, als ich fühlte, wie mein Freund sie einen Moment lang teilte, bevor ich erneut Entschlossenheit und Stärke registrierte.

Dann rede mit ihm! Du kannst das doch noch, oder?

„Nee, keinen Bock!“

Es reichte mir für den Augenblick. Ich wollte nichts sehnlicher, als zu Hause anzukommen, um mich irgendwo auszustrecken. Die Entfesselung meiner größten Zerstörungskraft hatte mich über den Rand der Erschöpfung hinaus geführt, sodass ich selbst nicht mehr sagen konnte, wie ich es schaffte, geradeaus zu fliegen und nicht einfach abzustürzen, weil sich mein Fluggerät auflöste.

Dann eben morgen, meinte Timo versöhnlich. Komm heim, ruh dich aus. Später machen wir es gemeinsam. Du musst nicht immer alles alleine tun!

„Hmm.“

Wir schwiegen eine Zeit lang. Dann fiel mir ein, dass Timo ja ursprünglich etwas ganz anderes von mir wollte.

„Warum hast du versucht, mich zu erreichen?“

Ach, ist jetzt unwichtig.

„Erzähl’s mir – ich kann etwas Ablenkung gebrauchen, um nicht einzupennen.“

Na gut, wenn du darauf bestehst ... Susanna und ich haben mit Meik gesprochen bezüglich des Babys. Wir wollten nur mal seine Meinung dazu hören, von wegen der Pille und so. Stell dir vor, er hat es echt zugegeben!

„Was zugegeben?“ Ich war plötzlich wieder wacher und alarmiert.

Na, dass er daran gedreht hat! Er meinte, er wollte uns einen Gefallen damit tun, um uns die Entscheidung leichter zu machen. So ein Schmarrn! Ich hab ihm gesagt, wie zum Kotzen ich das finde. Er kann nicht einfach im Privatleben der Leute herumpfuschen und dann annehmen, dass sie ihm auch noch dankbar dafür sind.

„Und was hat er darauf gesagt?“

Er hat sich entschuldigt. Wusste auch nicht genau, was er damit bezweckt hatte. Schien ihm einfach nur eine gute Idee gewesen zu sein.

„Es wird wirklich Zeit für ein ernstes Wörtchen mit Ra“, murmelte ich düster.

Das Gespräch mit dem Schmuckstück musste noch warten, da früh am nächsten Morgen mein Chef vom BND anrief und sich für die Störung entschuldigte. Aber es war mal wieder dringend.

„Sören und zwei Kollegen aus seiner Abteilung werden seit gestern Nachmittag vermisst!“, teilte er mir mit. Ich versprach, sofort zu kommen. Rasch informierte ich Timo, der den ganzen Tag Heimarbeit zu tun hatte. Einen zweiten Auftrag, den ich beim Verlassen des Hauses von einer Spezialeinheit erhielt, sagte ich rundweg ab. Die Truppe war auch ohne mich schlagkräftig genug. Der Fall klang so, dass sie ihn alleine lösen würden. Frühstück, Körperhygiene und alle weiteren Notwendigkeiten verrichtete ich auf dem Weg zur Arbeit. Unterwegs bekam ich die bekannten Fakten geliefert. Bevor mein Chef mir jedoch die gesamte Story am Handy erzählen konnte, stand ich bereits vor seiner Bürotür. Marina und Kerim saßen nervös, fertig zum Aufbruch auf den Kanten ihrer Besuchersessel.

„Wir haben ein Problem“, sagte Kerim ernst. „Unser Hubschrauber ist defekt. Anscheinend ist irgendein wichtiges Teil im Eimer und wir kriegen keinen Ersatz.“

Ich überlegte nicht lange. „Zeigt mir das doch mal!“

Ein realer Helikopter mit einem gedachten Ersatzteil darin war besser als ein vorgestellter Heli mit drei echten Geheimdienstleuten. Die Reparatur war simpel und der Pilot überwand seine Überraschung recht zügig. Seit Teammitglied Nikolaj von der Antiterroreinheit bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war, bestand unser ultrageheimes Spezialteam nur noch aus vier Leuten, die offiziell keinen Hubschrauber fliegen durften. Auch wenn es so gut wie nie vorkam, dass irgendwer einen Hubschrauberpiloten kontrollierte, verbot mir der Chef kategorisch, die realen Flugmaschinen zu bedienen. Also benötigten wir für weiter entfernte Einsätze einen externen Piloten. Unser Mann hieß Henri und war ein erfahrener Geheimdienstler im Außeneinsatz. Gern hätte ich ihn als Ersatz für Nikolaj im Team gehabt, aber wir wussten noch zu wenig über ihn. Seitdem ich das Amulett abgelegt hatte, brauchte ich wesentlich mehr Zeit, um zu entscheiden, ob ich jemandem trauen konnte. Dieses Vertrauen war die alleroberste und wichtigste Grundregel, da unsere Existenz zwar selbst vor der Regierung geheimgehalten wurde, wir aber untereinander keine Geheimnisse hatten. Vor allem wusste mein Team über mich und meine Fähigkeiten Bescheid. Und allein das war Grund genug, jedes Mitglied auf Herz und Nieren zu prüfen, bevor es eingeweiht wurde. Die Brisanz dieses Wissens erschloss sich beispielsweise dadurch, dass das Militär noch immer auf der Suche nach dem ‚Supersprengstoff‘ war, mit dem ich damals auf ihrem Übungsgelände einen Twingo pulverisiert hatte – mit einer Sprengkraft, die knapp über dem TNT-Äquivalent der Hiroshima-Bombe lag. Die Tatsache, dass ich theoretisch nur mit Hilfe meiner Vorstellung in der Lage war, eine mittlere Kleinstadt auszuradieren, brachte mich und jeden, der es wusste in Gefahr. Ganz zu schweigen von den sonstigen Möglichkeiten, die meine Fähigkeiten boten.

Henri flog uns zum wiederholten Mal. War er anfangs schweigsam, eher misstrauisch gewesen, wurde er nun zunehmend redseliger und seine Frohnatur kam immer mehr zum Vorschein. So quatschte er während der drei Stunden bis zum Zielort fast ununterbrochen über seine Familie. Wir schwiegen dafür eher angespannt, nachdem wir uns wegen der exakten Vorgehensweise einig waren. Den Grundplan hatten wir schon vor Beginn des Fluges überlegt, aber die genauen Absprungkoordinaten konnten wir erst über dem Zielgebiet festlegen, da sie von Wind- und Wetterbedingungen abhingen. Sören hatte sich mit seinem Team in diesem Gelände aufgehalten, um Schlepperbanden aufzuspüren und ihre Methoden zu analysieren. Es war bekannt, dass etliche von ihnen das unwegsame Terrain benutzten, um Flüchtlinge über die Grenze zu bringen. Da es hier viele steil abfallende, schroffe Felsformationen gab, war diese Art der Grenzüberquerung besonders gefährlich, es hatte bereits genug Tote und Verletzte dabei gegeben.

Wir überflogen das Gelände niedrig, um Ausschau zu halten. Bisher gab es keine Anzeichen von Leben. Der Funkkontakt zu Sörens Team war gestern gegen halb fünf abgebrochen, auch der Heli hatte sie bis zum Dunkelwerden nicht mehr auffinden können. Wir saßen alle nervös auf unseren Plätzen, da wir nicht wussten, was den Dreien zugestoßen sein konnte. Ob sie von den Schleppern entdeckt und gefangen genommen worden waren? Oder befanden sie sich in einer Höhle, in der sie sich verschanzt hatten, und der Kontakt war durch das Bergmassiv gestört? Über Schlimmeres wollten wir lieber nicht nachdenken.

Wir sollten unser Glück mit dem Fallschirm versuchen, doch es war nicht leicht, einen geeigneten Landeplatz zu finden. Schließlich entdeckte ich ein winziges Plateau auf einer Bergkuppe, das ausreichen würde, wenn wir punktgenau auf knappen zwei Quadratmetern auftreffen konnten. Der Pilot schüttelte entsetzt den Kopf, als ich darauf deutete, aber mein Team nickte zustimmend. Sie wussten, dass ich sie sicher dort absetzen würde.

„Na dann Hals und Beinbruch!“, wünschte Henri zum Abschied, als wir uns aus dem Heli stürzten.

„Mit dir macht Abspringen total Laune!“, rief Marina begeistert, nachdem wir sicher auf dem Vorsprung angekommen waren. „Ich wette, du könntest mit verbundenen Augen auf einem Baumstumpf landen.“

„Warum nicht?“, gab ich ungerührt zurück.

„Alter Angeber!“, hörte ich Kerim dumpf hinter mir, der ein wenig mit seinem Fallschirm kämpfte. Ich half ihm grinsend beim Einwickeln. Den Landeplatz hatte ich vor allem deshalb gewählt, da sich direkt unter uns im Gestein einige Höhlen erstreckten. Wir erreichten sie problemlos über die glatte Felswand. Kerim und Marina waren mittlerweile geübt darin, nach meinen Anweisungen für sie unsichtbare Hilfsmittel zu benutzen. Nahezu geräuschlos quetschten wir uns durch den engen Eingang der ersten Höhle und leuchteten sie mit den mitgebrachten Lampen aus. Wie erwartet war sie völlig leer, jedoch lagen die beiden anderen Durchlässen, die ich von oben bereits ausgemacht hatte, ganz in der Nähe. Auch sie waren von unserem Standort aus ohne Bergsteigausrüstung und exzellente Klettererfahrung praktisch unerreichbar. Aber über einen umständlich durch die Felslandschaft gewundenen schmalen Pass ließen sich beide Hohlräume vom Tal her betreten. Die nächste Höhle war ein Volltreffer – wir fanden Müll und die Überreste eines Lagerfeuers. Die Asche glühte noch schwach. Marina schrie auf, als ich ihr ein kleines Notizbuch zeigte, das ich nah der hinteren Wand gefunden hatte.

„Das gehört Sören, ich bin mir sicher!“ Sie griff nach dem flachen Büchlein und blätterte es rasch durch. Ganz am Ende fand sich ein Wort hastig hingekritzelt: ‚Steinspur‘.

Es war ein einfacher Hinweis. Sofort scannte ich den Boden um uns und entdeckte ein Häufchen aus den kleinen Steinchen, die überall herumlagen. Es waren Splitter des bröckeligen Gesteins, die von Wänden und Decke stammten. Ich machte den Rest darauf aufmerksam und verließ derweil die Höhle, um mich in der Umgebung umzusehen. Die Steinchenspur begann direkt vor dem Eingang und folgte dem Pfad bis ins Tal. Tief unter uns floss ein kleiner Bach, mehr ein Rinnsal. Dort fand ich ebenfalls Steine, die am Ufer entlang flussabwärts führten.

Ich berichtete dem Team von meinem Fund und fragte vorsichtig: „Ist es okay, wenn ich erst einmal allein gehe? So bin ich wesentlich schneller und wir finden Sören und die zwei anderen umso eher. Vielleicht zählt jede Minute!“

„Kommt nicht in Frage!“, protestierte Kerim. „Du sollst den Spaß haben und wir sitzen hier tatenlos rum? Nee mein Freund, so nicht!“

„Du hast bestimmt jede Menge drauf, damit wir alle drei fix genug vorankommen“, meinte Marina pfiffig. „Lass dir was einfallen, Fantast, denn ich bleibe auch nicht hier und drehe Däumchen, während du die Lorbeeren einheimst!“

Ich seufzte. Manchmal war Teamarbeit lästig. Aber natürlich verstand ich die beiden und wollte sie auf keinen Fall von der Action ausschließen.

„Also gut, dann los. Fürs Erste macht mir einfach alles nach!“ Mit diesen Worten verschwand ich nach draußen.

„Der ist gut! Macht mir alles nach!“, keuchte Marina entsetzt, als sie mich die senkrechte Wand hinunter ins Tal springen sah. Sie bekreuzigte sich und sprang mir hinterher, während Kerim stocksteif oben stand und zu uns runter starrte. Die Höhe betrug sicherlich fünfundzwanzig Meter bis zum Flüsschen, an dessen schmalem Ufer wir gelandet waren. Energisch winkte ich meinem zögerlichen Teamkollegen. „Komm jetzt oder bleib oben!“

Endlich sprang auch er, und ich fing ihn ebenso sanft auf wie die mutige Frau neben mir. Wir eilten der Spur hinterher, die sich am Ufer entlangzog. Nach etwa einem dreiviertel Kilometer überquerte sie das Gewässer an einer seichten Stelle und wand sich auf der gegenüberliegenden Seite durch das felsige Gelände, wo massige Findlinge die Sicht erschwerten. Ich suchte jeweils voraus, um die Spur besser verfolgen zu können. Mehrfach nutzten wir einfache, aber wirkungsvolle Tricks, um besonders unwegsame Geländepassagen zu überwinden. Die Gruppe, die vor uns diese Strecke zurückgelegt hatte, war sicherlich sehr viel langsamer vorangekommen und hatte mehrere Pausen einlegen müssen. Sie hatte halt kein Trampolin zur Verfügung gehabt, um über die kleineren Findlinge zu springen oder Taue, um von einem Felsen zum nächsten zu schwingen. Meinem Team machte die Verfolgung auf jeden Fall riesigen Spaß. Schließlich endete die Steinspur abrupt vor einer Felswand. Ich suchte überall, oben, rechts, links – nichts.

„Vielleicht hatte er keine Steine mehr?“, überlegte Kerim. Es erschien logisch. Ich vernahm ein Geräusch und legte den Finger an die Lippen, während ein Teil von mir überall nachsah, woher der Laut gekommen sein konnte. Merkwürdigerweise war nichts zu finden. Erneut hörte ich etwas, konzentrierte mich stärker darauf und erkannte, dass es sich um menschliche Stimmen handelte, die direkt aus dem Berg vor uns erklangen. All meinen Mut zusammennehmend durchdrang ich den Fels. Die Wand war zum Glück nicht besonders dick und dahinter erstreckte sich ein geräumiger Hohlraum, in dem Fackeln brannten. Eine Gruppe von Menschen, unter ihnen Sören und zwei weitere gefesselte Männer, die ich von Fotos her kannte, hielt sich im Halbdunkel auf. Von innen entdeckte ich auch, dass sich der gut getarnte Eingang etwas erhöht befand. Rasch berichtete ich den beiden regungslos neben mir wartenden Begleitern von meinem Fund.

„Es sind zwölf Männer inklusive unserer drei. Die anderen scheinen Schlepper zu sein, denn sie unterhalten sich auf Albanisch. Sören habe ich bereits von seinen Fesseln befreit und eindeutig auf meine Anwesenheit hingewiesen. Hat er sofort verstanden. Er informiert seine Begleiter, die er unauffällig losbindet. Was machen wir jetzt – einfach mitnehmen und die Schlepper laufen lassen?“

Die beiden wussten es auch nicht genau. Kerim funkte Henri an. Aber der steckte in Schwierigkeiten.

„Ich bin wie abgesprochen in ausreichendem Abstand gelandet, um auf euch zu warten – und ratet mal, was jetzt wieder Zicken macht!“, fluchte er. Kerim sah mich stirnrunzelnd an. Ich verdrehte die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Mist! Ich hatte das Ersatzteil vergessen! Und aus der Ferne konnte ich es nicht neu erdenken. Kerim grinste schadenfroh. Es bereitete ihm offenbar tierisches Vergnügen, dass mir auch mal was Peinliches passierte. Er verkniff sich angesichts der ernsten Situation zwar jeglichen Kommentar, doch sein Blick sprach Bände. Ich überlegte blitzschnell.

„Okay – hier mein Vorschlag. Wir nehmen unsere Freunde mit und sperren die anderen in der Höhle ein. So bald kommen die nicht wieder raus, wenn ein dicker Felsblock den Einstieg blockiert. Wir sagen dem Boss Bescheid, wo die Gangster sich befinden, der soll sich dann mit der hiesigen Polizei kurzschließen. Ich flieg uns zu Henri, den zwei Uneingeweihten verbinden wir die Augen. Was sagt ihr dazu?“

Die beiden nickten wie erwartet. Ich war stolz darauf, dass niemand eine Frage stellte – sie vertrauten mir einfach. Keine fünf Minuten später standen ein erleichterter Sören sowie zwei ziemlich verwirrte Geheimdienstler draußen im Freien und mein Riese hatte einen ansehnlichen Findling vor dem einzigen Eingang der Höhle platziert. Die beiden Neulinge waren noch zu sehr vom eben Erlebten geschockt, um zu protestieren, als Marina ihnen improvisierte Augenbinden anlegte. Dabei hatten sie gar nicht viel gesehen – lediglich, wie ich die Höhle betreten und die bewaffneten Männer freundlich auf Albanisch gebeten hatte, ihre Gefangenen gehenzulassen. Daraufhin war ich von den neun auf mich gerichteten Gewehren unbeeindruckt auf die Gestalten zugeschritten und hatte Sören gleichzeitig ein Zeichen gegeben. Dieser hatte sofort die Beine in die Hand genommen und seine verblüfften Teamkollegen mit sich gezerrt. Kein Schuss fiel. Bevor sich die albanischen Männer von ihrer Überraschung darüber erholen konnten, war ich längst wie der Blitz umgekehrt und zum Ausgang zurückgeflitzt. Mein gigantischer Helfer hatte draußen gewartet, bis ich hinausgestürmt war, bevor er den Felsblock vor die Öffnung krachen ließ. Von drinnen hörten wir noch immer Schreie, Flüche und gebrüllte Beleidigungen.

„Was sagen sie?“ Sören umarmte mich strahlend.

„Sie freuen sich, dass sie dich los sind“, gab ich schmunzelnd zurück und machte meinen Teamhubschrauber startklar. Wir verfrachteten die beiden blinden Passagiere sowie uns selbst ins Fluggerät und hoben mit den üblichen Windgeräuschen der Rotoren ab.

„Und was ist mit Henri?“, fragte Kerim, als wir uns schon fast in Sichtweite des realen Helikopters befanden.

„Entweder, wir vertrauen darauf, dass er dichthält, oder wir landen hier und gehen den Rest zu Fuß“, gab ich achselzuckend zurück.

„Wir vertrauen ihm“, entschied Marina mit Blick auf das unwegsame Gelände unter uns sowie den winzigen Truppenhubschrauber, der mit bloßem Auge bisher kaum auszumachen war.

„Kann mir mal bitte jemand erklären, worüber ihr redet oder darf ich wenigstens diese lächerliche Augenbinde wieder abnehmen?“, beschwerte sich einer der Fluggäste.

„Nein Reinold, geht nicht – sonst müssen wir dich leider erschießen“, stellte Sören ungerührt fest.

Henri verpasste unsere Landung, da er genau in dem Moment versuchte, uns zu erreichen und sich dafür hinters Funkgerät geklemmt hatte.

„Hallo, wie weit seid ihr mit eurem Einsatz? Meldet euch doch, ich krieg diese verdammte Kiste nicht mehr ans Laufen!“

„Hi Flieger, Mission ausgeführt, wir sind fast da. Dann helfen wir dir beim Start.“ Mit offenem Mund beugte sich der Mann daraufhin aus der Kanzel und ließ den Kopfhörer fallen, als wir neben ihm sanft aufsetzten. Rasch stiegen wir um und führten unsere beiden Gäste zur Bank. Dort endlich durften sie die Augenbinden abnehmen.

„Können wir los?“, fragte ich beim Platznehmen auf dem Copilotensitz. Dabei klopfte ich Henri beruhigend auf die Schulter und raunte ihm zu: „Wir erklären alles später, wenn wir unter uns sind.“

Der Pilot wollte etwas erwidern, fing jedoch meinen warnenden Blick auf und stieß nur hörbar die Luft aus. Dann schloss er die Augen wie zum Gebet und drückte den Startknopf. Ohne Murren sprang der Motor an. Dies schien dem Mann neben mir das letzte Quäntchen Fassung zu rauben. Ich verbrachte die nächsten drei Stunden an der Seite eines blassen, schweigsamen Menschen, der gar nichts mehr gemein hatte mit dem fröhlich plaudernden Komiker von heute früh. Die einzige Bemerkung während des gesamten Fluges stammte von Reinold aus den hinteren Reihen.

„Warum sind wir nicht mit dem anderen Heli weitergeflogen? Der war viel angenehmer! Leiser Motor, kaum spürbare Beschleunigung und echt bequeme Sitze ...“

 

 

5.

 

Nach diesem kleinen Zwischenfall nahmen wir Henri offiziell ins Team auf. Unser Chef war einverstanden, da wir ohnehin einen Piloten gebrauchen konnten. Der Geheimdienstler hielt sich wacker angesichts der vielen erstaunlichen Neuigkeiten, die wir ihm nach und nach präsentierten.

„Mein ältester Sohn ist absoluter Fantasy-Fan“, gestand er schließlich. „Er hat mir bereits vor einiger Zeit von einem Buch vorgeschwärmt, in dem sich jemand Dinge vorstellt, die man wirklich gebrauchen kann. Erst dachte ich, es sei reine Fiktion. Aber nach meiner unheimlichen Erfahrung neulich mit eurem Team wurde ich nachdenklich und hab es selbst gelesen. Es ist von dir, nicht wahr? Du bist der Fantast!“

Ich nickte. Dies war nun schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass ich einen Leser außerhalb meines Bekanntenkreises traf. Es erstaunte mich, da mein Werk bisher nicht der Verkaufsschlager war.

„Das ist echt der Hammer!“, rief der Mann vor mir erregt. „Du hast sogar ganz offen gesagt, dass du Aufträge vom BND annimmst und es ein ultrageheimes Team gibt. Aber geglaubt habe ich es bisher nicht. Ich würd’s auch jetzt noch nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Du bist mir schon so oft über den Weg gelaufen und wirkst absolut normal. Ich wusste sogar, dass dein Deckname ‚Fantast‘ lautet. Die meisten Leute hier haben irgendeinen idiotischen Codenamen. Deiner ist gar keiner ... Völliger Wahnsinn, was du so treibst. Aber cool, äußerst cool, muss ich schon sagen!“

Meine Absicht, mit dem Amulett zu sprechen, hatte ich nicht vergessen. Da wir Henri einarbeiten mussten, wurde ich jedoch die nächste Zeit voll gebraucht. Also verschob ich mein Rendezvous mit Ra immer weiter. Ich sagte mir, dass ich dafür Ruhe brauchte und weder Termine, Zuschauer noch plötzliche Anrufe. Timo erfuhr natürlich von unserem neuen Teammitglied und freute sich mit mir über den Fund.

Henri brachte auf seine eigene Art frischen Wind ins Team. Dadurch, dass er von mir gelesen hatte, war er unendlich neugierig und seine Erwartungen an mich waren von Beginn an viel höher als die meiner anderen Teamkollegen.

„Ich würde gern mal deinen Freund, den Riesen kennenlernen“, meinte er beispielsweise mitten während eines Probealarms zu mir. Sören verdrehte die Augen und zischte: „Wir sind hier aber nicht allein, Scherzkeks! Willst du, dass sie Simon wie ein Versuchstier einsperren und untersuchen? Dann mach nur so weiter!“

Henri sah ihn an und schnitt eine Grimasse. „Ich meine ja auch nicht sofort. War nur so ’ne Idee.“

So dumm fand ich diese gar nicht, weil mein großer imaginärer Gefährte ein praktisches Transportmittel für die gesamte Truppe darstellen würde. Wir hätten ihn bei unserer Suchaktion letztens gut gebrauchen können – wenn ich bloß eher an ihn gedacht hätte. Deshalb arrangierte ich kurz darauf ein Treffen zwischen Riese und Team auf einsamem Gelände. Sie hatten eine Weile Spaß daran, auf ihm herumzuklettern. Henri fand auch das ziemlich cool – meinem Geschöpf gefiel es eher weniger.

Meik schien sich endlich wieder an das einfache, gutbürgerliche Leben gewöhnt zu haben. Die frisch entflammte Liebe zu einem Mädchen forderte viel von seiner Aufmerksamkeit und zeigte ihm, dass es noch etwas anderes gab, außer Wirbel einzurenken und Verspannungen zu lösen. Momentan schien er mit sich und der Welt zufrieden, also ließen wir ihn in Ruhe, um ihn nicht mit unserer Anwesenheit an Dinge zu erinnern, die er lieber vergessen wollte.

Dann kam der bang erwartete Augenblick, in dem ich tatsächlich nichts Wichtiges zu tun hatte – und dies aller Voraussicht nach für mindestens zwei volle Tage. Am liebsten hätte ich mich ans andere Ende der Welt verkrochen, um nicht mein Versprechen Henkel gegenüber und meinen festen Vorsatz einhalten zu müssen. Schließlich siegte das Pflichtbewusstsein über den inneren Schweinehund und ich holte das Auge aus seinem Versteck. Es kostete ungeheure Überwindung, es umzulegen. Halb erwartete ich, dass Anfeindung, Boshaftigkeit und Kälte über mich hereinbrachen, zumindest aber Spott und herablassende Bemerkungen, doch nichts dergleichen geschah. Überrascht blickte ich an mir herab auf das blinkende Schmuckstück. Es blieb stumm, wirkte irgendwie erwartungsvoll, als würde Ra darauf lauern, dass ich den ersten Schritt tat.

Lange Zeit schwiegen wir uns an wie zwei Kinder nach einem Spielplatz-Streit. Dann fragte ich kühl: „Und – hat es Spaß gemacht, meinen Freund zu benutzen?“

Er war ein sehr geeigneter Träger. Wir hätten viel zusammen erreichen können.

„Das ist alles, was dich interessiert, oder? Wen oder was du dabei zerstörst, ist dir völlig egal ...“

Deinen Hang zur Selbstaufgabe habe ich nie verstanden. Du hättest die Macht, über die Menschen zu herrschen, Großes zu bewirken, aber du machst dich klein, unterwirfst dich ihren Schwächen und willst diesen armseligen Kreaturen mit deinen Kräften dienen. Das ist unlogisch.

„Ach ja? Zumindest habe ich Freunde und bin zufrieden mit meinem Dasein. Sag mir – wie glücklich warst du zu deinen Lebzeiten?“

Ich war sicherlich nicht unglücklich, auch ohne mannigfaltige emotionale Bindungen. Ich habe große Ziele erreicht in meinem Leben. Dir scheint das wohl nichts zu bedeuten.

„Es bedeutet mir sehr viel, etwas Sinnvolles zu tun“, sagte ich leise.

Ist es nicht ehrenvoll, Menschen auf einen gemeinsamen Weg zu führen und ihnen ein weiser Herrscher zu sein?

„Nicht für mich, das weißt du genau! Ich bin kein Anführer, werde es niemals sein. Vielleicht warst du mal ein großer King, aber heute brauchen wir dich nicht mehr. Du bist längst überflüssig, Ra!“

Du weißt nichts über mich, sonst würdest du mich nicht derart herablassen behandeln!

Die Stimme Ras in mir schwoll kurz an und klang zornig. Aber dann wurde sie wieder sanft und leise wie eh und je.

Jung und ungestüm bist du, gutgläubig, naiv, voll von guten Vorsätzen. Aber auch du wirst wohl oder übel die Wahrheit über dich selbst und die Menschen um dich herum lernen müssen. Und die ist nun mal, dass du anders bist als sie. So viel größer, mächtiger ... Deine Stärke dient nur einem einzigen Zweck – der Menschheit Halt zu geben. Sie braucht Führung und Leitung durch eine Kraft, die über ihre eigene hinausgeht.

„Du sprichst von dir selbst, nicht von mir. Ich bin nicht wie du und werde es niemals sein!“

Wie schon gesagt – du weißt nicht das Geringste von mir. Aber ich weiß eine Menge über dich und dass wir uns viel ähnlicher sind, als du glaubst. Auch ich war einmal jung und dachte genau wie du, dass ich mich bloß anpassen müsste, und schon würde alles gut werden. Es war nur eine Illusion, reine Selbsttäuschung, um den Blick vor der Wirklichkeit zu verschließen. Sieh, ich zeige dir mein Leben. Vielleicht wird dir das endlich die Augen öffnen.

In meinem Geist entstanden Bilder, die mich in Ras Erinnerungen führten. Es ging in rasendem Tempo, sodass ich die einzelnen Eindrücke nicht fassen oder gar verarbeiten konnte. Wie ein Film in Super-Zeitraffer. Aber wie bei einer Datenspeicherung hatte ich anschließend eine sehr lange Aufnahme im Kopf, die ich beliebig oft abspielen, vorspulen oder anhalten konnte. Irgendwie wurde mein Gehirn mit dieser Flut von Informationen fertig und schaffte es sogar, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Trotzdem war es überwältigend und brachte mich an den Rand eines Systemabsturzes.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Erinnerungsstrom anhielt, es können Sekunden oder auch Minuten gewesen sein. Doch die Zeit spielte keine Rolle mehr. Ich war plötzlich uralt und jung zugleich und fühlte eine unbekannte Kraft in mir – Ras Kraft. Sie war meiner ebenbürtig, wenn auch von gänzlich eigener Art. Keiner von uns konnte den anderen endgültig besiegen, dessen war ich mir nun völlig bewusst. Wir bildeten zwei Seiten derselben Medaille, entstammten demselben Ursprung, waren Brüder – getrennt durch ein Jahrtausend, vereint in einem Augenblick. Es erschreckte mich, in Ras Jugenderinnerungen ähnliche Bilder wie in mir selbst zu finden: Die gleiche Sehnsucht nach Normalität, das Verlangen nach Anerkennung und die Erfahrung von Ablehnung und Angst vor dem Unbekannten. Ra erkannte irgendwann seine Bestimmung zu herrschen und kam ihr nach. Seine Macht wuchs, er vereinte Stämme und Völker durch Kriege und politische Schachzüge. Seine Untertanen vertrauten ihm bedingungslos, da er sie nie enttäuschte. Er war weder boshaft noch grausam, nur absolut konsequent und stringent in seinem Denken und Handeln. Da gab es nichts Unnötiges, kaum Emotionen, nur die kalte Entscheidung für das Zweckmäßige, Rationale. Hierin unterschieden wir uns wie Tag und Nacht. Und genau wie diese Tageszeiten gehörten wir in unauflösbarer Symbiose zueinander, ohne jemals nebeneinanderzustehen. Ich begriff, dass er die Wahrheit gesagt hatte – mein Versuch, mich vor der Welt zu verbergen, musste scheitern, war es längst. Die Erkenntnis erschütterte mich zutiefst. Ra spürte meine starken Emotionen und schien zu lachen.

Nun bist du im Bilde. Denke in Ruhe darüber nach, Fantast. Mein Angebot steht – ich kann dich leiten, dir helfen, deine Bestimmung zu erfüllen – unsere Bestimmung. Dein Vorgänger hat sich letztlich vor seiner Verantwortung gedrückt und mich zu einer langen Wartezeit verdammt. Aber ich spüre, dass diese nun zu Ende geht. Ich bin sicher, wir sprechen uns wieder ...

„NEIN!“, schrie ich und mein Innerstes schien unter dem Ansturm von Verzweiflung und hilfloser Wut zu zerreißen. Ich zerrte das Amulett vom Hals – wieder ließ es sich nicht öffnen und ich musste es über den Kopf streifen. Dann warf ich es mit aller Kraft gegen die Wand. Es prallte so sanft ab, als hätte ich es vor eine dicke Schaumstoffisolierung geworfen und fiel zu Boden. Schwer atmend und schweißgebadet stand ich da, starrte das unschuldig glitzernde Schmuckstück an und konnte noch immer nicht fassen, was es mir offenbart hatte. Ich glaubte, ich hätte alles andere besser ertragen können als diese nüchterne Erkenntnis, selbst die schlimmsten körperlichen Verletzungen oder den Kampf bis zum Tod. Ras Worte schienen mich innerlich viel nachhaltiger zu zerstören als jede äußerliche Gewalt.

Nach unendlich langen Minuten kam ich wieder halbwegs zu mir und erwachte aus meiner Starre. Wie betäubt sperrte ich das Auge erneut in sein Versteck ein – eine einfache Schreibtischschublade ohne Öffnungsmöglichkeit, die offiziell nicht existierte. Den Rest des Tages wanderte ich umher wie ein Geist. Mechanisch erledigte ich notwendige Handgriffe und die alltäglichen Dinge, ohne mich anschließend daran erinnern zu können, es getan zu haben. Ich sperrte Timo aus – etwas, das mir seit einiger Zeit besser gelang als ihm. Mein Innerstes barst fast vor Sehnsucht, mit jemandem über die Sache zu sprechen, aber ich konnte es dennoch nicht. Meine Freunde und auch meine Eltern bedeuteten mir zu viel – ich hätte nicht ertragen, ihnen diese erschütternden Dinge über mich zu sagen. Wie hätte ich es formulieren sollen, ohne dass es unsere Freundschaft zerstörte? Ich war eine Naturgewalt, dazu bestimmt, mich mit einem Monster zu verbünden, um die Weltherrschaft zu erreichen. Das Grausamste daran waren nicht Ras Worte und Gedanken, sondern das Wissen darum, dass er die Wahrheit sagte. Mein Denken war gefangen in einem Teufelskreis aus Schuldgefühlen und Entsetzen, die Emotionen dabei so einschnürend, dass ich alles ausblendete, was mich in meinem Schmerz hätte trösten können. Sonst hätte ich längst gemerkt, wie töricht diese Überlegungen waren. Trotzdem brauchte ich jemanden, der mir sagte, ob es stimmte. Alles in mir rebellierte gegen dieses Schicksal und ich konnte die Hoffnung nicht aufgeben, dass es vielleicht noch einen Ausweg gab. Ich brauchte diesen Jemand so dringend, dass ich einen drastischen Plan fasste. Wie anders als mit abgrundtiefer seelischer Not konnte ich begründen, was ich tat?

Mein Gedanke war ebenso einfach, wie beängstigend: Ich musste noch einmal mit IHM reden. Mit dem Mann, der mich auf der anderen Seite empfangen hatte und sicherlich die Antwort auf all meine brennenden Fragen kannte. Auf Gebete antwortete er für gewöhnlich nicht. Also musste ich es auf dem einzigen Weg versuchen, der mir offen schien.

Du bist der Fantast – deine Vorstellung gilt.

Diese Worte hatten sich tief in mich eingebrannt und die ungeheuerliche Bedeutung, die sie beinhalten konnten, enthüllte sich mir nur andeutungsweise. Es war pure Theorie ohne sicheren Grund. Nun war ich verzweifelt genug, sie zu überprüfen. Innerlich völlig leer und gleichzeitig von erbitterter Entschlossenheit erfüllt begann ich mit den Vorbereitungen. Ich schrieb zwei kurze Briefe – einen an meinen besten Freund und einen an Meik. Die Umschläge überbrachte ich persönlich, ohne gesehen zu werden. Ich platzierte sie so, dass die beiden sie entdecken würden, wenn es an der Zeit dafür war. Also frühestens in einer halben Stunde. Denn so lange würde ich mindestens für mein Vorhaben brauchen. Ohne Umschweife machte ich mich anschließend auf den Weg zum richtigen Ort. Dafür benötigte ich über die Hälfte der veranschlagten Zeit, da ich die gesamte Strecke im Laufschritt zurücklegte.

Schließlich stand ich im Schatten des hohen Turmes und öffnete die Tür. Sie war verschlossen, aber ich machte mir nicht die Mühe, den Schlüssel vom benachbarten Gastwirt zu holen und genoss jeden Meter, jede einzelne Stufe bis nach oben. Wie oft war ich mit Timo gemeinsam hier hochgestiefelt? Meistens früh morgens oder später abends, wenn niemand mehr den weitläufigen Platz betrat und das Gebäude einsam dalag. Wir waren zusammen gesprungen, hatten Bungeejumping sowie die wildesten Kunststücke in der Luft gemacht, waren geflogen, ins Wasser gehüpft oder auf den Zinnen balanciert. Ich erinnerte mich auch daran, wie mein Freund einst hier oben gestanden hatte, bereit, für mich zu springen. Damals hatte er mich durch seinen Mut vor der völligen Beherrschung durch Ra bewahrt. Es war das einzige Mal gewesen, dass wir Zuschauer gehabt hatten.

Jetzt, am späten Nachmittag, lag der Platz im leichten Nieselregen leer und verlassen unter mir. Vorsichtig näherte ich mich den Zinnen, lehnte mich dagegen, um hinabzublicken. Viel zu niedrig. Aber ich brachte es nicht fertig, noch höher hinauf zu steigen. Es musste reichen. Mein Herz hämmerte in der Brust. Einen Augenblick lang war ich versucht, umzudrehen und wieder runterzugehen. Es wäre so einfach. Dann kam die Erinnerung zurück und damit der Schmerz. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich mich zitternd auf die höchste Zinne stellte. Höhenangst war mir bis dahin fremd, aber ich hatte diese Höhe noch nie aus dem momentanen Blickwinkel betrachtet. Warum war es derart schwer, diesen Schritt zu machen, obwohl ich es bereits dutzende Male getan hatte? Kurz schloss ich die Augen und nahm bewusst Verbindung zu meinem Freund auf. Ich atmete tief, sah nach unten und murmelte: „Mach’s gut, Timo. Ich hoffe, wir sehen uns ...“

Simon, NEIN!

Ich schloss die Augen wieder, stieß mich mit aller Macht ab und sprang, meinen Fall bis zum Maximum beschleunigend, ohne der Schwerkraft allzu sehr nachzuhelfen. Jede Unze Konzentration verwandte ich dabei darauf, den Boden unter mir hart sein zu lassen. Den schmerzhaften Aufprall spürte ich nur kurz und verlor fast augenblicklich das Bewusstsein.

 

Es war genau wie beim ersten Mal und doch völlig anders. Ich wurde sofort von dem wunderbaren Licht umströmt und durchflutet, fühlte mich darin geborgen und warm. Wieder wartete derjenige auf mich, den ich so dringend sprechen wollte. Sein Blick wirkte nicht direkt tadelnd oder wütend, aber auch nicht erfreut, mich zu sehen. Schamerfüllt senkte ich den meinen zu ... Nein, ein Boden war es nicht. Eher ein diffuses Nichts, auf dem ich dennoch zu stehen schien.

„Hallo Simon“, ertönte die leise Stimme, die mir so unendlich vertraut vorkam, obwohl ich sie erst einmal gehört hatte. Ich zwang mich, den Kopf wieder zu heben und mein Gegenüber anzusehen, das nun ganz nah bei mir stand, obgleich keiner von uns beiden sich bewegt hatte.

„Du weißt schon, dass du soeben Selbstmord begangen hast?“

Ich zuckte leicht zusammen. So wie er es sagte, hörte es sich sehr hart an. Trotzdem nickte ich beklommen.

„Ich musste dich unbedingt sprechen. Du hast mir gesagt ...“

Ich brachte die Worte nicht heraus. Es klang zu absurd.

„Deshalb kommst du hierher – um mir Fragen zu stellen?“

Es hörte sich nicht böse an, eher belustigt. „Simon, Simon, was mache ich bloß mit dir? Mir ist klar, dass du ziemliche Risiken eingehst, um deine Fragen beantwortet zu bekommen, aber das hier finde ich schon mehr als nur leicht übertrieben.“

„Es tut mir leid“, murmelte ich zerknirscht. „Bin ich ... bin ich jetzt wirklich ...?“

„Tot?“ Ich hörte ein leises Lachen. „Entscheide selbst. Du weist weder Atmung noch Puls auf, deine Gliedmaßen sind geprellt, gequetscht und gebrochen, das Gehirn wurde beim Aufprall leicht über den Asphalt verteilt und du befindest dich gegenwärtig bei mir. Also bist du nach landläufiger Meinung tot. Du warst sehr gründlich.“

Ich schwieg bedrückt, dachte an all die Menschen, die ich liebte und wie sie mich vorfinden würden.

„Eins muss man dir lassen, du hast Mut. Und du bist starrköpfig. Abgesehen davon, dass wohl niemand sonst auf die groteske Idee kommen würde, mich auf diese Art und Weise sprechen zu wollen, hätten es auch nicht viele geschafft, den Plan wirklich durchzuziehen – vor allem mit deinen Möglichkeiten, ihn jederzeit abzubrechen.“

„Aber wie hätte ich es sonst machen sollen?“, rief ich verzweifelt. „Ich brauche dich doch so dringend! Und auf mein Rufen antwortest du ja nicht ...“

Die Gestalt vor mir seufzte. „Wie könnte ich dir etwas sagen, ohne dass du mich zu Wort kommen lässt?“, fragte er geduldig. „Und wie willst du zuhören, wenn es ringsum viel zu laut ist oder dich tausend Dinge gleichzeitig beschäftigen? Du hast mich bereits gehört, Simon, mehr als einmal. Aber ich rede nicht gerne gegen eine Wand und meine Stimme ist für gewöhnlich eher leise. Also versuch es beim nächsten Mal mit Stille – äußerliche und innerliche.“

Ich starrte ihn an. Sollte das heißen, dass ich dies alles völlig umsonst ausgestanden hatte, weil es bei Beachtung dieser einfachen Regeln jederzeit möglich gewesen wäre, mit ihm Kontakt aufzunehmen?

Obwohl ich weiterhin schwieg, nickte mein Gegenüber mit leicht belustigtem Gesichtsausdruck. „Dein Gesprächsweg ist ungefähr so umständlich, wie das Telefon zu ignorieren und stattdessen zu Fuß um die halbe Welt zu laufen, nur um dem Gesprächspartner dann die Tür einzuschlagen.“

Ich kam mir vor wie ein Schuljunge, der eine furchtbare Dummheit begangen hatte und nun vorm Rektor stand. Niedergeschlagen überlegte ich, dass sich meine Fragen jetzt eigentlich erledigt hatten. Es war ja vorbei. Oder etwa nicht? Ein gewisses Funkeln in dem Augenpaar vor mir verriet, dass es noch mehr zu sagen gab.

„Um in dem Vergleich zu bleiben, würde ich dich doch bitten, das nächste Mal einfach dein Handy zu bemühen – im Klartext das persönliche Gespräch mit mir zu suchen, bevor du hier alles auf den Kopf stellst.“

„Das … nächste Mal? Heißt das …“ Ich wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu denken.

„Genau das.“

Er verstand auch die angefangenen, verstümmelten Sätze.

„Deine Theorie stimmt halbwegs. Du wirst nur hierbleiben, sofern du es selbst wünschst. Allerdings könnte es Ärger geben, wenn du hier rein- und rausspazierst wie in einem Kaufhaus. Es gibt Türen, die nicht ohne Grund verschlossen sind, so wie diese hier. Und es grenzt an Respektlosigkeit, sie dennoch zu öffnen, nur weil man es kann.“

„Dann bin ich … unsterblich?“

Es erschien mir völlig absurd.

„Nein, sonst würdest du dich nicht hier befinden. Sagen wir es mal so: Der Weg, den du nun schon zweimal gegangen bist, ist für die allermeisten Menschen eine Einbahnstraße. Auch du wirst ihn eines Tages auf diese Weise zurücklegen. Bis dahin jedoch gilt, was ich dir bei deinem ersten Besuch bereits gesagt habe – deine Vorstellung bestimmt, was wirklich ist. Und da gibt es für dich nur sehr wenige Grenzen.“

Ungläubig schaute ich den Großen vor mir an.

„Aber natürlich gibt es Grenzen! Die Naturgesetze kann ich nicht brechen, im Flugzeug verlässt mich meine Kraft, Masse, Gewicht und Geschwindigkeit der vorgestellten Dinge sind durchaus begrenzt.“

Die Gestalt vor mir sah mich seltsam abwägend an und nickte dann leicht. „Du setzt dir selbst welche. Das ist gut, denn wer sonst sollte es tun? Es wird dir allerdings kaum gelingen, die Blockade in deinem Kopf zu überwinden, die eintritt, sobald du die Erdkugel verlässt. Sie ist eine Art Notbremse. Eine Erinnerung daran, dass du nicht allmächtig bist.“

Ich konnte es noch immer nicht fassen.

„Soll das heißen, ich könnte die Gesetze der Natur brechen, wenn ich es wollte?“

„Du hast es bereits viele Male getan.“

Mein Gegenüber wirkte plötzlich recht amüsiert. „Kinder denken nicht über Physik, Ursache und Wirkung nach. Obwohl du dich erstaunlich früh damit auskanntest, wusstest du noch längst nicht alles darüber, als du dir Dinge vorgestellt hast, die eindeutig gegen die Regeln verstoßen.“

„Und was soll das gewesen sein?“, fragte ich unwirsch.

„Beispielsweise das Band, das deinen Freund Timo und dich so hervorragend verbunden hat. Unzerreißbar und doch nachgiebig bis hin zur molekularen Ebene … Ich denke, du weißt, was ich meine.“

Es war, als hätte jemand ein Tuch von dem blinden Fleck genommen, den ich genau vor dieses Phänomen gemalt hatte. Logisch. Das Band war völlig unmöglich – und doch war es mir damals möglich vorgekommen. Also hatte ich geschafft, es zu erdenken, und es hatte funktioniert. Noch weitere Dinge fielen mir ein, die ich als Kind erdacht hatte und die rational betrachtet gegen alle physikalischen Gesetzte verstießen: Ein Auto, das ohne Motor fuhr. Wasser, das von alleine bergauf floss. Eine Telefonverbindung zu einem Spielzeughandy ohne technische Nachrüstung …

Es gab noch viele Beispiele.

„Aber das sind Kleinigkeiten“, meinte ich kopfschüttelnd. „Sie bewirken nicht wirklich etwas und schaden auch niemandem.“

„Womit wir endlich bei deinen dringenden Fragen wären, die dich hergeführt haben.“

In den Augen des Großen war zu lesen, dass er sie längst kannte, aber wollte, dass ich sie trotzdem stellte. Vielleicht, weil ich mich dadurch besser fühlte.

„Stimmt es, was Ra mir gesagt hat?“, platzte ich mit der wichtigsten davon heraus.

„Ja und nein“, antwortete er. „Wenn du danach fragst, ob du wirklich das Gegenstück zu ihm bist – ja. Aber das verrät dir bereits dein Gefühl, ebenso wie die Tatsache, dass Ra dich nicht belogen hat. Der Große ist schlau. Er sagt nicht die Unwahrheit, verschweigt jedoch einige wesentliche Dinge, sodass du ein schiefes Bild von der Sache bekommst. Falls du also davon ausgehst, dass Ras Weg aus diesem Grunde auch deiner werden muss, dann ist es eindeutig falsch. Wenn ich mich nicht irre, ist diese Erkenntnis ebenfalls längst in deinem Herzen angekommen. Deshalb verstehe ich nicht, was so dringend war.“

Ich atmete tief durch. Obwohl ich keinen Körper mehr besaß, dachte ich mir längst einen, um mich wohler zu fühlen. Diese einfache, kurze Antwort erleichterte mich unendlich. Gleichzeitig machte sie mir erneut bewusst, wie kurzsichtig und unreflektiert ich gehandelt hatte. Typisch ich – erst tun, dann nachdenken.

„Wie kann ich das Auge des Ra zerstören?“

„Solange es von Ra bewohnt wird – gar nicht.“

„Und wie sorge ich dafür, dass er auszieht?“

„Das musst du schon selbst herausfinden. Wenn es so weit ist, helfe ich dir gern, aber bis dahin darfst du ruhig ein wenig an der Lösung arbeiten. Du schaffst es bestimmt, sofern du hartnäckig genug dranbleibst. Zudem hast du Freunde, die dir zur Seite stehen. Du brauchst nicht auf ihr Hilfsangebot zu verzichten.“

„Hmm. Wäre sonst wohl zu easy, oder?“

„Wer sagt, dass es immer einfach sein soll? Ein bisschen Spannung und Abenteuer gehören doch zum Leben dazu, findest du nicht? Ich bin mir sicher, dass du das im Grunde zu schätzen weißt.“

„Okay, du hast recht – wie immer.“

„Oh nein, ich habe das Recht nicht gepachtet. Im Laufe der Zeit wird man halt zwangsläufig besser darin, Zusammenhänge zu erkennen und das Wesentliche zu sehen. Irgendwann gelingt dir das ebenfalls. Aber ich glaube, du solltest jetzt gehen, mein Freund.“

Mir war klar, dass er auch hiermit recht behielt. Obwohl ich unendlich viele weitere Fragen gehabt hätte, blieb nur noch Raum für eine einzige.

„Hatte jeder von uns – ich meine, von den sogenannten Großen – die Wahl?“

„Du meinst, die Wahl zu gehen oder zu bleiben?“

Ich nickte schüchtern.

„Diese Wahl hat jeder Mensch – nur anders als du“, war die kryptische Antwort. Ich wusste, dass es in diesem Moment keine genauere Auskunft dazu geben würde und verabschiedete mich. „Bis dann.“

„Ich hoffe, du verzeihst meinen Wunsch, dich hier nicht allzu bald wiederzusehen.“

Trotz des noch immer recht zerknirschten Gemütszustandes musste ich schmunzeln. „Nein, sicher nicht! So scharf bin ich nicht auf eine Wiederholung des Ganzen.“

„Kann ich nachvollziehen. Sei froh, dass du es dir relativ einfach machen konntest.“

Schaudernd dachte ich an stundenlange Qualen bis zum Erstickungstod und pflichtete ihm bei.

„Schaffst du es diesmal allein zurück?“

Obwohl ich mir nicht vollkommen sicher war, ob meine Idee dazu funktionieren würde, nickte ich. „Glaub schon, dass es geht ...“

„Bestimmt.“

Ohne noch einmal zurückzublicken drehte ich mich um und machte einen Schritt ins Nichts.

6.

 

Das Erwachen verlief anders als gedacht. Es ist schön, wenn man sich auf Freunde verlassen kann – meine sind die besten der Welt. Dies stellte ich mal wieder fest, als ich mich auf Timos Bett fand, umringt von den Menschen, die mir am meisten bedeuteten. Mein engster Vertrauter war im Begriff, mir eine weitere Ohrfeige zu geben und ich stoppte seine Bewegung. Ein hoffnungsvolles Strahlen lief über sein tränennasses Gesicht. „Na endlich!“

Ich spürte, wie sich ein dicker Knoten in ihm löste. Auch Meik stand über mich gebeugt, auf seiner Brust schimmerte das Amulett. Eine kurze Überprüfung verriet mir, dass er es perfekt angewendet hatte, um mich wiederherzustellen.

„Danke“, sagte ich bloß und blickte ihn dabei an.

„Ich wollte es erst nicht wahrhaben, als ich das Teil mit deinem Brief zusammen fand“, murmelte er und nahm es ab. „Nie hätte ich gedacht, dass du es mir noch einmal wiedergibst und dass ich es erneut umlegen und gebrauchen würde! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Überwindung es mich gekostet hat ...“

„Bitte entschuldigt, dass ihr das ertragen musstet. Ich dachte wirklich, es sei nötig. Inzwischen weiß ich, dass es völliger Quatsch war und schwöre, es nie wieder zu tun.“

„Was hast du dir nur dabei gedacht, Junge!“, rief mein Vater, der sich nun zu mir durchdrängte und mich umarmte. Sein Gesicht war grau, von Tränenspuren gezeichnet. Meine Mutter drückte mich nur schluchzend an sich.

„Ist schon gut, Ma“, tröstete ich sie und wischte ihre Tränen ab. „Ich sag’s ja – Unkraut vergeht nicht. Mit mir habt ihr ein äußerst zähes Gewächs gezüchtet.“

„Wie war’s denn?“, wollte Susanna wissen, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, um die rührende Szene nicht zu stören. Sie sah nicht halb so unglücklich aus wie die anderen, eher gespannt und neugierig.

Ich lächelte. „Ganz okay eigentlich. Zumindest habe ich weder Hausarrest noch Taschengeldkürzung gekriegt.“

Susanna lachte kurz und etwas nervös. „Hatte er schon immer diesen ausgeprägten Sinn für schwarzen Humor?“, wandte sie sich an Timo und meine Eltern. Diese nickten einmütig. Dann drehte sie sich wieder zu mir.

„Nein, jetzt mal ehrlich – warst du ... dort?“

Ich bekundete erneut meine Zustimmung. „Wenn du mit ‚dort‘ den Ort meinst, wo man nach Beendigung dieses Lebens hingeht, dann ja. Kann ihn dir allerdings nicht mal beschreiben, weil es einfach nichts gab. Nur Licht ...“

Alle Anwesenden hörten gespannt zu, als ich ihnen einen knappen Umriss des Abenteuers im Jenseits gab. Ich verschwieg diesmal auch nicht meinen ersten Trip dorthin und das Geplänkel mit Ra, das ja den hauptsächlichen Grund für die Kurzschlusshandlung darstellte. Diese Menschen waren mir so vertraut, dass sie es ruhig erfahren durften – mein Vorbild hatte mich viel mehr gelehrt als das, was ich ursprünglich wissen wollte.

Ziemlich geschockt war ich über die Länge meiner Abwesenheit. „Vier Stunden – das ist heftig! Mir kam es vor wie zehn Minuten oder so.“

„Dort, wo du warst, hat die Zeit sicherlich ihre eigenen Gesetze“, meinte Timo nachdenklich. Ich pflichtete ihm bei, aber ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass meine Freunde derart lange um mich bangen mussten, blieb. Es machte mein Gewissen nicht gerade leichter.

Meine Eltern verabschiedeten sich schließlich, um nach Hause zurückzufahren. Henkel, der zwischenzeitlich über mein ‚Ableben‘ informiert worden war, rief an und schien nicht mal besonders überrascht, meine Stimme zu hören.

„Du hattest doch bereits so was angedeutet“, meinte er verschmitzt. „Also habe ich mir vorsichtshalber mal keine allzu großen Sorgen um dich gemacht und gedacht, für Trauer ist später noch Zeit, wenn sich herausstellen sollte, dass du wirklich tot bist ...“

Eigentlich war alles wie früher. Dennoch kam es mir vor, als hätte jemand den Resetknopf gedrückt und damit einen Neustart initiiert. Voller Tatendrang stürzte ich mich auf die Aufgabe, die mir gestellt worden war: Ich musste herausfinden, wie ich Ra aus seinem Heim vertreiben konnte. Wir wälzten am gleichen Abend noch Bücher über Okkultismus, recherchierten im Internet, fragten Freunde und Bekannte im In- und Ausland. Mein Verbündeter Harun war einer der Ersten, der diese Frage gestellt bekam. Er wusste zwar um die Macht des Auges, jedoch noch nicht viel über seinen Bewohner. Deshalb bat er mich um einen Besuch im Wüstenstaat der Vereinigten Arabischen Emirate. Mittlerweile war er in einem Beduinendorf nah der Metropole Dubai beheimatet und natürlich wollte Timo mich unbedingt dorthin begleiten. Da der Trip ungefährlich schien und wir lange keine gemeinsamen Flugreisen mehr unternommen hatten, stimmte ich zu. Auch Susanna wäre gern mitgekommen, aber sie hatte viele freiwillige Aufgaben in ihrer Gemeinde übernommen, die sie nicht einfach spontan sausen lassen konnte. Zudem wurde ihr Bauch langsam dicker. Sie wusste nicht, welche Beschleunigung sie dem Baby zumuten durfte. Wir hatten schließlich nicht vor, den Bummelzug zu nehmen.

„Meldet euch mal, ja?“, forderte sie sanft und küsste ihren Schatz zum Abschied. Auch ich bekam einen Knutscher auf die Wange und rieb sie mir anschließend verlegen.

„Du weißt schon, dass du diese Frau nie wieder gehen lassen kannst“, meinte ich zu Timo, während wir uns schneller als der Schall südostwärts bewegten. Dieser grinste.

„Ist mir durchaus bewusst und hab ich auch nicht vor. Dir kann ich es ja verraten, ohne dass du mich gleich verpetzt: Ich wollte ihr zum Geburtstag den Heiratsantrag schenken, mit Ring und allem Drum und Dran. Denkst du, sie sagt ja?“

„Das muss sie“, erwiderte ich trocken.

„Wieso das?“

„Weil ich ihr sonst androhen werde, dass sie mich nehmen muss, wenn sie dich nicht will. Als Mitwisserin wäre sie andernfalls viel zu gefährlich für uns.“

Harun empfing uns herzlich und zeigte uns gleich sein bescheidenes Heim. Es glich mehr einer Hütte, die einfach aber behaglich im typischen Stil der hiesigen Beduinen eingerichtet war.

„Das Einzige, auf das ich aus der modernen Welt nicht verzichten kann und möchte, ist ein Internet-Anschluss, inklusive Möglichkeiten, ihn zu nutzen“, meinte er lächelnd. So besaß er sowohl Laptop als auch Handy und Tablet, dafür jedoch weder fließend Wasser noch Toilette im Haus. Uns machte es nichts, da der Dorfbrunnen nah genug lag, um das benötigte kostbare Nass rasch zu besorgen. Der ehemalige Präsident der VAE war ein völlig anderer geworden, seit ich ihn vor zwölf Jahren im Palast von Abu Dhabi kennengelernt hatte. Vom herablassenden Herrscher mit dem typischen Gebaren eines weltmännisch wirkenden Despoten, der in Wahrheit nicht viel mehr als eine Marionette des Meisters der Bruderschaft des Ra war, hatte er sich zum bescheidenen, tief religiösen Menschen gewandelt, der seinen Frieden mit Gott und der Welt gemacht hatte. Wir gratulierten ihm zu seinem Eigenheim und meinten es ernst. Wenn er hier glücklich war – wer hatte das Recht, dies in Frage zu stellen?

„Ich habe ein wenig nachgeforscht“, begann er, nachdem wir auf den Sitzpolstern Platz genommen und Tee gereicht bekommen hatten.

„Es gibt jede Menge Aussagen zu diesem Thema, die passen könnten. Aber um genauer zu schauen, würde ich gern mehr über die Geschichte Ras erfahren. Wie war er zu Lebzeiten, warum hat er das Amulett angefertigt und welchen Weg ist es seitdem gegangen? Vielleicht sollten wir damit anfangen – du sagtest ja, dass du über diese historischen Dinge Bescheid weißt, Simon.“

Und ob ich das wusste! Ich stöhnte innerlich bei dem Gedanken daran, aus tausend Jahren gespeicherten Wissens genau die passenden Informationen herauszusuchen. Aber im Grunde war es gar nicht kompliziert. Harun lieferte mir mit seinen Fragen die nötigen Stichwörter. Anscheinend behandelte mein Gehirn die übermittelten Daten wie eigene Erinnerungen und spuckte bei der richtigen Eingabe jeweils die dazu passenden Dinge aus. In komprimierter Form gab ich sie an meine beiden Zuhörer weiter.

„Ra wurde im Jahr 990 in Tadschrisch geboren – das liegt im heutigen Iran, nah der Hauptstadt Teheran. Mit bürgerlichem Namen hieß er Abu Talib Mohammed. Sein Vater Malik, Sohn von Seldschuk, war ein mächtiger Herrscher. Schon früh erkannte der Junge seine besondere Begabung, die Fähigkeiten seiner Mitmenschen zu verstärken und sie für eigene Zwecke einzusetzen. So bestimmte er über seine Brüder und Freunde, sogar über die Erwachsenen um ihn her, meist ohne dass diese etwas davon merkten. Er gründete einen Geheimbund und gab sich selbst den Beinamen des Sonnengotts Ra. Unter diesem Namen kannten ihn allerdings nur Eingeweihte. Für alle anderen wurde er später zum Herrscher und Sultan Tughrul Beg, der das Seldschuken-Reich erfolgreich vergrößerte. Dabei half ihm sein Bruder Chagri, der ein viel besserer Feldherr war. Auch Chagris Fähigkeiten machte Ra sich zunutze, bis dieser merkte, wie sehr er von seinem Fleisch und Blut benutzt worden war und sich von ihm abwandte. Tughrul Beg wurde der erste Sultan des Seldschuken-Reichs. Gegen Ende seines Lebens befiel ihn eine schwere Krankheit. Er hatte ein Heer von weisen und außergewöhnlich begabten Menschen um sich geschart, deren Kräfte er nach Belieben verstärken konnte. Doch es gab im gesamten Reich keinen Heilkundigen oder Mediziner, der auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hatte, woran der Herrscher erkrankt war. Es war Leukämie. Unser Meik hätte ihm helfen können, aber so jemanden gab es zu der Zeit nicht. Also suchte Ra nach Möglichkeiten, sein Leben auf andere Weise zu verlängern – am besten für immer. Er fand eine Frau mit ungewöhnlichen okkultistischen Fähigkeiten, deren Kräfte er soweit verstärken konnte, dass es gelang, seinen Geist in das Amulett zu bannen. Die Banu weigerte sich zwar, aber Ra zwang sie dazu. Die alte Akilah sagte mir damals, dass der Sultan das Auge an seinen Sohn vererbt hat, doch einen leiblichen männlichen Nachkommen hat Tughrul Beg nie gezeugt. Ein Neffe von ihm riss das Schmuckstück an sich und schwang sich mit seiner Hilfe zum neuen Herrscher der Seldschuken auf.“

„Wow!“ Timo pfiff anerkennend. „Ich hätte nie gedacht, dass sich hinter diesem Spinner ein geschichtlich bekannter Eroberer verbirgt ...“

„Nicht wahr? Hat mich ebenso überrascht“, pflichtete ich ihm bei. „Ich wusste vorher nicht, dass Ra nie etwas allein bewirkt hat. Er brauchte immer besonders begabte Menschen dazu, die er manipulieren konnte und die alles für ihn taten.“ „Was geschah dann?“, wandte Harun ein. „Wie kam das Auge nach Kairo, wo der Gründer der Bruderschaft es fand?“

Ich kramte tiefer, musste noch mehr selektieren – zu viele Leben und Schicksale hatte Ra gesehen und beherrscht.

„Etliche Jahre lang diente das Auge seitdem Sultanen und Herrschern, Großwesiren und anderen bedeutenden Männern. Es wurde vom Vater zum Sohn vererbt, durch Raub, Hinterlist, Eroberung oder sogar Mord weitergegeben, nahm an Kriegen und Kreuzzügen teil. Dabei reiste es um die halbe Welt, bis es sich Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in Schottland befand. Dort entdeckte es ein junger Mann namens James Roy McCullan scheinbar durch Zufall in einer Sammlung alter Kunstwerke und stahl das wertvolle Stück. Er war arm, wollte es eigentlich verkaufen, um sich und seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren. Seine besondere Fähigkeit, die darin bestand, beinah jede Materie zu manipulieren und zu kontrollieren, konnte er kaum öffentlich einsetzen, da sie ihn im Zeitalter der Hexenverbrennungen sofort auf den Scheiterhaufen gebracht hätten. Aber indem er sich das Auge umlegte und auf die Stimme Ras hörte, fand er einen Weg, seine Begabung zu seinem Vorteil einzusetzen. Einige Jahre lang ging es ihm bedeutend besser, er kam sogar ein wenig zu Ruhm und Ehre – bis eine Schlacht bevorstand und James Roy sie anführen sollte. Natürlich mit Ras Hilfe. Aber er weigerte sich, da die Stimme ihm nun Dinge befahl, die er vor sich selbst und seinem christlich geprägten Glauben nicht verantworten wollte. Lange konnte er sich Ra nicht widersetzen, da dieser den unerfahrenen Großen voll im Griff hatte. Im entscheidenden Moment ergriff James seine Chance, nahm den einzigen Ausweg, den er sah: Er tötete sich selbst.“

„Ziemlich gruselig“, fand Timo. „Aber was passierte danach mit dem Auge?“

„Es wurde von der Kirche zum Teufelswerk erklärt und konfisziert. Als man feststellte, dass man es nicht zerstören konnte, wurde es nach Rom gebracht und dort in einem Geheimraum für gefährliche Objekte eingeschlossen. Niemand sollte je wieder Zugang zu dem Amulett und seiner Macht erhalten. Doch die Legende kursierte im Vatikan. Ein neugieriger Papst öffnete etwa zwanzig Jahre später die Kammer und nahm das Auge an sich. Ra war hocherfreut, sich in den Händen eines so bedeutenden Mannes zu finden, der zudem einige Talente besaß, die der Geist zu seinen Gunsten verstärken konnte. So wurde die Kirche innerhalb kürzester Zeit noch mächtiger und unterdrückte alle anderen Glaubensrichtungen. Der Papst wurde gefeiert, starb jedoch bereits wenige Jahre danach an einem Herzinfarkt. Als man das Amulett beim toten Oberhaupt der Kirche entdeckte, war man entsetzt und beschloss, es ein für alle Mal unschädlich zu machen. Dafür sollte es auf dem Seeweg in den Orient überführt werden und auf dem Meer seine letzte Ruhestätte finden. Zwölf Männer der Schweizer Garde wurden dazu erwählt, diese wichtige, gefährliche Mission durchzuführen.“

Harun nickte mit schmalen Augen. „Ich nehme an, sie waren nicht erfolgreich.“

„Nein“, bestätigte ich. „Einer von ihnen erlag unterwegs der Versuchung und legte sich das Amulett um. Ra fand einen neuen Verbündeten, der seine Tat erst solange wie möglich vor seinen Kollegen verbarg und schließlich das Kommando über das Segelschiff übernahm. Niemand konnte dem Gardisten widerstehen. Die Crew wurde gezwungen, den Kurs zu ändern und Land anzusteuern – das südliche Ägypten. Von dort gelangte der abtrünnige Diener der Kirche nach Luxor, wo er bis an sein Lebensende blieb. Er zwang die ansässige Bevölkerung mit seinen unheimlich verstärkten Fähigkeiten, sich ihm zu unterwerfen. Erst als er eines natürlichen Todes gestorben war, suchte sich Ra einen weiteren Träger. Wieder herrschte dieser über ein Volk und hinterließ das Amulett seinem Sohn als Erbe. Schließlich gab es einen Aufstand, bei dem der Nachkomme des Herrschers getötet wurde. Die Rebellen brachten das Auge an sich, um es einzuschmelzen. Als dies nicht gelang, verschloss man es in einer alten Grabkammer, schüttete sie zu. Erst über einhundert Jahre später wurde die antike Kammer mit dem Amulett von Europäern entdeckt und das Auge landete gemeinsam mit anderen Kunstschätzen im Museum von Kairo. Die weitere Geschichte kennt ihr ja.“

„Genau“, bestätigte Timo. „Dort fand es der Urgroßvater von Scheich Ali, stahl es und wurde der Gründer der Bruderschaft. Er vererbte es seinem Sohn, der wiederum seinem und dessen Nachwuchs wollte plötzlich nichts mehr mit dieser durchgeknallten Geheimgesellschaft zu tun haben. Dann kamst du ins Spiel und zuletzt Meik. Wahnsinnsstory!“

Ich war völlig erledigt. Auch wenn meine Zusammenfassung dieser tausendjährigen Geschichte bemerkenswert kurz ausgefallen war, fiel es mir schwer, die fremden Erinnerungen zu verdauen. Es gab dramatische Schicksale, Wendungen und so viel Blut darin, dass mir ganz schwindelig wurde. Aber Harun und Timo ließen mir nur wenig Zeit zum Ausruhen. Während ich in meinem persönlichen Liegesessel drauf und dran war, ein kleines Nickerchen einzuschieben, wälzten sie bereits Pläne, was weiter zu tun sei. Nur mit halbem Ohr hörte ich ihnen zu und dämmerte soeben weg, als mein innerer Alarm schon wieder schrillte.

Simon, hier ist was Interessantes!

„Hmm?“

„Sieh selbst!“, rief Timo aufgeregt und flatterte mit den Händen. Er bemerkte, was er tat und stoppte die Bewegung hastig. Manchmal ist es vorteilhaft, sich mit den Augen seines Gegenübers zu sehen. Der Teil von mir, dem Aufstehen nie schwerfiel, blickte längst auf den kleinen Bildschirm. Die Entdeckung – eine Seite mit geschichtlichen Fakten über Tughrul Beg samt Porträt – riss mich nicht vom Hocker.

„Und was ist daran nun so toll? Diese Infos habe ich selbst viel genauer.“

„Sieh’s dir erst mal an.“ Harun winkte auffordernd.

„Hab ich doch.“, murmelte ich.

„Hat er“, bestätigte Timo. „Aber er hat nicht richtig hingeguckt. Sonst hätte er gemerkt, dass Tughrul auf dem Bild etwas Entscheidendes trägt.“

„Was?“ Mit einem Satz war ich auf den Beinen und persönlich beim Laptop. Tatsächlich. Wieso hatte ich das vorhin nicht bemerkt? Der Mann auf der Zeichnung trug das Amulett. Ich kramte in Ras Erinnerungen und förderte eine bedeutsame Begegnung zutage.

„Es war ein Geschenk des Kalifen von Bagdad, etwa zwei Jahre vor seinem Tod“, erklärte ich und runzelte die Stirn. „Also hat er das Teil überhaupt nicht selbst angefertigt, wie die Banu Akilah behauptet hat. Dass mir das nicht eher aufgefallen ist!“

„Nun ja, es sind tausend Jahre, die er dir da aufgebürdet hat“, meinte mein Kumpel versöhnlich. „Und du hast sie erst seit zwei Tagen. Vermutlich brauchst du dein restliches Leben, um die Geschichte aufzuarbeiten. Ein Wunder, dass dein eigenes Gedächtnis noch funktioniert.“

Ich zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich habe ich automatisch eine Menge zusätzlichen Speicherplatz eingerichtet, sonst wäre mir wohl der Schädel geplatzt.“

Wir überlegten noch eine Weile hin und her, wie uns diese Information nützlich sein könnte, aber uns fiel nichts Sinnvolles ein. Da ich eigentlich am nächsten Tag in Pullach erwartet wurde, rief ich dort an und meldete mich vorsorglich krank. Natürlich wusste mein Chef, dass ich nicht wirklich bettlägerig sein konnte, doch er akzeptierte die Entschuldigung klaglos und meinte bloß: „Sag bitte kurz Bescheid, wenn du wieder im Lande bist.“

„Woher weißt du, dass ich im Ausland bin?“, fragte ich verblüfft. „Hast du mit Susanna gesprochen?“

„Nein. Aber unser zuverlässiges Radar hatte mal wieder eine dieser merkwürdigen Fehlfunktionen, die es ab und an heimsucht. Meistens dann, wenn ein unbekanntes, eher winziges Flugobjekt kurzfristig auftaucht, das mit drei- bis vierfacher Schallgeschwindigkeit vorbeidüst. Meine Kollegen beim Flugabwehrdienst hatten schon einen Techniker bestellt, der die Geräte überprüfen sollte – natürlich ohne Ergebnis. Sie glauben noch immer, dass es sich um einen Scherzbold handelt, der eine Drohne in Menschengestalt programmiert hat, um sie kirre zu machen. Sie wissen bloß nicht, wie der Typ es anstellt, das Teil so verflixt schnell zu kriegen. Nun ja, ich lasse sie besser in dem Glauben – oder was meinst du?“

„Äh ...“ Ich fühlte mich ertappt, während Timo hinter mir einen stummen Lachanfall bekam, der ihn glatt von den Füßen riss. Auch Harun schien ziemlich amüsiert, beherrschte sich aber wie immer perfekt. Zerknirscht versprach ich, beim nächsten Flug unterm Radar zu bleiben. Allerdings ging dies nur nachts problemlos, da ich sonst Gefahr lief, Zielscheibe für militante Gruppen zu spielen und zu viel Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf mich zu ziehen.

Es wurde langsam spät, deshalb vertagten wir weitere Nachforschungen auf den folgenden Tag. Trotz der bleiernen Müdigkeit fand ich lange keinen Schlaf. Die fremden Erinnerungen liefen als Film in Endlosschleife vor meinem inneren Auge ab, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ras Todesangst und seine fieberhafte Suche nach Heilung wollten mich nicht loslassen.

 

Endlose Stunden hatte er damit verbracht, die schlausten Köpfe des Landes auszuhorchen, zu verstärken und sie noch klüger zu machen – ergebnislos. Keine Medizin half, keine Beschwörung und kein Zauber konnte die Krankheit aus seinem Leib vertreiben, die ihn Tag für Tag schwächte. Er klagte der jungen, wunderhübschen Frau sein Leid, die erst vor kurzer Zeit seine Gemahlin geworden war. Die Tochter des Kalifen sah ihn mitleidig an. Sie liebte ihn nicht, doch sie hatte ein gutes Herz. Deshalb verriet sie ihm ein Geheimnis: „Meine Großtante hat übernatürliche Kräfte, ebenso wie Ihr, weiser Sultan. Sie könnte Euch zwar nicht heilen, jedoch vielleicht etwas schenken, das mehr wert ist als körperliche Unversehrtheit.“

„Was kann es Wertvolleres geben als Gesundheit?“, rief Ra erbittert. Dennoch folgte er dem Rat seiner klugen Frau und besuchte die Schamanin. Ich spürte die physischen und psychischen Qualen des alten Mannes und konnte den Gedanken nachvollziehen, der ihn während seiner Reise befiel: Er brauchte einen neuen Körper. Seine Gattin schien wie geschaffen – blutjung, schön und von königlicher Geburt. Ja, sie musste es sein! Nicht umsonst hatte er befohlen, dass sie ihn begleiten sollte. Endlich erreichten sie das Dorf der Banu und Tughrul Beg verschaffte sich gewaltsam Einlass in ihre bescheidene Hütte. Gebieterisch, wie er es gewohnt war, verlangte er von ihr, seinen Geist in den Körper seiner Frau zu versetzen. Die Alte erschrak furchtbar und hob abwehrend die Hände. „Das übersteigt meine Fähigkeiten bei Weitem!“

Aber der Herrscher lachte nur und befahl mit seiner ganzen Autorität: „Du wirst es tun, weil ich es dir sage, Weib!“

Ich fühlte, wie Ras Kraft die alte Frau durchströmte und ihr mehr Macht gab, als sie je für möglich gehalten hatte. Durch die entstandene Verbindung konnte Ra sie kontrollieren und ihren Körper wie seinen eigenen bewegen. Er sprach durch ihren Mund, führte die rituellen Vorbereitungen durch, wusste, was zu tun war. Er legte sich auf die vorbereitete Stätte und zwang seine weinende Frau, sich neben ihn zu legen. Merkwürdigerweise widersetzte sie sich seinem Befehl und blieb trotzig, widerspenstig und abwehrend. Nur mit Mühe gelang es ihm, sie ruhig zu halten und gleichzeitig die Alte zu beherrschen. So merkte er nicht, wie die Schamanin ihm das Amulett abnahm und etwas damit tat. Er bekam nur am Rande mit, dass sich ein Teil ihres Bewusstseins vor ihm verschloss, aber es war ihm gleich. Völlig besessen von der Idee, in den Körper seiner Gemahlin zu wechseln, war er nicht mehr der logisch denkende, rationale Herrscher, sondern nah dem Wahnsinn. Aber noch beherrschte er die Situation, lenkte sie. Dann, kurz bevor sein Geist den Körper verließ, geschah etwas, das er nicht vorausgesehen hatte: Er wurde von einem strahlenden Licht umhüllt und hörte eine Stimme, die ihn bei seinem richtigen Namen rief und ihm sagte: „Komm nach Hause, wir erwarten dich schon!“

Die Stimme weckte eine bis dahin nie gekannte Sehnsucht in ihm – nach Geborgenheit, Liebe und Frieden. Gewaltsam riss er sich selbst aus diesem Licht und schrie: „Nein, niemals! Ich will leben!“

Ihm wurde plötzlich bewusst, dass auch seine schöne, junge Frau in wenigen Jahrzehnten alt und schwach sein würde. Mit letzter Kraft richtete er sich auf und befahl: „Verankere meinen Geist nicht in diesem Weib. Ich brauche einen unsterblichen Körper, den ich für immer schützen und bewahren kann.“

Die Alte lächelte ihn zahnlos an, meinte sanft: „Ich habe bereits das ideale Gefäß für Euch ausgewählt, Sultan.“ Sie zeigte ihm das Amulett, das er bisher nie richtig angesehen hatte. Ja, es war perfekt! Er nickte. „Tu es jetzt!“, befahl er und ergriff die Frau über ihm noch einmal komplett. Widerstandslos beugte sie sich seinem Willen und vollzog den Bann.

Kein Licht, nur Schwärze und ein unwiderstehlicher Sog, der ihn erfasste und fortwirbelte. Beim Erwachen das Gefühl der Enge, Ketten, die ihn banden. Nach einiger Zeit der Gewöhnung konnte er sich ein wenig ausdehnen, die Menschen um sich betrachten, ihr Wesen erkennen wie früher. Aber was war das? Es gelang ihm nicht mehr, ihnen seinen Willen aufzuzwingen! Die beiden Frauen, die über ihn gebeugt standen, betrachteten ihn eingehend.

„Seid Ihr da drin, großer Tughrul Beg?“, flüsterte die Alte und berührte das Metall mit zittrigen Fingern.

„Was habt ihr mit mir gemacht?“, kreischte Ra, versuchte zornig, sich von den Ketten zu befreien, die ihn ab jetzt ewig an das Schmuckstück binden sollten.

„Das, was ihr wolltet“, sagte die weise Frau sanft. In ihren Augen erblickte er ein stahlhartes Funkeln. „Ich habe lediglich dafür gesorgt, dass Ihr meinen Töchtern und Enkelinnen und auch Eurer Witwe nicht das Gleiche antun könnt wie mir, als Ihr mich dazu gezwungen habt, gegen alle Prinzipien zu verstoßen und einem Monster ewiges Leben zu verschaffen. Ihr werdet nie wieder ein weibliches Wesen zu etwas zwingen, Tughrul Beg!“

Ra schrie zornig, doch die Frau nahm ungerührt das Auge, trug es hinaus. Dort warf sie es in den Abfall, wandte sich um und ging ins Haus zurück.

 

Tief atmend schüttelte ich diese beklemmend intensiven Gedanken und Erinnerungen ab. Wie furchtbar das Gefühl des Eingesperrtseins und der Enge gewesen war! Und das hatte Ra knapp eintausend Jahre lang ertragen? Sein Wille zu leben und zu herrschen musste noch stärker sein als gedacht. Nun wusste ich, dass der Sultan der Seldschuken nicht freiwillig in dieses Amulett gezogen war und dass es unzerstörbare Ketten gab, die ihn daran banden. Aber wer oder was vermochte sie zu lösen? Sicherlich nur eine Macht, vergleichbar mit derjenigen der alten Schamanin. Und es konnte nur gelingen, wenn Ra selbst diese Kraft noch verstärkte. Wie jedoch sollte dieser mächtige Despot, der sich so sehr an seine Fesseln gewöhnt hatte, dass er sie längst nicht mehr wahrnahm, davon überzeugt werden, aus seinem Palast auszuziehen?

 

7.

 

Am folgenden Morgen berichtete ich den anderen von meinen neusten Erkenntnissen bezüglich des Amuletts. Wir waren uns einig, mehr über diese Schamanin herausfinden zu müssen. Sie schien die Schlüsselfigur zu sein. Die Beduinenfrau Akilah, die mir vor etwa zwei Jahren ihr Wissen mitgeteilt hatte, war kurz danach gestorben. Ich wusste nur, dass das Geheimnis des Auges von Generation zu Generation weitergegeben wurde, also musste sie es einem weiteren Wesen weiblichen Geschlechts erzählt haben, bevor sie zu Grabe getragen worden war. Harun war sofort Feuer und Flamme. Er kannte sich bestens in der Wüste aus und war sogar bereit, es noch einmal mit einem meiner Fluggeräte zu versuchen – auch wenn er mit seinem letzten Flug nicht sonderlich angenehme Erinnerungen verband.

„Ich hab danach noch monatelang Albträume gehabt“, gestand er mir. „Ich vertraue dir und weiß, dass du alles unter Kontrolle hast. Nur bitte entferne nie wieder eine Wand!“

Ich versprach es hoch und heilig. In dem menschenleeren Gebiet war eine Entdeckung unwahrscheinlich, deshalb starteten wir so rasch wie möglich. Unser flugängstlicher Mitreisender hielt sich tapfer.

Wie abgesprochen begannen wir die Suche in Akilahs Dorf. Dort erfuhren wir nach mühsamer Recherche, dass die einzigen noch lebenden weiblichen Verwandten der Banu die drei Töchter ihres jüngsten Sohnes waren. Sie lebten weit verstreut und nur von einer der Enkelinnen war der ungefähre Aufenthaltsort herauszufinden. Dieser befand sich in meinem Lieblingsemirat, das von Scheich Azrail regiert wurde. Erfreut kontaktierte ich Polizeichef Yizzak, einen alten Bekannten von mir, und informierte ihn darüber, dass wir vorbeikommen würden. Harun wirkte erst nicht besonders glücklich, den Gesetzeshüter zu treffen. Er wurde zwar offiziell schon lange nicht mehr wegen Mordes und Hochverrats gesucht, dennoch misstraute er den Behörden seines Landes – nicht zu Unrecht.

Ich selbst war seit zwölf Jahren nicht öffentlich in die Vereinigten Arabischen Emirate eingereist. Hauptsächlich des ehemaligen Herrschers von Abu Dhabi wegen, den ich vor ebenso langer Zeit aus dem Knast befreit hatte, um ihn zu den Geheimnissen der Bruderschaft zu befragen. Kommissar Yizzak verdankte ich zum großen Teil, dass ich damals nach dieser übereilten Aktion das Land ohne ein Fahndungsfoto von mir wieder verlassen durfte. Mein Kamerad ließ sich davon überzeugen, dass ihm von dem Polizeichef keine Gefahr drohte.

Wir landeten etwas außerhalb der Stadt und nahmen ein Taxi bis zum Polizeirevier. Seit meinem letzten Besuch vor ungefähr drei Jahren hatte sich nichts geändert. Selbst Yizzaks Schreibtisch sah genauso überfüllt aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, als lägen noch die alten Papiere darauf.

Mein Freund strahlte, als er Timo und mich erkannte, auch Harun wurde herzlich von ihm begrüßt. Die anderen anwesenden Polizisten gafften mit offenen Mündern, aber niemand wagte, ein Wort zu sagen. Sie kannten ihren Chef und wussten, dass er äußerst grantig werden konnte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Und das wirkte sich häufig auf ihr eigenes Arbeitspensum aus. Deshalb konzentrierten sie sich lieber darauf, Timo und mich willkommen zu heißen, sich dann schleunigst aus Yizzaks Sichtfeld zurückzuziehen und eine angestrengte Beschäftigung aufzunehmen. Der Polizeichef, der sich nicht weiter um seine Untergebenen kümmerte, führte uns in den Schulungsraum, wo wir unter uns waren.

„Wir brauchen deine Hilfe“, begann ich sofort. „Du erinnerst dich doch an das Auge des Ra und die Probleme, von denen ich dir damals erzählt habe.“

„Selbstverständlich.“ Yizzak nickte und verdrehte leicht die Augen. „Lass mich raten, was passiert ist – wurde es mal wieder gestohlen?“

„Nein, das nicht. Es ist in sicherer Verwahrung. Aber unser lieber Herr Ra hat sich meines Freundes bemächtigt und aus ihm kurzzeitig ein gefährliches Monster im Schafspelz gemacht. Der begnadete Heiler hat einen Fernsehauftritt hingelegt, der jeden Profi-Showmaster und Bühnenmagier vor Neid erblassen ließe ...“

Ich erzählte in knappen Worten von Meiks Veränderung und dass er so weit gegangen war, seinen Freund quasi zu zerfleischen, als dieser ihm das Amulett wegnehmen wollte. Auch von den anschließenden erfolglosen Vernichtungsversuchen berichtete ich und von dem Privatgespräch mit Ra, bei dem er mir seine gesamten Erinnerungen übertragen hatte. Mit Hilfe meiner beiden Begleiter setzte ich den Kriminalisten kurz von der Lebensgeschichte des Seldschuken-Sultans und seiner Verbannung in das Schmuckstück in Kenntnis.

„Jetzt suchen wir die letzte noch lebende Hüterin des Geheimnisses, um von ihr zu erfahren, wie man den Bannspruch wieder lösen kann“, schloss ich.

„Und wie kann ich euch dabei behilflich sein?“, fragte der Polizeichef sichtlich erschlagen von den vielen Infos.

„Eine mögliche Kandidatin befindet sich vermutlich hier im Emirat“, erklärte Timo. „Zumindest behauptet das die Pflegerin der alten Banu Akilah.“

„Hmm, das wird schwierig. Solange die Frau nicht bei uns aktenkundig ist, haben wir hier keine Handhabe. Da müsstet ihr bei der Verwaltung nachfragen. Moment – ich kenn da jemanden, der euch vielleicht weiterhelfen kann.“

Er griff schon zum Telefon.

„Genau sowas hatten wir gehofft“, strahlte ich mit einem Zwinkern für Harun. Das Telefonat war reichlich umständlich. Yizzak schien mit dem halben Verwaltungsapparat per Du zu sein und musste mit jedem Beamten etwas Smalltalk halten, bevor er weiterverbunden wurde. Seinen endlich erreichten Wunschgesprächspartner bat er um den Gefallen, uns zu helfen. Offenbar stimmte dieser zu, denn der Polizist gab uns die Adresse des Verwaltungsgebäudes und wünschte uns viel Erfolg.

„Ich würd ja auch mit euch kommen“, fügte er entschuldigend hinzu, „aber ich bin mit meinem Papierkrieg vollauf beschäftigt – wie immer. Wir hatten die letzten Tage viel zu tun mit einer Serie von Einbrüchen sowie einer Bande von Jugendlichen, die sich auf Taschendiebstähle spezialisiert hat. Vor allem Touristen werden um ihre Papiere gebracht und natürlich um ihr Geld.“

„Dann wünsche ich euch viel Erfolg bei der Jagd.“
Mit diesen Worten verabschiedete ich mich und verließ das Polizeirevier gemeinsam mit den beiden anderen. Harun wollte aus verständlichen Gründen nicht mitkommen. Er besuchte stattdessen einen alten Freund, der etwas außerhalb der Stadt wohnte.

Das Viertel, in dem das Verwaltungsgebäude lag, war mir bekannt und befand sich nah des Palastes. Das kam mir gelegen, da ich ohnehin vorgehabt hatte, den Scheich zu besuchen. Seit zwölf Jahren kannte ich den Herrscher Azrail bin Mustafa Ibn Al Raschid persönlich und fühlte mich ihm zutiefst verbunden. Er war nicht nur ein hervorragender Politiker und im Volk sehr beliebt, sondern hatte sich nach meinem Delikt in Abu Dhabi in besonderem Maße für mich eingesetzt. Bis zu diesem Tag wusste ich nicht genau, wie hoch die Ablösungssumme war, die er den Behörden in Abu Dhabi damals zukommen ließ, aber sie hatte ausgereicht, um mich quasi von jetzt auf gleich freizukaufen. Zunächst führte unser Fußweg jedoch zu dem Gebäudekomplex, in dem die verschiedensten Verwaltungsämter zu finden waren – unter anderem das Einwohnermeldeamt. Der federführende Beamte erwies sich als freundlich, jedoch des Englischen nicht unbedingt mächtig. Erst versuchten wir es trotzdem in dieser Sprache, um Timo die Chance zu geben, am Gespräch teilzuhaben. Aber bald schon hörte ich meinen Freund im Hinterkopf murmeln: Hat keinen Zweck, Simon – so dauert das Stunden und wir sind noch immer nicht schlauer. Versuch’s ruhig mal anders!

Ich nickte seufzend und wechselte flüssig ins Arabische. Sofort wurde der Mann vor uns wesentlich gesprächiger.

„Sagen Sie doch gleich, dass Sie unsere Sprache sprechen!“, rief er erfreut. „Also – was wollten Sie noch mal von mir?“

Geduldig erklärte ich ihm alles ein weiteres Mal. Von Akilahs Enkelin kannte ich nur den Geburtsnamen und das ungefähre Alter.

„Seit wann wohnt die Person hier?“, fragte der Beamte geschäftig, während er bereits Daten in den PC eingab.

„Keine Ahnung, bestimmt schon lange.“

„Hmm ... lassen Sie mal sehen ... aha.“

Er drehte seinen Bildschirm zu uns, zeigte mir die Seite mit einer langen Liste arabischer Schriftzeichen. Ich stöhnte. Mit viel Mühe hatte ich diese Zeichen lesen gelernt, aber es erforderte noch immer Zeit, sie zu entziffern. Deshalb fragte ich höflich, ob er mir die Daten vorlesen könne oder ob es das Gleiche in Englisch oder in einer anderen europäischen Sprache gäbe. Der Mann lachte und meinte scherzhaft: „Arabisch sprechen – eins plus, lesen – mangelhaft.“

„Hey, ich kann es lesen!“, widersprach ich empört. „Nur halt nicht so schnell – sagen wir befriedigend bis ausreichend.“

Als Beweis las ich ihm die ersten Zeilen vor, in denen Namen und Adressen standen.

„Wie viele mögliche Kandidatinnen sind es denn?“

Der Mann scrollte die Seite runter. „Dreihundertzwölf. Auf diese Frauen trifft das Alter zu und der Vorname. Tut mir leid, aber ohne genauere Angaben ...“

Leicht schockiert informierte ich Timo über das Ergebnis. Dieser runzelte überlegend die Stirn.

„Gibt es denn auch Treffer beim vollständigen Namen?“, fragte er dann. Ich übersetzte und der Beamte tippte wieder rasend. Er stieß einen überraschten Laut aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass es eine Beduinin in unserem Emirat gibt, die in diesem Alter noch ihren Geburtsnamen trägt!“

Er schrieb die Adresse auf einen Zettel und gab ihn mir. „Hoffentlich haben Sie Glück und es ist die richtige Frau.“

„Bestimmt ist sie das!“, rief ich strahlend. „Vielen herzlichen Dank für Ihre Hilfe! Bitte sagen Sie, wenn wir uns irgendwie erkenntlich zeigen können.“

Der Beamte winkte ab. „Ich schuldete Yizzak noch einen Gefallen, außerdem hab ich es gern getan. Es würde mich nur interessieren, woher Sie unsere Sprache so perfekt beherrschen. Sie kommen doch aus Europa.“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Deshalb nur die Kurzfassung: Ich bin oft in den Arabischen Emiraten zu Gast und habe viele Freunde hier, darunter auch den Polizeichef. Da lernt man schon mal das eine oder andere Wort.“

Er lachte. „Sie müssen ein unheimliches Talent für Sprachen haben.“

„Ja, das hat er.“

Unsere Köpfe ruckten herum, wir starrten Timo verblüfft an. Dieser grinste leicht. „Schade, dass du dein eigenes Gesicht nicht sehen kannst“, meinte er zu mir. „Das hätte ich nämlich jetzt gern als Bild.“

„Sie sprechen ebenfalls Arabisch?“, stammelte der völlig verdatterte Beamte, der vom einen zum anderen sah.

„Nicht gut, nur ein paar Worte“, antwortete mein Freund mit tadelloser Aussprache. Wir verabschiedeten uns endgültig und verließen den Raum.

„Weshalb hast du mir nicht erzählt, dass du Arabisch lernst?“, fragte ich vorwurfsvoll. „Und überhaupt – warum hab ich das nie bemerkt?“

„Nun ja, es sollte eine Überraschung sein“, meinte Timo achselzuckend. „Ich hab mir ein paar Sprach-CDs gekauft und immer dann geübt, wenn du gerade beschäftigt warst.“

„Die Überraschung ist dir gelungen!“ Ich knuffte meinen besten Kumpel lachend in die Seite. „Wenn du üben möchtest – jederzeit!“, fuhr ich auf Arabisch fort.

„Langsam, langsam!“, bremste er mich in der gleichen Sprache. „Ich lerne erst seit sechs Wochen.“

Womit bewiesen war, welch absolutes Universalgenie ich an meiner Seite hatte.

Der kürzeste Weg zum Palast führte über den Suk, wo Händler wie eh und je ihre Waren anpriesen und ein wuseliges Gedränge herrschte. Timo ging dicht hinter mir, berührte mich dabei aber nicht. Das war auch unnötig, solange wir uns nicht zu weit voneinander entfernten. Plötzlich merkte ich, wie jemand vorsichtig an meiner Gürteltasche zupfte. Darin befanden sich Portemonnaie und Ausweis. Der Zupfer hatte keine Chance, an die Dinge heranzukommen, da die Tasche in einer weiteren Umhüllung ohne Öffnungsmöglichkeit verborgen war.

Achtung, Langfinger, gab ich meinem Begleiter wortlos zu verstehen. Dabei besah ich mir den Täter, der sicherlich keine zehn Jahre alt war.

Oh, wie süß, kam es von Timo zurück. Willst du den wirklich verhaften?

Ja – sonst kriegt er irgendwann weit größeren Ärger.

Der Kleine sah ein, dass bei mir nichts zu holen war und wollte sich davonschleichen. Blitzschnell schnappte ich mir seine Hand, kettete sie an meine.

„He!“, rief er empört, „Lass mich los! Hilfe!“

„Schrei nur, du kleiner Dieb“, wisperte ich. „Da hinten steht schon ein Polizist. Möchtest du ihm gern erzählen, was du an meiner Tasche zu suchen hattest?“

„Ich hab doch gar nichts genommen“, jammerte der Junge mit flehentlichem Blick. „Das war ein Irrtum, bestimmt!“

Eine rasche Inspektion verriet mir, dass er bereits reiche Beute gemacht hatte. Mindestens zwei Reisepässe plus eine Menge Bargeld trug er in einer eingenähten Kleiderfalte vor dem Bauch. Gerade wollte ich ihm eine entsprechende Antwort geben, als meinen automatisch weit ausgebreiteten Sinnen zwei weitere jugendliche Langfinger auffielen, die sich in der Nähe herumtrieben, um die Touristen zu belauern. Ich übergab Timo den Fang und pirschte mich unsichtbar an die gerissen vorgehenden Gauner heran. Bevor sie wussten, wie ihnen geschah, zog ich sie am Schlafittchen durch die Menge zu uns. Die beiden waren so verblüfft, dass sie nicht mal protestierten. Erst als sie vor uns standen und ich sie mir näher ansah, bemerkte ich, dass eins der Kinder ein Mädchen war, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Der zweite Knabe schien um die zwölf zu sein. Alle drei blickten uns verängstigt an, bevor sie sich sehr nervös umsahen.

„Was wollen Sie von uns?“, fragte der Älteste. Er versuchte, sich beschützend vor die beiden Jüngeren zu stellen, wurde jedoch von den unsichtbaren Fesseln daran gehindert. „Und wie machen Sie das bloß?“ Hilflos betrachtete er seinen Arm, den er nicht aus der Umklammerung befreien konnte.

„Lassen Sie die Kinder in Ruhe!“, befahl eine ältere britische Touristin energisch. „Sie sind ja total eingeschüchtert!“

„Es sind Taschendiebe“, erklärte ich ruhig. „Sie haben Sie gerade um ihre Geldbörse erleichtert. Sehen Sie nach, wenn Sie mir nicht glauben.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739447223
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Gedankenübertragung Nahtoderfahrung Abenteuer Fantasy Spannung Vorstellungskraft paranormal Roman

Autor

  • Michaela Göhr (Autor:in)

Geboren im Sommer 1972 in einer sauerländischen Kleinstadt, dort aufgewachsen, von Beruf Lehrerin, mittlerweile wieder seit vielen Jahren fest am Heimatort verwurzelt mit Haus, Mann und Kind. Die Liebe zum Schreiben und zu weiteren kreativen Tätigkeiten bestand schon von klein auf. Seit 2014 widmet sie sich neben Kurzgeschichten, Reisetagebüchern, Gedichten und Liedern auch längeren Texten. Die fünfbändige Urban-Fantasy-Reihe ‚Der Fantast‘ ist ihr Debüt im Bereich der Romane.