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Patchwork hoch

Sammelband 1

von Bianka Mertes (Autor:in)
452 Seiten

Zusammenfassung

Drei der beliebten Patchwork hoch Bücher in einer Serie vereint. Jedes Buch ist in sich abgeschlossen. Erste Liebe, Verzweiflung und das Leben in einer Patchworkfamilie, da kommen viele Probleme auf unsere Protagonisten zu. Doch Probleme sind zum Lösen da und das versuchen die Mädels und Jungs in dieser Serie. Natürlich müssen sie dazu erst einmal ihre eigenen Gefühle in den Griff bekommen. Gefühle, vor denen sie das erste Mal in ihrem Leben stehen. Denn die Liebe schlägt manchmal wie ein Blitz ein und sich dagegen zu wehren fällt jedem schwer. In diesem Sammelband sind enthalten: Patchwork hoch Zwei: Extrem unerwünscht Patchwork hoch Drei: Rockstar zu verschenken Patchwork hoch Vier: Verräterische Nähe

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bianka Mertes

Patchwork hoch – Die Serie

Sammelband 1

 

 

Kapitel 1

Anna-Lena war überglücklich. Endlich hatte sie es geschafft, ihre Eltern zu überreden, sie in Berlin zu lassen. Sie hatte sich wirklich schon alle Überredungskünste der Welt einfallen lassen. Ihre Eltern mussten beruflich nach New York, aber Anna-Lena hatte sich strikt geweigert, die Schule deshalb zu verlassen. Sie wollte bei ihren Freunden bleiben und vor allem bei ihrem Freund Pascal, mit dem sie jetzt schon über ein halbes Jahr zusammen war. Und da wäre eine Trennung für beide nicht in Frage gekommen.

Zwar gab es noch einige Probleme zu überwinden, bis ihre Eltern das Land verließen, doch sie dachte schon an die Zeit ohne sie. Aber zuerst mussten sie ein kleines Apartment für Anna-Lena finden, denn die alte Wohnung, in der sie wohnten, war einfach viel zu groß und vor allem zu teuer. Einige hatten sie sich bereits zwar schon angeschaut, doch bis jetzt war einfach nicht die Richtige dabei.

Heute lag noch ein weiterer Besichtigungstermin auf dem Plan, etwas außerhalb von Berlin, aber der Beschreibung nach hörte die kleine Wohnung sich sehr gut an. Vor allem waren die Busverbindungen so gut, dass sie ihre Schule ohne Probleme erreichen könnte, was auch wieder ein Pluspunkt war.

»Ich bin mal gespannt, ob die uns jetzt zusagt. Viele haben wir nicht mehr in Aussicht.« Astrid, Anna-Lenas Mutter, war die treibende Kraft, die alles zusammenhielt und so war es für sie auch völlig normal, diese Sache ebenfalls in die Hand zu nehmen. Doch sie hatte auch recht. So viele kleine Wohnungen zu einem angemessenen Preis gab es leider nicht. Also hoffte Anna-Lena, dass sie endlich einmal Glück hatte und diese hier genau die Richtige für sie war.

»Sonst muss sie halt doch mit uns kommen.« Peter, ihr Vater, war sowieso nicht dafür, dass Anna-Lena alleine in Berlin blieb. Er machte sich Sorgen um seine kleine Prinzessin, wie er sie immer liebevoll nannte. Doch die Zeit, in der er sie so nennen konnte, war schon längst vorbei, nur dass er das selbst noch nicht so registriert hatte. Anna-Lena war sechzehn und weit davon entfernt, eine Prinzessin zu sein. Sie war eher der ganz normale Typ, der sich zwar von keinem etwas gefallen ließ, aber auch Kompromisse eingehen konnte. Doch auf den von ihrem Vater würde sie nicht eingehen und das wusste er auch. Auch wenn ihm die ganze Sache wohl am schwersten fallen würde, hatte er sich langsam aber sicher trotzdem damit abgefunden, dass er ohne seine kleine Prinzessin nach New York musste.

»Wir sind da.« Sie hielten vor einem Mehrfamilienhaus, dessen Außenwände mit Graffitis beschmiert waren. Ihr Vater murrte irgendetwas Unverständliches in sich hinein, doch Anna-Lena gefiel diese Art der Kunst.

»Lass uns erst einmal reingehen und gucken, wie die Wohnung so ist, okay?« Astrid legte ihm versöhnlich eine Hand auf den Arm und er nickte schließlich. Wie schnell ihre Mutter ihn doch immer wieder überredet bekam.

Anna-Lena stieg zuerst aus dem Wagen und sah sich die Wohngegend an. Ein Spielplatz, eine kleine Rasenfläche, die an das Haus angrenzte und etliche Häuser in der gleichen Bauart, reihten sich nebeneinander auf. Eine kleine ältere Frau führte gerade ihren weißen Pudel aus und an einer Ecke standen einige Jugendliche, die sich angeregt unterhielten. So wie es aussah, wohnten hier im Vergleich zu den anderen, die sie sich bereits angesehen hatten, nicht nur ältere Menschen. Was ein absoluter Pluspunkt für Anna-Lena darstellte und wie sie ihren Vater kannte, eher ein Minuspunkt. Na ja, wie auch immer, sie müsste sich ja schließlich hier wohlfühlen und nicht er.

Das Treppenhaus führte sie in den zweiten Stock, wo der Makler bereits ungeduldig vor der Wohnung auf sie wartete. Er vermittelte Anna-Lena eher den Eindruck, dass er sich hier nicht gerne aufhielt, so zappelig wie er war. Trotzdem begrüßter er alle freundlich und schloss schließlich die Tür zu ihrem vielleicht neuen Reich auf.

Sie trat neugierig ein und erkannte sofort die Fußböden, die allesamt mit hellem Laminat ausgelegt waren. Die Wände alle neu gestrichen und es gab sogar eine kleine Einbauküche, die einen schönen Kontrast zu dem Laminat bildete. Eine Tür im Wohnzimmer führte sie auf einen kleinen Balkon, von dem aus sie die Siedlung überblicken konnte. Wow, das war die einzige Wohnung, die ihr wirklich auf Anhieb gefiel. Sie fühlte sich sofort wohl und konnte sich sogar schon vorstellen, wohin sie die Möbel stellen würde. Eigentlich war die Wohnung sofort bezugsfähig. Neben dem Wohnzimmer, der Küche und dem Bad, gab es noch zwei weitere Zimmer, die als Schlafzimmer genutzt werden konnten. Aus einem könnte sie sich schön ein kleines Büro einrichten.

»Und was meinst du?«, fragte Astrid Anna-Lena nachdem sie die Balkontür wieder geschlossen hatte. Selbst ihrer Mutter schien die kleine Wohnung zu gefallen.

»Die ist klasse und ich könnte es mir gut vorstellen, hier zu wohnen.« Sie strahlte gleich drauflos.

»Okay, es ist zwar ein Zimmer mehr wie geplant, aber dafür ist die Miete günstiger als bei den anderen«, überlegte ihr Vater laut und es schien, als würde er sich gerade damit abzufinden, dass Anna-Lena sie nicht mit nach New York begleitet.

»Also gut, ich habe da nur noch eine Frage«, wandte sich Astrid an den Makler, »wie sieht es mit der Wohngegend aus, ist die sicher für ein junges Mädchen?«

»Aber natürlich, wo denken Sie hin, sonst hätte ich Ihnen die Wohnung gar nicht erst gezeigt.« Er tat gerade so, als wäre dass das Normalste von der ganzen Welt, doch Anna-Lena hatte bereits vorher schon das dumpfe Gefühl, dass er lieber schnell gegangen wäre, als nur eine Minute alleine hier im Haus zu sein. Na ja, vielleicht täuschte sie sich ja auch nur.

»Sehr gut, dann nehmen wir sie.« Anna-Lena sprang ihrer Mutter freudig in die Arme, während ihr Vater vor sich hin knurrte. Doch das war ihr gerade ziemlich egal. Die neue Zukunft konnte starten und das ohne das sie Berlin verlassen musste.

 

»Heißt das jetzt, du bleibst wirklich hier?« Miriam sah Anna-Lena noch immer ungläubig an.

»Jupp, einem Umzug steht nichts mehr im Wege. Und vor allem die Wohnung müsstest du erst einmal sehen. Ein echter Traum.« Anna-Lena strahlte sie an.

»Ich bin völlig aus dem Häuschen«, gab Miriam hibbelig von sich und nahm ihre beste Freundin überschwänglich in die Arme. Sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben, weil es sich doch schwieriger als erwartet gestaltet hatte, eine passende Wohnung zu finden. Doch jetzt war sie überglücklich, ihre Freundin nicht von dannen ziehenlassen zu müssen. Sie konnte sich ein Leben ohne sie, die sie, bereits seit der Grundschule kannte und auch seitdem befreundet waren, einfach nicht mehr vorstellen. Anna-Lena war einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben.

»Hast du denn auch Pascal schon die frohe Botschaft überbracht?«, wollte sie plötzlich nachdenklich von Anna-Lena wissen.

»Nein, noch nicht. Ich wollte ihn heute Abend damit überraschen.« Anna-Lena freute sich schon darauf, sein überraschtes Gesicht zu sehen.

»Na, da würde ich gerne Mäuschen spielen.« Miriam zog ihre Nase kraus.

»Also langsam glaube ich, du solltest dir wirklich echt einen eigenen Freund zulegen«, amüsierte sich Anna-Lena über das grimmige Gesicht ihrer Freundin. Es war ja nicht so, dass sie noch keinen hatte, aber sie geriet immer wieder an solche Kerle, die nicht treu sein konnten. Und irgendwie tat sie Anna-Lena schon leid, vor allem weil sie selbst mit Pascal glücklich war.

»Tja, nicht jeder hat so viel Glück wie du mit Pascal.« Miriam hakte sich bei ihrer Freundin unter. Eigentlich war es ihr Verdienst, dass Anna-Lena mit Pascal zusammen war. Erst durch sie hatte Anna-Lena ihn vor einem halben Jahr kennengelernt. Und wenn sie Pascal glauben konnte, war es für ihn Liebe auf den ersten Blick gewesen. Auch wenn sich Anna-Lena anfangs noch gesträubt hatte, weil sie zu viel für die Schule zu tun hatte, bereute sie es nicht, den gleichaltrigen Jungen schließlich in ihr Herz gelassen zu haben. Sie war glücklich mit ihm und er ließ ihr auch genügend Zeit, sich für die Schule vorzubereiten. Er drängte sie zu nichts, denn außer schmusen und küssen, wollten sich beide für die nächste Stufe in ihrer Beziehung Zeit lassen. Und auch wenn er mit seinem Aussehen in der Schule der Mädchenschwarm schlechthin war, hatte er sich doch für sie entschieden. Sportlich, blond und mit schönen blauen Augen, und trotz allem mit einem Charakter, der sich sehenlassen konnte. Zudem hätte er wirklich jedes andere Mädchen haben können, denn Avancen gab es genug. Doch wie sich schnell herausstellte, war er sogar treu, etwas, was Anna-Lena am Anfang das meiste Kopfzerbrechen machte. Sorgen, die sie sich umsonst bereitet hatte. Zudem waren Miriam, Pascal und sie selbst das perfekte Team. Es gab kaum etwas, was sie nicht zusammen unternahmen. Mit anderen Worten, Anna-Lena war glücklich und schwebte sogar noch nach einem halben Jahr auf Wolke sieben. Und das war auch der Grund, warum sie unbedingt in Berlin bleiben wollte. Auch wenn das hieß, dass sie ihre Eltern für eine lange Zeit, nicht mehr sehen würde.

 

»Dein Ernst jetzt?« Pascal nahm sie glücklich in die Arme und küsste sie ausgiebig.

»Ja, wir haben endlich eine Wohnung gefunden.« Anna-Lena lachte, während Pascal sie wie ein Karussell durch die Luft drehte. Es war nicht zu übersehen, dass er sich genauso freute wie Anna-Lena selbst. Und ihr wurde mit einem Schlag klar, dass sie es niemals übers Herz gebracht hätte, ihn alleine in Berlin zurückzulassen.

»Das ist echt Wahnsinn. Vielleicht können wir zwei Hübschen, dann auch mal mehr Zeit mit uns alleine verbringen.« Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu.

»Hey, deshalb wollte ich die Wohnung jetzt aber nicht.« Lachend boxte sie ihm auf die Brust.

»Das eine, schließt das andere ja nicht zwingend aus«, flüsterte er mit einem Schmunzeln.

»Wer weiß«, gab sie mit einem Anflug von Verlegenheit zurück. Pascal musste lachen, als er ihr Gesicht sah.

»Ey, das heißt jetzt nicht, dass ich sofort über dich herfallen werde.«

»Okay, dann habe ich ja noch einmal echtes Glück.« Mit einem erleichterten Grinsen schmiegte sie sich an ihn. Sie war froh, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wahrscheinlich hätte sie es zutiefst bereut, wenn sie mit ihren Eltern nach New York gegangen wäre. Vor allem hätte sie dann auch viel zu viel in der Schule verpasst und nachher noch einmal zurückgestuft werden müssen. Darauf hatte sie nun echt keinen Bock.

»Das sollten wir wirklich ausgiebig feiern«, überlegte Pascal schon, wo sie hingehen könnten.

»Sollen wir Miriam mitnehmen? Die ist schon wieder den ganzen Tag alleine zu Hause.«

»Warum nicht, sonst wären wir eh nicht komplett, oder?«, neckte er sie.

»Okay.« Anna-Lena himmelte ihn an und hing schon am Handy.

In ihrer kleinen Lieblings Disco feierten sie ausgelassen Anna-Lenas Bleiben und verabschiedeten sich erst voneinander, als sie die Augen nicht mehr offenhalten konnten.

 

*

 

Zwei Wochen waren vergangen und Anna-Lena war noch voll im Umzugsstress. Miriam, ihre beste Freundin und ihr Freund Pascal halfen ihr. Zudem hatten ihre Eltern, die selbst noch damit beschäftigt waren, ihre Sachen zu packen, eine Umzugsfirma bestellt, die ihr die Möbel bringen sollten. Nach und nach nahm die kleine Wohnung endlich Gestalt an.

Anna-Lena war mehr als nur happy, dass sie gemeinsam mit ihren Freunden, die ihr halfen, wo es nur ging, ab jetzt zusammen in eine neue Zukunft starten konnte. Sie rückten Möbel, stellten Dekor auf und mit ihrer Hilfe wurde die Wohnung schließlich noch gemütlicher, als Anna-Lena es sich vorgestellt hatte.

Gegen Abend, als dann auch ihre Eltern dazu stießen, war sie bereits komplett fertig eingerichtet.

»Nicht schlecht muss ich sagen. Das hast du wirklich gut hinbekommen«, lobte ihr Vater sie.

»Danke, aber ohne die Hilfe von Miriam und Pascal hätte ich das nicht hinbekommen.«

»Wofür hat man denn Freunde.« Miriam lächelte sie zufrieden an.

»Wobei ich sagen muss, dass Anna-Lena nicht leicht zufriedenzustellen ist.« Pascal grinste breit und wischte sich den unsichtbaren Schweiß von der Stirn.

»Hey, jetzt übertreibst du aber schamlos«, protestierte Anna-Lena und er bekam zum Dank einen kleinen Rippenstoß von ihr.

»Ach ja? Und was war mit dem Sofa? Bis wir das an der richtigen Stelle hatten, hätten wir schon die ganze Wohnung komplett eingerichtet gehabt«, gab er lachend zurück.

»Na ja, das ist nun mal mein absoluter Liebling und muss dann auch richtig in Szene gesetzt werden. Doch jetzt gefällt es mir recht gut.« Verlegen spielte sie mit ihren Fingern.

»Du merkst aber schon, dass ich dich damit nur aufziehen will, oder?« Schelmisch zwinkerte er ihr zu. Anna-Lena sah ihn erbost an, knurrte sogar ganz leise.

»Idiot.« Alle anderen konnten sich ein Lachen nicht mehr verkneifen.

»Ich hoffe nur, du kommst alleine auch gut zurecht.« Ihre Mutter sah sich die Zimmer noch einmal an. Es war klar, dass sie sich um ihre Tochter sorgte, sonst wäre sie ja auch eine schlechte Mutter gewesen, aber sie hatte Anna-Lena dazu erzogen, auf eigenen Beinen stehen zu können und das zahlte sich gerade für Anna-Lena aus. Ansonsten hätten sie ihrem Wunsch in Berlin zu bleiben, wohl auch nie nachgegeben.

»Das wird schon, außerdem sind meine Freunde ja auch noch da.« Sie nahm Miriam in die Arme, die ihr fleißig nickend zustimmte. Und Pascal stellte sich hinter sie und legte ihr demonstrativ die Arme um sie.

»Ich denke auch, aber pass bloß auf meine kleine Prinzessin auf.« Peter drückte erneut auf die Tränendrüse, wie schwer es ihm fiel, seine Tochter in Berlin zurückzulassen.

»Keine Sorge, Paps, ich habe schließlich viel von dir gelernt und außerdem ist es, glaube ich, endlich mal an der Zeit, dass du das mit der kleinen Prinzessin lässt. So klein bin ich nicht mehr.« Tröstend blickte sie ihn an.

»Mir egal, du bist und bleibst meine kleine Prinzessin.« Entschlossen schob er das Kinn vor. Anna-Lena und Astrid lachten beide gleichzeitig auf.

 

Zwei Tage später war es dann endlich soweit. Anna-Lena stand am Flughafen und verabschiedete sich von ihren Eltern, die die Tränen nicht mehr zurückhalten konnten.

»Pass bloß gut auf dich auf und iss ja regelmäßig«, warnte ihre Mutter sie noch einmal, bevor sie sich endgültig von ihr verabschieden musste.

»Keine Sorge, dass mache ich schon.« Anna-Lena lächelte ihr liebevoll zu und gab ihr noch einen Kuss.

»Und denk dran, wenn etwas los sein sollte, ruf mich an, ich bin sofort bei dir, egal um welche Tageszeit«, erinnerte ihr Vater sie noch einmal an seine Worte.

»Das werde ich machen, also macht euch nicht so viele Gedanken okay. Außerdem sind es nur zwölf Monate. Die werde ich mit links überstehen.« Sie nahm ihren Vater in den Arm und drückte ihn fest.

Dann kam der letzte Aufruf für ihre Maschine und Anna-Lena blieb alleine zurück. Alleine und glücklich zugleich. Dennoch überkam sie ein wenig Wehmut, schließlich war es das erste Mal, dass sie so lange von ihren Eltern getrennt sein würde.

Eine Zeit, die sie zwar genießen würde, aber auch die Verantwortung für sich selbst übernehme müsste. Trotzdem war sie zuversichtlich, denn sie war ja schließlich nicht alleine. Sie hatte Freunde, auf die sie sich jederzeit verlassen konnte.

Sie stand auf der Aussichtsplattform und der Wind zerzauste ihre langen braunen Haare. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten, als sie dem Flieger hinterher sah, in denen ihre Eltern saßen. Sie wollte es ihnen nicht zeigen, und dennoch fiel es ihr genauso schwer wie ihren Eltern, sie zwölf Monate nicht mehr zu Gesicht zu bekommen. Nur gut, dass es eine Erfindung namens Telefon gab.

Nachdem der Flieger außer Sicht war, nahm sie sich ein Taxi zu ihrer Wohnung und war froh, sich auf ihrer Couch ausstrecken zu können.

Sie lag noch nicht ganz, da schlummerte sie auch schon ein. So ein Abschied war ganz schön anstrengend. Zudem mussten ihre Eltern ja auch unbedingt über Nacht fliegen. Sie schlief bis zum nächsten Morgen durch.

Plötzlich wurde sie von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Anna-Lena schoss hoch, da fummelte doch glatt jemand an ihrer Tür. Noch war es dunkel draußen und sie fischte nach ihrem Handy, dass sie noch in ihrer Jacke hatte. Nach ihrem Display war es gerade sechs Uhr in der Früh. Vorsichtig stand sie auf und leuchtete mit ihrem Handy Richtung Tür, von wo sie noch immer Geräusche hörte.

So langsam bekam sie es mit der Angst zu tun und sie spürte ihren rasenden Puls bereits im Hals. Ihr Atem ging schneller und sie hatte Probleme, ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen.

Sie schlich weiter in die Richtung, da kam sie an ihrem Wischmopp vorbei, den sie als geeignete Waffe ansah und sofort in die Hand nahm. Langsam drückte sich der Türgriff nach unten, und Anna-Lenas Herz schoss noch weiter in die Höhe. Sie malte sich bereits die schlimmsten Bilder in ihrem Kopf aus. Anna-Lena nahm eine Abwehrstellung ein und fuchtelte nervös mit dem Wischmopp herum, bis die Tür schließlich fluchend aufgestoßen wurde.

»Verdammter Mist, dieses Ding von Schloss reparieren die mir aber noch.« Sie sah eine Hand, die, wie es aussah, den Lichtschalter suchte und ihn schließlich auch fand.

Anna-Lena schoss mit dem Wischmopp in der Hand und einem Herzen, dass ihr bald in die Hose rutschen würde, vor und blieb mit diesem kurz vor einem Gesicht stehen, dass ihr gänzlich unbekannt war. Der Kerl vor ihr sah sie geschockt an, als hätte er gerade einen Geist oder so etwas gesehen.

»Was machen Sie hier, verschwinden Sie aus meiner Wohnung, sonst rufe ich die Polizei.« Sie wedelte wild mit dem Wischmopp in der einen Hand vor seinem Gesicht herum und mit der anderen wählte sie bereits die Notrufnummer. Der Typ lachte frech.

»Ihre Wohnung? Ich glaube, Sie haben Sie nicht mehr alle. Das ist noch immer meine.« Er sah Anna-Lena mit einem unwirschen Blick an.

»Klar doch und ich bin der Kaiser von China. Träumen Sie ruhig weiter. Ich habe diese Wohnung bereits vor zwei Wochen gemietet, also verpissen Sie sich endlich.« Er blickte sie prüfend an, doch machte keine Anstalten, die Wohnung zu verlassen. Anna-Lena reichte es. Sie hob ihr Handy ans Ohr und fuchtelte gleichzeitig wieder mit dem Wischmopp vor seinem Gesicht herum. Noch während das Telefon klingelte, ergriff er den Stiel des Mopps und riss einmal kräftig daran. Anna-Lena machte augenblicklich einen Satz in seine Richtung und landete an seiner Brust. So schnell wie alles vonstattenging, konnte sie gar nicht reagieren, da hatte er ihr schon das Handy abgenommen, aufgelegt und auf das Sofa geschmissen. Zuerst blieb sie stocksteif stehen, bis sie realisierte, was gerade geschah und sich bis aufs Blut wehrte. Sie schlug auf ihn ein und schrie, was das Zeug hielt, umso fester legte er die Arme um ihren Körper. Ihr Puls raste unaufhörlich und Panik machte sich in ihrem ganzen Körper breit. Sie hörte bereits ihr letztes Stündlein schlagen.

»Beruhigen Sie sich endlich, ich werde schon keine Hand an sie anlegen.« Langsam ließ er sie wieder los und noch bevor seine Hände sie komplett freigegeben hatten, schoss sie panisch zurück.

»Verdammt, wie kommen Sie überhaupt in meine Wohnung«, schrie sie ihn an. Er hob einen Schlüsselbund nach oben und klimperte damit herum. Anna-Lena glaubte, den Knall nicht gehört zu haben. Wieso hatte dieser Kerl einen Schlüssel für ihre Wohnung?

»Ich habe bereits gesagt, dass das meine Wohnung ist und so langsam frage ich mich echt, was Sie hier eigentlich suchen. Vielleicht sollten wir den Spieß herumdrehen und ich rufe die Polizei.« Er kramte sein Handy aus seiner Hosentasche und hielt es ihr unter die Nase. Anna-Lena hatte echt keinen Plan mehr, was hier gerade abging. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Doch da fiel ihr der Mietvertrag wieder ein.

»Moment, ich werde es Ihnen beweisen. Das ist meine Wohnung und nicht Ihre.« Sie rannte zu der Schublade in ihrem Schreibtisch und wühlte in den Papieren, bis sie den Vertrag endlich in den Händen hielt. Doch das alles tat sie nicht, ohne ihn aus den Augen zu lassen, schließlich konnte dieser in dem Moment ja sonst was anstellen, oder sie sogar überrumpeln. Sie hielt ihm den Vertrag wedelnd unter die Nase.

»Sehen Sie, das ist der Mietvertrag, der mich eindeutig als Mieter der Wohnung ausweist.« Sie fummelte so schnell damit vor seinem Gesicht herum, dass er kein einziges Wort lesen konnte. Erst als er ihre zitternde Hand festhielt, sah er eindeutig, dass sie nicht gelogen hatte. Aber wie konnte das sein. Er hatte vor zwei Wochen ebenfalls einen Vertrag unterschrieben und das war eindeutig diese Wohnung, sonst würde ja auch der Schlüssel nicht passen. Er kramte in seiner Tasche, die noch im Flur stand, bis er seinen in den Händen hielt. Er lachte laut auf.

»Was? Sind Sie jetzt vollkommen durchgedreht?« Vorsichtshalber machte Anna-Lena mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück.

»Hier.« Mit überheblichem Grinsen hielt er ihr seinen Vertrag vor die Nase. Anna-Lena las die Zeilen und verglich ihren mit seinem. Verdammt, das konnte doch wohl nicht wahr sein oder?

»Aber ...« Sie sah ihn an, als könnte sich das alles nur um ein Missverständnis handeln.

»Eben, die Wohnung wurde zweimal vermietet.« Wütend blickte er Anna-Lena an, auch wenn er wusste, dass sie nichts dafür konnte. Der Vermieter könnte etwas erleben, wenn er ihn in die Finger bekommen würde.

»Aber ... aber das geht doch nicht. Ich meine, das ist doch meine Wohnung«, stotterte sie ungläubig vor sich hin.

»So, wie ich das sehe, ist das eher unsere Wohnung.« Anna -Lena setzte sich geschockt auf das Sofa. Sie verstand gar nichts mehr. Wie konnte das denn sein?

»Das geht aber nicht. Ich meine, der Vermieter muss einen Vertrag wieder löschen. Ich kann doch nicht ... nein, nie im Leben …«, regte sie sich auf und schüttelte energisch den Kopf.

»Ich denke, so wie das aussieht, kommen wir da beide nicht so schnell raus. Wir können mit ihm reden, aber wenn er sich stur stellt, wird er auf die Verträge bestehen.«

»Na toll.« Anna-Lena lachte kurz enttäuscht auf. So hatte sie sich ihr Leben allein in Berlin nicht vorgestellt. Aber was sollte sie jetzt nur tun. Ihn rausschmeißen? Aber er hatte ebenfalls einen Mietvertrag, also konnte sie das vergessen. Doch sie konnte doch nicht mit einem wildfremden Kerl unter einem Dach leben. Verdammter Mist. Wenn ihre Eltern das wüssten, würden sie auf der Stelle in den nächsten Flieger steigen und sie nach New York zerren. Sie musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.

Wütend und gleichzeitig nervös kaute sie nachdenklich an ihren Nägeln herum. Es musste eine Lösung geben. Es musste einfach. Sie hatte echt keinen Bock auf New York und hier in Berlin von jetzt auf gleich alle Zelte abzubrechen zu müssen kam überhaupt nicht in Frage.

»Ich denke, die einfachste Lösung fürs erste, wäre, wenn ich ein Zimmer beziehe und Sie das andere. So in der Art wie eine WG.« Anna-Lena sah ihn entsetzt an.

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich lasse doch keinen Fremden in meiner Wohnung herumspazieren. Ich kenne sie nicht einmal.«

Schon schalteten sich alle Warnsignale in ihrem Inneren auf Rot. Sie mit diesem Kerl, der sonst was sein konnte, nein, nie im Leben. Nachher würde man ihre Leiche noch eines Tages im Bett finden.

»Und ich denke, Sie haben gar keine andere Wahl.« Voller Überzeugung wies er auf das Stück Papier, das auf dem Tisch lag. Auch wenn sie es nicht gerne zugab, hatte er recht. Er hatte genau wie sie einen Vertrag und das Recht, sich in der Wohnung aufzuhalten.

Trotzdem fühlte sie sich alleine bei diesem Gedanken unwohl. Verdammt, wieso musste das alles ausgerechnet soweit kommen? Ade, du schönes Leben. Doch so schnell würden sie wohl keine andere Lösung finden. Aber er sollte sich nicht wagen, ihr auf irgendeine Art und Weise in die Quere zu kommen. Dann könnte er sein blaues Wunder erleben.

»Okay, okay. Ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Also sollten wir uns irgendwie arrangieren.« Ihr Vorschlag war nicht übel.

»Gut, zuerst sollten wir uns vielleicht einmal vorstellen. Schließlich will ich schon wissen, mit wem ich meine Wohnung teilen muss. Ich bin Leo«, meinte er und hielt ihr seine Hand hin. Anna-Lena sah ihn nachdenklich an. Ob sie diesem Typen wirklich vertrauen könnte?

»Anna-Lena. Und das ist noch immer meine Wohnung.« Sie sah ihn warnend an, reichte ihm aber schließlich auch ihre Hand. Trotzdem blieb sie lieber vorsichtig.

»Wie alt bist du eigentlich? Du scheinst mir noch recht jung zu sein.« Prüfend sah er sie aus seinen braunen Augen an.

»Sechzehn und du?« Hoffentlich war es eine gute Idee, ihm seine Fragen zu beantworten und sie das nicht irgendwann bereuen würde.

»Achtzehn.« Bevor er die nächste Frage stellte, musterte er sie genau. »Und wieso wohnst du mit sechzehn alleine in dieser Gegend?«

Okay, das war eindeutig eine Frage, die ihn nichts anging. Sie wäre doch nicht verrückt und würde ihm ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Er merkte schnell, dass sie ihm nicht antworten wollte, was er auch verstehen konnte. Schließlich kannte sie ihn nicht mal.

»Okay, welches Zimmer kann ich nehmen?« Neugierig sah er sich in der Wohnung um und steuerte auf eine Tür zu. Anna-Lena versperrte ihm blitzschnell mit ausgebreiteten Armen den Weg.

»Das ist mein Raum, du kannst den da nehmen.« Mit dem Kopf wies sie auf die gegenüberliegende Tür.

»Okay, auch gut. Ich muss einfach nur schlafen, wo ist mir heute relativ egal.« Er grinste sie schief an und Anna-Lena schluckte. Ob sie gerade wirklich das Richtige tat? Nervös tapste sie ihm in einem Sicherheitsabstand hinterher und musterte jede seiner Bewegungen. So ganz geheuer war ihr die ganze Sache noch immer nicht. Doch da hatte er schon seine Tasche geschnappt, mit einem Fußtritt die Haustür geschlossen und steuerte das Zimmer an. Plötzlich fiel ihr auf, dass in dem Zimmer ja nicht einmal eine Matratze war.

»Wie willst du ohne Bett überhaupt da schlafen?«

»Ich penn auf dem Boden, wie denn sonst? Meine Möbel kommen erst morgen Nachmittag.« Auch wenn sie ihn nicht kannte, konnte sie das nicht zulassen, da hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt.

»Warte.« Sie ging in ihr Schlafzimmer und kam mit einem eingerollten Schlafsack und einer selbstaufblasbaren Isomatte zurück, welche sie ihm vorsichtig reichte.

»Hey, ich beiße nicht«, beruhigte er sie mit einem leisen Lachen, »aber trotzdem danke.« Bevor er die Tür schloss, nickte er ihr noch kurz zu.

Anna-Lena konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Nur hatte sie noch Glück, dass sie heute keine Schule hatte. Dieser Typ allein mit ihren Sachen in der Wohnung, wer wusste, was der alles mit denen anstellte. Vielleicht hatte sie gerade einen Perversen in ihr Zuhause gelassen. Anna-Lena schüttelte sich. Verdammt, hoffentlich ging das gut. Doch da kündigte sich schon das nächste Problem an. Miriam und Pascal wollten heute vorbeikommen, und sie fragte sich, wie sie wohl darauf reagieren würden. Besonders Pascal, der sowieso eifersüchtig auf jeden Kerl war, der ihr über den Weg lief. Am besten würde sie versuchen, das Treffen abzusagen, oder er müsste sich vor Pascal verstecken. Wobei ihr die erste Variante als Lösung eindeutig logischer erschien, denn wie sollte sie einen Wildfremden, der zudem auch noch das Recht hatte, genau wie sie selbst, sich in der Wohnung frei zu bewegen? Schließlich machte er auf sie nicht gerade den Eindruck, als würde er ihr einen Gefallen tun. Das konnte sie wohl knicken.

 

 

 

Kapitel 2

Leider konnte sie weder Pascal noch Miriam erreichen, um das Treffen abzusagen, somit stand sie wirklich vor einem riesigen Problem. Wie sollte sie diesem Kerl begreiflich machen, dass er sich in der Zeit, in der die Zwei bei ihr waren, sich unbedingt in seinem Zimmer aufhalten musste oder gar nicht erst in der Wohnung war. So wie es aussah, schlief er auch noch. Sie lief nervös im Wohnzimmer auf und ab und hoffte, dass er endlich einmal aufwachte. Dann hörte sie endlich eine Bewegung aus seinem Zimmer und stürmte zur Tür, die er gerade in dem Moment aufmachte. Anna-Lena schaffte es nicht mehr rechtzeitig zu bremsen und prallte voll gegen ihn.

»So stürmisch, obwohl wir uns nicht kennen?« Er lachte sie geradeheraus an. Anna-Lena lief auf der Stelle rot an.

»Ent... Entschuldigung, so sollte das eigentlich nicht laufen«, gab sie verdattert von sich und nervös sorgte sie wieder für einen angenehmen Abstand zu ihm.

»Wolltest du was von mir?« Er sah sie abschätzend an, was ihr noch unangenehmer war. Sie entschloss sich jedoch, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen, schließlich würden ihre Freunde bald reinschneien, dann wäre alles zu spät.

»Du darfst heute auf keinen Fall aus deinem Zimmer, oder besser noch ... du verschwindest für eine Weile und kommst erst spät wieder zurück«, brabbelte sie nervös vor sich hin. Leo sah sie an, als wären ihr gerade sämtliche Sicherungen durchgeknallt, die dafür sorgten, dass sie ihm jeden Moment an die Gurgel springen könnte.

»Moment mal, also wenn ich das richtig verstehe, soll ich so tun, als gäbe es mich nicht?«

»Ja, genau und ich denke, das dürfte ja wohl kein Problem sein, oder?« Sie hoffte auf eine positive Reaktion von ihm, aber Leo lachte nur kurz auf.

»Vergiss es, ich wohne auch hier.«

»Komm schon, den kleinen Gefallen kannst du mir wohl tun«, flehte sie ihn an, doch das schien ihn gar nicht zu interessieren.

»Nein, warum sollte ich?«

»Meine Freundin und mein Freund kommen jede Minute und die wissen nicht, dass es dich gibt und so soll das bitte auch bleiben. Also tust du mir jetzt den Gefallen, oder nicht?« Langsam wurde sie ungeduldig, ihr lief die Zeit weg. Leo musterte sie nachdenklich, wodurch sie nur noch nervöser wurde. Ungeduldig tippte sie immer wieder mit dem Fuß auf den Boden. Der ließ sich jedoch Zeit mit einer Entscheidung. Offensichtlich hatte er die Ruhe weg.

»Nein«, knallte er ihr entschlossen ins Gesicht und wollte ins Badezimmer, doch Anna-Lena versperrte ihm sauer den Weg.

»Wie nein? Weißt du überhaupt, wie wichtig das für mich ist? Schließlich ist ja auch mein Freund dabei, und was denkst du, macht der, wenn der hier bei mir in der Wohnung einen wildfremden Kerl vorfindet?«

»Interessiert mich nicht die Bohne, okay?« Er schob sie beiseite und ging ins Bad, zur Bekräftigung seiner Worte warf er die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss.

Na, der hatte gerade einen Grund sauer zu sein. Wenn ihre Freunde das herausbekamen, wären sie die Ersten, die ihre Eltern verständigen würden. Ihr musste etwas einfallen, und zwar sehr schnell. Pascal war sowieso eifersüchtig ohne Ende und dann ein fremder Mann mit ihr in einer Wohnung. Nein, das durften sie nicht erfahren. Auf gar keinen Fall.

Plötzlich fiel ihr Blick auf das Schloss der Badezimmertür und sie grinste in sich hinein. ›Wer nicht hören will, muss fühlen‹, dachte sie so bei sich. Auch wenn ihm das mit Sicherheit nicht gefallen würde und Anna-Lena sich wahrscheinlich gerade in Teufels Küche brachte, fand sie, dass sie keine andere Wahl hatte. Bevor sie noch mehr Zeit mit Überlegungen verschwendete, ließ sie ihre Hand zum Schlüssel gleiten, den er dummerweise von außen stecken lassen hatte, und schloss schnell ab. Sie hörte noch die Toilettenspülung und sah den verzweifelten Versuch, die Tür zu öffnen.

»Sag mal, drehst du jetzt völlig durch? Mach die Tür auf – sofort!« Wütend hämmerte er wie wild dagegen. Doch Anna-Lena blieb gelassen. Nur gut, dass die Tür nach innen aufging, so brachte es ihm auch nichts, sich dagegen zu werfen.

»Nein, werde ich nicht.«

»Wenn ich hier rauskomme, kannst du was erleben, das schwöre ich dir.« Okay, damit musste sie wohl leben, aber als erstes war er auf jeden Fall gesichert. In ihrem Zimmer konnte man nichts hören, das hatte sie bereits überprüft, also konnte er sich gerne da drin austoben.

»Ich lass dich erst wieder raus, wenn mein Besuch weg ist, versprochen. Aber solange bleibst du da drin und verhalt dich leise«, ermahnte sie ihn noch, als es auch schon klingelte. Anna-Lena öffnete die Tür und brachte die zwei sofort in ihr Schlafzimmer, in dem man die Geräusche aus dem Bad kein bisschen vernehmen konnte.

»Und hast du dich schon eingelebt?« Miriam sah sich in Ruhe den Raum an und wunderte sich eigentlich nur, warum sie nicht im Wohnzimmer saßen. Pascal hingegen hatte es sich bereits auf ihrem Bett bequem gemacht, der die Situation als Einladung zu einem Schäferstündchen deutete.

»Ja sicher, es gefällt mir echt gut hier.« Sie bekam nur ein gekünsteltes Lächeln über die Lippen, denn wie sie feststellen musste, konnte man das Schreien und Gehämmer von Leo sehr wohl hören. Verdammt, hätte er sich nicht jetzt wenigstens zurückhalten können? Anna-Lena wurde zusehends nervöser. Wenn der so weiter machte, wäre ihre kleine List schneller aufgeflogen, als sie gucken konnte.

»Was ist das denn für ein Krach?« Miriam lauschte angestrengt den Geräuschen.

»Och das, das sind die Nachbarn, die machen schon die ganze Zeit einen solchen Lärm. Ich glaube, die haben Ehekrach oder so.« Nervös lachte sie auf und hoffte inständig, dass Miriam ihr die Geschichte abkaufen würde. ›Oh Gott, bitte halt endlich die Klappe oder verwandel dich zu Stein, mir egal, aber sei endlich still!‹, fluchte Anna-Lena im Stillen und lächelte unbeholfen Miriam zu.

»Okay.« Miriam beäugte ihre Freundin misstrauisch, sie wusste genau, wenn die ihr etwas verheimlichen wollte. Anna-Lena knirschte verlegen mit den Zähnen unter diesem misstrauischen Blick. Es war wohl an der Zeit, wenigstens Miriam einzuweihen. Anna-Lena hoffte nur, dass diese nicht gleich ihren Eltern alles erzählen würde.

»Hilfst du mir mal bitte mit den Getränken?« Mit angstvoll klopfenden Herzen wies sie Miriam mit einem Kopfnicken an, ihr zu folgen. Ohne Widerworte folgte diese ihr in die Küche.

»Also was läuft hier?« Miriam sah ihre Freundin eindringlich an.

»Ich glaube, ich muss dir da was beichten. Heute Morgen ist hier ein Kerl aufgetaucht, der ebenfalls einen Mietvertrag für diese Wohnung unterschrieben hat, und zwar am selben Tag wie ich auch«, gab sie kleinlaut von sich.

»Und jetzt? Hast du schon mit dem Vermieter gesprochen?«

»Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber da geht keiner dran. Nur besteht er genau wie ich auf die Wohnung und ich habe ihn jetzt erst einmal in dem freien Zimmer einquartiert.« Angespannt spielte sie mit ihren Händen, und hoffte auf das Verständnis ihrer Freundin, die sie jedoch nur verständnislos ansah.

»Jetzt noch mal ganz langsam, damit auch ich es verstehe.« Bevor Miriam weitersprach, lehnte sie sich an die Küchenzeile und atmete tief durch. »Ist das dein Ernst? Du kannst doch nicht einfach so einen Wildfremden hier einquartieren, der dir irgendeinen Wisch, der einem Mietvertrag ähnelt, unter die Nase hält. Was, wenn der was ganz anderes im Sinn hat? Hallo?« Wieder hämmerte es lautstark an der Badezimmertür, sorgte dafür, dass Anna-Lena vor Schreck zusammenzuckte. Über ihr Gesicht huschte ein verzerrtes Grinsen.

»Jetzt sag mir nicht, du hast den da eingesperrt?« Dieser warnende Blick ihrer Freundin ließ ihr Grinsen abrupt stocken, sodass ihr Gesicht einer Fratze glich.

»Öhm, jupp.«

»Sag mal, bist du wahnsinnig? Du kannst doch niemanden im Bad einsperren. Oh Gott, was mache ich nur mit dir.« Ungläubig legte sie sich die Fingerspitzen auf die Schläfen und massierte die Stellen leicht.

»Keine Sorge, sobald ihr weg seid, lasse ich ihn ja auch wieder raus. Aber du kennst doch Pascal, der würde sofort durchdrehen, wenn er einen fremden Kerl in meiner Wohnung sieht«, bettelte sie ihre Freundin an, den Mund zu halten.

»Stimmt, da gebe ich dir allerdings recht. Weißt du was, ich versuche, Pascal irgendwie aus der Wohnung zu lotsen und du lässt dann gefälligst den armen Kerl sofort wieder frei. Aber ehrlich, sei vorsichtig, nicht das der sich noch als sonst was entpuppt.« Erneut schenkte Miriam ihrer Freundin einen warnenden Blick.

»Du bist die Beste aller Freundinnen.« Erleichtert sprang Anna-Lena ihrer Freundin um den Hals.

»Gut, dass du das auch zu schätzen weißt.« Diese zwinkerte ihr verschwörerisch zu, bevor sie Pascal überredete, die Wohnung zu verlassen.

Auch wenn er Anna-Lena nur widerstrebend verlassen wollte, ging er schließlich doch mit. Anna-Lena fragte sich nur, was Miriam ihm erzählt hatte, warum sie die Wohnung überstürzt verlassen mussten. Er ging zwar, aber nicht ohne ihr einen herzhaften Kuss aufzudrücken, obwohl Anna-Lena danach gerade nicht der Sinn stand.

Als die Beiden endlich weg waren, stand Anna-Lena vor der Badezimmertür, hinter der es verdächtig ruhig geworden war. Leo war doch wohl nicht etwas passiert? Schnell drehte sie den Schlüssel und in diesem Moment wurde auch schon die Tür aufgestoßen. Raus kam ein wütender Leo, der jedem wildgewordenen Stier Konkurrenz machen könnte und sie konnte ihm das nicht einmal verübeln. Anna-Lena machte vorsichtshalber ein paar Schritte nach hinten.

»Sag mal, hast du den Knall nicht gehört?« Er kam langsam und bedrohlich auf sie zu. Anna-Lena hoffte nur, dass Miriam nicht recht behalten würde und er sich gar noch als Mörder oder so was entpuppte. Mit kleinen Schritten ging sie immer weiter nach hinten.

»Hör zu, das war wirklich nur eine kleine Notlösung, okay? Das kommt nie wieder vor, bestimmt«, versuchte sie ihn, mit Worten zu beschwichtigen, doch er machte nicht die Anstalten, als würde er sich beruhigen wollen. Im Gegenteil, er drängte sie immer weiter nach hinten, bis sie plötzlich mit dem Rücken an der Wand zum Stehen kam und entsetzt aufschrie. Sie sah seine Hände auf sich zukommen und schloss vor Angst ihre Augen, da hörte sie rechts und links neben ihrem Kopf zwei dicht aufeinander folgende Klatscher. Leo stützte sich auf seine Hände direkt neben ihren Kopf, sah sie eindringlich an und knurrte.

»Wenn du glaubst, dass du mir einfach so davonkommst, hast du dich gewaltig geirrt.« Anna-Lena hatte wahrscheinlich noch nie so viel Schiss in ihrem Leben wie gerade jetzt und öffnete vorsichtig ihre Augen. Was, wenn Miriam wirklich recht behielt und er sich als Mörder oder Perverser herausstellen sollte? Sie zitterte bereits am ganzen Leib und sie glaubte, dass sie mittlerweile genauso weiß wie die Wand hinter sich war. Ihr Mageninhalt fuhr gerade bedrohlich schnell Karussell.

»Was hast du vor?«, fragte sie ängstlich. Er grinste höhnisch, bevor er sie am Arm packte und ins Badezimmer zerrte.

»Lass mich los, was soll der Mist. Ich lasse mich nicht einsperren«, schrie sie angsterfüllt und schlug mit der freien Hand nach ihm.

»Mich hast du auch nicht gefragt«, konterte er. Panik machte sich in ihr breit. Anna-Lena hasste enge Räume. Doch er zog sie immer weiter und schubste sie schließlich ins Bad.

»Bitte«, flehte sie ihn an. Er sah sie nur überheblich an, als würde sie jetzt ihre gerechte Strafe bekommen und er der Stärkere war.

»Wie du mir, so ich dir.« Auch sah er die Panik in ihren Augen und musterte sie kurz. Irgendetwas regte sich in ihm und er wurde weich. Okay, er hatte sowieso nie vor, sie dort einzusperren. Sie sollte sich nicht ins Höschen machen, er wollte ihr nur einen kleinen Denkzettel verpassen.

»Bitte«, versuchte sie es noch einmal. Leo lachte kurz auf.

»Viel Spaß beim Saubermachen.« Er zwinkerte ihr zu und ließ sie unerwartet los, sodass sie fast stürzte, und blieb dann alleine zurück.

Anna-Lena sah ihm noch nach, bevor sie sich herumdrehte und sie bald der Schlag traf. An den Wänden, auf dem Spiegel, selbst auf dem Fußboden klebte der Inhalt sämtlicher Tuben. Ihre Kosmetikartikel lagen wild umhergestreut und überall pappte nasses Toilettenpapier. Dieser Mistkerl.

Geschockt und gleichzeitig erleichtert, dass er sie nicht eingesperrt hatte, ließ sie sich auf die Knie sinken. Ihr Herz raste noch immer vor Angst und nur ganz langsam schien ihr klar zu werden, was sie sich geleistet hatte und was ihr hätte deswegen passieren können. Verdammt, sie musste sich beruhigen und ganz anders an die Sache mit Leo herangehen. Vor allem müsste sie sich diesen Idioten von Vermieter noch ganz gewaltig zur Brust nehmen. Der war schließlich für die ganze Misere, in der sie sich gerade befand, verantwortlich.

Doch zuerst müsste sie wohl oder übel einmal diese Sauerei entfernen, die Leo ihr dankbarerweise hinterlassen hatte.

Ganze zwei Stunden brauchte sie, bis das Badezimmer wieder einigermaßen dem glich, wofür es genutzt werden sollte. Dass er sich auf irgendeine Art und Weise rächen würde, war ihr ja schon klar, aber dass er ausgerechnet auf so eine Idee kam, ging echt zu weit. Schließlich kosteten die Sachen auch Geld und das hatten ihre Eltern ihr nun auch nicht im Überfluss dagelassen. Sie knurrte in sich hinein und ließ sich erschöpft auf die Couch plumpsen und schaltete den Fernseher ein. Immer wieder nickte sie bei dem Programm ein, so sehr war sie geschafft.

»Hey, wenn du schlafen willst, geh gefälligst ins Bett«, vernahm sie im Unterbewusstsein Leos Stimme. Doch zum Reagieren war sie einfach zu müde. Sollte er sie doch einfach hier schlafen lassen, ging ihn ja schließlich auch nichts an. Ab diesem Moment wusste sie von nichts mehr.

 

Am nächsten Morgen wachte sie gut ausgeschlafen in ihrem Bett auf. Bett? Wieso Bett? Sie war sich sicher, dass sie auf dem Sofa eingeschlafen war. Ihr erster Blick ging unter die Decke, doch so wie es aussah, hatte sie noch alle Klamotten an. Verdammt, wie war sie hier nur hingekommen? Sie erinnerte sich nicht daran, dass sie in ihr Zimmer gegangen war. Sie schwang sich aus ihrem Bett und rannte ins Bad, das Gott sei Dank noch sauber war, machte sich im Eiltempo frisch und rannte wieder zurück. Aus Leos Zimmer hörte sie leise Geräusche. Ob er schon wach war? Was machte er eigentlich den ganzen Tag lang? Hatte der keine Arbeit, dass er hier den ganzen Tag herumhing? Verdammt, der sollte sich endlich wieder aus ihrem Leben verpissen.

Doch daran dachte sie nicht mehr, als ihr Magen knurrte. Das hatte sie gestern in dem ganzen Trubel total vergessen. Sie zog sich an und begab sich in die Küche, um dieses Raubtier in ihr, endlich zu füttern, das hörte man bestimmt schon bis auf die Straße.

Sie war gerade dabei in ihr geschmiertes Brot zu beißen, als sich Leos Tür öffnete und eine freizügige Blondine Richtung Bad stolzierte. Anna-Lena verschluckte sich an ihrem Brot und hustete drauf los. Die Blondine drehte sich zu ihr um, und begaffte sie von oben bis unten mit einem herablassenden Blick, bevor sie sich dann ins Badezimmer verzog. Anna-Lena glaubte, gerade total bescheuert auszusehen, doch das war ihr egal. Sie ließ sich ja viel gefallen, aber eine halb nackte Tussi in ihrer Wohnung? Das ging gar nicht. Sauer stampfte sie auf sein Zimmer zu und öffnete die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Leo drehte sich strahlend um, wahrscheinlich dachte er gerade, dass seine Tussi schon wieder reinspatzieren würde. Doch plötzlich blieb Anna-Lena wie angewurzelt und mit hochrotem Kopf stehen. Er stand nur in seiner Unterhose vor ihr und grinste schief in ihre Richtung.

»Willst du noch mehr sehen?« Er legte bereits seine Hand an den Hosenbund und zog diesen ein kleines Stück herunter.

»Wag dich und ich schreie das ganze Haus zusammen«, schrie sie panisch auf, hörte sein belustigtes Lachen.

»Also was willst du?«

»Dieses Weib ... kann ... die sich wenigstens etwas anziehen, wenn sie schon durch meine Wohnung latscht?«, stotterte sie vor sich hin. Vor allem könnte er sich mal etwas anziehen. Sie stand noch immer hochrot im Gesicht vor ihm. Vor allem bekam sie ihre Augen nicht dazu, sich von seinem Körper abzuwenden. Pascal war ja schon durchtrainiert, aber bei diesem Anblick würde sogar der blass vor Neid werden. Verdammt, woran dachte sie da gerade eigentlich? Hatte sie wirklich keine anderen Probleme zu lösen?

»Unsere.«

»Was?« Sie sah verdattert auf ihn. Sie wusste einfach nicht mehr, wo sie hingucken sollte.

»Unsere Wohnung. Außerdem weiß ich nicht, was dich daran stört.«

»Was ... was ... was mich daran stört? Ich wusste nicht einmal, dass du eine Freundin hast.« Verdammt, könnte sie vielleicht mal ihre Stimme in den Griff bekommen?

»Eifersüchtig?« Breit grinste er sie an, zwinkerte ihr sogar noch aufreizend zu. Jetzt schlug es aber wohl langsam dreizehn. Dieser Kerl hatte echt einen Knall.

»Eifersüchtig? Ich? Worauf denn bitte?« Sie ließ ihren Blick an seinem Körper herunterwandern und musste schlucken. Okay, das wäre eindeutig ein Grund gewesen, aber mit Sicherheit - nein. Er lachte erneut kurz auf, nahm ihren Arm und bevor Anna-Lena sich versah, lag sie schon auf dem Rücken auf ihrem Schlafsack und er über ihr. Ihr stockte der Atem und ihr Herz raste gerade vor Wut.

»Sicher?« Er bekam dieses fürchterliche Grinsen nicht aus dem Gesicht, strengte sich aber auch nicht wirklich an, dieses zu ändern.

»Bist du verrückt? Lass mich auf der Stelle los«, bekam sie geschockt heraus.

»Und wenn ich nicht will?« Er zwinkerte ihr wieder zu. Anna-Lena fing zu zittern an, doch sie glaubte, dieses nicht wirklich auf ihre Wut schieben zu können. Im Gegenteil, er roch so verdammt gut. Was? Er roch gut? Verdammt, jetzt drehte sie wohl durch.

»Geh runter von mir«, schrie sie ihn an und versuchte, sich unter ihm zu befreien, doch dieser Kerl gab keinen Millimeter nach. Vor allem war ja auch noch seine Freundin in der Wohnung. Hatte der denn gar kein schlechtes Gewissen?

In dem Moment stolzierte die Blondine zurück ins Zimmer und Anna-Lena glaubte, jeden Moment einen Herzinfarkt zu bekommen. Ihre Wangen wurden noch dunkler als vorher, wenn das überhaupt noch ging.

»Bist du weg?«, wollte Leo beiläufig von ihr wissen und selbst da machte er noch keine Anstalten, Anna-Lena wieder freizulassen.

»Jupp, spielt euer Spielchen ruhig weiter, ich finde den Ausgang schon.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, zog sich ihre Klamotten an und verschwand eiligst.

Anna-Lena lag mit Herzrasen unter ihm und verstand gar nichts mehr. Sie dachte, dieses Weib sei seine Freundin? Doch da schien sie sich ja wohl eindeutig getäuscht zu haben. Aber hätte sie ihr dann nicht wenigstens helfen können? Sie knurrte vor Wut.

»Verschwinde von mir, oder ich rufe die Polizei.«

»Ach ja und wie, wenn ich fragen darf?« Er hielt immer noch ihre Hände fest, drückte ihre Beine mit seinen herunter, verdammt!. So langsam bekam sie wirklich Panik und der Gedanke, einen Perversen in ihre Wohnung gelassen zu haben, rückte immer näher. Tränen traten in ihre Augen, sie schrie und trat wild mit den Beinen um sich. Leo lachte.

»Hey, jetzt mach dir mal nicht in dein Höschen. Ich werde mich schon nicht an einem Kind vergreifen.« ›Kind? Kind? Kind?‹, wiederholte sie das Wort immer wieder in ihren Gedanken und ihr Magen drehte sich plötzlich. Verdammt, sie war kein Kind mehr. Ihre anfängliche Panik schlug wieder in Wut um. Von wegen Kind, der Idiot würde noch sein blaues Wunder erleben. Irgendwie schaffte sie es, dass Bein so hochzureißen, dass sie genau in seine Glocken trat und er geschockt und atemlos zu Boden glitt. Er lag da, hielt sein bestes Stück, während Anna-Lena aufstand und wütend auf ihn herabblickte.

»Da hast du Kind, du Vollidiot.« Sauer stampfte sie aus seinem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Als sie auf ihrem Bett saß, presste sie ihre Hand auf ihre Brust, genau über ihr Herz, das sich einfach nicht beruhigen wollte. Aber er hatte sie gerade so zur Weißglut gebracht, da hatte er es nicht anders verdient. Am besten würde sie ab jetzt ihr Schlafzimmer abschließen und noch ihre Socke, die sie früher einmal mit einem Tennisball bestückt hatte, mit ins Bett nehmen, denn als Waffe war dieses Ding einfach unschlagbar. Wer weiß, auf was für Ideen der noch kam. Hoffentlich würde sie im Laufe des Tages endlich den Vermieter erreichen, damit die Sache endlich geklärt würde. Denn noch viel länger würde sie das nicht mit ihm zusammen aushalten. Auch wenn sein Körper umwerfend war, ließen seine Manieren doch echt zu wünschen übrig. Warte mal, hatte sie gerade wirklich an seinen Körper gedacht? Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wie dumm konnte sie eigentlich sein? Dieser Kerl war das absolute Grauen und da interessierte auch sein Körperbau gerade nicht. Oder doch?

 

 

Kapitel 3

Sie hatte bis jetzt mindestens zwanzig Mal probiert, diesen blöden Vermieter an die Strippe zu bekommen, doch immer war besetzt oder es hob keiner ab. Wenn sie ihn heute nicht erreichen konnte, musste sie wohl oder übel, morgen zu ihm fahren. So konnte das auf jeden Fall nicht weitergehen. Nicht mit diesem Kerl unter einem Dach.

Anna-Lena stand gerade unter der Dusche, da hörte sie, wie es klingelte und die Tür geöffnet wurde. Irgendwie klang das da draußen alles schwer beschäftigt. Nicht das Anna-Lena in irgendeiner Weise neugierig war, aber es interessierte sie doch, was gerade in ihrer Wohnung passierte. Also sprang sie heraus, zog sich ihren Bademantel über und band die Haare mit dem Handtuch zusammen. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und sah, wie Möbel in die Wohnung geschleppt wurden. Aber sie sah auch, wie ihre kleine gemütliche Lieblings-Couch im Treppenhaus stand. Der hatte ja wohl nicht ... so eine Frechheit ...

Wutentbrannt kam sie aus dem Bad gefegt und blickte Leo, der gerade einen Typ anwies, das andere Sofa an die Stelle zu stellen, wo ihres bisher gestanden hatte, sauer an.

»Was soll das? Bring dieses Ding hier raus und meins wieder rein. Aber flott, wenn ich bitten darf.« Leo sah sie unverwandt von oben bis unten an und auch der Typ mit dem Sofa, schien sich gerade mehr für sie, als für dieses olle Ding zu interessieren. Vom Hausflur her vernahm sie Pfiffe von den restlichen Kerlen, die seine Möbel schleppten. Anna-Lena verstand gar nichts und starrte verwundert von einem zum anderen.

»Okay, ich glaube, wir zwei sollten uns dringend einmal unterhalten.« Er nahm ihre Hand und wollte sie in sein Zimmer ziehen, doch Anna-Lena blieb wie ein verwurzelter Baum stehen und protestierte.

»Nein, ich will das jetzt geklärt haben und mit dir habe ich sonst gar nichts zu bereden«, schrie sie ihn erbost an und versuchte, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien.

»Ich habe gesagt, du sollst mitkommen«, fluchte er, hob sie plötzlich hoch und warf sie einfach über seine Schulter. Er wartete keine Sekunde und ging schnurstracks auf sein Zimmer zu.

»Verdammt, was bildest du dir eigentlich ein? Lass mich runter«, schrie sie erzürnt, schlug auf seinen Rücken und strampelte wild mit den Beinen. Doch erst als er seine Tür geschlossen hatte, ließ er sie unsanft auf ihren Hintern fallen.

»Bist du blöd?« Sie blickte ihn trotzig an.

»In einem muss ich dir jedenfalls recht geben, du bist kein Kind mehr.« Lässig steckte er die Hände in die Hosentaschen und sah aus dem Fenster.

»Was? Wie kommst du jetzt auf den Mist? Wenn du meinst, ich lasse mich so leicht überreden, mein Sofa rauszuwerfen, hast du dich aber gewaltig geschnitten.« Leo lachte auf.

»Dein Sofa sollte gerade deine geringste Sorge sein, Süße.« Mit dem Kopf wies er auf ihren Oberkörper und sah in eine andere Richtung. Anna-Lena verstand nur Bahnhof, aber sah an sich herunter, bevor sie mit einem lauten Aufschrei ihren Bademantel zusammenraffte. Sie hatte den Gürtel total vergessen.

›Oh Gott, konnte es wirklich noch schlimmer kommen? Vor allem hatten diese Kerle ... oh Gott nein, die hatten alles gesehen und ... und ... und er auch‹, schossen ihr die Gedanken sofort in ihren verwirrten Kopf. Sie lief auf der Stelle knallrot an.

»Wie viel hast du gesehen?«, druckste sie kleinlaut herum. Leo drehte den Kopf und sah sie mit hochgezogenen Brauen an.

»Was denkst du wohl?« Anna-Lena kaute nervös an ihren Nägeln. Mist, am besten würde sie gleich ausziehen und irgendwo unter einer Brücke schlafen. Das wäre jedenfalls besser, als sich hier weiter zum Affen zu machen.

»Solltest du das irgendjemandem erzählen, bringe ich dich um«, keifte sie ihn plötzlich an und drohte ihm mit dem Zeigefinger. Sie hatte gerade an Pascal denken müssen. Wenn der das herausbekäme, sie wollte sich gar nicht ausmalen, was er anstellen würde. Schließlich hatte ihr eigener Freund sie bisher nicht einmal nackt gesehen. Leo lachte.

»Komm schon, so viel gab es jetzt auch nicht zusehen. Lass mich raten, Körbchengröße A?«

Anna-Lena sah ihn mit offenem Mund erbost an. Wie ... wie ... wie bitte? Jetzt reichte es endgültig. Sie sprang auf, ging gereizt auf ihn zu und holte aus, doch bevor ihre Hand sein Gesicht erreichte, hielt er diese fest und zog Anna-Lena fest an seine Brust.

»Du ... du ... du ...«, stotterte sie wütend vor sich hin.

»Ich was?«, fragte er sie lachend.

»Du Arschloch.«

»Wow, wirklich einfallsreich, muss ich schon sagen«, gab er bewundernd von sich, auch wenn das so nicht sein sollte. Sie kam sich gerade ziemlich betrogen vor. Anna-Lena versuchte, mit der freien Hand erneut zuzuschlagen, doch auch die hielt er nur mit einem breiten Grinsen fest.

»Meine Süße, ich glaube, da musst du früher aufstehen.« Seine Augen fixierten ihren Blick und Anna-Lena musste schlucken. Schließlich klebte sie noch immer im offenen Bademantel an ihm und hatte keine Hand mehr frei, diesen zuzuhalten. Sie kam sich gerade so dumm vor. Zudem raste ihr Herz unaufhörlich. Sie war eindeutig zu nah an ihm dran, traute sich aber nicht, nur einen Millimeter von ihm abzurücken und ihm somit erneut ihren Körper zur Show zu stellen.

»Ich bin nicht deine Süße. Merk dir das und lass meine Hände los, sonst ...«, knurrte sie ihn wütend an.

»Was sonst? Glaubst du, dein kleiner Trick mit meinen Eiern, würde dir noch einmal gelingen? Vergiss es. Diesmal habe ich vorgesorgt.« Anna -Lena wollte gerade fragen, was er damit meinte, doch bevor sie sich versah, zog er ihre Beine mit seinem Fuß nach vorne und landete mit ihm zusammen auf dem Boden. Sie sah ihm geschockt in die Augen und ihr Atem ging aus irgendeinem Grund stockender als vorher. Sie zitterte am ganzen Leib und der Blick, den er ihr gerade zuwarf, jagte ihr über den ganzen Körper eine Gänsehaut.

»Lass mich los, sofort.« Schwer atmete sie und warf ihm einen drohenden Blick zu.

»Was, wenn ich nicht will? Was, wenn ich gerade etwas ganz anderes im Sinn hätte?« Anna-Lena war nicht dumm, sie wusste genau, was er meinte. Panik machte sich in ihrem Inneren breit. Ihre Lippen bebten leicht, nachdem sein Blick sich ihnen zuwandte und dann wieder ihre Augen in Besitz nahmen.

»Das wagst du nicht«, gab sie verzweifelt von sich. Zuerst regte er sich nicht, bis er dann schließlich auflachte.

»Richtig, ich bin schließlich keiner, der sich an Kindern vergreift.« Er rollte sich von ihr herunter und setzte sich neben sie. »Doch das hattest du eindeutig verdient. Wegen dir musste ich mir einen Eisbeutel besorgen.«

»Kleines Kind, ja? Eben hast du noch selbst gesagt, dass ich keins mehr bin.«

»Spielst du jetzt echt die beleidigte Prinzessin? Sei froh, dass ich dich als Kind ansehe, sonst würdest du hier nicht so einfach wieder rauskommen.« Anna-Lena lief auf der Stelle wieder rot an.

Thhh, er wusste selbst, dass sie kein Kind mehr war. Trotzdem wäre es eindeutig besser, sie als solches zu behandeln. Sie wusste gar nicht, worauf sie sich da einließ. Schon als er zum ersten Mal die Wohnung betreten hatte und sie mit dem Mopp vor ihm stand, wusste er, dass sie kein Kind mehr ist. Doch das änderte auch nichts an der Tatsache, dass sie noch viel zu jung war. Sie hatte einen Freund, der wahrscheinlich genau wie sie, gerade mitten in der Pubertät steckte. Sie sollte sich besser vor ihm in Acht nehmen, bevor er ihr irgendwann das Herz brechen würde. Denn Treue war nicht gerade ein Thema, das ihn interessierte. Er hatte selbst eine feste Freundin gehabt, doch eine reichte ihm einfach nicht. Also kam es, wie es kommen musste und sie machte Schluss. Und er hatte es eindeutig nicht anders verdient.

Anna-Lena stand erbost auf und schob ihren Bademantel wieder zusammen. Sie hoffte nur, dass er nicht wirklich alles gesehen hatte. Nur waren da noch immer die Kerle in der Wohnung, der sie nicht gerade über den Weg laufen wollte.

»Hier, zieh das an. Ich gucke auch weg.« Belustigt zwinkerte er ihr zu. Er bückte sich und warf ihr ein paar Sachen zu, die sie nicht auffangen konnte, weil sie zu sehr damit beschäftigt war, ihren Bademantel zuzuhalten. Anna-Lena knurrte, nahm die Sachen aber trotzdem an. Eine Jogginghose und ein T-Shirt. Er hatte sogar ein Dunkles ausgesucht, damit man nicht durchsehen konnte. Ihr Blick glitt nachdenklich zu seinem Rücken. Ob er vielleicht doch nicht so ein übler Kerl war?

»Bist du fertig?« Sie schrak bei seinen Worten zusammen.

»Ja sofort.« Schnell zog sie die Klamotten über. »Jetzt, bin ich fertig.« Sie sah an sich herunter und sein Blick folgte ihrem.

»Stehen dir gar nicht übel, meine Sachen.« Wiederholt zwinkerte er ihr belustigt zu.

»Ja, ist schon klar.« Nur dass diese Teile mindestens zwei bis drei Nummern zu groß für sie waren und wie ein nasser Sack an ihr herunterhingen.

»Wenn du sie nicht willst ...« Er zuppelte an dem Shirt herum.

»Nein, schon gut, war nur ein Witz.« Sie versuchte ein Lachen über die Lippen zu bringen. Leo grinste in sich hinein.

»Wie auch immer, du solltest jetzt besser aus meinem Zimmer verschwinden, bevor die Kerle hier auftauchen, ich glaube, denen ist eben schon der Sabber aus den Mundwinkeln gelaufen«, foppte er sie.

»Weißt du was? Du bist und bleibst ein Arsch.« Sauer stampfte sie davon. Leo blieb zurück und grinste, während er mit dem Daumen nachdenklich seinen Lippen entlangfuhr.

»Vielleicht wird die Sache mit dem Zusammenwohnen doch noch interessant.«

 

Anna-Lena war gerade in ihr Zimmer geflüchtet, als das Handy klingelte. Auf dem Display konnte sie schon Miriams Nummer erkennen, und sie war froh, endlich mit ihr über alles reden zu können.

»Endlich jemand mit dem ich vernünftig reden kann«, rief sie ins Telefon, kaum das sie den Anruf von Miriam entgegennahm.

»Wieso, was ist denn passiert?«

»Erstens versuche ich schon den ganzen Tag, diesen blöden Vermieter an die Strippe zu bekommen, dann geht mir dieser Leo tierisch auf den Sack. Wenn du wüsstest, was hier im Moment abgeht. Glaub mir, du würdest dich höchstpersönlich in die Klapse einliefern lassen«, fuhr Anna-Lena verzweifelt fort.

»Weißt du was, warum treffen wir uns nicht in der Stadt, dann kommst du da raus und auf andere Gedanken?«, schlug Miriam vor.

»Die beste Idee des Tages. Ich zieh mich nur schnell um, und dann treffen wir uns am Kino.«
»Okay, dann bis nachher.« Miriam legte leicht beunruhigt auf.

So schnell war Anna-Lena in ihrem ganzen Leben noch nicht umgezogen. Die Kerle waren noch immer dabei, die Möbel zu rücken, als sie aus ihrem Zimmer kam. Leon stand an einer Wand und gab ihnen Anweisungen. Er warf ihr einen kurzen fragenden Blick zu, aber Anna-Lena verdrehte nur die Augen und flüchtete schon aus der Wohnung. Nur weg aus diesem Irrenhaus.

 

»Anna-Lena, hier.« Miriam winkte ihr schon zu, als sie aus dem Bus kam. Man, war sie froh, ihre Freundin zu sehen.

»Endlich Ruhe«, gab Anna-Lena erleichtert von sich.

»Wow, du siehst aber wirklich völlig fertig aus.« Miriam begutachtete das Gesicht ihrer Freundin, die immer noch unnatürlich blass war.

»Glaub mir, das wärst du auch, wenn du mit diesem Irren unter einem Dach leben müsstest und dabei ist das gerade einmal der zweite Tag.«

»Ich habe dich gewarnt«, meinte Miriam trocken.

»Ja, das hast du. Übrigens habe ich den Mietvertrag dabei. Ich muss diesen Vermieter noch in der Firma aufsuchen und alles klären.« Sie wedelte mit dem Stück Papier in ihrer Hand herum.

»Gute Idee, am besten machen wir uns gleich auf die Socken, bevor der wieder verschollen ist.«

Gesagt getan. Nur gut, dass der sein Büro in der Stadt hatte. Es war zwar ein kleiner Fußmarsch nötig, aber wenn Anna-Lena das dann endlich klären konnte, war ihr das echt wert.

»Da ist das Büro.« Anna-Lena wies auf ein Gebäude, das zwischen einem Supermarkt und einem Café lag. Sie steuerten darauf zu.

»Bist du sicher, dass das hier ist?« Miriam begutachtete das in die Jahre gekommene Gebäude.

»Ja, wieso? Der Name müsste auf der Klingel stehen.« Anna-Lena las sich die Namensschilder durch, während Miriam sie nachdenklich beobachtete.

»Sieht so aus, als gäbe es die Firma nicht mehr.«

»Nein, das kann nicht sein. Wir waren doch hier. Meine Eltern und ich haben den Vertrag hier unterschrieben, da bin ich mir ganz sicher«, gab Anna-Lena geschockt von sich. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Wie konnte eine Firma so schnell verschwinden?

»Sind sie auch wegen einer Wohnung hier?«, sprach sie eine junge Frau an, die ebenfalls einen Vertrag in den Händen hielt.

»Ja«, gab Anna-Lena bereitwillig Auskunft.

»Tja, sieht ganz so aus, als wären wir reingelegt worden. Diese Firma existiert in Wirklichkeit gar nicht. Ich habe bereits einen Anwalt eingeschaltet, aber so wie es aussieht, sind die Verträge trotz allem gültig. Nur gehören die Wohnungen einer anderen Gesellschaft.«

»Wie bitte? Also heißt das, die Kaution und die Miete, die ich bereits gezahlt habe, sind weg?« Anna-Lena atmete scharf ein, und lachte ungläubig auf. Verzweifelt schlug sie sich die Hand auf die Stirn. Wieso, wie konnte das sein? Woher sollte sie jetzt die Kaution und die Miete bekommen? Oh Gott, wenn sie das ihren Eltern erzählen würde, wäre sie schneller in Amerika, wie sie gucken konnte. Ihr Leben war vorbei. Einfach so vorbei. Sie sackte auf die Knie.

»Jetzt beruhige dich erst einmal, wir finden schon eine Lösung.« Miriam, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.

»Ach ja und wie stellst du dir das vor? Wie soll ich so schnell Geld auftreiben. Die kündigen mir sofort, wenn ich die Miete nicht zahle.«

»Das ist durchaus möglich.« Die junge Frau sah sie mitleidig an.

»Hörst du? Das darf alles nicht wahr sein. Zudem habe ich den Irren auch noch an der Backe. Am besten suche ich mir schon einmal eine nette Brücke.« Da kam Miriam eine Idee. Sie verabschiedete sich von der Frau und zog Anna-Lena von dem angeblichen Büro weg.

»Hör zu. Wenn dieser Leo bereits die Miete gezahlt hat, bist du doch aus dem Schneider. Vielleicht könnt ihr euch ja irgendwie einigen.« Anna-Lena überlegte kurz.

»Ja, aber auch nur, wenn er den Vertrag bei der richtigen Gesellschaft unterschrieben hat.« Aber da fiel ihm sein Vertrag wieder ein. Er war zwar gleich, nur die Unterschriften stimmten nicht überein. Vielleicht hätte sie da schon stutzig werden sollen. Jetzt erklärte sich auch, warum sie niemanden ans Telefon bekommen hatte. »Vielleicht hast du recht. Einen Versuch ist es wert. Auch wenn er wirklich ein wenig merkwürdig ist«, dachte sie laut nach.

»Komm schon, so schlimm kann er nicht sein, schließlich lebst du ja noch«, witzelte Miriam und Anna-Lena dachte, wenn sie wüsste, auf welche Art er gefährlich war, würde sie das nicht mehr behaupten. Augenblicklich schossen ihr die Bilder von seinem gutgebauten Körper wieder in den Kopf. Hatte sie nicht gerade wirklich wichtigere Probleme, die sie bewältigen musste, als sabbernd an diesen Kerl zu denken? Trotz allem müsste sie sich wohl oder übel noch mit ihm auseinandersetzen. Ob sie wollte oder nicht. Aber wenn sie nicht zu ihren Eltern wollte, hatte sie wohl keine andere Alternative.

»Okay.« Sie sammelte neue Zuversicht. Ein Versuch konnte ja wirklich nicht schaden. Wenn sie sich einen Job suchen würde, könnte sie ihm das Geld auch schnell zurückzahlen.

»Übrigens wollte ich dich fragen, ob du Pascal mittlerweile von Leo erzählt hast.« Miriam sah ihre Freundin prüfend an.

»Nein und der braucht das auch erst einmal nicht wissen. Du kennst ihn, der dreht vollkommen durch, wenn er das rausbekommt.« Miriam nickte zustimmend. Pascal verstand in solchen Sachen keinen Spaß, das wusste sie nur zu gut. Der hatte schon einmal einen Kerl zusammengeschlagen und der hatte Anna-Lena nur nach dem Weg gefragt. Was würde er erst mit Leo anstellen? Mittlerweile hatten sie die Bushaltestelle erreicht.

»Soll ich mitkommen?«, bot Miriam ihr an.

»Nein lass mal gut sein, ich glaube, da muss ich alleine durch«, verabschiedete sie sich von Miriam und machte sich sofort auf den Weg in die Wohnung.

 

 

Kapitel 4

Nachdem sie zurück in die Wohnung kam, waren diese Möbelpacker Gott sei Dank verschwunden und es herrschte herrliche Stille. Das Erste, was ihr auffiel, nachdem sie das Wohnzimmer betrat, ihre kleine Couch stand wieder an ihrem Platz. Also hatte er sie doch nicht rausgeschmissen? Sie wurde aus diesem Kerl einfach nicht schlau. Doch das Sofa war gerade Nebensache, sie musste das mit der Miete endlich klären. Hoffentlich würde er ihr diesmal aus der Patsche helfen.

Sie klopfte vorsichtig an seine Tür, doch bekam keine Antwort von innen. Langsam öffnete sie die Tür und blickte in einen leeren aber jetzt wenigstens möblierten Raum. Er war gar nicht da? Wohin könnte er denn gegangen sein? Das mit der Miete ließ ihr dennoch keine Ruhe. Trotzdem hatte sie wohl keine andere Wahl, als auf ihn zu warten.

Sie hatte bereits zwei Stunden ausgeharrt und war schließlich müde auf ihrem Sofa eingenickt, bis jemand versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Anna-Lena schaute auf ihr Handy. Es war bereits nach Mitternacht. Wieso kam er erst um diese Zeit? Doch das sollte sie eigentlich nicht kümmern. Er war achtzehn, also konnte er auch tun und lassen, was er wollte. Auch nach mehrmaligen Versuchen schien er das Loch des Schlosses nicht zu finden. Ob er getrunken hatte? Jedenfalls machte es den Anschein. Anna-Lena stand auf und öffnete vorsichtig die Tür. Sie blickte in das grinsende Gesicht von Leon, der zehn Meilen gegen den Wind nach Alkohol roch. Oh Gott, stank das ekelhaft.

»Da ist ja meine Süße«, lallte er vor sich hin.

»Wer ist deine Süße?«, presste Anna-Lena durch ihre zusammengebissenen Zähne. Mit ihm zu reden konnte sie heute auf jeden Fall vergessen. Sie half ihm in die Wohnung, da er nicht mehr gerade stehen, geschweige noch laufen konnte. Sie wunderte sich nur, dass er sich auf der Treppe nicht schon alle Knochen gebrochen hatte.

»Na, du bist meine Süße.« Unbeholfen tätschelte er in ihrem Gesicht herum.

»Lass das.« Bestimmt schob sie seine Hand zur Seite. »Und ich bin nicht deine Süße. Verdammt.«

»Warum sagst du denn so was, natürlich bist du meine Süße.« Er tätschelte sie schon wieder und brachte sie damit auf die Palme.

»Verdammt, Leo, lass das und mach dich nicht so schwer.« Mist, dieser Typ hatte kein Gramm Fett zu viel und war doch verdammt schwer. Bis an sein Zimmer hatte sie ihn schon bugsiert und öffnete gerade die Tür, als Leo das Gleichgewicht verlor und sie beide der Länge nach auf dem Boden landeten. Leo lag wie ein nasser Sack auf ihr drauf. Verdammt, der war wirklich schwer.

»Leo, geh runter von mir, du zerquetschst mich.« Sie versuchte, ihn zur Seite zu schieben, doch es hatte alles keinen Zweck. So langsam ging ihr die Luft aus.

»Leo geh runter«, schrie sie ihn an und endlich reagierte er.

»Da ist mein Schatz ja, ich hab dich schon überall gesucht«, lallte er glucksend, bewegte sich aber trotzdem keinen Millimeter, bis auf seinen Kopf. Wie konnte man nur so besoffen sein.

»Ich bin nicht dein Schatz oder deine Süße, wie oft muss ich das denn noch sagen. Geh endlich runter von mir.« Noch einmal nahm sie alle Kraft zusammen und endlich bewegte er sich ein kleines Stück. Trotzdem bekam er dieses Grinsen nicht aus seinem Gesicht.

»Och, Schatzi.« Er hob eine Hand und legte Anna-Lena den Zeigefinger auf den Mund. »Du sollst doch nicht sauer sein.« Sein Gesicht wurde plötzlich ziemlich ernst und er fixierte ihren Blick. Anna-Lenas Herz machte einen Satz und das Atmen fiel ihr noch schwerer als vorher schon. Langsam kam er mit seinem Gesicht näher an ihres heran. Sie ahnte bereits, was passieren würde.

»L... Leo, was hast du vor, geh auf der Stelle runter von mir.« Mittlerweile wurde sie panisch und drehte den Kopf zur Seite.

»Bist du denn immer noch böse mit mir?«, lallte er herum. Verdammter Mist, warum bewegte der sich nicht einfach von ihr runter.

»Verdammt, Leo geh endlich runter«, schrie sie erneut und sah ihn ernst an. Doch Leo war zu schnell, bevor sie reagieren konnte, lagen seine Lippen bereits auf ihren. Anna-Lena hielt den Atem an und ihr Magen verkrampfte sich augenblicklich. Sie lag unter ihm, zitterte am ganzen Körper. Es war nur ein flüchtiger Kuss und trotzdem hatte der eine ungekannte Wirkung auf sie. Kurze Zeit später rollte er von ihr herunter und schlief an Ort und Stelle ein. Anna-Lena lag nur stocksteif da und bekam ihre Gefühle nicht mehr in den Griff. Erst als sie verstand, was passiert war, sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer.

 

Sie saß auf ihrem Bett und hielt sich die Brust, aus der ihr Herz bald herausspringen würde. Wie ... wie konnte er nur? Auch wenn er blau wie ein Veilchen war, durfte so etwas nicht passieren. Oh Gott, wie sollte sie das nur Pascal beibringen? Sie drückte sich die Hände gegen die Schläfen, schüttelte gleichzeitig den Kopf und schrie vor Wut. Am besten würde sie ihm das nicht erzählen. Der würde Leo kalt machen. Oh man, ein Problem jagte das nächste. Wieso konnte sie nicht einfach ihre Ruhe haben. Jedenfalls könnte er was erleben, wenn er wieder nüchtern war. Sie schmiss sich auf ihr Bett und schrie alle Wut ins Kissen.

 

Am nächsten Morgen, als sie in die Küche kam, saß Leo bereits mit einem dicken Kater an der kleinen Theke. Er reagierte nicht einmal, nachdem sie sich mit ihrem Kaffee neben ihn setzte. Ob er überhaupt wusste, was er ihr gestern angetan hatte?

»Na ausgeschlafen? War wohl eine heiße Nacht gestern?«

»Boa, könntest du bitte nicht so schreien? Mir brummt vielleicht der Schädel.« Erschöpft legte er den Kopf auf die Theke.

›Schadet dir gar nichts, du Idiot. Hoffentlich platzt er dir‹, knurrte Anna-Lena in sich hinein. Doch so leicht würde sie nicht aufgeben. Außerdem hatte sie auch noch etwas mit ihm zu bereden.

»Geschieht dir recht, dann musst du nicht so tief ins Glas gucken.«

»Hey, du bist nicht meine Mutter okay«, raunte er sie an.

»Thhh, dein Ernst jetzt? Was meinst du eigentlich, wie du in dein Zimmer gekommen bist?« Er sah sie nachdenklich an. Augenblicklich schossen ihr die Bilder der letzten Nacht wieder in den Kopf, ihr Herz raste sofort wieder und ihre Wangen färbten sich rot. Ihr Blick fiel auf seinen Mund und sie schluckte. Schnell drehte sie den Kopf weg. Oh Gott, sie konnte ihn nicht einmal mehr ansehen, ohne daran zu denken.

»Heißt das jetzt, du hast mich in mein Zimmer geschleppt?« Ja verdammt und nicht nur das.

»Ja, genau«, überspielte sie ihre Verwirrung mit einem gespielten Lachen. Leo sah sie aus schmalen Augen an.

»Was ist sonst noch passiert?«, hakte er vorsichtig nach.

»Was ... was sonst noch passiert ist?« Sie lachte wieder gekünstelt. »Nichts, was soll sonst passiert sein.« Sie konnte ihm einfach nicht ins Gesicht gucken, ohne dass ihr Herz einen Satz machte. Wenn das so weiterging, könnte man sie bald auf der Intensivstation besuchen kommen. Vor allem aber ärgerte es sie, dass er sich nicht einmal an den Kuss erinnern konnte und sie sehr wohl. Ihr Verstand fuhr gerade Achterbahn und er hatte keine Ahnung von nix und saß seelenruhig neben ihr.

»Sicher?« Man konnte er nicht einfach die Klappe halten?

»Ja sicher.« Sie stand auf und wollte einfach nur aus seiner Nähe verschwinden, doch Leo hielt sie am Arm fest und zog sie zu sich heran. Erschrocken legte Anna-Lena automatisch die Hände auf den Mund. Sein Blick verfinsterte sich und Anna-Lena stockte der Atem.

»Okay, dann ist ja gut.« Obwohl sie nicht damit gerechnet hatte, ließ er sie abrupt wieder los, doch ihren Blick hielt er weiterhin mit seinem fest.

»Ja, richtig. Ach, ich muss noch etwas in meinem Zimmer machen. Wir sehen uns später vielleicht.« Schon flüchtete sie in ihr Zimmer.

Leo sah ihr nach und ihm huschte ein kleines Lächeln übers Gesicht, während er sich genüsslich mit dem Daumen über die Lippen strich.

 

Wegen diesen ganzen Mist hatte Anna-Lena schon wieder vergessen, ihn auf das eigentliche Thema anzusprechen. Wenn sie das nicht bald regelte, müsste sie wirklich noch unter der Brücke pennen. Oh man, wieso fiel es ihr nur so schwer, ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen? So wie es aussah, wusste er ja nicht einmal etwas von diesem Kuss. Vielleicht machte sie sich doch einfach zu viele Gedanken. Es war ja nicht so, als wäre es absichtlich oder gewollt gewesen. Doch sie musste endlich ihr Problem in den Griff bekommen.

Also nahm sie am Mittag allen Mut zusammen und setzte sich im Wohnzimmer neben ihm auf das Sofa. Er sah Fernsehen, doch das interessierte sie jetzt nicht wirklich. Sie musste einfach mit ihm darüber sprechen. Ihre Hände zitterten und ihr Magen hatte sich total verkrampft.

»Kann ... kann ich dich etwas fragen?«, unterbrach sie ihn beim Zappen.

»Klar.« Er schaltete dabei weiter zwischen den Sendern hin und her.

»Könntest du dich vielleicht einen Moment von diesem Ding losreißen, bitte.« Er sah sie kurz an, entschied aber schließlich, den Aus-Knopf zu drücken, und warf die Fernbedienung auf den kleinen Tisch vor sich.

»Also gut, ich bin ganz Ohr.«

»Ich weiß ja, dass wir beide einen Mietvertrag für die Wohnung unterschrieben haben, aber ...« Sie hatte echt Schiss, wie er reagieren könnte, und druckste herum.

»Also was?« Ungeduldig blickte er sie an.

»Okay, also ich glaube, dass man meine Eltern und mich übers Ohr gehauen hat. Wir haben den Vertrag wahrscheinlich bei einem Betrüger unterschrieben. Was aber nicht heißt, dass er nicht gültig ist«, fügte sie noch schnell hinzu, bevor er auf dumme Gedanken kam.

»Und jetzt?«

»Man und jetzt ist der Kerl mit meiner Kaution und Miete über alle Berge. Verstehst du, ich kann die Miete für diesen Monat einfach nicht mehr aufbringen.« Die Verzweiflung konnte er in ihrem Gesicht ablesen.

»Ach, daher weht der Wind. Und du meinst jetzt, weil ich meine schon an die richtige Gesellschaft komplett bezahlt habe, könntest du hier wohnen bleiben?« Mit einem schelmischen Grinsen erwartete er ihre Antwort. Anna-Lena ließ völlig fertig die Schultern hängen. Wenn er ihr nicht helfen würde, hätte sie keine andere Wahl, als ihre Eltern zu benachrichtigen, und dann hieß es Bye, bye Berlin. Doch so wie es gerade aussah, blieb ihr wohl keine andere Wahl, sie glaubte nicht, dass er ihr auch nur eine Minute helfen würde. Und ehrlich gesagt, wäre er da ja auch doof, schließlich hätte er die Wohnung dann für sich alleine. Das, was er auch von Anfang an wollte.

»Schon gut. Ich finde eine andere Lösung, sonst muss ich doch nach New York.« Sie lächelte zwar verständnisvoll, fühlte sich dennoch, als wäre sie gerade vom Hochhaus gesprungen, und wartete nur noch auf den Aufprall. Sie ließ ihren Kopf hängen und wollte sich in ihr Zimmer zurückziehen. Leo hielt sie plötzlich am Arm zurück.

»Nicht so schnell. Schließlich habe ich deine Frage noch nicht beantwortet, oder?« Ihr Gesicht hellte sich ein klein wenig auf und ein Fünkchen Hoffnung keimte in ihr auf.

»Heißt das jetzt, du hilfst mir?«

»Na ja, sagen wir mal so, kommt darauf an.«

»Worauf?« Wenn der jetzt irgendwelche schweinische Sachen von ihr verlangen würde, könnte er seine Glocken im Park aufsammeln gehen.

»Sagen wir es mal so, wir machen einen Deal«, spannte er sie absichtlich ein wenig auf die Folter. »Schule, Hausarbeit und noch ein Job nebenbei packst du wahrscheinlich nicht, ohne irgendwas zu vernachlässigen. Ich mach dir einen Vorschlag: Du kümmerst dich um alle anfallenden Hausarbeiten, dafür darfst du hier wohnen bleiben.«

»Okay, abgemacht.« Vor Freude wollte sie aufspringen, aber Leo zog sie auf das Sofa zurück.

»Und ...« Er kam mit seinem Gesicht immer näher an ihres heran. Ihr Puls schoss in die Höhe. Anna-Lena schluckte und der Kuss vom Abend kam wieder in Erinnerung, sie blickte sofort auf seinen Mund und lief rot an. Leo lachte kurz auf.

»Und?« Wie unter Zwang sah sie ihm in die Augen, während ihr Magen sich gerade verkrampfte.

»Du spielst in dieser Zeit meine Freundin.«

»Was?«, schrie sie entsetzt auf.

»Stell dich nicht so an, du sollst sie ja nur spielen. Ist ja nicht so, als wollte ich gleich mit dir in die Kiste springen.« Er lachte laut los.

»Aber ich habe einen Freund, das geht nicht. Und ich mache das auch nicht, vergiss einfach, dass ich gefragt habe«, schrie sie ihn entsetzt an, doch er ließ sie nicht weg, hielt noch immer ihren Arm fest.

»Ich könnte mich darauf einigen, wenn du sie nur hier in der Wohnung vorgibst und natürlich auch nur dann, wenn dein ›Freund‹ nicht anwesend ist. Denk drüber nach. Immerhin besser, als unter einer Brücke Stellung zu beziehen oder Mama und Papa alles zu beichten.« Er zwinkerte ihr noch kurz zu und verschwand in sein Zimmer.

Anna-Lena saß fassungslos auf dem Sofa, bekam kein Wort mehr heraus. Zu viele Gedanken stürmten ihren kleinen Gehirnkasten. Doch hatte sie wirklich eine andere Wahl, als auf sein skurriles Angebot einzugehen? Warum brauchte er überhaupt eine Vorzeigefreundin? Der hatte doch mit Sicherheit jeden Tag eine andere. Verdammt, was sollte sie nur machen?

In diesem Moment klingelte ihr Handy und riss sie jäh aus ihren Gedanken. Auf dem Display erschien »Mama«.Toll, genau zum richtigen Zeitpunkt.

»Hallo, Mama.«

»Hallo, Schatz, wie geht es dir, alles gut bei dir?« Gerade in dem Moment kam Leo aus seinem Zimmer. Er schien mitbekommen zu haben, dass sie gerade mit ihrer Mutter sprach. Jedenfalls grinste er spöttisch in ihre Richtung.

»Ja, alles gut, und bei euch?«

»Hier läuft alles super. Was macht denn die Schule?« Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an und schob andauernd ungeduldig sein Kinn hin und her.

»Diese Woche ist doch schulfrei.«

»Ach stimmt, das habe ich vergessen. Und isst du auch gut?«

»Ja, natürlich. Mach dir keine Sorgen, mir geht es wirklich gut.«

»Das ist schön zu hören. Wie geht es Miriam und deinem Freund? Ich hoffe, ihr benehmt euch.« Anna-Lena wurde auf der Stelle rot.

»Miriam geht es gut und wie kommst du ausgerechnet jetzt auf Pascal? Keine Sorge, ich weiß, was ich zu tun und zu lassen habe«, kam es ein weniger schroffer heraus, als sie es wollte. Doch dieses Thema nervte einfach. Vor allem, weil Leo sich gerade köstlich amüsierte. Dieses Arschloch machte sich da auch noch einen Spaß draus.

»Ist schon gut, war auch nur ein Witz, reg dich nicht immer so schnell auf.« Leise hörte er das Lachen ihrer Mutter aus dem Handy. »Aber ich muss auch jetzt auflegen. Also schlaf gut, ich hab dich lieb, mein Schatz.«

»Ich dich auch und grüß Paps von mir«, bekam sie wehmütig über die Lippen.

»Mach ich. Bis dann.« Das Gespräch wurde beendet. Anna-Lena hatte keine Wahl, das wurde ihr auf einem Schlag klar. Entweder sie nahm sein Angebot an, oder sie musste sich dem Willen ihrer Eltern beugen.

»Okay, du hast gewonnen.« Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und schmiedete schon in Gedanken einen Plan. Das ganze Unterfangen bedeutete noch lange nicht, dass sie ihm auch alles recht machen musste.

 

Kapitel 5

Sie hatte nicht ganz zugesagt, da ging der Terror auch schon los. Sein benutztes Geschirr spülen, das Bad nachdem er geduscht hat grundreinigen und auch noch seine Wäsche waschen. Hätte sie gewusst, dass er das schamlos ausnutzte, hätte sie sich doch lieber einen Platz unter irgendeiner Brücke gesichert. Doch das war noch lange nicht alles, er hinterließ in der ganzen Wohnung einen Saustall. Klar, er hatte ja jetzt auch eine billige Putzfrau. Anna-Lena knurrte in sich hinein. Wenn das so weiterging, hätte sie nicht einmal genug Zeit, etwas für die Schule zu tun. Ihr Leben war jetzt schon der reinste Horror, wie sollte das noch weitergehen?

Darum brauchte sie sich allerdings nur Gedanken machen, bis er mal wieder eine Tussi anschleppte, die sich partout nicht abwimmeln ließ. Hieß also, dass sie jetzt zu ihrem Einsatz als fingierte Freundin kommen musste. Und es war gerade mitten in der Nacht und sie hatte schon tief und fest geschlafen, als er an ihre Tür hämmerte. Na toll, das konnten ja noch richtig ruhige Tage werden. Vor allem, weil er ja jeden Tag eine andere mit anschleppen musste. Wurde ihm das nicht langsam überdrüssig?

»Hey, Süße, sag der mal, dass wir zwei zusammengehören und die sich jetzt von Acker machen kann.« Besitzergreifend legte er Anna-Lena einen Arm um die Schultern und drückte ihr zum Verdeutlichen auch noch einen Kuss auf die Wange. Anna-Lena schubste ihn sofort zur Seite. Erst aufreißen, anschleppen und dann von ihr verlangen, den Dreck wegzuräumen. So war das absolut nicht ausgemacht. Anna-Lena verschränkte miesepetrig die Arme vor der Brust und funkelte ihn böse an. Doch er grinste einfach nur frech und rieb seinen Daumen und Zeigefinger. Na toll, jetzt war sie auch noch voll erpressbar. Also hatte sie wohl keine andere Chance, als dieses Weibsbild irgendwie heraus zu bugsieren.

»Hör zu, ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt verschwindest, oder hast du wirklich die Absicht, dich an meinen Freund ran zu schmeißen?« Die Tussi begutachtete sie von oben bis unten, bis sie zu lachen anfing.

»Du willst seine Freundin sein? Im Leben nicht. Sieh dich mal an und dann mich, weißt du jetzt, was die Männer wollen?« Anna-Lena musste ihr zähneknirschend recht geben, trotzdem hatte diese Tussi noch lange nicht das Recht, sie zu beleidigen.

»Ich mache wenigstens nicht für jeden die Beine breit«, konterte sie eiskalt und dieses Weib sah sie empört an. Leo stand nur daneben und musterte Anna-Lena anerkennend. Mut hatte sie jedenfalls, das musste er ihr lassen.

»Kleine Kinder in deinem Alter, sollten so was noch nicht mal in den Mund nehmen.« Und da war es wieder, die Wörter, die sie am meisten hasste. Kleines Kind. Sie würde der noch zeigen, wer hier ein kleines Kind war. Anna-Lena funkelte sie böse an. Leo beobachtete die ganze Zeit das Wortgefecht und schien sich wirklich köstlich zu amüsieren. Am liebsten hätte sie ihn mit diesem Weib alleine gelassen. Doch mit der Abmachung im Nacken ging das leider nicht. Also musste sie härtere Geschütze auffahren. Hoffentlich würde Pascal das nie rausbekommen, das war von Anfang an schon ihre größte Sorge gewesen.

Anna-Lena schmiegte sich liebevoll an Leo und sah ihn mit einem herzzerreißenden Augenaufschlag an.

»Schatz, was willst du denn mit diesem Weib, ich hätte die nicht mal mit dem Hintern angeguckt.« Zuerst war Leo komplett sprachlos und sah sie verwirrt an, bis er schließlich zu sich kam und ihr kleines Spielchen mitmachte.

»Die ist mir einfach so gefolgt, ich kann da wirklich nichts zu.« Sanft strich er ihr über die Wange, was bei Anna-Lena sofort eine Gänsehaut auslöste. »Du weißt doch, ich liebe nur dich.« Wow, hatte der vielleicht ein Lächeln drauf. Und dann noch diese Worte ›Ich liebe dich‹. Wenn sie nicht wüsste, dass das hier alles nur gespielt war, wäre ihr Herz wohl gerade dahingeschmolzen.

»Den Bären könnt ihr jemandem anderen aufbinden, da falle ich mit Sicherheit nicht drauf rein«, gab die Frau gehässig lachend von sich und sah den beiden zu. Anna-Lena war sich so unsicher, was sie machen sollte, kein Wunder, dass sie ihr das nicht abkaufen würde.

»Ich glaube, das siehst du aber doch ein wenig falsch.« Leo sah sie warnend an, doch sie machte nicht die Anstalten aufzugeben.

»Wenn das so ist, will ich auch einen Beweis«, forderte sie kaltschnäuzig. Sie schien eine Frau zu sein, die ihre Beute nicht so schnell aus den Fängen ließ.

»Beweis? Was für einen Beweis?«, fragte Anna-Lena verdutzt.

»Mhhh, wie wäre es zum Beispiel mit einem ... Kuss.« Den gehässigen Ausdruck in ihrem Gesicht, hätte Anna-Lena ihr am liebsten herausgeschlagen. Doch was sollte sie jetzt machen? Wenn sie sich vehement wehren würde, dann wäre der kleine Schwindel sofort aufgeflogen und ihre kleine Abmachung damit auch nichtig. Doch Leo zu küssen kam für sie nun gar nicht in Frage, nie im Leben. Sie blickte Leo hilfesuchend an, der nur seine Augen zusammenzog und sie nachdenklich ansah. Der sollte jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken kommen, sonst würde er ihr Knie im Gebälk seines Big Bens spüren. Sie war ja mit allem einverstanden, aber da würde sie nicht mitspielen. Mit Sicherheit nicht. Auch wenn das hieß, dass sie damit ihre kleine Abmachung brechen würde, nie im Leben würde sie dafür Leo freiwillig einen Kuss geben. Da könnte er sich das Geld lieber in die Haare schmieren. Niemals.

»Warum eigentlich nicht, du hast ja auch deinen Willkommenskuss noch nicht bekommen«, meinte er schlichtweg und kam mit seinem Gesicht näher an Anna-Lenas heran, die ihn nur geschockt aus großen Augen ansah. Bis sie schließlich wieder zu sich kam und ihm einen warnenden Blick zuwarf, der ihn hätte töten können. Doch Leo grinste nur schelmisch und sah gar nicht ein aufzuhören. Der wagte sich doch nicht wirklich? Das würde er bereuen, mit Sicherheit würde er bei ihr nicht einfach so damit durchkommen. Anna-Lenas Herz raste vor Wut, Angst und vor noch etwas, was sie nicht eindeutig zuordnen konnte. Sie wollte sich von ihm losmachen, doch er hielt sie fest und dann berührte er ihre Lippen. Anna-Lena sah ihn geschockt aus großen Augen an, was jedoch plötzlich in Verwunderung umschlug. Moment mal, etwas berührte ihre Lippen und seine lagen auf dem Etwas drauf. Mit geschlossenen Augen genoss er den angeblichen Kuss und sah die Tussi fragend an, nachdem er Anna-Lena wieder freigegeben hatte.

»Zufrieden?«, gab er genervt von sich.

»Thhh, macht doch was ihr wollt.« Freiwillig räumte dies Weib das Feld und knallte die Tür hinter sich zu. Anna-Lena stand noch immer wie vor den Kopf gestoßen da und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war.

»Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.« Leo lachte leise auf.

»Was?« Erst ein paar Sekunden später realisierte sie, dass er mit ihr sprach.

»Bist du enttäuscht?« Er blickte in ihr rotwerdendes Gesicht.

»Bist du verrückt?« Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

»Das nächste Mal kann ich ihn auch weglassen.« Er zwinkerte ihr zu und wedelte mit seinem Daumen vor ihrem Gesicht herum. Also so war das. Was ihre Lippen berührt hatten, war sein Daumen, damit er sie nicht wirklich küsst, nur damit es so aussah als ob. Okay, sie musste schon zugeben, dass er wirklich alles durchdacht hatte. Trotzdem war sie sauer auf ihn.

»Den kannst du dir sonst wohin schieben. Das war das erste und letzte Mal, dass ich bei so was mitmache«, fluchte sie laut vor sich hin. Leo lachte auf.

»Könnte es sein, dass du vielleicht doch ein kleines Bisschen enttäuscht bist?« Er hielt ihr die Hand mit einem Zentimeter Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger hin und nahm ihr Gesicht unter die Lupe, dass sofort einer Tomate glich.

»Als ob. Und so gut küssen wie du denkst, kannst du sowieso nicht«, schrie sie wütend heraus, bis sie bemerkte, was sie da gerade gesagt hatte und ihn erschrocken ansah. Leo sah sie nachdenklich an.

»Woher willst du das wissen?«, stellte er die Frage mit zur Seite gelegtem Kopf und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Oh Gott, wie konnte sie sich nur so verplappern? Was sollte sie denn jetzt darauf antworten. Sie wurde so nervös wie noch nie in ihrem Leben.

»Einfach so, ich gehe mal davon aus, so, wie die Ziege eben reagiert hat.« Mit einem Lachen wollte sie über ihre Lüge hinwegtäuschen.

»Blödsinn. Also?« Ihr Magen krampfte sich plötzlich schmerzhaft zusammen und das Atmen fiel ihr verdammt schwer. Wie sollte sie sich da nur wieder rausreden. Er war an dem Abend so besoffen, dass er sich nicht einmal daran erinnern konnte, aber sie noch sehr genau. ›Oh Gott, bitte helf mir doch wenigstens einmal‹, flehte sie im Stillen.

»Es ist so, wie ich es gesagt habe. Ich bin müde und gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.« Sie gähnte lautstark und legte schnell die Hand auf den Mund, bevor sie in ihr Zimmer verschwinden wollte, doch weit kam sie nicht.

»Hast du echt geglaubt, ich kann mich nicht daran erinnern?« Fragend sah er sie an, wobei er verschmitzt grinste. Anna-Lena blieb auf der Stelle stocksteif stehen. Ihr Herz raste unaufhörlich und das Atmen schien sie komplett aufgegeben zu haben. Langsam drehte sie sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck zu ihm um.

»Du ... du ... du wusstest das die ganze Zeit?«, stotterte sie nervös vor sich hin.

»Allerdings und es war schön, dir zuzusehen, wie du versucht hast, damit zurechtzukommen. Nur, was mich jetzt doch ein wenig enttäuscht, ist die Tatsache, dass du sagst, ich bin nicht gut darin. Denn eigentlich hat sich bis jetzt noch keine bei mir beschwert und das kratzt doch ein wenig an meinem Ego. Weißt du, was ich meine?« Zuerst klappte Anna-Lena die Kinnlade herunter, bis sie sich wieder fing und die Hände sauer in die Hüften stemmte. Der hatte jetzt wohl eindeutig den Verstand verloren und sein Ego war gerade das Letzte, was sie interessierte. Dieser Mistkerl.

»Nein, weiß ich nicht und es interessiert mich auch kein Bisschen. Weißt du was, du kannst mich mal«, schrie sie ihre Wut heraus. Leo quittierte ihren Ausbruch mit einem weichen Lachen.

»Und ich glaube, das kann ich leider nicht auf mir sitzen lassen.« Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und zog sie zu sich heran, bis nicht mal mehr ein Löschblatt zwischen ihnen passte. Anna-Lena blickte ihn erschrocken an und versuchte, sich von ihm zu lösen, doch wie schon so oft vorher, hatte das keinen Sinn. Sie hätte sich genau so gut mit einem Baum anlegen können. Doch plötzlich legte er einen ernsten Blick auf, wobei Anna-Lenas Herz erneut kurz aussetzte und sie die Luft anhielt. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Lippen bebten, vor Angst. Leo ließ ihr keine Zeit mehr, an irgendetwas zu denken, so schnell verschloss er ihren Mund mit seinem. Zuerst versuchte sie, ihn von sich zu schieben, doch je länger dieser Kuss dauerte und intensiver wurde, umso mehr vergaß sie alles um sich herum. Sie fing sogar an, diesen zu genießen, jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, als er seine Zunge ins Spiel brachte, die in ihren Mund eindrang und Gefühle in ihr auslöste, die sie erschaudern ließen. Sie stöhnte erschrocken auf und trommelte auf Leo mit den Fäusten ein, doch er legte ihr nur eine Hand in den Nacken und drückte ihren Kopf noch näher an seinen heran. Anna-Lena krallte die Nägel in ihre Handflächen, zu viele Gefühle schossen durch ihren Körper. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie machen sollte, wo sie gerade war oder was gerade mit ihr passierte. Diese Gefühle hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht und als er sie endlich freigab, stand sie schwer atmend und mit weichen Knien vor ihm.

Der Ausdruck der gerade auf ihrem Gesicht lag, ließ Leos Herz einen Schlag schneller schlagen. Am liebsten hätte er sie gleich noch einmal von dem Gegenteil überzeugt, aber er musste sich zurückhalten, sonst würde das keinen guten Ausgang nehmen. Er hätte sich diesen Kuss besser verkneifen sollen.

»Und? War das jetzt besser?«, flüsterte er ihr ins Ohr und Anna-Lenas Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Ihr Kopf war total blank und ihr ganzer Körper reagierte auf kein einziges Signal mehr. Ihre Beine gaben endgültig unter ihr nach und Leo konnte sie gerade noch festhalten.

»Ich denke, das heißt dann wohl ja.« Er lachte kurz auf und zog sie wieder an sich heran, bis sie wieder alleine stehen konnte und ihr Gehirn erneut einsatzbereit war. Erschrocken über sich selbst, schob sie ihn von sich weg. Tränen traten in ihre Augen, sie holte aus und langte ihm eine ins Gesicht, bevor sie heulend in ihr Zimmer rannte.

Leo legte sich die Hand auf die Wange und sah ihr grinsend nach.

»Das war es wert«, seufzte er zufrieden.

 

Anna-Lena saß auf ihrem Bett und bekam das gerade alles nicht mehr auf die Kette. Wieso hatte sie solche Gefühle? Es war ja nicht so, dass sie noch nie geküsst hatte. Wenn sie mit Pascal zusammen war, schmusten und küssten sie sich ja auch und auch mit Zunge, aber so was hatte sie bei ihm noch nie gefühlt. Ob das nur daran lag, weil sie Leo kaum kannte? Nein, das konnte es auch nicht sein, denn als sie Pascal zum ersten Mal geküsst hatte, kannten sie sich auch nur kurz. Verdammt, dieser Kuss und alles drumherum war total verwirrend. Auch wenn sie selber zugeben musste, dass sie ihn für eine kurze Zeit sogar genossen hatte. Wie konnte sie nur? Verdammt, sie hatte Pascal und wie konnte sie das ihrem eigenen Freund antun? Ihr schlechtes Gewissen war schlimmer als jegliche Strafe, die sie dafür bekommen konnte. Morgen würde sie sich mit Miriam und Pascal in der Stadt treffen, das hatten sie bereits lange geplant. Kino und anschließend wollten sie noch etwas zusammen trinken gehen. Doch unter diesen Umständen wusste sie nicht einmal, ob sie Pascal noch in die Augen sehen konnte. Verdammt, wieso hatte sie sich nur auf diese blöde Abmachung eingelassen?

 

Nachdem sie eine schlaflose Nacht hinter sich und der Wecker sie unsanft geweckt hatte, machte sie sich sofort fertig für ihr Treffen. Sie wollte unbedingt aus der Wohnung sein, bevor Leo ihr über den Weg lief. Sie hatte Glück, anscheinend schlief er noch tief und fest. Bis sie die Wohnungstür hinter sich schloss, bekam sie ihn nicht zu Gesicht. Doch das würde sich ändern, wenn sie wieder nach Hause kommen würde, da war sie sich sicher. Sie musste vor allem unbedingt mit jemandem über ihre verzwickte Situation reden und die Einzige, die da in Frage kam, war Miriam. Pascal konnte sie ja wohl kaum das mit dem Kuss auf die Nase binden. Oh Gott, dieses Zusammentreffen grauste sie jetzt schon, hoffentlich verquatschte sie sich nicht oder gab ihm mit ihren Gesten einen Wink mit dem Zaunpfahl.

»Und wie läuft das Zusammenleben?«, flüsterte Miriam neugierig, als sie an der Kinokasse anstanden.

»Bist du verrückt, sei still.« Anna-Lena stieß Miriam leicht den Ellenbogen in die Rippen und warf ihr einen warnenden Blick zu. Miriam musste sofort grinsen.

»Hier sind die Karten.« Pascal verteilte diese an Miriam und Anna-Lena, die sie dankbar entgegennahmen. »Für uns beide ein Plätzchen oben.« Leicht übertrieben zwinkerte er Anna-Lena noch zu. Die konnte einen Anflug von Verlegenheit nicht unterdrücken. Er legte demonstrativ den Arm um ihre Schultern und zog sie so mit in den Kinosaal. Viele Leute besuchten den Film nicht, so hatten sie auch noch freie Platzwahl, was Pascal sich natürlich nicht zwei Mal sagen ließ. Und schon saßen sie in der obersten Reihe, von wo aus sie einen besonders guten Blick auf die Leinwand hatten, aber auch ungestört sein würden.

Anna-Lena saß zwischen Miriam und Pascal, der ausgerechnet einen Film mit Dreiecksbeziehung raussuchen musste. Na ganz toll, schon dachte sie wieder an Leo, und das, obwohl sie gerade mit ihrem Freund im Kino saß. Sofort meldete sich wieder ihr schlechtes Gewissen, das sich noch verstärkte, als Pascal ihr einen Arm um die Schultern legte und sie zu sich heranzog. Okay, eigentlich sollte das zwischen Paare, die sich liebten, ja auch kein Problem sein, doch gerade in diesem Moment war Anna-Lena nicht danach. Je mehr er schmusen wollte, umso mehr Bilder schossen ihr von Leo und dem bisher Geschehenen in den Kopf. Verdammt, so konnte das einfach nicht weitergehen. Sie war mit ihrem Freund - hier und jetzt. Wieso musste der Typ ausgerechnet jetzt in ihrem Kopf herumspuken? Anders gefragt, warum musste der überhaupt in ihrem Kopf herumspuken? Als Pascal ihr dann auch noch einen Kuss geben wollte, war es ganz vorbei mit Anna-Lena. Sie legte sich die Hände auf den Mund, bevor der Kuss zustande kommen sollte. Nur das da gerade Pascal und nicht Leo saß. Oh Gott, wie konnte sie nur so dumm sein. Pascal sah sie fragend an.

»Was ist los? Du bist heute irgendwie komisch, weißt du das?«

»Mir ist schlecht, ich glaube, ich muss auf die Toilette.« Es war nur eine Notlüge, um das mit den Händen zu erklären, aber sie war auch froh, dass sie aus dem Kino kam. Sie brauchte unbedingt einen klaren Kopf.

Miriam war ihr auf die Toilette gefolgt und sah ihre Freundin prüfend an, die sich mit den Händen kaltes Wasser ins Gesicht spritzte.

»Was ist eigentlich wirklich los mit dir? Ist was mit diesem Leo passiert? Denn ich muss Pascal recht geben, du bist wirklich komisch, seit dem ihr zusammenwohnt.«

»Verdammt, Miriam, ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll. Er hilft mir zwar mit der Miete, aber er hat auch Bedingungen gestellt.« Verzweifelt blickte sie ihre Freundin an. Wenn sie jetzt nicht endlich darüber reden könnte, würde ihr noch der Schädel platzen.

»Okay, was für Bedingungen?«, hakte Miriam vorsichtig nach. Anna-Lena trocknete sich nervös das Gesicht ab.

»Er will, dass ich zwei Monate den Haushalt übernehme, womit ich auch kein Problem habe. Aber das eigentliche Problem liegt darin, dass ich seine Vorzeigefreundin spielen muss.«

»Vorzeigefreundin? Warum das? Ich meine, der Typ sieht nicht schlecht aus und hat doch bestimmt eine Freundin oder nicht?«

»Freundin ist gut, der kommt jeden Tag mit einer anderen nach Hause. Und ja er sieht nicht schlecht aus, hat kein Gramm zuviel und ...« Erst bei Miriams erstauntem Blick, bemerkte sie, was sie da gerade von sich gab und ließ seufzend die Schultern hängen.

»Hör mal, kann es sein, dass du dich ...«

»Jetzt komm bloß nicht auf dumme Gedanken, nein und das werde ich mit Sicherheit auch nicht. Wie könnte ich mich in so einen Idioten verknallen, der mich auch noch küsst ohne ...«, schnitt sie ihrer Freundin das Wort ab, nur um in das nächste Fettnäpfchen zu treten. Wenn das so weiter ging, könnte sie es auch gleich an jedes schwarze Brett der Stadt aushängen.

»Oh ... mein ... Gott.« Miriam sah ihre Freundin ungläubig an, die nur nervös an dem Papierhandtuch zupfte. Sie kannten sich jetzt lange genug, um zu wissen, wie sie tickten.

»Was?« Verdutzt blickte Anna-Lena sie an.

»Sag mal, bist du wirklich so dumm, oder tust du nur so? Merkst du es echt nicht, wenn du dich in jemanden verknallst?« Miriam lachte ungläubig auf.

»B... b... b... Blödsinn. Wie kommst du denn jetzt auf diese bescheuerte Idee? Ich habe doch gerade gesagt, dass der Typ mich nicht die Bohne interessiert«, wehrte sie händeringend ab.

»Anna-Lena, ich glaube, wir beide sollten wirklich mal ein Gespräch unter Frauen führen. Und ich denke dieser Ort ...« Sie sah sich in der Toilette um. »... ist nicht gerade dafür geeignet. Was hältst du davon, wenn du heute bei mir übernachtest und wir uns einen so richtig schönen Mädelsabend machen.« Gott sei dank kam Miriam auf diese Idee. So konnte sie wenigstens mal abschalten und sich dem Wahnsinn zu Hause entziehen. Sollte er doch sehen, wie er mit seinen Weibern zurechtkam.

»Sofort. Ich müsste nur noch ein paar Sachen holen.«
»Okay, machen wir nachher zusammen. Aber vorher sollten wir zurück in den Saal gehen, damit Pascal sich nicht ganz so alleine vorkommt.« Sie zwinkerte Anna-Lena zu. Stimmt, den hätte sie im Eifer des Gefechtes jetzt beinahe ganz vergessen. Und das nur wegen diesem Idioten von Leo.

 

 

Kapitel 6

Pascal ließ sie nach diesem kleinen Vorfall im Kino in Ruhe. Anscheinend ging er davon aus, dass sie sich wirklich übergeben hatte. Danach waren sie nur noch kurz etwas zusammen trinken und er gab ihr dann zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

Da es schon ziemlich spät war, als sie bei Anna-Lena ankamen, hoffte sie, dass Leo bereits schlafen würde. Leise schob sie den Schlüssel ins Loch und drehte ihn, bis die Tür aufsprang. In der Wohnung war alles dunkel, wahrscheinlich schlief er wirklich schon, freute sich Anna-Lena. Sie trat ein und stolperte als Erstes schon über ein paar Sachen, die verteilt in der Wohnung lagen, bevor sie überhaupt den Lichtschalter erreichen konnte. Nachdem es dann endlich hell in der kleinen Wohnung war, sah sie das ganze Ausmaß von Leos kleinem übertriebenen Spiel. Nicht nur, dass seine Klamotten eine Spur bis hin zu seinem Zimmer hinterließen, nein, er hatte es wirklich gut mit ihr gemeint. Überall lagen Zeitschriften, Pizzakartons und noch etliche Sachen mehr herum. Den ganzen schmutzigen Abwasch hatte er auch nicht einmal weggeräumt, sogar dafür war er sich jetzt schon zu fein. Anna-Lena knurrte missgestimmt und Miriam musste unwillkürlich lachen.

»Also so sieht das aus, wenn er eine Abmachung mit jemandem macht.«

»Ja, genau und das wird der jetzt auch zu hören bekommen«, brummte sie sauer und stampfte wie eine Wildgewordene auf sein Zimmer zu, bis Miriam sie zurückhielt.

»Was ist, wenn er nicht alleine ist?«, gab sie zu bedenken.

»Das ist mir gerade so was von …« Alleine der ganze Dreck in ihrer Wohnung, ließ ihren Stresspegel in die Höhe schießen und wenn sie jetzt nicht Dampf ablassen würde, würde sie wahrscheinlich platzen.

Also riss sie ohne Vorwarnung seine Tür auf, hinter der sie zwar schon merkwürdige Geräusche ausmachen konnte, aber nicht registrierte, dass sie auch schnell in eine peinliche Situation platzen könnte. Sie blieb mit weit aufgerissenen Augen und heruntergefallener Kinnlade im Rahmen stehen. Zwei Köpfe schossen zu ihr herum und es dauerte eine Weile, bis sie endlich schnallte, dass sie die Tür am besten schnell wieder hinter sich schloss. Sie stand mit hochrotem Kopf an seiner Tür, atmete schwer und hielt sich die Hand auf die Brust, die von ihrem pochenden Herzen zu zerspringen drohte. Dieses Bild würde sie wahrscheinlich nie wieder aus ihrem verwirrten Kopf bekommen.

»Ich habe dich gewarnt.« Miriam legte ihrer Freundin mitleidig eine Hand auf die Schulter. Anna-Lena lachte gekünstelt auf.

»Ja, das hast du und vielleicht hätte ich besser auf dich gehört.« Sie schritt auf ihr Zimmer zu und stopfte nervös einige Sachen in eine Tasche.

»Vielleicht solltest du dich erst einmal beruhigen.« Miriam war ihr gefolgt. Nun stand sie in ihrem Zimmer und sah zu, wie Anna-Lena alles einpackte, nur nicht das, was sie wirklich benötigte.

»Ich bin die Ruhe in Person, siehst du?« Anna-Lena zeigte ihr zum Beweis ihre Hände, die nicht wie angenommen ruhig waren, sondern zitterten wie Espenlaub.

»Setz dich.« Ihre Freundin drückte sie auf das Bett. »Du bist so ruhig, dass du sogar die Fernbedienung der Stereoanlage eingepackt hast.« Betroffen strich sie ihr über den Kopf. Anna-Lena seufzte. Das war eindeutig zu viel für einen Abend.

»Oh man, wieso muss mir das nur alles passieren.« Anna-Lena ließ seufzend die Schultern hängen. Miriam strich ihr tröstend über den Rücken.

»Na komm schon, beruhige dich erst einmal, dann packen wir deine Sachen zusammen und machen uns bei mir einen gemütlichen Abend. Wirst sehen, morgen sieht schon alles besser aus.« Okay, sie wusste ja, dass sich Miriam wirklich Sorgen um sie machte, aber wenn sie jetzt abhauen würde, sähe die Wohnung morgen wahrscheinlich noch schlimmer aus. Auch wenn die Arbeit nicht weglaufen würde, dennoch konnte sie diesen Saustall nicht einfach so lassen. Anderseits hatte sie keine große Lust, Leo die nächste Zeit, nach dieser peinlichen Aktion, alleine über den Weg zu laufen. Allein bei dem Gedanken daran, könnte sie laut losschreien.

»Du willst lieber hierbleiben, habe ich recht?« Miriam kannte sie wirklich wie keine Zweite. Anna-Lena nickte.

»Okay, dann machen wir es doch so. Ich helfe dir beim Aufräumen und dann machen wir es uns hier gemütlich.« Miriam zwinkerte ihr aufmunternd zu. Und mit dieser Idee konnte sogar Anna-Lena leben. Erstens wäre der Unrat schneller beseitigt und zweitens bräuchte sie keine Angst zu haben, dass sie Leo alleine begegnen würde und er sie auf das peinliche Erlebnis ansprach.

 

Sie ließen sich nach der anstrengenden Arbeit völlig fertig auf das Sofa plumpsen und schalteten den Fernseher ein, über dessen Bildschirm gerade ein Horrorfilm flackerte. Miriam liebte diese Art der Filmkunst, wohingegen Anna-Lena lieber die romantischen Filme bevorzugte. Aber da Miriam ihr geholfen hatte, machte sie schließlich eine Ausnahme zur Belohnung.

Irgendwann, inmitten des Filmes, waren beide eingeschlafen und so bekam Anna-Lena auch nicht mit, dass sich Leos Tür öffnete und die junge Frau die Wohnung verließ. Leo ging zur Couch und sah sich das friedlich schlafende Gesicht von Anna-Lena an. Vorsichtig strich er ihr eine Strähne der langen braunen Haare aus dem Gesicht. Er musste unwillkürlich lächeln. Wenn sie die Klappe hielt, war sie eigentlich recht süß. Warum nur sein Herz bei dieser kleinen Berührung einen Satz machte, war ihm unbegreiflich. Plötzlich bewegte sich Miriam und blinzelte ihn aus müden Augen an. Sie wollte gerade etwas sagen, doch Leo hielt sich den Zeigefinger auf den Mund und wies mit dem Kopf auf Anna-Lena, die bald drohte, von dem Sofa zu fallen. Ohne große Mühe hob er sie hoch und trug sie in ihr Zimmer. Sie schlief so fest, dass sie davon nichts mitbekam, nicht einmal, als er sie sanft auf ihr Bett legte und zudeckte. Als er wieder aus dem Zimmer kam und die Tür leise schloss, sah Miriam nachdenklich ihn an.

»Du magst sie, habe ich recht.« Zuerst bekam sie keine Antwort von Leo, erst als er seine Tür öffnete, sah er sie kurz lächelnd an.

»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.« Mehr bekam er nicht über die Lippen und Miriam hatte auch keine Zeit mehr, eine Frage zu stellen, da war er schon in seinem Zimmer verschwunden.

»Oh Anna-Lena, ich glaube, da hast du jemandem ganz schön den Kopf verdreht, und merkst es selbst nicht einmal.« Miriam lachte leise auf.

 

Als Anna-Lena am nächsten Morgen aufwachte, wunderte sie sich schon, warum sie im Bett lag. Nur von Miriam gab es keine Spur. Wie und wann war sie überhaupt in ihr Zimmer verschwunden? Nachdenklich stand sie auf und suchte Miriam im Wohnzimmer, die tief und fest auf der Couch schlief. Es war bereits elf Uhr und Anna-Lena wunderte sich wieder, dass sie überhaupt so lange schlafen konnte, obwohl sie die Zwei da gestern gesehen hatte. Ihr Blick schweifte zu Leos Tür, aber da war es anscheinend noch mucksmäuschenstill.

»Hey, Schlafmütze, aufstehen«, wandte sie sich wieder an Miriam, die sich genüsslich rekelte und sie anblinzelte.

»Guten Morgen«, bekam sie während eines Gähnens heraus.

»Guten Morgen, mal eine ganz dumme Frage, wann bin ich eigentlich ins Bett gegangen?« Miriam sah auf Leos Tür und war sich erst nicht ganz sicher, ob sie Anna-Lena das verraten sollte, doch schaden konnte es ja auch nicht. Vielleicht käme sie so mal ins Überlegen.

»Das weißt du wirklich nicht?« Anna-Lena schüttelte mit dem Kopf. »Okay, du hast wirklich einen gesunden Schlaf. Leo hat dich ins Bett getragen.« Verschmitzt lächelte Miriam.

»Was?«, schrie Anna-Lena entsetzt auf, aber hielt sich sofort den Mund zu, schließlich wollte sie keine schlafenden Hunde wecken und war froh, wenn sie ihn nicht sehen musste.

»Jupp.« Miriam lachte ihrer Freundin frech ins Gesicht.

Oh man, jetzt hatte sie noch einen Grund mehr, sich zu schämen. Wenn das so weiterging, könnte sie ihm bald gar nicht mehr unter die Augen treten. Aber wieso hatte er sie nicht einfach da liegenlassen? Da fiel ihr ein, dass sie schon einmal auf dem Sofa eingeschlafen war und damals auch nicht wusste, wie sie in ihr Zimmer gekommen war. Ob er da auch seine Finger mit im Spiel hatte? Verdammt, das war alles so megapeinlich.

»Aber weshalb? Ging doch auf der Couch mit uns beiden.« Nachdenklich sah sie ihre Freundin an. Miriam lachte immer noch.

»Ja klar, nur dass du fast auf dem Boden übernachtet hättest.« Okay, das könnte natürlich eine Erklärung sein.

»Egal jetzt«, versuchte sie, sich selbst auf andere Gedanken zu bringen. »Was unternehmen wir heute Schönes?«

»Ich glaube, du solltest dich vielleicht erst einmal entschuldigen, oder.« Miriam wies auf Leos Tür. Klar, sie hatte gestern zwar etwas gesehen, was absolut nicht gewollt war, aber das war auch allein ihre Schuld gewesen. Hätte sie wenigstens angeklopft, wäre es gar nicht erst soweit gekommen. Und es war für die beiden bestimmt genauso unangenehm wie für sie auch. Eine Entschuldigung wäre wohl das Mindeste. Nur fragte sie sich immer noch, warum ihr das so viel ausgemacht hatte, nachdem sie die Zwei gesehen hatte. Hallo, sie dachte hier über Leo nach, der jeden Tag eine andere hatte. Also warum war es ihr in diesem Augenblick nicht nur unangenehm, sondern auch nicht egal? Warum tat ihr Herz dann so weh, wenn sie nur daran dachte?

»Okay, ich glaube, du hast recht, aber erst brauche ich eine Stärkung. Lass uns frühstücken.«

Miriam deckte die kleine Theke in der Küche bereits mit Geschirr ein, während Anna-Lena den Kühlschrank öffnete und mit heruntergeklappter Kinnlade hineinsah. Alles was sie eingekauft hatte, war verschwunden. Alles, bis auf eine Möhre und das Päckchen Margarine. War das jetzt sein Ernst? Das war wohl das Allerletzte. Wütend knallte sie den Kühlschrank wieder zu, und wenn Miriam sich nicht irrte, sah sie Rauch aus ihren Ohren kommen. Anna-Lena stampfte total sauer auf seine Tür zu und wollte sofort hereinstürmen, doch da tauchten ihr die Bilder vom Abend wieder vor ihrem geistigen Auge auf und hielt sich zurück. Sie klopfte mehrmals laut an und rief dabei sauer seinen Namen.

»Leo, verdammt, mach das du da raus kommst.« Sie hämmerte noch immer gegen die Tür, als diese plötzlich ruckartig aufgerissen wurde und Anna-Lena einen Satz nach vorne machte und unsanft an seiner Brust zum Stehen kam. Erschrocken sah sie, wie er die Brauen nach oben zog.

»Schon so früh am Morgen Sehnsucht?« Miriam stand an der Theke und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Als ob.« Erst einmal brachte sie wieder etwas Abstand zwischen sie. »Was hast du mit meinem Kühlschrank gemacht?«, schrie sie ihn wütend an.

»Selbst Schuld, wenn du nur Grünzeug darin bunkerst. Das kann man herrlich anderweitig benutzen.« Er grinste schief. Anna-Lena verstand kein Wort.

»Häh?« Auf einmal lief sie vollkommen rot an. Leo lachte.

»Ich will, glaube ich, nicht wirklich wissen, was du gerade denkst.«

Miriam bekam sich bald nicht mehr ein vor Lachen, ihr liefen schon die Tränen und sie hielt sich den Bauch, der mittlerweile schon wehtat.

»Macht euch ruhig lustig über mich«, schrie Anna-Lena erbost.

»Na ja, wie auch immer, ich wollte gleich einkaufen gehen, was ist, kommt ihr zwei Hübschen mit?« Erst sah er zu Miriam, die sich langsam wieder beruhigte und dann zu Anna-Lena, während er ihr einen kleinen Stupser auf die Nase gab und sie schelmisch betrachtete. Sie hatte nur ein böses Funkeln für ihn übrig. Blöder Kerl, musste er sie schon wieder in Verlegenheit bringen? Oh stimmt, da war ja noch etwas, was sie loswerden musste. Leo ging gerade wieder zurück in seinen Raum, da trottete sie ihm reumütig nach.

»Ich ... ich ...«, stotterte sie vor sich hin. Leo sah sie fragend an. Verdammt, wieso fiel ihr das nur so schwer. Sie biss die Zähne zusammen. »Ich wollte mich für gestern Abend bei dir entschuldigen«, schoss es heraus. Leo grinste schelmisch.

»Wofür genau?« Anna-Lena sah ihn geschockt an. Jetzt wollte der doch wohl nicht noch Einzelheiten wissen, oder? Und ihm schien das auch noch so richtig zu gefallen.

»Du weißt schon wofür«, bekam sie säuerlich heraus und wollte aus dem Zimmer, doch Leo versperrte ihr den Weg.

»Ach, weiß ich das?« Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Anna-Lena knurrte in sich hinein.

»Könntest du vielleicht einmal auf deine fiesen Spielchen verzichten? Das wird langsam langweilig.« Leo legte den Kopf schief.

»Wenn dir das zu langweilig ist, können wir auch gerne zu etwas Aufregenderem übergehen.« Er legte ihr eine Hand in den Rücken und zog sie an sich heran. Anna-Lenas Herz machte sofort einen Satz. Sie dachte wieder an den Kuss und dann an die Szene mit ihm und dem Weib in seinem Zimmer und spürte, wie ihr Magen sich auf einmal verkrampfte. Was war nur los mit ihr, verdammt? Doch sie setzte ein breites Grinsen auf.

»Nein danke, kein Interesse«, versuchte sie, so belanglos zu klingen, wie es ging. Leo lachte, ließ sie jedoch los.

»Schade eigentlich.« Belustigt zwinkerte er ihr zu. »Macht euch fertig, in einer halben Stunde geht es los.« Er schob Anna-Lena aus seinem Zimmer, schloss schnell die Tür und lehnte sich dagegen. Nachdenklich legte er seine rechte Hand auf seine Brust, in der sein Herz schneller schlug, als er rennen konnte. Er lachte kurz auf. Er sollte sich besser eine neue Wohnung suchen, denn lange könnte das so nicht mehr weiter gehen. Irgendwann war auch sein Pegel erreicht. Vor allem, brachten ihn diese Frauenbekanntschaften, auch nicht wirklich mehr auf andere Gedanken. Wie konnte er sich nur so in ein sechzehn jähriges Mädchen vergucken? Sie war noch ein halbes Kind, auch wenn ihr Körper eindeutig das Gegenteil bewies. Selbst der Kuss war schon viel zu viel gewesen, auch wenn es ihm gefallen hatte und ihr ebenfalls, auch wenn sie es nicht so richtig zugab. Aber sein Entschluss stand. Bis Ende des Monats, wenn sie ihre Miete wieder selber aufbringen konnte, wäre er hier raus.

 

Nach dem Einkaufen war der Kühlschrank wieder prall gefüllt und diesmal nicht nur mit gesunden Lebensmitteln. Sie aßen noch alle zusammen, bevor auf einmal Anna-Lenas Handy klingelte.

»Ja?«

»Ich bins, Pascal, ich steh vor der Haustür, aber du hast noch kein Schild an der Klingel, wie einige andere auch. Also könntest du mich freundlicherweise rein lassen?« Zuerst sah sie geschockt zu Miriam und dann zu Leo.

»Ja klar ich mach auf, einen kleinen Moment.« Beunruhigt legte sie auf.

»Was ist los?«, wollte Miriam wissen.

»Pascal ist los, der steht unten vor der Tür.« Beide sahen Leo nachdenklich an, der sich am Hinterkopf kratzte.

»Ich denke, das ist dann wohl mein Stichwort«, meinte er trocken und erhob sich, um in seinem Zimmer Däumchen zu drehen. Anna-Lena sah ihm wehmütig nach.

»Nein, warte.« Leo sah sie fragend an. »Du brauchst nicht in dein Zimmer zu gehen. Schließlich gehört die Wohnung dir genauso.« Leo sah zu Boden und gab einen undefinierbaren Laut von sich, bevor er sie mit einem kleinen Lächeln ansah.

»Lass mal gut sein. Ich weiß, was es heißt, ein Mädchen mit einem anderen teilen zu müssen.« Es tat ihm schon weh, wenn sie nur von ihm sprach. Doch die beiden jetzt zusammen sehen zu müssen, überspannte den Bogen echt. Und genauso musste es auch diesem Pascal dann gehen. Er hatte keinen Bock, sie zu teilen, deshalb war es auch besser, hier zu verschwinden. Und zwar ganz.

Miriam war der traurige Unterton nicht entgangen, doch Anna-Lena bekam wie immer nichts mit. Sie nickte nur und öffnete Pascal die Tür.

 

Kapitel 7

Anna-Lena begrüßte Pascal mit einem Kuss und er nickte Miriam über die Schulter seiner Freundin flüchtig zu. »Ich habe schon gedacht, ich hätte mich im Haus geirrt, die sehen ja alle gleich aus hier.«

»Ja, das stimmt.« Sie versuchte, ein Lächeln über die Lippen zu bekommen. Die Sache eben mit Leo, ging ihr nicht aus dem Kopf.

»Wow, ihr esst gerade, cool, ich habe einen Bärenhunger.« Pascal ließ sich an der Theke nieder, als wenn er hier zu Hause wäre und wunderte sich plötzlich.

»Wieso sind denn hier drei benutzte Teller? Hattet ihr zwei etwa Männerbesuch?« Belustigt zwinkerte er Miriam, die sich ein Lachen verkneifen musste, zu und in Anna-Lenas Richtung sah. Anna-Lena achtete nicht weiter auf ihren Freund, sie kapierte es nicht. Wieso war Leo in sein Zimmer gegangen? Heute hatte sie vor, Pascal zu beichten, dass sie mit Leo in einer WG lebte. Doch seine Antwort ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie sah zu Pascal, der sich wie selbstverständlich an den Lebensmitteln zu schaffen machte und dann zu Miriam, die ihr einen fragenden Blick zuwarf, bis er in einen wissenden umschlug. Anna-Lena hatte ein schlechtes Gewissen Pascal, aber genauso auch Leo gegenüber. So durfte das nicht weitergehen. Sie konnte schließlich nicht immer von Leo verlangen, dass er sich in seiner eigenen Wohnung versteckte, nur weil ihr Freund auftauchte. Sie musste das aufklären, und zwar jetzt sofort. Sie klopfte an Leos Tür und Pascal sah sie an, als hätte sie einen Vollschuss. Warum klopfte jemand an einer Tür in seiner eigenen Wohnung, fragte Pascal sich, bis Leo diese von innen öffnete und heraustrat. Er sah zuerst auf Anna-Lena und dann zur Theke herüber, wo Pascal sich gerade an seinem Brot verschluckte.

»Na ganz toll.« Leo verdrehte die Augen, doch Anna-Lena ließ nicht locker.

»Pascal, das ist Leo und er wohnt mit in dieser Wohnung.« Endlich war es raus und sie fühlte sich sofort ein wenig besser.

»Du verarschst mich gerade, oder?« Pascal glaubte, sich verhört zu haben, sprang geschockt auf und warf seinem Nebenbuhler einen feindseligen Blick zu.

»Nein, ich verarsche dich nicht. Wir haben beide einen Vertrag für diese Wohnung«, versuchte sie, ihm ansatzweise verständlich zu machen.

»Ich habe dir gesagt, lass gut sein.« Leo sah ihr verständnislos ins Gesicht.

»Was heißt hier, lass gut sein? Ich glaube, du hast den Knall nicht gehört«, schrie Pascal ihn an, seine Hände hatte er schon angriffslustig zu Fäusten geballt.

»Hey, beruhige dich, okay.« Leo hob abwehrend die Hände. Verdammt, sie hätte besser auf ihn gehört, als sie beide jetzt in diese blöde Situation zu bringen.

»Ich soll mich beruhigen? Was denkst du eigentlich, wer du bist? Und du ...« Wütend kam er auf Anna-Lena zu. »Du denkst, ich finde es in Ordnung, dass du mit einem fremden Kerl in der Wohnung haust. Ich glaube, du spinnst wohl.« Er kam so bedrohlich auf sie zu, dass Anna-Lena zusammenzuckte und ängstlich einen Schritt zurückwich. Leo sah keinen anderen Ausweg und stellte sich schützend vor sie.

»Hey, beruhige dich einfach und lass sie es doch erst einmal erklären.«

»Halt die Fresse, sonst kannst du was erleben.« Miriam hatte sich das Spiel erst nur angeguckt, doch jetzt stand sie hinter Pascal und versuchte, ihn davon abzuhalten, Leo eine reinzuhauen.

»Lass mich los«, schrie er sie an und wollte sich wütend von ihr losreißen.

»Verdammt, keine Sorge, ich bin nächste Woche sowieso hier raus, also kannst du dich endlich beruhigen.« Anna-Lenas Herz setzte einen Moment bei seinen Worten aus.

»Du ... du ziehst aus?«, hörte er die Frage hinter sich, ihre Stimme zitterte leicht. Er schloss die Augen und versuchte, sich erst einmal zu beruhigen und atmete tief durch, bevor er sich schließlich zu ihr herumdrehte.

»Ja, so war es geplant. Ein Freund von mir hat eine WG, in die ich einziehen werde, dann bist du mich endlich los.« Mit einem wehmütigen Lächeln zwinkerte er ihr zu.

»Aber warum hast du denn nichts gesagt?«

»Was meinst du, warum ich gesagt habe, lass mal gut sein. Das hier war total überflüssig und den Streit hättest du vermeiden können.« Inzwischen hatte Pascal sich von Miriams Griff losgerissen, blieb wutentbrannt vor Anna-Lena stehen.

»Wisst ihr was, macht doch was ihr wollt, ich mach Schluss. Such dir einen anderen Vollhonk, den du verarschen kannst«, keifte er sie an und stampfte außer sich vor Wut auf die Haustür zu. Er knallte diese hinter sich ins Schloss, das es durch das ganze Treppenhaus hallte. Doch das war Anna-Lena gerade egal. Tränen sammelten sich bereits in ihren Augen, jedoch nicht wegen Pascal, sondern wegen Leo.

»Okay. Sehr gut, dann habe ich eine Sorge weniger.« Sarkastisch lachte sie auf und rannte in ihr Zimmer, bevor sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Leo sah ihr betroffen nach und atmete tief durch, um sich zu beruhigen, bevor er ihr hinterhergehen würde. Genau das wäre jetzt ein Fehler gewesen, den er anschließend bereuen würde.

»Und warum ziehst du jetzt wirklich aus?« Leo sah zu Miriam, die anscheinend schon mehr kapierte als Anna-Lena.

»Weil es so besser für uns beide ist.« Schmerzerfüllt lachte er kurz auf, bevor auch er sich in sein Reich zurückzog. Miriam sah nacheinander die beiden Türen an.

»Wie kann man sich nur selbst so viel Schmerz zufügen? Dabei könnte es so einfach sein.« Verständnislos schüttelte sie den Kopf.

 

Eine Woche später hatte Leo schon fast alle seine Sachen aus der Wohnung geräumt. Es fehlten nur noch ein paar Kisten, die er später abholen wollte.

Anna-Lena kam die Wohnung auf einmal viel zu groß vor. Es war zu ruhig und auch zu aufgeräumt. Alles, was sie so an Leo aufgeregt hatte, fehlte ihr plötzlich unheimlich. Total verrückt. Dabei sollte sie doch froh sein, schließlich war es von Anfang an nicht anders geplant gewesen, als die Wohnung alleine zu bewohnen.

Sie sah wehmütig in seinen Raum, der ihr eigentlich als kleines Büro dienen sollte. Auf einer der Kisten lag ihr zusammengerollter Schlafsack, den sie ihm am Anfang geliehen hatte. Sie nahm ihn an sich und roch daran. Leos Duft war noch immer da. Verträumt setzte sie sich auf den Boden und dachte an das Chaos, das er in ihr Leben gebracht hatte. An die Zeit, in der sie keine Ruhe mehr hatte, als sie die Abmachung getroffen hatten und wie sie das Weib aus der Wohnung geekelt hatten. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch erstarb sofort, als sie an ihren Kuss dachte. Augenblicklich traten ihr die Tränen in die Augen.

»Verdammt.« Wütend wischte sie sie weg und stand wieder auf. So war es besser für sie. Anna-Lena hatte jetzt das, was sie von Anfang an wollte und es würde nicht lange dauern, dann würde sie sich auch wieder daran gewöhnen. Merkwürdig war nur, dass sie für Pascal nicht einmal eine einzige Träne übrig hatte.

 

Miriam holte sie am nächsten Tag ab, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Es war Samstag, und so einen Tag verbrachte man mit seiner besten Freundin am besten in einer Diskothek.

»Und was hältst du von dem da?« Miriam wies auf einen Kerl am anderen Ende der Tanzfläche, der sich wahrscheinlich noch Knoten in die Beine tanzen würde.

»Ne lass mal, ich glaube, so viel Geduld beim Entknoten habe ich dann doch nicht.« Anna-Lena lachte bedrückt auf. Miriam versuchte schon die ganze Zeit, seit dem sie da waren, sie mit irgendjemandem zu verkuppeln. Anna-Lena spielte ihr kleines Spielchen zwar mit, aber Bock hatte sie da nicht wirklich drauf.

»Und der?«

»Wer?«

»Na, der da drüben mit dem weißen Shirt.« Sie zeigte auf einen Kerl, der ganz interessant aussah. Jedenfalls bis er sich zu ihnen drehte und Miriam fast einen Lachkrampf bekam. Der Typ hätte echt ihr Vater sein können.

»Okay, ich glaube meine Männerwahl, übernehme ich besser wieder selbst.« Anna-Lena sah wieder zur Tanzfläche, schüttelte ihren Kopf, bis ihr Herz auf einmal einen gewaltigen Satz machte.

»Ich muss mal auf die Toilette«, meinte sie zu Miriam, die ihr zwar zunickte, aber auch bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Sie sah auf den Punkt, den Anna-Lena zuletzt angesehen hatte und dann sah sie ihn. Leo in Begleitung einer echt hübschen Blondine. Kein Wunder, dass sie das Weite gesucht hatte. Nach dem Song verschwand er mit ihr in eine dunkle Ecke. Anna-Lena schien gerochen zu haben, dass die Luft wieder rein war, und kam genau in diesem Moment zu Miriam an die Theke zurück.

»Ist alles in Ordnung.« Miriam sah zu ihr und musterte ihr Gesicht.

»Du hast ihn gesehen, oder?« Miriam nickte nur.

»Warum gehst du nicht einfach zu ihm hin? Ich meine, ihr habe euch jetzt wie viel Tage nicht gesehen?«

»Drei«, gab Anna-Lena wehmütig zurück.

»Also?« Miriam bestand auf eine Antwort.

»Nein, besser nicht. Schließlich ist er ja auch nicht alleine hier, oder?« Wieder suchte sie die Tanzfläche nach ihm ab.

»Nein, da hast du recht.«

»Außerdem wollte er es doch auch so und ich habe eigentlich keinen Grund ihn wiederzusehen.« Miriam lachte kurz.

»Klar doch.«

»Was klar doch?« Hatte Anna-Lena echt noch nicht gemerkt, dass sie bis über beide Ohren in den Typen verschossen war? Manchmal zweifelte Miriam echt an dem Verstand ihrer Freundin.

»Nichts, ist schon okay. Wenn du nicht willst, ist das ja auch deine Sache.« Aufmunternd lächelte Anna-Lena ihr zu.

»Sollen wir tanzen?« Miriam nickte. Alles war besser als in das traurige Gesicht der Freundin zu sehen.

Anna-Lena hatte sich absichtlich ein schnelles Lied ausgesucht, um ihre Gefühle einfach raus tanzen zu können. Schreien wollte und konnte sie hier nicht, auch wenn das wahrscheinlich keinen gestört hätte.

Sie bewegte sich ausgelassen zur Musik, schloss die Augen und vergaß wenigstens einen Moment lang alles um sich herum. Bis sie mit jemandem zusammenstieß und sich bei ihm entschuldigen wollte. Und zwar bei keinem anderen als ... Leo.

»Entschuldigung«, bekam sie nur heraus, und sah ihm verlegen ins Gesicht.

»Keine Ursache.« Er lächelte kurz, bis seine Begleitung an ihn herantrat.

»Kennst du die Kleine?« Leo verdrehte genervt die Augen und wollte ihr gerade antworten, doch Anna-Lena war schneller.

»Nein, wir kennen uns nicht.« Sie lächelte der Blonden kurz zu und drehte sich zum Gehen. Miriam sah ihr an, dass sie kurz vor dem Heulen stand, und verstand echt nicht, warum sie noch immer nicht auf den Trichter gekommen war, dass sie Leo mochte. Doch weit kam sie nicht. Leo warf ihr einen bösen Blick zu und zog die verdatterte Anna-Lena zu sich zurück.

»Doch wir kennen uns und das brauchen wir auch vor keinem zu verheimlichen.« Aus zusammengekniffenen Augen sah er Anna-Lena an, die ihn sofort sauer anfunkelte.

»Ach und was stellt sie dar? Deine kleine Schwester vielleicht.« Die blonde Frau verschränkte sauer die Arme vor der Brust und baute sich kampflustig auf. Anna-Lena wollte gerade etwas erwidern, doch dieses Mal war Leo schneller als sie.

»Nein, sie ist meine Freundin.« Demonstrativ legte er ihr einen Arm um die Schultern, ihre leichte Gegenwehr beachtete er nicht und zog sie zu sich heran. Die Blondine schnappte kurz nach Luft und stierte ihn erbost an, während Anna-Lena ihm aufgebracht einen Rippenstoß verpasste und Miriam drauf losprustete.

»Was soll das, fängst du schon wieder mit dem Mist an?«, protestierte Anna-Lena energisch.

»Welcher Mist?« Die Blonde sah sie fragend an.

»Verdammt, Leo, sag ihr, dass das nicht stimmt. Also er gibt nur ...«, setzte sie zu einer Erklärung an, doch Leo ließ sie nicht ausreden, sondern zog sie noch dichter zu sich heran, beugte seinen Kopf herunter und verschloss so schnell ihren Mund mit seinem, dass sie nicht rechtzeitig reagieren konnte. Miriam legte sich die Hände auf den Mund, bevor sie laut aufschreien konnte, und freute sich einen Wolf. Die Blondine stand vor ihnen mit heruntergeklappter Kinnlade und Anna-Lena hing geschockt in Leos Armen. Bis sie kapierte, was hier gerade geschah, dauerte es einen Moment. Erschrocken stöhnte sie leise auf und prügelte plötzlich wie eine wildgewordene Furie auf seinen Rücken ein. Leo hielt es eine ganze Zeit lang aus, vielleicht hatte er das auch verdient, doch irgendwann hielt er ihre Arme fest und sein Kuss wurde intensiver, jedoch wehrte sie sich noch immer. Bis er seine Zunge wieder ins Spiel brachte und Anna-Lena ihre Gefühle endgültig nicht mehr kontrollieren konnte. Erst nachdem sie anfing, den Kuss zu genießen, ließ Leo wieder von ihr ab. Beide standen atemlos voreinander und sahen sich sprachlos an. Er hatte schon viele Mädchen geküsst, auch die Blonde hinter ihm schon, aber das war alles kein Vergleich. Und auch Anna-Lena sah in diesem Moment nicht gerade danach aus, als hätte sie das schon einmal erlebt. Doch auf einmal tauchte sie aus dem Meer ihrer Gefühle auf, zitterte am ganzen Leib und rannte wie bescheuert aus der Disco. Die Leute, die sie währenddessen anrempelte, beschimpften sie, doch das bekam sie nicht mehr mit. Sie war sauer und überrascht gleichzeitig. Dass er ihr das schon wieder angetan hatte und vor allem sie es auch noch genossen hatte, war zuviel für sie und sie rannte wie in Trance immer weiter. Bis sie schließlich jemand am Arm festhielt und an sich zog. Sie hörte das Herz desjenigen wild schlagen und ihn schwer atmen. Leo war ihr nachgelaufen, doch genau den wollte sie jetzt nicht sehen.

»Lass mich los«, schrie sie ihn an und trat nach ihm.

»Verdammt, Anna-Lena, lass es mich erklären.«

»Ich will nichts hören, lass mich einfach in Ruhe.«

»Nein, ich lass dich nicht gehen, bevor du mir zugehört hast.« Energisch schüttelte er sie, um sie zu Verstand zu bringen, was schließlich auch Erfolg zeigte. Er sah in ihr verheultes Gesicht und sein Herz zog sich auf der Stelle schmerzlich zusammen.

»Jetzt red schon, damit ich endlich gehen kann«, schrie sie ihn wieder an und riss sich von ihm los. Sie stand wie ein kleines trotziges Kind vor ihm und schlagartig wurde ihm klar, dass es besser wäre, seine Gefühle für sich zu behalten. Auch wenn er sich dafür wie ein Arschloch verhalten musste. Er schluckte hart, bevor er zu erklären begann.

»Ich habe eigentlich gedacht, dass unsere kleine Abmachung noch gilt, aber da habe ich wohl etwas überreagiert. Es tut mir leid und es wird mit Sicherheit nie wieder vorkommen.« Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. Anna-Lena lachte ungläubig auf.

»Etwas überreagiert? Du hast mich vor allen Leuten geküsst, Leo. Und mich wahrscheinlich gerade wie eine kleine verheulte Göre aussehen lassen. Ich hasse dich und ich will dich nie wiedersehen«, gab sie lautstark von sich, spuckte ihm ins Gesicht und rannte davon. Leo blieb stehen, sah ihr nachdenklich hinterher und wischte sich ihre Spucke aus dem Gesicht. Auch das hatte er verdient und noch so vieles mehr. Doch das Schlimmste, was er sich gerade selbst antun konnte, war sie gehen zu lassen. Er musste echt nicht bei klarem Verstand sein. Wie kam er auf die glorreiche Idee, ihr sagen zu wollen, dass er sich in sie verknallt hatte? Nur gut, dass er sich noch bremsen konnte. Sie und er, dafür gab es keine Zukunft. Er wollte gerade zurück und drehte sich um, als er in Miriams böses Gesicht blickte. Leo atmete genervt aus.

»Weißt du eigentlich, was du ihr damit antust? Du hast bestimmt schon gemerkt, dass sie dich liebt, oder lebst du genauso hinter dem Mond?«, raunte sie ihn böse an.

»Quatsch.« Er wedelte mit den Händen.

»Nein, Leo, nicht quatsch. Ihr beide seit echt total behämmert, wisst ihr das?« Miriam ließ ihn einfach stehen. ›Jetzt hat er wenigstens mal was zum Nachdenken‹, knurrte Miriam in sich hinein.

Leo blieb mit einer Erkenntnis, die er viel zu spät realisierte, wie angewurzelt alleine zurück.

 

 

 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752109900
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Patchwork erste Liebe bad boy young adult Romance Familie Kinderbuch Jugendbuch Liebesroman Liebe

Autor

  • Bianka Mertes (Autor:in)

Bianka Mertes wurde im Jahr 1968, in Unkel am Rhein, geboren. Sie ist verheiratet und stolze Mutter von vier Kindern. Das Schreiben war Anfangs mehr als Hobby gedacht, doch nach und nach entdeckte sie die Liebe daran. Ihr erstes Buch, „Jonathan das Fuchskind“, schrieb sie für Ihren Erstgeborenen, als der zwei Jahre alt war. Mit der Zeit schrieb sie weitere Kurzgeschichten für Kinder, Romane und schließlich zum guten Schluss ihr neusten Werke „Die Patchwork hoch“ Reihe und „Sprouts“