Als ich zurückkehrte, war der Mann an der Laterne verschwunden. Doch selbst wenn er noch dort gewesen wäre, hätte er mich höchstwahrscheinlich nicht erkannt. Ich war ein anderer Mensch.
Um meinen Kopf schwang ein voluminöser Wust aus Haaren. Meine Friseurin Babsi hatte mir außerdem ein paar bronzefarbene Highlights gesetzt, die mein Haar in Californiablond schimmern ließen. Auf dem Rückweg durch die Bergerstraße hatte ich in den Scheiben der Schaufenster mein Spiegelbild nicht auf Anhieb gefunden. Was hatte ich getan? Ich sah aus wie ein Vamp und nicht wie die schüchterne Valerie, die ich war. Außerdem roch ich ganz ungewohnt. Als wäre die Frisur noch nicht genug Veränderung, hatte Babsi mir ein blumig-frisches Parfum aufgeschwatzt, das mich umgab wie eine Wolke.
Eilig erklomm ich die Stufen zu meiner Wohnung und klingelte bei Rosina. Wenn sie Klienten behandelte, stellte sie die Glocke aus. Doch jetzt vernahm ich das Bimmeln überdeutlich, und kurz darauf erklangen Rosinas barfüßige Schritte.
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah mich an, als sähe sie einen Geist. Dann griff sie sich an die Brust und hauchte: »Ach, du bist! Dachte ich, wer ist Frau, aber kenne ich.«
Ich schlängelte mich an ihr vorbei in ihre Wohnung und ließ mich kurz darauf an ihrem Küchentisch auf einen Stuhl plumpsen. In vollkommen ungewohnter Weise floss Haar über meine Schultern. Rosina strich mir über die Löwenmähne und schnupperte an mir. »Parfum ist auch neu. Riecht gut.«
Ich seufzte vernehmlich. »Was tut man nicht alles für einen Neustart.«
»Neustart?« Rosina sah mich fragend an. »Mit Erik?«
Ich zog einen Flunsch. Wann begriff sie es endlich?
»Hast du in letzter Zeit eigentlich etwas gehört von ihn?«, fragte sie weiter.
»Wieso?«
»Hast du oder hast du nicht?«, beharrte sie.
»Er hat mich vorhin angetextet.« Ich zeigte mit dem Finger auf sie. »Und zwar deinetwegen.«
Meine Nachbarin sah mich erstaunt an. »Warum das?«
»Wegen diesem Typen, der dich verfolgt. Ich habe ihn übrigens auf der Straße gesehen. Und mit ihm gesprochen.«
»Wirklich? Was hat er gesagt?«
»Dass du ihm etwas schuldest.« Ich sah sie herausfordernd an. »Was denn genau? Kann man einander aus einem früheren Leben etwas schulden?«
»Natürlich kann man.«
»Und jetzt erpresst er dich? Droht er damit, dich nicht in Ruhe zu lassen, solange du nicht zahlst?« Der Mann war wohl weniger ein Stalker, als ein Erpresser.
Rosina sah mich an, als würde sie gleich platzen. Als kämpfe sie mit sich, ob sie mir Näheres erzählen sollte, oder nicht. Aber sie kannte ja meine Einstellung bezüglich Rückführungen. Da war es aus ihrer Sicht wohl klüger, keine Details zu nennen.
»Jetzt sag schon«, drängte ich.
Doch Rosina presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Tränen traten in ihre Augen. »Es geht nicht um Geld.«
Beruhigend streichelte ich ihr über den Arm. »Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir drei uns mal zusammensetzen, um die Sache aufzuklären. Was auch immer du ihm schuldest, du müsstest es ihm einfach nur geben, und schon lässt er dich wieder in Frieden.«
Rosina strich sich die Tränen aus den Augenwinkeln, dann meinte sie: »Und Erik – hat er dir etwas anderes auch noch gesagt?«
Sie meinte sicher seine neue Freundin.
»Er hat geschrieben, dass er jemanden kennengelernt hat, richtig. Aber falls du annehmen solltest, dass mich das aus der Bahn wirft, dann täuschst du dich. Ich freue mich für ihn. Soll er glücklich werden mit seiner Neuen. Ich hoffe für ihn, dass sie eine kletterbegeisterte und sportliche Frau ist, die seinen Ansprüchen genügt, und vor allem: dass sie keine Romane schreibt. Vor allem nicht über ihn.«
»Hast du nach Foto gefragt?«
Ich lachte. »Von seiner neuen Flamme? Nein – wozu?«
Rosina verschwand im Flur, kehrte kurz darauf mit ihrem Smartphone zurück. Sie setzte sich wieder zu mir.
»Guckst du hier«, meinte sie und tippte aufs Display, »habe ich Foto von die Frau.«
Abwehrend hob ich beide Hände, doch schon hielt Rosina mir das Gerät unter die Nase.
Ich schnappte nach Luft. Eine langhaarige Blondine. Ihr dickes Haar fiel ihr voluminös über die Schultern. Genau wie meines.
Unsicher sah ich zu Rosina. »Du machst Witze.«
»Ich glaube, wer macht Witz, bist du.«
Verzweifelt fasste ich mein neues Haar im Nacken zu einem Zopf zusammen. »Ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung, wie diese Frau aussieht! Du kannst Susa fragen, als ich das letzte Mal bei ihr war, habe ich ihr schon von meinen Plänen, zum Friseur zu gehen, erzählt!«
Meine Nachbarin schnalzte mit der Zunge. »Wie du weißt, ich glaube nicht an Zufall. Du hast gemacht wegen Unterbewusstsein. Vielleicht Erik hat dir mal erzählt, dass er gerne hätte Frau mit lange blonde Haare. Du hast gezählt eins und eins und dann du hast so gemacht. Weil du willst ihm zurück.« Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Bist du ehrlich zu mir, Valeria, ich habe recht, stimmt?«
»Nein!«, rief ich abermals. Dabei fühlte ich mich wie ein Kind, das trotz verschmierten Schokomundes behauptete, es hätte nicht genascht. Und mir fiel siedend heiß ein, dass die Bad Gasteinerin Josefin auch so eine Mähne gehabt hatte wie ich seit neuestem. Spielte mein Unterbewusstsein mir etwa doch einen bösen Streich?
Rosina fixierte mich unter zusammengezogenen Augenbrauen, als wollte sie meine Gedanken lesen.
»Na gut«, sagte sie endlich. »Ist ja nicht schlimm, dass du siehst aus wie neue Frau von Erik. Kein Verbrechen ist. Kann jeder machen, wie er will.« Jetzt lächelte sie. »Und steht dir sehr gut.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und klang wieder versöhnt. »Wir schauen mal, ob du vielleicht triffst in Schottland nette Mann, wo dir gefällt und wo mag auch Frau mit solches Haar. Hole ich Tarotkarten.«
Verzweifelt sah ich ihr hinterher. Rosina hatte mir vor Ewigkeiten schon einmal die Karten gelegt, allerdings war nichts Gescheites dabei herausgekommen. Diese Dinge waren ohnehin sehr allgemein gehalten, sodass man aus allem etwas für sich Passendes herauslesen konnte, wenn man nur wollte – so wie bei jeder Art von Religion, wenn man mich fragte. Dennoch blieb ich ergeben sitzen. Die Sache mit meiner Doppelgängerin hatte mich tief getroffen.
Als Rosina sich mit den Karten zurück an den Tisch setzte, schloss sie die Augen, richtete das Gesicht zur Decke. »Was wird erwarten Valerie in Schottland?«, fragte sie in den Raum hinein.
Nun mischte sie die Tarotkarten und legte sie in mehreren Reihen nebeneinander auf den Tisch. Nachdenklich betrachtete sie die verschiedenen Motive, fuhr mit dem Zeigefinger darüber, wandte den Kopf hin und her, setzte sie offenbar in Beziehung zueinander.
Unauffällig tastete ich an meinen neuen Haaren entlang, die sich so ungewohnt dick anfühlten. Ob sie überhaupt noch unter meine Mütze passten? In Schottland würde ich möglicherweise gelegentlich eine tragen müssen. Allein wegen des rauen Windes an der Küste. Ich goss mir einen Schluck von Rosinas Heilwasser ein und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
Meine Nachbarin schaute noch immer zwischen den Karten hin und her und warf mir merkwürdige Blicke zu. Las ich Mitleid darin? Unbehaglich rutschte ich hin und her. Sie würde doch nicht …?
Doch jetzt sah sie wieder positiver drein. »Es wird geben eine Begegnung.« Sie blitzte mich an.
»Davon gehe ich aus«, antwortete ich trocken, »mir begegnen täglich Menschen.«
Sie überhörte meinen Einwurf. »Wird nicht einfach. Mann hat Probleme.«
»Du prophezeist mir einen Mann mit Problemen in Schottland?«
Sie nickte. »Aber wirst du ihn helfen. Alles wird gut.«
Ich schielte auf die Karten, wollte endlich in meine Wohnung zurück, mit Susa telefonieren, sie fragen, ob sie einen guten Friseur kannte, der Haarverlängerungen korrigierte. Zu meiner Friseurin konnte ich damit nicht gehen, das würde sie kränken.
Jetzt stupste Rosina mich an. »Vielleicht du erkennst nicht gleich, was hat er für Sorgen, er spielt nicht mit offene Karten. Aber wirst du noch herausfinden, was ist sein Geheimnis.«
»Das klingt alles wahnsinnig interessant«, erwiderte ich und trank mein Wasser aus, »aber ich muss jetzt wirklich gehen. Und bitte tu mir einen Gefallen: Erzähle Erik nichts von meiner Typveränderung, nicht, dass er sich noch etwas darauf einbildet.
»Aber willst du denn gar nicht wissen, wie geht weiter für dich?«
»Ich lasse mich viel lieber vom Leben überraschen«, entgegnete ich. »Übrigens werde ich garantiert keine Männer in Schottland kennenlernen. Ich möchte viel eher zu mir finden, und zwar ohne Mann.« Eine neue Liebe kam frühestens nach meiner Reise für mich infrage. Wenn ich mit allem abgeschlossen haben würde. Vielleicht würde ich irgendwann bei meiner neuen Arbeitsstelle jemanden kennenlernen.
Ich verabschiedete mich mit einer Umarmung. Mit Blick auf die Tarotkarten auf Rosinas Tisch sagte ich: »Am besten du legst sie dir selbst. Vielleicht findest du heraus, wie du deinen Stalker wieder loswirst.«
Rosina nickte. »Habe ich schon viele Male Karten gelegt wegen ihn. Aber kommt immer heraus selbe.«
»Nämlich?«
»Dass es wäre besser, ich würde sein nicht hier. Aber wo soll ich hin?«
Ich hob die Schultern und wandte mich endlich zum Gehen. »Diese Frage kann ich dir beim besten Willen nicht beantworten.«
Zurück in meiner Wohnung lief ich zu meinem Schlafzimmerfenster und spähte am Käfig meiner zwitschernden Wellensittiche vorbei nach draußen. Matula stand wieder dort. Er war gerade dabei, mit einem Hemdzipfel die Gläser seiner Brille zu reinigen.
Ich fürchtete mich nicht vor diesem Typen, er nervte mich bloß. Ich räumte den Vogelkäfig und ein paar Blumentöpfe beiseite und öffnete das Fenster.
»Hören Sie«, rief ich hinab, »Rosina ist nicht zu einem Gespräch bereit, sie sagt, dass sie Ihnen überhaupt nichts schuldet. Es lohnt sich also nicht, hier herumzustehen. Wenn Sie irgendwelche Rechte geltend machen wollen, konsultieren Sie einen Anwalt.«
Diese Juristen-Sprache verstand einer wie er bestimmt.
Der Mann setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte das Gesicht nach oben. Den nach unten gezogenen Mundwinkeln nach zu urteilen, sah er mich spöttisch an.
Ich schloss das Fenster wieder und schob alles zurück an Ort und Stelle.
»Na meine beiden?«, flüsterte ich Piep und Matz zu, die mich mit schräggelegten Köpfchen beäugten. Die beiden waren im besten Wellensittich-Seniorenalter. Hoffentlich blieben sie mir noch eine Weile erhalten. Ich hatte sie von meiner Großmutter geerbt, und sie waren mir über die Jahre mit ihrem Gezwitscher ans Herz gewachsen. Ich säuberte das Wasser meiner gefiederten Mitbewohner und öffnete die Käfigtür, um ihnen ein bisschen Bewegung zu gönnen. Dann griff ich nach meinem Handy und schickte Susa ein Foto von meinem neuen Ich und sprach ihr eine Sprachnachricht auf, berichtete ihr von Eriks neuer Liebe.
Doch Susa hatte nicht viel Zeit. Sie antwortete mit einem kurzen WOW, sieht super aus und schrieb außerdem: Hier brennt mal wieder die Luft. Ich hoffe, du liest nicht bald von Miri und mir in der Zeitung.
Als ich am Abend ins Bett ging, fühlte es sich an, als läge ich auf einem dickeren Kissen. Um meine Nase schwirrte der Duft des neuen Parfums, das mir tatsächlich gefiel. Es roch frisch und verheißungsvoll.
Ich beschloss, beides noch ein, zwei Tage auf mich wirken zu lassen. Vielleicht gewöhnte ich mich ja an dieses Feeling.