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Dandelia Dorca und der Drachenkönig von Anterra

von Marlies Lüer (Autor:in)
105 Seiten
Reihe: Dandelia Dorca, Band 4

Zusammenfassung

„Irgendwas stimmt hier nicht.“
(Glewlwyd, Wächter von Avalon)

Seit die Avalonier in ihrer neuen Heimat sind, fällt nicht nur dem Wächter Seltsames auf. Die Zufriedenheit ist einfach zu groß, viele geben sich Tagträumereien hin. Selbst der Wächter und Dandelias Familie haben Mühe, ganz in der Realität zu bleiben. Als die ersten Todesfälle auftreten und Leichen spurlos verschwinden, erwacht der Wille zum Widerstand.

Leider richtet sich der Zorn des Volkes gegen den Drachenkönig – und der steckt in Artan, dem kleinen Sohn von Dandelia und Oliver.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

 

Inhaltsverzeichnis

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Es waren ungefähr drei Wochen vergangen seit dem denkwürdigen Tag, als das Volk von Avalon nach Anterra geholt worden war. Hier gab es keine Kalender, keine Uhren. Man lebte von Tag zu Tag. Dara, die Hohepriesterin, hatte sich seit der Ankunft nicht mehr blicken lassen. Gelegentlich statteten die beiden Tempeltöchter den Avaloniern Besuche ab und beantworteten Fragen, gaben Rat, hörten sich Beschwerden an. Dann verschwanden sie wieder. Immer auf dieselbe Art: Harfenklang, leises Grollen– und weg! Wenn sie kamen, war es umgekehrt. Erst das leise Grollen, das von harfenähnlichen Tönen abgelöst wurde – und sie waren da, tauchten wie aus dem Nichts auf. Aber, von wo waren sie gekommen? Und wie? Darüber schwiegen sie sich beharrlich aus.

„Es ist an der Zeit, dass wir etwas unternehmen“, sagte Glewlwyd zu den anderen. „Irgendwas stimmt hier nicht.“ Missmutig starrte er in seinen Becher und schnupperte daran. Doria hatte ihm schon wieder heimlich etwas in den Tee gemischt. Das ist nur zu deinem Besten, mein guter Wächter, hatte sie gesagt, als er sie neulich darauf angesprochen hatte. Das mindert den Groll und schont dein Herz, mein lieber Wächter. Wann hatten die Avalonier eigentlich aufgehört, ihm Respekt zu zollen? Er hatte schließlich schon unter König Artus gedient! Doria schien ihn wie einen eigenen Sohn zu behandeln. Als er ihr vorwarf, ihn in diesem Sinne verhätscheln zu wollen, lächelte sie nur und meinte „eher wie den eigenen Enkel“. Sie sah in ihm also ein Kind! Dabei war er im besten Mannesalter. Hatte er sich jemals kindisch verhalten?

Kyrian, der gemeinsam mit Afalja und Talantha bei ihm am Tisch saß, winkte nur ab und himmelte wie ein verliebter Knabe seine „Jaja“ an. Jaja, sei so gut und sing mir noch ein Lied vor. Jaja-Schätzchen, sei so gut und massiere mir meine Schultern … Dieses Gesäusel ging Glewlwyd mächtig auf den Geist. Der Mann war zu nichts mehr zu gebrauchen! Seit er hier war und sich, bildlich gesehen, bereitwillig in die „Anterra-Hängematte“ gelegt hatte, war er nichts weiter als ein alter Narr, der seinen zweiten Frühling erlebte und seine Ruhe haben wollte. Die Meisten waren hier zufrieden. Sie genossen das ruhige Leben, feierten die neue Heimat, wo alles so leicht und schön war. Man gab ihnen reichlich zu essen, hatte ihnen nette Häuser gebaut – genauer gesagt: wachsen lassen; die Holzhäuser lebten und passten sich ihren Wünschen an – außerdem hatte man ihnen Diener zugeteilt, die fast alle Arbeit übernahmen und sogar Ausflüge in die nähere Umgebung veranstalteten zu den landschaftlichen Sehenswürdigkeiten Anterras. Wer wollte, konnte auch einen kleinen Garten haben. Es war hier wirklich wunderschön und selbst für ein Hexenvolk ausgesprochen „magisch“. Dennoch, er konnte sich nur wiederholen und tat es sogleich: „Irgendwas stimmt hier nicht.“

„Was du immer hast … genieße doch einfach mal den Tag. Mach einen Spaziergang! Oder besuche den Drachenkönig. Vielleicht gewährt er dir eine Audienz!“ Kyrian lachte schallend über seinen Witz. Dass der Wächter sich zurückgesetzt fühlte, weil er seine Führungsposition an ein Kind abgetreten hatte, war allgemein bekannt. Und für Kyrians Geschmack war Glewlwyd immer schon etwas zu martialisch und ernst gewesen. Andererseits – als er damals den Dämon in seine Schranken wies und Artan das Leben rettete, das war wirklich eindrucksvoll! Auch für den Sieg über Chrysantha standen ihm Ruhm und Ehre zu. Aber ansonsten war Glewlwyd wenig brauchbar, fand Kyrian. Der mochte ja nicht mal Karten spielen oder magische Mini-Duelle bestreiten. Das war für den ja nur „Vergeudung von magischen Ressourcen“. Man konnte mit ihm einfach keinen Spaß haben und von Frauen hielt er sich auch fern. Alles in allem nicht der richtige Umgang für Kyrian.

Glewlwyd setzte heftiger als nötig den Steingutbecher auf den Tisch. Talantha schaute ihn wissend und einen Hauch zu mitleidig an. Es reichte dem Wächter. Er brauchte andere Gesellschaft. Jüngere Leute! „In der Tat werde ich jetzt einen Spaziergang machen.“ Er nahm seinen Eichenstab, verließ grußlos das Haus und blieb auf der Dorfstraße stehen, schaute nach allen Seiten. Wohin nun? Egal, wohin. Hauptsache, es sah danach aus, als hätte er ein konkretes Ziel. Der Wächter folgte dem Weg an der wasserbetriebenen Mühle vorbei, wo in einem Nebengebäude Getreide lagerte. Eine Schar halbwilder Katzen hielt die Gegend mäusefrei. Unwillig schüttelte Glewlwyd seinen Kopf. Anterra! Anderer Planet! Alles Unsinn. Es gab die Erde, den Mond und die Sonne. Dazwischen viele Sterne am Himmel, die man in der Nacht sehen konnte. Und sonst nichts. Natürlich waren sie immer noch in ihrer eigenen Welt. Bloß, dass diese Ecke hier durch und durch magisch war. Die Erde war groß! Vielleicht war dies einfach nur ein unentdecktes Land. Ebenso wie sein Avalon, verborgen vor der restlichen Welt. Ja, so musste es sein. Alles andere wäre … durch und durch beängstigend. Glewlwyd wehrte sich vergeblich gegen die Erinnerungen, die schon wieder in seinem Geiste wichtigtuend aufstiegen. Er hatte natürlich die Entwicklung der Welt von Zeit zu Zeit mitverfolgt, immer, wenn er sich einem seiner Träger besonders nahe fühlte und sich fast an die Oberfläche dessen Bewusstseins wagte und die Welt durch seine Augen betrachtete. Daher wusste er von der Mondlandung. Diese Amerikaner waren doch größenwahnsinnig! So weit hinaus zu fliegen! Und, dass sie lebend heimgekehrt waren, konnte er sich nur damit erklären, dass die Götter ihre schützende Hand über die Mondreisenden gehalten haben mussten. Vielleicht war auch ein Zauberer mitgeflogen, von dem er keine Kenntnis hatte. Es mochte andere Blutlinien geben, andere Blutreisende, wie er selbst einer war. Nie hatte er davon gehört, dass es bewohnbare andere Erden gab. Wie er vorhin schon gesagt hatte: Irgendwas stimmt hier nicht! Unbewusst wiederholte er hörbar diese Worte und ballte seine Fäuste. Niemals würde er der Hohepriesterin glauben, dass er und sein Volk in einem winzigen Moment den ganzen Sternenraum durchquert hätten, bis hin zu einer anderen Erde, einem anderen Planeten. Nein, das konnte nicht sein. Sie hätten doch unterwegs ersticken müssen, so ganz ohne Luft! Oder, sie wären blitzartig erfroren. Er wünschte, er hätte damals besser zugehört, mehr gelernt, mehr Interesse an der neuen Zeit gehabt. Glewlwyd hätte sich jetzt am liebsten wie ein nasser Hund geschüttelt, all diese lästigen Gedanken und Ängste abgeschüttelt wie gewöhnliche Nässe. Doch da er noch in Sichtweite der Siedlung war, riss er sich zusammen und beschleunigte stattdessen seine Schritte. Er hatte jetzt auch ein Ziel gefunden: die Bergkette! Es war noch früh genug, bis zum Abend würde er wieder zurück sein, wenn er die Entfernung richtig abschätzte. Er folgte dem Bachlauf, denn er vermutete dessen Quelle oben in den Bergen. Gegen Mittag, als die Sonne ihr Bestes gab ihn auszudörren, bereute er seine spontane Wanderschaft, denn sein Magen knurrte und der Schweiß floss wie der Bach, der neben ihm ins Tal rauschte. Wenigstens musste er nicht dürsten, denn das Wasser war sauber und schmeckte vorzüglich. Zu seiner Freude fand er am Ufer etwas Brunnenkresse und erfrischte sich mit dieser Speise. Wenn er außer Acht ließ, dass er hierzulande irgendwie überflüssig und ohne Aufgabe war, nichts bewachen oder schützen konnte, nicht mal ein lumpiges Tor, dann war es hier eigentlich ganz nett. Die Landschaft war ebenso lieblich wie einst in Albion. Nur mit dem Unterschied, dass er hier Einhörner zu sehen bekam. Sein Herzschlag beschleunigte sich vor Freude. Eine kleine Herde dieser herrlichen Geschöpfe graste friedlich unter einer Baumgruppe, gar nicht weit entfernt von ihm. Er stützte sich auf seinen langen Wanderstab und schaute ihnen mit verklärtem Lächeln zu. Seine Großmutter hatte ihm Märchen von gütigen Einhörnern erzählt, als er noch ein kleiner Junge war. Auch von anderen Fabelwesen. Wie sehr er das genossen hatte! Für einen kurzen Moment, der von einem leisen, schmerzlichen Ziehen in der Herzgegend begleitet wurde, wünschte er sich Enkelkinder, damit er die Geschichten weitergeben konnte. Glewlwyd malte sich aus, wie er mit seinen Enkeln einen kleinen Ausflug unternehmen würde – wieso Enkel, er wollte eigene Kinder! Genau hierher, um dann wahrhaftige Einhörner mit Rosenblättern zu füttern, sie zu streicheln … Moment! Vielleicht wäre das ein Fehler? Er musste erst erkunden, ob sie im echten Leben harmlos oder gefährlich waren. Nanas Märchen hin oder her – bei ihr waren die gehörnten Pferde immer gutmütige Geschöpfe gewesen – doch hierzulande mochte ihr Wesen anders geartet sein. Also setzte er sich in Bewegung, hielt auf sie zu. Sein Wanderstab hatte unterdessen kleine, frische Zweige ausgetrieben, was er gar nicht beabsichtigt hatte, aber der Anblick gefiel ihm; zeigte es doch, dass er immer noch in Saft und Kraft war, als Zauberer und als Mann. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er zwei Fohlen entdeckte, die bis zu diesem Moment von ihren Müttern und Tanten verdeckt gewesen waren. Zauberhaft! Doch der schöne Anblick wurde schnell Vergangenheit, denn ein Bergtroll schlich sich an. Sein säuerlicher Gestank war bis hier zu riechen. Glewlwyd sah nur die spitzen Ohren und die struppige Haartracht des Unholds, denn das Gras wuchs hoch und verdeckte ihn fast völlig. Glewlwyd rannte los, den Stab erhoben und er brüllte, so laut er nur konnte. Die Einhornherde schreckte auf, muhte laut und ging über in eine halsbrecherische Flucht, denn sie fühlten sich nun von zwei Seiten bedroht. Der Troll hatte jetzt seine Deckung aufgegeben und lief ihnen hinterher. Ein Jungtier stürzte. Glewlwyd fühlte Angst um das zarte Fohlen, das nicht schnell genug wieder auf den Beinen war. Jetzt war er endlich nahe genug, um einen schmerzlichen Energiestrahl auf den Troll zu werfen. Leider verfehlte er ihn, denn als er in den Matsch trat, der sich als frischer Kuhfladen entpuppte, war es aus mit seiner Konzentration. Fassungslos schaute Glewlwyd auf seine nunmehr verdorbenen, stinkenden Schuhe. Müssten Einhörner denn nicht äppeln wie Pferde? Und … allem anderen voran: Und wieso muhten sie wie Kühe? Des Wächters Atmung beschleunigte sich mehr und mehr. Zu spät! Der Troll hatte das Fohlen fest im Griff und biss ihm die Kehle durch. Warmes Blut lief ihm übers Kinn, als er mit einem Stein nach dem Wächter warf und einen schrillen Warnschrei ausstieß – das hier war seine Mahlzeit, seine! Glewlwyd sah ihm in Verwirrung hinterher, wie der mit großer Kraft das tote … Kalb hinter sich her schleifte. In einiger Entfernung kam die Herde wieder zum Stehen. Weiße Kühe. Mit je zwei weißen Hörnern, die in der Sonne glänzten. Der Wächter starrte sie fassungslos an. Aber er hatte doch Einhörner gesehen! Glewlwyd trat einige Schritte zurück, bewegte seine Füße schleifend durchs Gras, um den gröbsten, braungrünen Dreck abzuwischen. Unschlüssig blieb er stehen, schaute zwischen der Rinderherde, die sich nun langsam beruhigte, und dem Troll, der seine Beute bergauf brachte, hin und her. Eine Kuh muhte klagend ihre Trauer und Angst in die Welt. Der Mann fühlte sich plötzlich fehl am Platze. Er hatte die Lust am Wandern verloren. Die Berge konnten ihm fürs Erste gestohlen bleiben. Und Nanas Einhörner auch!

Irgendwas stimmte hier nicht! Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht und stank förmlich zum Himmel.

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Als Glewlwyd erschöpft und aufgewühlt ins Dorf zurückkam, sah er auf dem Hauptweg als erstes Dondarth, Morrans Sohn, ihm gegenüber stand eingeschüchtert der kleine Artan. Er hatte es befürchtet, dass es zu einer Konfrontation kommen würde, jetzt, wo sie wieder alle vereint unter einem Himmelszelt lebten. Dondarth, der nur sehr einfache Zauber zustande brachte und unter diesem Versagen seit je her litt, hielt einen Gegenstand in der Hand, bereit zum Wurf. Der Wächter vermutete einen Stein, aber es mochte auch ein magisch komprimiertes Wespennest sein – ihm war vieles zuzutrauen an Gemeinheiten, denn sein Charakter war ebenso verdorben wie der seines Vaters, den Glewlwyd im Zweikampf besiegt und unter die Erde gebracht hatte. Wobei, wenn man es genau nahm, hatte Morran sich selbst in die Tiefe gestürzt. Das Ergebnis war allerdings dasselbe.

Der 25jährige versperrte Artan den Weg, seine körperliche Überlegenheit ausnutzend. Er trat einen Schritt vor und stupste Artan kräftig, so dass dieser zurücktaumelte.

„Du schon wieder! Du Bastard machst nichts als Ärger und bringst Unglück. Ich sag dir eins: Bei der nächsten Gelegenheit, wenn ich dich außerhalb des Dorfes erwische, dann töte ich dich. Ich bringe zu Ende, was mein Vater angefangen hat. Verlass dich drauf.“

Glewlwyd wollte eben Dondarth mit einem Windwirbel zu Fall bringen, hatte die Hände schon erhoben und das richtige Wort auf der Zunge – aber Artans Drache sprang jetzt, aus einem Nebenweg kommend, zwischen Angreifer und Kind. Wütend fletschte er die Zähne und ließ ein bedrohliches Grollen hören. Seine Krallen strichen erregt über die Pflastersteine. Der goldene Stirnreif wechselte über vom Drachen zum Kind und einen Atemzug später stand der Drachenkönig auf dem Weg. Artan wirkte sofort größer und älter, seine machtvolle Aura versetzte Dondarth in große Angst. Er war schon immer ein Feigling gewesen.

„Denk immer daran, du bist jetzt mein Untertan. Wenn du dem Kind Artan ein Leid zufügst, dann greifst du auch deinen König an. Glaub mir, das würde dir nicht gut bekommen. Ich habe keine Probleme damit, dich zu deinem Vater zu schicken. Möchtest du gern bei lebendigem Leibe begraben sein? Oder soll mein Drache deinen Kopf abbeißen? Nein? Dann reiß dich zusammen und gehe dem Kind aus dem Weg. Ebenso seinen Eltern und deren Schulterdrachen. Höre ich auch nur die geringste Klage über dich, egal von wem, egal weswegen, wird die Konsequenz hart sein. Ich dulde keine Kerle wie dich: Dumm, grausam und hinterhältig. Das ist die erste und letzte Warnung. Verstanden?“

Mit hasserfülltem Gesicht wandte Dondarth sich um und lief davon.

Glewlwyd wich ihm geschickt aus, um nicht überrannt zu werden und wandte sich wieder dem Drachenkönig zu. Respektvoll neigte er sein Haupt. Auch ein König in der Gestalt eines Knaben war ein König! „Ich wollte gerade einschreiten und Artan beschützen, aber dann kam der Drache mir zuvor. Darf ich einen Vorschlag machen?“

Der Drachenkönig nickte, merkwürdigerweise tat der Drache genau dasselbe. Glewlwyd sah das Tier erstaunt an. War der Geist des Anterraners etwa gleichzeitig im Jungen und im Drachen?

„Ich werde mit dem Rat darüber sprechen, ob wir nicht besser Dondarth einer endgültigen Persönlichkeitsveränderung unterziehen. Ähnlich, wie wir es mit Olarion gemacht haben.“

„Der Rat in seiner alten Form existiert nicht mehr. Hier herrschen andere Mächte. Aber besprecht Euch ruhig, Ihr und Eure Vertrauten. Ich werde es als eine interne Angelegenheit der Avalonier betrachten, zumal ich über einen Olarion keine Kenntnisse habe. Ich weiß über Euch nur, was das Kind Artan weiß. Es ist nicht mein oberstes Ziel, Dondarth zu töten, sondern den Träger meines Geistes zu schützen. Ich werde gleich wieder überwechseln. Erklärt Artan bitte, weshalb er eben von dem Dreckskerl bedroht worden ist und wie er sich verhalten soll, bis Ihr die Sache geklärt habt. Ich ziehe mich jetzt zurück, Wächter Avalons. Gehabt Euch wohl.“

Mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen schaute Glewlwyd zu, wie der Stirnreif übergangslos zum Laufdrachen wechselte und aus dem König wieder ein normaler, kleiner Junge wurde, der aufatmete, als er Glewlwyd sah.

„Wächter! Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Hier war eben ein böser Mann, der mich umbringen wollte. Ist er wirklich weg?“

„Keine Sorge, mein Kleiner. Wir werden uns um den kümmern. Ich weiß, wer das ist. Der wird dich kein zweites Mal bedrohen, das verspreche ich dir.“ Glewlwyd strich dem Kind freundlich über den Kopf und setzte ihn mit Schwung auf den Rücken des Drachen. „Gehe vorerst nicht mehr alleine nach draußen, nur in Begleitung Erwachsener.“

„Was hat er denn gegen mich?“

„Weißt du noch, damals auf Avalon, wie der Separatist Morran dich entführt hat und dem Dämon opfern wollte? Dondarth ist sein Sohn. Im Grunde ist er wütend auf mich, aber er ist auch ein Feigling, der seine Wut lieber an einem Schwächeren auslassen will. Vermutlich wollte er dir vor allem Angst machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich wirklich töten will. Er muss doch wissen, dass mit dieser Tat auch sein eigenes Leben verwirkt wäre. Doch nun, ab nach Hause zu deinen Eltern! Sag ihnen, ich komme heute Abend noch vorbei und spreche mit ihnen darüber.“

Glewlwyd versetzte dem Drachen einen kleinen Klaps, woraufhin dieser sich in Bewegung setzte. Als er sich umwandte, um ins Haus des Rates zu gehen, wo er sich frischmachen und etwas stärken wollte, fiel ihm ein, dass er im Grunde eben dem Drachenkönig einen Klaps versetzt hatte. Oha.

 

***

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„Wir müssen reden.“

Kyrian setzte zu einer flapsigen Bemerkung an, merkte dann aber, dass Glewlwyd noch ernster als sonst aussah, geradezu finster. Irgendwas musste vorgefallen sein. „Was ist passiert? Du siehst elend aus, als wärest du in Trollscheiße getreten.“

Der Wächter erstarrte und blickte auf seine Schuhe. Wortlos zog er sie aus, ging vor die Tür und warf sie in die Mülltonne und die Socken gleich hinterher.

„So war das aber nicht gemeint“, sagte Kyrian, als Glewlwyd das Haus wieder betreten hatte. „Obwohl …“

„Kuhfladen. Ich bin in Kuhfladen getreten, obwohl es Einhorndung hätte sein müssen, und was den Troll angeht, liegst du gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt, alter Mann. Habt ihr noch was vom Abendessen übrig?“

Kyrian klatschte in die Hände. Sofort kam eine Dienerin herbeigeeilt. „Essen und Trinken für Avalons Wächter!“, befahl er großspurig und schaute den Heimkehrenden erneut skeptisch an. Einhörner?

„Ich finde, du solltest die Anterranerin nicht so umherscheuchen. Ich hätte mir auch selber was aus der Küche holen können. Wollte doch nur wissen, ob was übrig ist. Sind die Frauen da? Wir müssen reden.“

„Das sagtest du eingangs. Ich werde sie holen, sie sind bei Dandelia und Oliver.“

„Nein, hol sie nicht! Das ist perfekt. Genau dort wollte ich mit euch allen hin. Bitte geh schon mal vor, sie sollen alle dableiben. Ich komme hinterher, wenn ich gewaschen bin und einen Happen gegessen haben. Artan ist eben von Dondarth ernsthaft bedroht worden.“

„Was?“ Kyrian erstarrte für einen Moment. Die Vorstellung war schrecklich. „Das ist ja, also, da fehlen mir die Worte! Ich werde sofort hinübergehen. Geht es dem Kind gut?“

„Ja. Der Drache ist rechtzeitig eingeschritten, sonst hätte ich es getan. Nun geh bitte, damit alle an einem Ort bleiben, sie sollen auf mich warten.“

Glewlwyd eilte in das Wasch- und Badehaus, das der Mittelpunkt der vier umliegenden Häuser war. Dort lag auch frische Kleidung in verschiedenen Farben und Schnitten für jedermann aus, die er nach dem kurzen Bad eilig anzog. Das Oberhemd, weich wie Rehleder, war ihm etwas zu groß. Mit einem kleinen Zauberspruch passte er es seinem Körper an. Wenn er nicht seit einiger Zeit das unbestimmte Gefühl hätte, dass hierzulande etwas im Busche war, dann würde er sich hier richtig wohlfühlen können. Für alles war gesorgt, es gab keinerlei Mangel an wichtigen Dingen. Doch – was hatten die Anterraner davon, sie derartig freigebig und großzügig zu versorgen? Der Gedanke verflüchtigte sich im Knurren seines Magens. Seit dem Morgen hatte er nichts gegessen außer Brunnenkresse. Und so eilte er erneut barfuß über den Hof, zurück in das Gemeinschaftshaus von Kyrian, Afalja, Doria und Talantha. Sein eigenes, wesentlich kleineres Haus, zwei Wege weiter gelegen, suchte er meist nur zum Schlafen auf. Auf dem Tisch fand er eine Schüssel mit Gemüseeintopf vor, dazu gab es eine Scheibe Brot. Es duftete so unwiderstehlich, dass Glewlwyd sofort davon abbiss. Diese krosse Kruste! Herrlich! Fast schon gierig schaufelte er sich die Suppe rein, aber schließlich war hier niemand außer ihm … Moment, die Dienerin! Wo war sie? Er lauschte, hörte aber kein Geräusch außer dem sehr leisen Rascheln und Knatschen, wenn das Holz wieder mal „arbeitete“. Ihm kam der Gedanke, dass es ein interessantes Experiment wäre, sich mit dem Haus geistig zu verbinden, denn irgendeine lenkende, denkende Entität musste doch dahinterstecken. Doch das war jetzt nicht wichtig. Es galt, das Kind zu schützen. Das einzige Kind, das die Avalonier derzeit hatten. Es hatte viel zu lange keine Schwangerschaften mehr gegeben. Hastig löffelte er die Schale leer, trank den letzten Rest Brühe direkt aus der Schale und stellte sie mit Schwung auf den Tisch. Vermutlich würde das Geschirr sauber und trocken im Küchenregal stehen, wenn die Bewohner zurückkamen, obwohl es den Anschein hatte, dass die Dienerin sich längst zurückgezogen hatte. Wohin eigentlich? Auch dies hatte Zeit, er setzte dieses Rätsel auf seine innere imaginäre Liste und machte sich endlich auf den Weg ins hellblaue Nachbarhaus, das die Familie Jones mit Nora und Balian Dorca bewohnte. Die Haustür war nur angelehnt. Glewlwyd klopfte dennoch kurz an und trat ein. Die lebhafte Diskussion verstummte, als er in den Wohnraum kam. Alle Augen richteten sich auf ihn, nur Artan spielte seelenruhig mit den Katzen und Drachen und tat so, als ginge ihn das alles gar nichts an. Kein gutes Zeichen, er stand wohl doch unter Schock.

„Bitte, nimm Platz. Danke, dass du gekommen bist“, sagte Oliver und deutete auf einen leeren Stuhl. Doria, Kyrian, Afalja und Talantha hatten sich auf die gepolsterte Holzbank unter dem Fenster gequetscht und sahen aus wie drei Hühner und ein Hahn auf der Stange. Oliver und Dandelia saßen auf Stühlen am Esstisch, einen freien nahm nun der Wächter in Beschlag.

„Wir können offen reden“, begann Doria. „Talantha und ich haben Artans Erinnerung an den Vorfall gelöscht und ihn für eine Weile geistig verschlossen. Er kann frei agieren, wird aber nicht mitbekommen, worüber wir jetzt reden.“

„Gut.“ Glewlwyd nickte grimmig, denn die Wut auf Dondarth stieg in ihm wieder hoch. Offenbar ging es Dandelia nicht anders, auch Oliver sah zu allem entschlossen aus.

„Und ich sage nochmals: Lasst mich gehen und ich schaffe das Problem auf die gute, alte Art aus der Welt. Niemand bedroht mein Kind und kommt ungestraft davon.“

Der Wächter Avalons verstand sofort, was sie damit meinte. „Das kommt gar nicht infrage, dass du dir deine Hexenfinger an dem Mistkerl schmutzig machst. Ich weiß, es ist euer gutes Recht, ihn zu einem Duell zu fordern, aber …“

„Wer sagt denn was von Duell? Ich will ihn umbringen. Und ich hätte es auch schon getan, wenn die anderen mich nicht an den Stuhl gefesselt hätten.“

Glewlwyd blickte überrascht in die Runde. „Stimmt das?“

„Na und wie, verlass dich drauf. Unsere Kleine hier kann sich nicht vom Fleck rühren“, sagte Talantha gelassen. „Und mit Oliver machen wir es genauso, wenn nötig“, ergänzte Afalja. Kyrian ließ ein tiefes, zustimmendes Brummen hören. „Ihr wäret nicht viel besser als Dondarth, wenn ihr euch zu einem Mord hinreißen lasst. Eurem Jungen ist nichts geschehen.“

„Aber es hätte sein können! Wenn nicht der Drache hinterhergelaufen wäre … dann, dann … ich kann es nicht aussprechen! Warum verteidigt ihr Dondarth?“, rief Oliver wütend.

„Das tun wir ganz und gar nicht. Wir beschützen euch vor euch selbst.“

„Glaubt uns, der Mann kommt nicht ungestraft davon“, sagte Glewlwyd. „Wir haben die feste Absicht, ihn zu depersonalisieren, ähnlich, wie wir es damals mit Olarion getan haben. Olarion ist nun ein geachteter avalonischer Bürger, dessen größter Wunsch es ist, der Gemeinschaft dienlich zu sein.“

„Und was ist, wenn was schiefgeht dabei? Wenn er doch unterschwellig seine Mordlust behält?“ Dandelia rang nach Luft. Die Angst schnürte ihre Atemwege zu. „Artan wird nie völlig sicher sein.“

„Doch, glaub mir, das wird er“, sagte Kyrian gedehnt. Doria sah ihn von der Seite an und zog ganz leicht ihre rechte Augenbraue hoch. Für einen ganz kurzen Moment legte sie ihre Hand auf sein Knie und deutete ein Nicken an.

„Wollen wir es noch heute Nacht tun? Bis zum Morgengrauen müssten wir fertig sein.“

„Ja, das duldet keinen Aufschub. Ich werde Berkana bitten mitzukommen. Sie beherrscht auch den Zauber", sagte Doria. „Wir sollten langsam mal ein paar von den jungen Leuten ausbilden. Diese Kunst sollte nicht verloren gehen. Und ich fühle mich langsam zu alt für solche Nacht-und-Nebel-Aktionen.“

„Habt ihr ihn schon ausfindig gemacht?“, fragte Glewlwyd.

Talantha bejahte. „Er ist in seiner Hütte am Rande des Ortes. Waldi war so nett und ist flink wie der Wind hingeflogen und hat dort etwas fallen lassen.“

Glewlwyd schaute fragend in die Runde. Der Drache hatte vor Dondarths Haus ein Häufchen fallen lassen? „Inwieweit soll das hilfreich sein? Eine Duftmarke zum Finden des richtigen Hauses? … Ey, wieso lacht ihr alle?“, entrüstete sich der Wächter.

Kyrian hielt sich den Bauch vor Lachen und japste nach Luft. Sogar Dandelia grinste. Oliver schlug kameradschaftlich auf die Schulter des Mannes, dessen Geist er jahrelang in sich getragen hatte und der ihm ein wahrhaftiger, väterlicher Freund war.

„Er hat eine Kugel mit Tiefschlafgas durchs Fenster fallen lassen. Ob er noch mehr hat fallen lassen, entzieht sich meiner Kenntnis“, erklärte Oliver und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

„Ich kann euch hören!“, rief der grüne Schulterdrache und blies warnend einige Rauchkringel in die Luft.

„Wir sollten uns jetzt in Bewegung setzen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit will ich dort sein. Bei Berkana müssen wir ja auch noch vorbeigehen“, meinte Talantha.

„Geben wir ihr doch per Glaskugel Bescheid“, schlug Afalja vor, doch Doria verneinte, sie wusste zufällig, dass Berkana ihre Kugel auf der Flucht verloren hatte. Es gab nur noch wenige Kugeln im Besitz der Avalonier.

„Soll ich euch begleiten?“

„Nein, lass gut sein, Wächter. Wir kommen alleine zurecht“, entschied Kyrian.

Doria stellte sich hinter Artan und flüsterte einen Zauber, den sie mit entsprechenden Gesten ihrer Hände begleitete, um die Wahrnehmungssperre wieder zu entriegeln. „In ein paar Minuten wird er wieder der Alte sein. Wir gehen dann mal.“

„Habt ihr nicht was vergessen?“, fragte Dandelia mit einem gewissen Unterton.

Kyrian drehte sich an der Tür noch mal um. „Ach, sag bloß.“ Mit einem Schnippen seiner Finger löste er die magische Klammer um ihre Beine und den Stuhl. Dann zwinkerte er ihr zu und verließ das Haus gemeinsam mit den Frauen.

Dandelia erhob sich vom Stuhl und dehnte leise stöhnend ihre Muskulatur, die heftig nach Bewegung verlangte. In einem Aufwall der Gefühle ging sie zu Artan und nahm ihn in den Arm, drückte ihn an ihr Herz. Überrascht fragte er, womit er das verdient hätte. „Einfach nur so, mein Kleiner“, antwortete sie, „weil ich dich liebe“, und strich zärtlich über sein Haar. Was für ein Segen, dass er das Attentat nicht mehr erinnern konnte. Um ihre feuchten Augen vor ihm zu verbergen, schaute sie schnell aus dem Fenster, wo sie Ranald näherkommen sah. Er trug einen Eimer und eine Angel. „Schau mal, Onkel Toddy kommt. Willst du ihm beim Füttern helfen?“

„Na klar!“ Artan flitzte hinters Haus auf die Obstbaumwiese, wo seine Nessie ihr Revier hatte. Dandelia schaute weiterhin durchs Fenster, sah, wie Ranald stolz den Eimer hochhielt und etwas zu Artan sagte. Offenbar hatten die Fische gut angebissen und Nessie würde ein üppiges Abendmahl bekommen. Waldi und Wendi, nun entbunden von der Kinderbespaßung, flogen auf die Schultern ihrer Menschen zurück.

„Wir werden es Nora und Balian verschweigen. Ihr Herz …“

„Das wird das Beste sein“, stimmte Oliver zu. „Zumal ja die Behandlung des Heilers bisher keine Besserung gebracht hat. Wie gut, dass sie noch nicht von ihrem Abendspaziergang zurück sind.“

„Das ist bedauerlich, das mit dem Herzen.“ Glewlwyds Bedauern war echt, keine Floskel. Er mochte Dandelias Eltern wirklich gern. „Da ist übrigens noch etwas, worüber ich mit euch sprechen wollte. Ist euch auch etwas Merkwürdiges aufgefallen, seit wir hier sind? Habt auch ihr das Gefühl, dass hierzulande etwas nicht stimmt?“ Glewlwyd berichtete kurz und knapp von seinem Einhorn-Erlebnis zur Mittagsstunde, und erwähnte auch den Troll, der wohl unfreiwillig und unbemerkt von Avalon mitgekommen war.

„Das erklärt deine nackten Füße“, sagte Oliver und grinste kurz. „Jetzt, wo du es sagst, kann ich es ja auch sagen. Ich dachte, dass es an mir liegt, aber wenn auch dir sowas passiert …“

Der Wächter ermunterte ihn, alles zu offenbaren, egal, wie peinlich es vielleicht war. Oliver holte tief Luft und sagte: „Manchmal sehe ich meinen alten Laden hier in der Straße. Ich gehe sogar hinein und rieche seinen Duft. Aber dann stehe ich mitten zwischen zwei Häusern im Grünen und möchte weinen, so viel Heimweh habe ich.“

„Warum hast du mir das nicht gesagt, Liebster?“, fragte Dandelia sanft.

„Weil ich mich dafür geschämt habe“, gestand Oliver. „Und was ist mit dir?“

„Nichts. Keine Halluzinationen. Aber ich träume oft schlecht.“

„Was passiert in den Träumen?“, hakte Glewlwyd nach.

„Sie reißen mir Artan aus den Armen. Er verschwindet dann mit der Alten durch eine Wand. Ich versuche, sie mit meinen Fingernägeln zu durchlöchern. Aber dann stehe ich in einer Blutlache, ohne Finger, und ich rutsche darin aus.“

„Das ist ja furchtbar! Und es erklärt deine abgeknabberten Nägel. Liebes, warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Weil ich Angst hatte, dass du mich Übermutter oder Glucke nennst. Also, es ist ja nie was passiert, Artan kommt immer entspannt vom Unterricht zurück. Und er ist so stolz auf das, was er bei Dara lernt. Aber ich kann mir nicht helfen, ich traue ihr nicht!“

„Worauf genau beruht dein Misstrauen?“, fragte Glewlwyd gespannt.

Dandelia zuckte mit den Schultern. „Es ist schwer zu beschreiben. Irgendwas stimmt nicht. Sie lächelt Artan an, wenn er etwas richtig macht. Aber ihre Augen sind kalt. Sie schaut ihn an, als wäre er etwas Lästiges. Ich befürchte, sie will, dass er für immer Platz macht für den Drachenkönig.“

„Sie lässt dich beim Unterricht zusehen? Das habe ich nicht erwartet.“

„Ich mache mich unsichtbar, denn sie hat mich rüde fortgeschickt, als ich anfangs darum bat, beim Unterricht dabei sein zu dürfen.“

„Übrigens teile ich deine Beobachtungen und Befürchtungen.“

„Du sagst, du teilst meine Beobachtungen? Ich habe dich nie beim Pavillon gesehen“, wunderte sich Dandelia.

„Lasst mich raten, auch unser Glewlwyd beherrscht für sich den Unsichtbarkeitszauber“, meinte Oliver lakonisch.

„Nun kennst du mein schmutziges Geheimnis“, witzelte der Wächter, wurde aber gleich wieder ernst. „Hattet ihr jemals Gelegenheit, mit dem Drachenkönig selbst in Ruhe zu reden?“

In diesem Moment schlug die Hintertür des Hauses krachend an die Wand und Ranald stürzte lachend mit Artan hinein. „Ich kriege dich, warte es nur ab!“

Artan rannte wohlig kreischend zu seinen Eltern, suchte Schutz zwischen ihnen und streckte seinem Onkel frech die Zunge raus.

„Euer Sohn ist ein kleiner Teufel, er hat mir einen zappelnden, kalten, nassen Fisch ins Hemd gesteckt“, ‚beklagte‘ sich Ranald mit großer Begeisterung über seinen quirligen Neffen. „Das schreit nach Rache!“

„Von mir aus. Aber nicht hier und jetzt“, entschied Oliver. „Wenn ihr noch lange herumtollt, kann er wieder nicht einschlafen.“

„Ohne Fernsehen ist aber auch alles doof hier. Ich will endlich nach Hause!“, nölte Artan. „Ich will wieder zur Schule gehen und meine Freunde sehen. Und Nessie muss mit, Nessie kommt in den Garten. Dad, du baust doch einen Badeteich für den Drachen, ja?“

„Nimm es mir nicht übel, Artan, aber dein Nessie sieht einem Komodowaran sehr ähnlich. Mir ist er nicht ganz geheuer. Denk dran, die Leute rasten ja schon dezent aus, wenn sie nur einen Schulterdrachen sehen. Unsere Welt ist einfach nicht gemacht für Fabelwesen“, sagte Oliver mit Bedauern.

„Ich kann ihn verstehen“, sagte Ranald und setzte sich auf die Bank am Fenster. „Er ist das einzige Kind hier.“

„Daddy, wann gehen wir nach Hause?“, insistierte Artan und zog an seinem Hosenbein, immer noch zwischen den Beinen seiner Eltern auf dem Boden sitzend. Mr. Spock und Flöckchen hatten sich zu ihm gesellt, denn das Kind roch herrlich nach Fisch.

„Wir wissen es nicht. Ehrlich gesagt, wissen wir gar nicht, ob es überhaupt möglich ist.“

Glewlwyd räusperte sich. „Artan, tust du uns einen Gefallen? Dara geht uns ja aus dem Weg, frag du sie doch bei deiner nächsten Lektion, wann du wieder mit deiner Familie nach Hause gehen kannst. Wann wäre denn euer nächstes Treffen?“

„Morgen. Gleich nach dem Frühstück soll ich in den Pavillon kommen. Sie will mir zeigen, wie man über dem Boden schwebt. Und danach lerne ich, wie man Felsen spaltet ohne sie anzufassen.“

Überrascht pfiff Glewlwyd durch die Zähne. „So weit bist du schon fortgeschritten?“

Artan grinste verschämt. „Der Drachenkönig hilft mir beim Lernen und Zaubern. Ich soll es Dara nicht verraten. Abgesehen davon, ist es gar nicht so schwer zu schweben. Wenn ich Dinge fliegen lassen kann, warum dann nicht auch mich?“

„Du weißt vom Drachenkönig?“, fragte Dandelia erstaunt.

„Natürlich. Er wohnt doch in mir und manchmal ist er auch im Drachen, ganz wie er will.“

„Vertraust du ihm?“, erklang Ranalds Stimme vom Fenster her.

Eine gute Frage, dachten Glewlwyd und Oliver gleichzeitig.

„Na klar. Er ist immer mein Freund. Wenn ich meine Ruhe haben will, dann geht er in den Drachen. Dad, das kennst du doch auch. In dir hat der da gewohnt, als er noch keinen Körper hatte.“

„Der da hat einen Namen“, ermahnte Dandelia ihn zur Höflichkeit. Der Wächter winkte lässig ab.

„Artan, ich sag dir was. Wir beide, wir sind doch auch Freunde. Du kannst mir vertrauen und ich vertraue dir. Wenn du morgen bei Dara Unterricht hast, werde ich dabei sein und zuhören. Frage sie, geh ihr meinetwegen damit auch auf die Nerven. Ich will sehen, wie sie darauf reagiert. Damit das unser Geheimnis bleibt, werde ich mich unkenntlich machen. Okay?“

Artan reckte zustimmend sein Däumchen hoch. Dann gähnte er und lehnte sich an das Bein seiner Mum. Langsam fielen ihm die Augen zu.

 

 

-3-

 

 

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück mit Eltern und Großeltern, ritt Artan auf Nessie dem Festplatz entgegen, in Begleitung von Balian und Nora. Zumindest hatte dies für alle anderen den Anschein, in Wahrheit war „Nora“ Glewlwyd, der ein Imago trug, welches Dandelia ihm übergeworfen hatte und das von seiner eigenen Magie noch verstärkt wurde, auf eine besondere Art, so dass auch niemand die Täuschung bemerken würde, der sich selber auf Magie verstand. Sie konnten ja nicht wissen, welche Magietechniken die alte Dara beherrschte. Es war ein ausgesprochen heißer Tag, wieder einmal. Bäume ließen ihre Zweige hängen, Gras verdorrte mehr und mehr. Die Landschaft brauchte dringend Regen. Als sie den gemütlich gestalteten Festplatz erreichten, in dessen Mitte ein vier Meter hoher, mit Schnitzereien verzierter Baumstamm stand, der einen sanft schimmernden Kristall auf seiner Spitze trug, saß die Hohepriesterin schon da und starrte vor sich hin. Dieses Mal fand der Unterricht offenbar nicht im Pavillon statt, wo heute ihre Tempeltöchter saßen und leise Flöte spielten. Für einen kurzen Moment flackerte der Stein unruhig, danach war er eine Spur heller als zuvor, was aber niemandem auffiel, denn alle konzentrierten sich auf Dara.

Balian, der der Alten zutiefst misstraute, hätte einen hervorragenden Schauspieler oder Spion abgegeben. Das Lächeln, mit dem er Dara grüßte, und auch die leichte Verbeugung wirkten ungezwungen und freundlich. Jovial erzählte er ihr einen kleinen, albernen Witz, den sie reglos anhörte, lachte selbst laut darüber, um den harmlosen Narren zu geben und schob ihr dann den Jungen entgegen.

„Nora, meine Liebe, setz dich auf die Bank, ich gehe zum Spender-Brunnen und hole mir das, was so ähnlich wie Bier schmeckt. Möchtest du auch einen Becher voll?“ Ganz leise, so, dass nur sein Begleiter ihn hören konnte, quetschte er aus dem Mundwinkel heraus: „Setz dich anständig hin, du trägst ein Kleid.“

„Bring mir lieber einen gelben Fruchtsaft mit, den finde ich bekömmlicher“, antwortete Glewlwyd, dem im letzten Moment eingefallen war, seiner Stimme Noras Klang geben zu müssen und ahmte eine damenhafte Beinhaltung nach. An was man nicht alles denken musste!

„Darf ich Ihnen, verehrte Hohepriesterin auch eine Erfrischung mitbringen?“ Balian deutete zum Spender-Brunnen, wo sich inzwischen einige Bewohner versammelt hatten und einen feuchtfröhlichen Tagesbeginn feierten.

Überrascht blickte Dara Balian an. Niemand außer ihren Tempeltöchtern versorgte sie, das war geradezu unanständig aufdringlich von diesem Mann. Aber, woher sollte er das auch wissen? Darum verneinte sie gnädig und verkündete, nun mit dem Unterricht zu beginnen und nicht mehr gestört werden zu wollen.

„Ich würde so gerne zuschauen beim Unterricht“, säuselte Glewlwyd. „Wie gern würde ich Artan zu einem Mann und echten Hexer heranwachsen sehen. Leider ist mein Herz schwach und ich fürchte … ach! Reden wir nicht darüber. Macht doch bitte einer stolzen Großmutter die Freude, ihm einmal beim Lernen und Zaubern zusehen zu dürfen. Nur für ein Weilchen. Bin auch mucksmäuschenstill.“ Er klimperte zweimal mit den Wimpern und legte den Kopf ein klein wenig schief, in der Annahme, dass das Nora ähnlichsah. Balian, der mit zwei Bechern zurückkam, musste sich das Grinsen verkneifen. Wenn seine Nora wüsste, was der Wächter hier für eine Show abzog! Energisch, aber gutmütig schubste er den Drachen beiseite, der sich über sein Bier hermachen wollte, was Artan zum Lachen brachte. Glewlwyd bemerkte mit großem Interesse, dass Dara sich nicht etwa über die rüde Behandlung des Drachen empörte, schließlich bewohnte ihr König das Tier. Nein, sie sah für einen winzigen Moment schadenfroh und gehässig aus, besann sich aber sogleich wieder auf Artan und nahm einen neutralen Gesichtsausdruck an.

„Nun gut. Ich gewähre Euch einige Minuten, weil es Eure Tochter ist, deren Sohn der Träger des Königsgeistes ist. Er war damals groß und mächtig, nun muss er seine Kraft wiedererlangen, um erneut den Thron Anterras besteigen zu können.“

„Warum verließ er seine Heimat?“

„Sagen wir, es war eine unglückselige Verkettung widriger Umstände. Schweigt nun.“ Mit verhaltenem Zorn funkelte sie den avalonischen Hexer an. „Artan!“ Sie winkte das Kind energisch zu sich heran, denn er saß immer noch auf dem Drachen und sah bockig und lustlos aus. Widerstrebend ließ er sich vom Reittier herabgleiten und schlurfte zur Hohepriesterin. „Zeig den Eltern deiner Mutter, was du kannst. Verschließe die Flöten.“

Gelangweilt hob er seine linke Hand gen Pavillon und flüsterte ein Wort.

„Ohne hörbare Sprache!“, verlangte Dara. „Nun mach schon. Schick deinen Geist aus, fühle den Hauch der Flöten und lass ihn erstarren.“

Artan zuckte mit den Schultern, kniff seine Augen zu, um sich besser konzentrieren zu können. Abrupt erstarb der Flötenklang. Die jungen Frauen betrachteten verwirrt ihre Flöten. Als „Nora“ applaudierte, verstanden sie, was geschehen war und legten ihre Instrumente beiseite.

„Lass wieder los“, befahl die Alte. „Und nun das Schweben. Setz dich mir zu Füßen.“

Er rührte sich nicht von der Stelle. Verblüfft schaute sie ihn an. „Nun mach.“

„Nein.“

„Warum?“

„Will nicht.“

„Gehorche! Oder muss ich erst deine Großeltern wegschicken, damit du parierst?“

„Will nicht.“

Jetzt war es an Dara, irritiert zu sein. Sie war es nicht im Geringsten gewohnt, dass man ihr nicht gehorchte.

„Mir gefällt es hier nicht! Ich will nach Hause. Wann dürfen wir zurückgehen?“

Glewlwyd tat so, als wäre ihm das Verhalten des Kindes peinlich und verbarg sein Gesicht hinter einer Hand, schielte aber zwischen den Fingern hindurch. Dara sah aus, als hätte man ihr eine verschimmelte Zitrone zwischen die Zähne geschoben und sie hätte im Reflex hineingebissen.

„Das geht nicht.“

„Aber ich habe hier keine Kinder zum Spielen, ich will wieder in meine Schule gehen. Ich vermisse meinen Freund Toby.“

„Hier ist jetzt dein Zuhause, ihr bleibt. Hast du vergessen, dass die Insel Britannien dem Untergang geweiht ist? Ich habe es gesehen, ich habe die Gabe der Weissagung durch den Würfelbecher von Merlin erlangt. Es steht fest. Du kannst nichts dagegen tun. Du hast mir zu gehorchen.“

„Ich will aber, ich will, will, will! Hier ist es doof. Du bist doof! Ich will auch wieder fernsehen können und meine Bücher lesen und zu MacDonalds gehen.“

Balian beschloss, den großväterlichen Erziehungsberechtigten zu geben und tadelte Artan, der sich daraufhin recht glaubwürdig zu Boden warf, Geschrei machte und mit den Fäusten auf den Boden trommelte. Die Avalonier am Spender-Brunnen schauten interessiert herüber, blieben aber, wo sie waren. In die Angelegenheiten anderer mischte man sich am besten nicht ein. Nicht, solange man umsonst spritziges, kühles Bier schon am frühen Morgen trinken konnte. Glewlwyd griff sich etwas theatralisch an die Herzgegend und keuchte auf. Der Drache hingegen legte seinen Kopf schief und schaute interessiert zu. Seine Augen flogen hin und her zwischen der Alten und dem Kind. Und dann – in einem Moment des Erkennens, wie es Glewlwyd schien – starrte er Dara an und seine Nackenstacheln richteten sich auf. Sie zuckte erschrocken zusammen und sprang unvermittelt von ihrem Sitz auf.

„Das ist heute sinnlos. Eine Verschwendung meiner kostbaren Zeit. Das Kind ist nicht lenkbar. Nehmt es mit heim, schafft ihn mir aus den Augen.“

Balian ergriff die kleine Chance, der Hohepriesterin erneut auf den Zahn zu fühlen. „Ihr sagt, nehmt es mit heim. Heimat ist für uns sowohl England als auch Schottland. Ihr lasst uns also gehen?“

„Du Narr. Nein! Ihr alle bleibt. Warum so undankbar? Wir haben euch das Leben gerettet und sorgen für euch, ihr müsst nicht mal arbeiten. Was wollt ihr denn noch? Eine bessere Unterkunft, dem königlichen Blut des Jungen und seines Vaters angemessen? Edle Gewänder? Mehr Diener? Ist es das, was ihr wollt?“

Balian entgegnete ruhig: „Wir wollen nur, dass dieses Kind einfach Kind sein kann. Doch Ihr nennt ihn Drachenkönig und wollt ihn zu etwas machen, was er gar nicht ist.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137484
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Dandelia Dorca Loch Ness Zauberei Magie Schottland Familie Urban Fantasy Fantasy Humor

Autor

  • Marlies Lüer (Autor:in)

Die Autorin lebt mit Blick auf idyllische Weinberge in einem milden Klima. Das ist fast so gut, wie ein Hobbithaus im Auenland zu bewohnen, wo sie eigentlich mit ihrem Mann leben möchte. Sie liebt ihren Garten und sammelt - Drachen!
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Titel: Dandelia Dorca und der Drachenkönig von Anterra