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Dandelia Dorca und das Ungeheuer von Loch Ness

von Marlies Lüer (Autor:in)
151 Seiten
Reihe: Dandelia Dorca, Band 3

Zusammenfassung

Dandelia braucht dringend eine Auszeit! Sie ist von all der selbst auferlegten Nicht-Zauberei und den nervigen Exeter-Müttern so gestresst, dass ihr permanent schwindlig ist. Oliver packt daher seine Familie in ein Wohnmobil und düst ab nach Schottland, um dort einen alten Freund zu besuchen: Ranald Todd, Herr von Aldourie Castle am Loch Ness.

Es werden unvergessliche Ferientage, um es vorsichtig auszudrücken. Das Schicksal verteilt die Karten neu und ihre kleine, scheinbar heile Welt droht völlig zu zerbrechen.

Dandelia und Oliver müssen mehr denn je zusammenhalten und gegen einen übermächtigen Gegner kämpfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


-1-

Waldi, mit vollem Namen Waldemar Waldmeister, seines Zeichens Schulterdrache einer avalonischen Hexe, war genervt – und an dieser Stelle kann man ungestraft sagen, dass er tierisch genervt war. In doppeltem, wortwörtlichem Sinne. Einerseits ließen die beiden Katzen ihm keine Ruhe und spürten ihn ständig auf, um ihn spaßeshalber durch die Gegend zu jagen, andererseits rumorte in ihm die, wenn man es höflich formulieren will, Unausgeglichenheit von Dandelia. Es war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, hier etwas Frieden zu finden oder mal in Ruhe den Kühlschrank zu inspizieren. Er beneidete Blodwen-Rosalie, die er zärtlich Rosi nannte, um ihren Menschen Oliver, der sie wiederum Wendi nannte – alles sehr kompliziert hier. Der hatte zwar auch ein gewisses magisches Potential, aber er war es gewohnt, nicht zu zaubern oder nur minimal. Daher war er ruhig und ausgeglichen. Dandelia hingegen war eine Vollbluthexe, die nicht mehr zaubern durfte, wenn sie nicht als andersartig auffallen wollte. Allein um Artans willen, der hier ganz normal aufwachsen sollte, bemühte sie sich mit aller Kraft, den Alltag magielos zu bewältigen. Alles, was an Magie, die ihrem Körper und Geist innewohnte und unablässig kreiste, rauschte, brizzelte und schöpferischen Ausdruck finden wollte, staute sich an, in einem solchen Ausmaß, dass es auf ihn überschwappte. Und dann noch die blöden Katzen, denen er nicht mal mit einem gezielten Feuerstoß Manieren beibringen durfte! Waldi sehnte sich aus ganzem Drachenherzen zurück auf die Insel, zurück in die gute alte Zeit. Er hatte zwar hier zwischen den Häusern auch einen kleinen Wald, wenn man denn die Handvoll verwilderter Bäume und Büsche so nennen wollte, doch dies war kein Vergleich mit Avalon und den ausgedehnten Wäldern der Insel. Mehr als die Hälfte war dort von Mischwald bedeckt. Und es gab einen wundervollen, steinigen Strand an der Nordwestseite der Insel, wo es sich trefflich sinnieren ließ über die verschiedenen Formen und Farben der rundgeschliffenen Kiesel. Seine bevorzugte Zeit war dafür der frühe Abend gewesen. Er liebte es, den Sonnenuntergang zu betrachten und den Aufwind der Klippen zu nutzen. Tja, alles vorbei. Nicht mal jedes Wochenende wurde die Standuhr genutzt, um mal wieder auf Avalon ganze Tage und Nächte zu verbringen. Nein! Der Junge sollte ja ein möglichst normales Leben haben und sich anpassen können … ebenso Dandelia als seine Mama, die sich unter andere Mütter mischen musste. Und er, Waldi, musste jedes verdammte Mal zuhause bleiben und von seiner Lieblingshexe getrennt die Stunden und Minuten zählen, bis sie wieder daheim war und er auf ihrer Schulter seinen angestammten Platz einnehmen konnte. Und alles nur deswegen, weil er einmal, wirklich nur ein einziges Mal (!) geniest hatte, während er – selbstverständlich mit einem Unsichtbarkeitszauber versehen – auf ihrer Schulter saß inmitten von Exeter-Müttern, die über die angesagtesten Nagellackfarben, Friseure und die Lehrer ihrer Kinder plauderten. Da hätte Dandelia sich doch eine Ausrede einfallen lassen können, als plötzlich Rauch über ihrem Kaffeebecher hing und die Papierserviette in Flammen aufging. War das etwa seine Schuld, wenn diese Frauen sich parfümierten und ihre Haut mit unfassbar kräftig riechenden Substanzen einrieben, die sie euphemistisch als Bodymilk bezeichneten? Wozu diente das überhaupt? Mit Milch hatte das jedenfalls nichts zu tun. Als Waldi auf dem Höhepunkt seiner täglichen Selbstmitleidstour angelangt war, schlich sich Mr. Spock von hinten an. Der Kater hatte unbemerkt die Eibe erklommen, wo der Drache sich sorgfältig versteckt hatte. Aber nicht sorgfältig genug … Mr. Spock spannte seine Muskeln an, fuhr seine Krallen aus und hieb mit diebischer Freude auf den Schwanz des Drachen ein – ohne ihn ernsthaft zu verletzen natürlich, sie lagen ja nicht im Streit, es war für ihn nur ein Spiel. Waldi reagierte wie erhofft. Der Drache fiepste erschrocken und fiel fast vom Ast. Wütend flatterte er mit seinen Flügeln, um das Gleichgewicht zu halten. Doch Mr. Spock versetzte ihm noch einen Stoß in die Seite, sodass der Drache nun wirklich vom Baum plumpste und in den Gleitflug überging. Unten wartete schon Flöckchen auf ihn, die in unnachahmlicher Eleganz zwischen zwei Salbeibüschen saß, im Rücken ein blühender Rosmarin, und das Schauspiel mit gelassener Miene betrachtete. Allein ihr zuckender Schwanz verriet, dass sie Gefallen an dem Spektakel hatte.

„Das nächste Mal brenne ich dir ein Loch in den Pelz, du blöde Katze!“, giftete Waldi, flog einen Scheinangriff auf den Kater und zwickte ihn kräftig ins Ohr, bevor er durch die Katzenklappe ins Wohnhaus verschwand. Hier war er zwar Dandelias brodelnder Aura ausgesetzt, aber wenigstens dort, wo er von Natur aus hingehörte: Auf ihrer Schulter. Er flog direkt durch in die Küche. Zärtlich knabberte er an ihrer Ohrmuschel, doch sie wischte ihn unwirsch mit einer bemehlten Hand, an der auch Nudelteig klebte, von sich herunter. Indigniert flog er mit zwei Flügelschlägen zur Fensterbank. Von dort aus zeigte er ihr demonstrativ den Rücken und starrte genervt nach draußen auf die Straße.

„Lass mich jetzt. Muss mich konzentrieren, ich mache Ravioli.“

Sie rädelte ein großes Rechteck aus und löffelte portionsweise die noch heiße Füllung aus zermanschtem Kürbis und rotem Paprika auf die halbe Fläche, legte die andere Hälfte darüber und drückte sie ringsum fest. Dandelia griff wieder zum Rädchen und teilte das Nudelrechteck in sechzehn Stücke. Dann wollte sie sie hübsch ordentlich auf eine Platte legen, bis es an der Zeit wäre, sie zu garen. Und wieder riss der zu dünne Nudelteig, klebte am unbemehltem Holzbrett fest und die Füllung quoll heraus.

„Ach, verdammt! Warum bekomme ich das nicht hin?“

Waldi schwieg. Waldi war ein kluger Drache.

Entmutigt schlug Dandelia mit der Faust auf die Arbeitsplatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass in etwa zehn Minuten der Laden für die Mittagspause schließen würde und Oliver und ihre Eltern zum Essen kämen. Kurzentschlossen ließ sie heißes Wasser in einen großen Kochtopf laufen und murmelte dabei ihr Mantra nicht zaubern, nicht zaubern. Während es auf dem Herd vor sich hin brodelte, warf sie gekörnte Gemüsebrühe aus dem Glas hinein und schließlich mit beiden Händen all die zerrupften, geplatzten, zermanschten Ravioli samt Füllung und auch restlichen Teig, den sie wütend in Stücke rupfte, um sich abzureagieren. Zuletzt quetschte sie die halbvolle Tube Tomatenmark aus und rührte es unter. Ihre Nasenflügel bebten. Waldi unternahm einen zweiten Versuch, ihr nahe zu sein. Dieses Mal streichelte sie über seinen Rücken und lehnte kurz ihre Schläfe an seinen Kopf. Stumm deckte sie den Tisch. Vier Suppenteller, vier Löffel. Ein rundes Holzbrett in die Mitte, für den heißen Topf. Suppenkelle. Fertig. Eine Träne lief ihr über die Wange, dann noch eine und noch eine … Rasch wischte sie die verräterischen Spuren ab und setzte ein künstliches Lächeln auf, atmete tief durch, denn sie hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde und ihre Familie über den Flur auf die Küche zuging. Alle bis auf Artan, der erst um halb fünf Schulschluss hatte. Sie stellte den Herd aus und begrüßte ihre Eltern, Nora und Balian, die vorübergehend über dem Laden wohnten.

„Hallo mein Mädchen, ich soll dir sagen, Oliver kommt sofort nach, wir sollen ruhig schon ohne ihn anfangen.“

„Okay, Mum. Dad, würdest du bitte die Katzennäpfe füllen? Ich habe das vergessen.“

Balian nickte freundlich und griff zum Trockenfutter. „Für die Drachen auch?“

„Nein, die bekommen Rührei mit Schinken.“

Dandelia stellte den Topf auf den Tisch und nahm den Deckel ab, füllte schweigend drei Teller. Die Drachen bekamen ihr Essen neuerdings auf der breiten Fensterbank, einige Meter entfernt von der Katzenfutterstelle. Waldi machte sich sofort über seine appetitlich duftende Portion Ei her. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Balian begehrliche Blicke auf sein Rührei warf, nachdem er einen Blick auf seinen Teller mit dem Menschenfutter getan hatte. Vorsichtshalber ließ Waldi ein leises Grollen für eine Sekunde durch seine Kehle donnern. Dandelias Vater zwinkerte ihm amüsiert zu und begann, seine eigene Mahlzeit zu löffeln.

„Entschuldige bitte meine Verspätung, Liebes“, bat Oliver, der wenig später in die Küche trat und sich auf den freien Platz setzte. Wendi stieß sich von seiner Schulter ab und flog auf die Fensterbank. Waldi unterbrach kurz seine Mahlzeit, um ihren Gruß, Nase an Nase, zu erwidern.

„Sollte es heute nicht Ravioli geben?“, fragte er arglos und füllte seinen Teller mit … ja, womit denn? Sollten diese Klumpdinger etwa …?

„Ist Suppe nicht gut genug für den feinen Herrn?“, fauchte Dandelia ihn an. „Das ist Raviolisuppe, sieht man doch!“

„Schon gut, schon gut! Ich darf doch wohl mal fragen.“ Skeptisch beäugte er das Durcheinander auf seinem Teller.

Nora warf ihm einen warnenden Blick zu und gönnte sich ein klitzekleines Grinsen. Ihr Schwiegersohn hatte es mit ihrer temperamentvollen Tochter wirklich nicht leicht. Sie bewunderte seinen Langmut.

„Übrigens, weshalb ich zu spät bin … ich habe gerade mit Ranald Todd telefoniert. Er fragt, ob wir nicht mal ihn besuchen wollen in den Schulferien. Was hältst du davon?“

Dandelia legte den Löffel neben den Teller und straffte ihre Schultern. Wegfahren? Richtige Ferien machen? „Das wäre großartig. Aber wer ist dieser Ranald?“

„Ein alter Freund von mir. Wir waren zusammen auf der Universität. Und haben sie zusammen abgebrochen.“

„Und wo wäre das?“

„In Schottland, in der Nähe von Inverness.“

„Das ist sehr weit weg von hier“, schaltete sich Balian ein. „Werdet ihr fliegen?“

„Ich hatte an ein Wohnmobil gedacht. Will mir Zeit lassen, hier und da einen Stopp einlegen.“

„Was ist ein Wohnmobil?“, fragte Dandelia neugierig. Ihr Vater kannte offenbar so ein Ding, denn er nickte anerkennend und befand es offenbar als eine gute Idee.

Oliver schaute sie erst verwundert an, aber dann fiel ihm ein, dass sie ja noch nicht viel von der normalen Welt gesehen hatte, seit sie Avalon vor gut zwei Jahren verlassen hatten. „Das ist ein großes Auto, in dem man auch schlafen und kochen kann. Ideal für kleine Familien. Ich stelle mir das so vor: Von hier nach Stonehenge, was dich interessieren dürfte, das dauert etwa zwei Stunden, sind knappe neunzig Meilen. Dort machen wir dann das übliche Touristen-Tam-Tam und die erste Pause. Artan muss sich ja erst daran gewöhnen, denke ich. Also, an das Stillsitzen im Wagen. Dann wieder zwei Stunden Fahrt nach London. Über die A303 und die M3, sind so um die fünfundachtzig Meilen. In London suchen wir uns einen Campingplatz zum Übernachten am Stadtrand. Hab keine Lust auf noch mehr Mautgebühren und Low-Emission-Zone-Antrag. Wir fahren mit dem Bus in die Innenstadt. Was möchtest du dort gerne sehen? Außer Big Ben, Westminster Abby und dem London Eye.“

„Oh, ich weiß, ich weiß! Da gab es doch neulich eine Sendung drüber. Ich will die geführte Harry-Potter-Tour machen! Das geht mit dem Boot oder der U-Bahn. Das London Eye ist mit dabei. Ich möchte auf jeden Fall in der Winkelgasse einkaufen. Ich brauche magische Polierpaste für meinen Ring.“

Nora schaute sie mitleidig an. Das Mädchen tat sich manchmal schwer, Realität und Fantasie auseinanderzuhalten. Konnte man ihr auch nicht verdenken. „Du meinst in Wirklichkeit Leadenhall Market, wenn du Winkelgasse sagst.“ Nora griff zur Kelle und füllte sich den Teller erneut. Schmeckte gar nicht so übel. Sah nur übel aus. „Möchtet ihr, dass wir die Katzen versorgen, während ihr weg seid? Wir hatten ohnehin vor, noch etwas länger bei euch zu bleiben.“

„Nur, wenn wir euch nicht zur Last fallen“, ergänzte Balian.

Dankbar strahlte Oliver seine Schwiegereltern an. „Das wäre super. Ich möchte sie nicht gerne mitnehmen. Spöckchen und Flöckchen müssten ja ansonsten die meiste Zeit im Transportkorb verbringen, das will ich ihnen nicht zumuten.“

„Willst du den Laden während eures Urlaubs schließen, oder magst du ihn uns anvertrauen? Du weißt ja, wie viel Spaß ich am Verkauf habe“, bot Balian an.

„Nicht nur Spaß, du hast auch Erfolg bei der Kundschaft. Nicht nur bei der weiblichen, du alter Charmeur. Mir ist aufgefallen, dass die männlichen Kunden dich schnell als Ratgeber anerkennen.“

„Nun ja, meine Zauberkraft ist ja weitestgehend erloschen, aber ein wenig Einflussnahme ist mir geblieben. Das geht etwas über Empathie hinaus, ehrlich gesagt. Meistens schaffe ich es, die Kunden aktiv, aber unbemerkt, zum Kauf zu bewegen“, gestand Balian. „Nora, was meinst du dazu, wollen wir zwei Hübschen es wagen und den Turteltauben eine sorglose Zeit schenken?“

„Gern. Da bin ich dabei, was denkst denn du? Ich kann auch, falls ihr das möchtet, mich um den Garten zwischen den Häusern kümmern. Da fehlt Struktur und Pflege, die Pflanzen fühlen sich nicht wirklich wohl. Zu viel Schatten durch die drei dominanten Eiben. In Findhorn habe ich viel gelernt, auch, mich mit Pflanzendevas in Verbindung zu setzen. Da könnte ich sicher etwas erreichen.“

„Wird dir die ganze Arbeit auch nicht zu viel?“, fragte Dandelia ihre Mutter und hoffte inständig, dass Nora verneinen würde. In der Tat winkte diese lässig ab.

„Wie lange wollt ihr fortbleiben?“

„Zehn, zwölf Tage, mehr ist leider nicht drin.“

Plötzlich merkten die Menschen, dass sie von den Drachen angestarrt wurden, während die Katzen aber tiefenentspannt waren und sich gegenseitig das Fell putzten.

„Was ist? Wollt ihr mehr Rührei?“, fragte Oliver.

Dandelia aber schüttelte ihren Kopf und wurde blass. „Es geht nicht ums Fressen. Sondern um die Reise! Oliver, können wir überhaupt die Drachen mitnehmen?“

„Oh. Darüber habe ich gar nicht nachgedacht, ehrlich gesagt. Ihre Gegenwart ist mir selbstverständlich geworden.“

„Typisch! Nicht über uns nachgedacht!“, beschwerte sich Waldi.

„Ihr könnt sie unmöglich alleinlassen. Das wäre unnatürlich. Wir legen ja selbst unseren magischen Schmuck niemals ab, auch nicht im Schlaf“, meinte Balian.

„Aber was, wenn sie gesehen werden?“, zweifelte Dandelia.

„Wieso? Du kannst sie doch mit einem Unsichtbarkeitszauber belegen.“

„Oliver! Du weißt doch, dass ich mir geschworen habe, nicht mehr zu zaubern. Du hast sicher nicht vergessen, in welch unangenehme Situationen wir schon geraten sind, weil ich mich nicht beherrschen konnte.“

„Du brauchst nicht weiterzureden, Liebes, ich erinnere mich allzu gut“, wehrte Oliver ab, was ihm einen giftigen Dandelia-Blick einbrachte, den er gekonnt ignorierte. „Doch das hier ist was anderes. Eine Ausnahme, die du dir erlauben solltest. Natürlich werden Waldi und Wendi uns begleiten. Allein schon deswegen, weil Artan es uns nie verzeihen würde, ließen wir sie hier zurück.“

Als die Schulterdrachen seine Worte vernahmen, entspannten sie sich.

„Dir täte es gut, wieder mal Magie abzulassen, Dandi-Maus.“

„Nenn mich nicht so!“

„Wenn Normalsterbliche Dampf ablassen, tut es ihnen auch gut.“

„Ach, wenn das so ist, dann übernimm du doch die Bügelwäsche. Dann kannst du mit dem Bügeleisen Dampf ablassen. Musst nur vorher Wasser reintun.“

Vom Fensterbrett ertönte ein leises Knurren. Dandelia blickte Waldi beschämt in die Augen und senkte ihren Kopf.

„Bitte entschuldige, Oliver. Es geht mir nicht gut.“

Liebevoll legte er seine Hand auf ihre und drückte sie leicht.

„Wir werden einen Weg finden für dich.“

Hätte Dandelia in diesem Moment in seine Augen geschaut, so hätte sie dort Zärtlichkeit und einen Hauch Sorge gesehen.

 

-2-

Einige Tage später saß Dandelia mit befreundeten Müttern von Artans Schulkameraden beim monatlichen Brunch. Sie trafen sich für gewöhnlich im „Daisy Café“ gegenüber der Schule, besuchten aber manchmal auch das „Boston Tea Party Exeter“, wo es wunderbare Blaubeer-Smoothies gab. Dandelia erinnerten diese stark an Avalon, denn wann immer ein Kind der Insel kränkelte, so bekam es unweigerlich von Doria einen bitteren Stärkungstrank verabreicht, der genau diese Farbe hatte, die allerdings nicht von Blaubeeren kam, sondern von kleinen, blauen Käfern, die nur auf Avalon lebten und eine belebende und parasitenreinigende Wirkung auf Menschen hatten. So gesehen, war es nicht verwunderlich, dass Dandelia lieber eine Erdbeermilch trank, wenn sie sich dort trafen. Heute aber waren sie im „Daisy“, wo sie sich wohler fühlte, vor allem, wenn sie im Außenbereich waren, so wie jetzt. Die Sonne war mild, der Frühling ging langsam in den Sommer über.

„Bald sind Ferien. Fahrt ihr weg? Wir wollen aufs Land zu den Großeltern“, meinte Ella.

„Wir stellen uns schlauer an“, sagte Olivia und grinste breit. „Wir bringen die Kinder zu den Großeltern aufs Land und fahren zu zweit in die Ferien. Endlich mal wieder in Ruhe shoppen gehen, in Bars abhängen und ausschlafen.“

„Wir mieten uns ein Wohnmobil und fahren nach Schottland“, erzählte Dandelia und war froh, nicht abseits zu stehen und zum Gespräch etwas beitragen zu können.

„Nach Schottland? In Zeiten des Brexits? Die sind doch so pro Europa, ich finde, die Schotten sollten wieder ihren Hadrianswall hochziehen“, ließ Amy verlauten. „Was sagst du denn zum Megxit?“, wollte sie von Dandelia wissen, die heute ungewöhnlich still und blass war.

„Zum was?“

„Na, Meghan Markle! Sie ist doch wohl ganz alleine schuld, dass Prinz Harry sich vom Königshaus abwendet. Findest du nicht auch? Das ist doch so eine blöde Tussi!“

„Und total gewöhnlich!“, ergänzte Olivia mit vollem Mund, die gerade ihre vierte Portion Rührei mit Speck verschlang. Ihre Lippen und das Kinn glänzten fettig und sie schnaufte ein wenig beim Essen.

Grace gab zum Besten, dass sie Herzogin Kate und Prinz William sowieso schon immer lieber gemocht hätte. Nur Ella hielt dagegen, die für Meghans und Harrys Freiheitsdrang volles Verständnis aufbrachte und auch ehrliche Sympathien für die neue Herzogin hatte. „Denkt doch mal daran, wie es Prinzessin Diana ergangen ist! Harry will doch nur seine Frau schützen.“

Gloria, die Mama von Toby, Artans bestem Freund, schaute Dandelia mit schmalen Augen listig an. Sie witterte ihre Chance.

„Ja, Dandelia, sag uns doch, wie du über den Megxit denkst.“

Dandelia hatte Kopfschmerzen und rieb sich die Schläfen. „Die sind mir alle sowas von egal. Ich kenn die doch gar nicht.“

„Was? Bist du etwa keine Royalistin“, empörte sich Amy und auch Olivia und Grace hielten inne und starrten Dandelia an. Ella nutzte ihre Chance und stibitzte den letzten Scone von der Etagere und verpasste ihm ein üppiges Sahnehäubchen.

„Doch, doch. Lang lebe der König! Klar, bin ich Royalistin wie ihr.“

Für einen Moment war alles still. Gloria schielte nach unten auf ihre perfekt manikürten Hände und erlaubte sich ein kleines, fieses Grinsen.

„Queen Elisabeth! Wir haben eine Königin, bitte sehr!“, rief Amy vorwurfsvoll.

„Ach, nicht der mit den Ohren?“, entgegnete die Hexe ahnungslos. „Ich dachte, der ist König.“

„Sag mal, unter welchem Stein bist du denn hervorgekrochen?“, fragte Olivia und die überzarte Ella sah aus, als wolle sie gleich in Ohnmacht fallen.

Avalon ist eine Insel und kein Stein, hätte Dandelia fast gesagt, konnte aber alles hinter „Ava“ noch schnell herunterschlucken und sagte dann: „Ich bin in einer Kommune aufgewachsen, meine Eltern waren sowas wie Hippies. Wir … lebten sehr abgeschieden.“

„Kommune?“, echote Gloria. „Und was hast du da so gemacht?“

„Getöpfert.“

Das war nicht mal gelogen. Dandelias Leben war in der Tat immer ein abgeschiedenes gewesen. Zuerst bei der alten Gerwen im unteren Wald, dann oben in der Hütte, wo sie sich als Erwachsene ein eigenes Nest am Rande des Bergwalds geschaffen hatte. Erst mit Oliver und Artan hatte sie echte Gemeinschaft erlebt und dauerhafte Geborgenheit.

„Ah, der Klassiker, sie hat brav getöpfert!“, gurrte Gloria vieldeutig und legte einiges an Spott und Häme in ihre Stimme. „Darin bist du sicher eine Expertin.“

„Ja, bin ich. Verlass dich drauf.“

„Sie soll ja auch total verschwenderisch sein“, giftete Amy weiter. „Und ihr Personal hat sie schlecht behandelt.“

„Ich habe gar kein Personal!“, begehrte Dandelia auf.

„Du doch nicht! Wir reden über Meghan Markle, schon vergessen? Es dreht sich nicht immer alles um dich.“

„Aber alles dreht sich um mich! Jetzt. In diesem Moment. Ernsthaft, ich muss nach Hause, es geht mir nicht gut.“

Grace schaute sie mitleidig an. „Ist dir schwindelig? Wenn du willst, fahre ich dich. Die Scones sind sowieso alle aufgegessen.“

Dandelia schaute sie überrascht an. Das würde Grace für sie tun? Sie schenkte ihr ein kleines Lächeln und nickte. „Ist wohl besser.“ Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl, hielt sich dabei am Tisch fest und atmete tief durch, als sie aufrecht stand.

„Hast du nicht was vergessen?“, fragte Gloria scheinheilig. „Es sei denn, du kannst nicht, dann legen wir doch gern alle für dich zusammen.“

„Natürlich kann ich zahlen. Was soll die Frage?“ Dandelia griff in ihre Handtasche und legte einen Geldschein auf den Tisch, ihren Anteil für einen Brunch mit sechs Personen. „Den Rest könnt ihr unter euch aufteilen“, giftete sie zurück. „Oder gebt es der Kellnerin als Trinkgeld.“

Grace hakte sich bei ihr unter, um sie zu stützen. Sorgsam führte sie ihre Kameradin zum Parkplatz neben dem Café. „Du, setz dich bitte für einen Moment auf die kleine Mauer. Ich muss zurück und auch zahlen, das hätte ich fast vergessen in der Aufregung. Bin sofort wieder da. Fall mir nicht um in der Zwischenzeit!“

Dandelia fühlte eine merkwürdige Hitze in sich aufsteigen, der Boden unter ihr schien zu schwanken. So ähnlich musste sich wohl ein Vulkan fühlen, kurz vorm Ausbruch, vermutete sie. Oder ein fieser Eiterpickel. Plopp! Unvermittelt fing sie an zu kichern. Plopp – wer dachte sich denn solche Wörter aus? Als Grace zurückkam, murmelte sie immerzu „Plopp, plopp, plopp …“ und grinste debil. Erst als Dandelia merkte, dass ihre Freundin sie entgeistert anstarrte, hörte sie damit auf. Wie peinlich! Was war denn nur mit ihr los? Sie riss sich zusammen und erhob sich vom Mäuerchen.

„Möchtest du vielleicht, dass ich dich zu einem Arzt fahre?“

„Nein, nicht nötig. Glaube ich. Keine Ahnung. Fahr mich einfach heim. Meine Eltern werden sich um mich kümmern.“

„Ah, ihr habt Besuch. Das ist ja schön.“

„Ja, ist es.“

„Leben Sie immer noch in der Kommune?“

„Was? Ach so, nein. Äh ja. Schon, aber nicht jetzt. Jetzt sind sie bei uns“, stammelte Dandelia. Was hatte sie gleich noch erzählt über ihre Eltern auf Glorias Frage hin? Sie wusste es nicht mehr. „Beim großen Merlin, mir ist wirklich schlecht. Fahr bitte los.“

Grace ließ den Motor an, schaute in den Rückspiegel und legte den Rückwärtsgang ein. Vorsichtig parkte sie aus und fädelte sich in den laufenden Verkehr ein. „Wenn du es dir anders überlegst, ganz in der Nähe ist ein Krankenhaus.“

„Das ist lieb von dir, aber ich möchte mich einfach nur in mein Bett legen. Wenn es nicht besser wird mit dem Schwindel, kann ich immer noch zum Arzt gebracht werden. Vielleicht ist einfach nur mein Blutdruck zu niedrig.“

„Habt ihr ein Messgerät zuhause?“

„Ja.“

Das entsprach keineswegs der Wahrheit. Bis vor wenigen Tagen hatte Dandelia gar nicht gewusst, dass es so etwas wie Blutdruck gab und man ihn messen konnte. Erst seit sie zufällig auf einem Plakat im Schaufenster einer Apotheke darüber etwas gelesen hatte. Das bot sich als Ausrede in diesem Moment einfach an. Sie konnte schließlich nicht die Wahrheit sagen, denn die hätte gelautet: Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ich an einem Magiestau leide und langsam durchdrehe, weil ich mir das Zaubern verbiete und es mit aller Kraft unterdrücke, denn ich will doch so sein wie ihr Frauen aus Exeter, damit mein Kind ein normales Leben hat. Ich gebe mein Bestes, um unter euch Nichtmagiern zu leben und passe mich an bis hin zur Selbstverleugnung, was mir wirklich nicht gut bekommt … aber ihr honoriert das nicht, ihr findet mich immer noch seltsam und ich schaffe es einfach nicht, mit euch in jeder Hinsicht mitzuhalten und ich habe solche Angst, dass sich das auf Artan negativ auswirken könnte …

„Ist es okay für dich, wenn ich jetzt die Augen zumache und nichts sage, bis wir vor Oliveros Zauberladen ankommen?“, bat Dandelia.

„Natürlich, Liebes.“

Schweigend fuhren sie durch die Straßen Exeters. Grace schaute hin und wieder zu Dandelia hinüber. Sie mochte Artans Mutter, obwohl sie auf eine schwer zu definierende Art seltsam war. So, als wäre sie eine frisch vom Himmel gefallene Schneeflocke, die, anstatt ordnungsgemäß zu schmelzen, dauerhaft durch die Gegend schwebt, vielleicht, weil sie nicht weiß, dass Schnee eigentlich schmilzt, wenn es für ihn zu warm ist. Als sie schließlich beim Laden ankamen, fuhr Grace noch ums Haus herum in die Seitenstraße, wo das Wohnhaus der Jones-Familie stand. Sanft rüttelte sie an Dandelias Schulter.

„Wir sind da.“

Als Dandelia die Augen öffnete, sah sie erstaunt aus und schien sich erst örtlich orientieren zu müssen, atmete tief durch und bedankte sich dann für die Fahrt. Grace blieb noch solange mit dem Wagen stehen, bis Dandelia die Haustür aufgeschlossen hatte. Ein älterer Mann, wohl ihr Vater, begrüßte sie herzlich. Beruhigt fuhr Grace weiter, ihrem eigenen Ziel entgegen. Morgen wollten sie Koffer packen, sie wollten nach Barbados fliegen, was sie wohlweislich nicht beim Brunch erzählt hatte, sonst wäre wieder eine Neiddebatte aufgekommen. Dass ein Neurochirurg, wie ihr Mann einer war, verdammt hart für sein Geld arbeiten musste und viele unbezahlte Überstunden machte, wollten die anderen Frauen nicht einsehen. Bis auf Ella und Dandelia, die beiden waren ihr die Liebsten.

 

-3-

„Alle an Bord?“, rief Oliver gut gelaunt, im Wissen, dass dem so war. Es konnte losgehen! Das geräumige Wohnmobil ließ sich besser steuern als erwartet. Wenn sie nicht in einen Stau gerieten, würden in zwei Stunden die Megalithen von Stonehenge zu sehen sein. Artan war vorschriftsmäßig angeschnallt und die Drachen, trotz aller wortreichen Proteste, waren zu zweit in einem Katzentransportkorb untergebracht, auch dieser war gesichert. Nicht lange, nachdem sie Exeter verlassen hatten und auf der Straße dahindümpelten, rief Oliver plötzlich: „Rot, Dandi, rot!“

„Dann bremse doch!“

„Hier ist doch gar keine Ampel!“

„Aber du sagtest doch „rot“? Was ist denn los?“

„Na, das verdammte Wohnmobil ist rot und muss aber weiß sein! Siehst du das denn nicht? Würdest du bitte aufhören zu zaubern!“

„Oh, sorry, das habe ich gar nicht gemerkt. Ich mache es sofort rückgängig.“

„Nein, warte, bis wir allein sind, sonst fällt das zu sehr auf.“

„Ich schwöre dir, ich habe nur gedacht, dass Rot schöner wäre für das Wohnmobil, ich wollte gar nicht …“

„Lass gut sein. Beherrsch dich einfach ab jetzt und achte auf deine Gedanken. Gleich ist der vor uns um die Kurve, und die beiden Wagen hinter uns sind eben abgebogen. Wart noch kurz … warte, warte, jetzt! Keiner mehr in Sichtweite, kannst zaubern.“

Dandelia konzentrierte sich, rieb nervös über ihren Zauberring und der Wagen wurde rosa wie ein Flamingo! Artan, der zwischen seinen Eltern vorne saß, kicherte und zeigte mit dem Finger auf seine Mutter. „Du hast dich verzaubert! Ätschibätschi!“ Dann stutzte er und fragte seinen Vater: „Darf Mum denn im Urlaub zaubern? Ihr habt doch immer gesagt, wir müssen verbergen, dass wir eine Zaubererfamilie sind.“

„Nein, ich darf nicht zaubern, das ist mir einfach so passiert, klar?“, fuhr sie ihren Jungen gereizt an und zauberte ein weiteres Mal. „Bitte sehr, die Herrschaften, weiß wie Schnee. Zufrieden?“

Sie verschränkte ihre Hände und schaute angestrengt in die vorbeiziehende Landschaft.

„Sind wir bald da?“, quengelte Artan.

Oliver holte tief Luft. Das konnte ja heiter werden.

Wider Erwarten verlief die restliche Strecke ohne Zwischenfälle. Artan erläuterte ihnen wortreich seine Zukunftspläne, so rührend ernsthaft, wie nur ein Kind von sechseinhalb Jahren es vermag. Er wollte einen Bauernhof haben und das erste Tier auf der Weide sollte sein Eselfreund aus Avalon sein, der dann mit den beiden Katzen Spöckchen und Flöckchen und den Jungtieren, die sie bis dahin sicherlich zahlreich haben würden und den Schulterdrachen spielen dürfe. Eine Kutsche ziehen müsse er bei ihm nicht. Schließlich werden auch Esel mal alt und müde, genau wie die Menschen. Außerdem plane er einen Stall mit Hängebauchschweinen und Hühnern. Viele Hühner! Damit die Drachen immer genug Rührei zum Frühstück hätten. Er war sich nicht sicher, ob Kühe sich mit einem Esel anfreunden können. Die also lieber nicht. Aber die Milch hätte er schon gern. Avalon wäre ihm als Standort recht, da gäbe es keine Autos. Und überhaupt seien die Städte in England ihm zu eng und zu laut für eine Farm. Toby würde er gern mitnehmen, sinnierte er, der wäre so praktisch veranlagt und kräftig. Und die Lilly mit den roten Haaren auch, die solle ihm jeden Tag Kakao kochen und vielleicht würde er sie auch irgendwann mal heiraten.

Dandelia flüsterte leise während der Ansprache „Tierkunde in der Schule …“ und Oliver nickte lächelnd. Als er in Artans Alter gewesen war, wollte er später, wenn er groß wäre, im Finanzamt arbeiten, weil er gedacht hatte, dort würde das Geld gedruckt und er könne sich immer genug davon mit nach Hause nehmen.

„Und Mum kann dann immer den Mist wegzaubern im Stall!“, schloss Artan seine Überlegungen.

„Komme ich gar nicht in deinen Plänen vor?“, fragte Oliver.

„Nee, du musst doch im Zauberladen sein und verkaufen. Wovon sollen wir sonst leben?“

„Da hast du auch wieder recht …“, entgegnete sein Dad erheitert, bemüht, seine zuckenden Mundwinkel unter Kontrolle zu halten. Kinder wollten schließlich ernst genommen werden.

 

 

Die erste Etappe der Reise war letztlich doch recht angenehm gewesen. Stonehenge kam in Sichtweite und Artan war begeistert vom Anblick.

„Mum, kannst du mich bitte schnell dahinzaubern? Ich gehe schon mal vor und verspreche, dass ich nichts kaputtmache.“

„Kommt nicht in Frage. Zaubern verboten! Schon vergessen?“

„Außerdem sind wir eine Familie und machen alles zusammen im Urlaub“, ergänzte Oliver, der sich darauf freute, seine Beine vertreten zu können.

„Nehmen wir die Drachen mit?“, fragte er Dandelia. „Ich denke, hier könnten wir eine Ausnahme machen. Machst du sie bitte unsichtbar?“

Dandelia löste ihren Gurt, nachdem das Wohnmobil auf dem Parkplatz stand und ging nach hinten zum Transportkorb und schaute hinein.

„Ihr werdet es nicht glauben – die schlafen tief und fest. Soll ich sie wachmachen?“

Oliver dachte kurz nach, dann bejahte er. Am Ende würden sie während ihrer Abwesenheit aufwachen und in Panik geraten, weil ihre Menschen alle fort waren. Das wollte er ihnen nicht zumuten.

Behutsam öffnete Dandelia das kleine Türgitter und streichelte Wendi und Waldi wach, kraulte sie hinter den spitzen Ohren. „Na, ihr Lieben? Die Schaukelei macht euch wohl müde? Wollt ihr mit an die frische Luft? Dann ab auf die Schultern, ich mache euch für eine Weile unsichtbar. Aber immer schön bei uns bleiben, ja?“

Die Drachen atmeten auf. Endlich stand der Wagen! Das Fahren hatte ihnen Übelkeit beschert, darum hatten sie sich gegenseitig in den Schlaf geatmet. Warmer Atem, der von Nüstern zu Nüstern zieht, hat für avalonische Drachen etwas zutiefst Entspannendes. Sie hopsten ungelenk aus dem Katzenkorb, streckten Rücken und Flügel gut durch und dehnten sich. Als sie auf den Schultern saßen, sorgte die Hexe dafür, dass sie ungesehen mit ihren Menschen aussteigen konnten. Es wehte ein lauer Wind. Der Himmel hatte wohl selbst Urlaubslaune, denn er war hübsch blau und Schäfchenwolken zogen langsam über die Landschaft hinweg. Oliver spürte, wie Wendi ihren Schwanz um seinen Hals schlang, um einen besseren Halt zu haben. Er deutete auf das Schild am Eingang: „Wow, 5 £! Allein fürs Parken. Lass uns mal schauen, was der Eintritt kostet.“ Er überlegte angesichts der Eintrittspreise für eine Familie, wie wichtig es sei, an die Steine möglichst nahe heranzukommen. „Wenn wir Karten kaufen, gibt es die Parkgebühr erstattet.“

„Es gibt auch ein Café und ein Museum. Und ein neo-lithi-littisches Dorf“, buchstabierte Dandelia etwas angestrengt. Gedankenverloren streichelte sie über Waldis Krallen, es sah für Unbeteiligte aus, als würde sie sich langsam Fusseln von der Schulter streifen. Oliver zuckte etwas zusammen. Sie hatten Dandelias Allgemeinbildung vernachlässigt.

„Ach, was soll’s. Wir haben Urlaub. Ich kaufe uns jetzt Karten und dann nehmen wir den Shuttlebus zu den Steinen. Artan, immer schön bei uns bleiben, ja?“ Und viel leiser fügte er hinzu: „Das gilt auch für gewisse geflügelte Vierbeiner …“

Nach dem Kauf der Eintrittskarten nahmen Oliver und Dandelia den Jungen in ihre Mitte und schlenderten zum Shuttle. Ihre Kopfschmerzen und der fast permanente leichte Schwindel plagten die junge Frau immer noch, aber um nichts in der Welt hätte sie sich den ersten echten Familienurlaub entgehen lassen. Sie konnte immer noch zum Arzt gehen, oder sogar zu Doria. Für den Moment ging es ihr etwas besser, und sie atmete die gute Frühlingsluft tief ein und aus. Waldi atmete mit. Sie fühlte, dass er nicht ganz auf der Höhe war, machte sich aber keine Sorgen, denn das war nur natürlich, wenn auch nicht schön für ihn. Doch Drachen und ihre Menschen waren nun mal aufs Innigste miteinander verbunden. Dass sein Unwohlsein auf die „Reisekrankheit“, also auf die Fahrt an sich zurückzuführen war, auf die Idee kam sie gar nicht. Nachdem das Shuttle sie und andere Leute ins Besucherzentrum gebracht hatte, ging die Familie zuerst zu den neolithischen Häusern, es waren fünf an der Zahl. Die Originale wären jetzt etwa zweieinhalbtausend Jahre alt gewesen, erfuhren sie durch den Guide. Wendi, Olivers Drache, konnte sich einfach nicht beherrschen, sie nutzte die Unsichtbarkeit aus und schwebte unhörbar im Gleitflug in die Mitte des überraschend hellen und luftigen Raums. Als der Guide auf die dortige Feuerstelle mit dem Finger deutete, um über das Räuchern unter dem geflochtenen Holzdach zu dozieren, spuckte sie Feuer und entzündete das Stroh unter dem dekorativ geschichteten Brennholz. Wenn sie nur gekonnt hätte, dann hätte sie jetzt gekichert und sich vor Lachen den rundlichen Bauch gehalten. Leider war ihr das als Drache so nicht möglich, so ergötzte sie sich nur an Olivers Mimik, der ebenso fassungslos und verärgert wie amüsiert war über seine freche Drachengefährtin.

„Bitte hier nicht rauchen, auf gar keinen Fall!“, sagte der Guide verwirrt und trat das Feuerchen schnell aus. Er suchte nach der Kippe, doch war dort gar keine. Auch hatte niemand der Gäste nahe genug gestanden, und eigentlich hätte er es auch sehen müssen, wenn jemand seine gute Erziehung vergessen hätte. Er kam kurz aus dem Konzept, besann sich aber auf seine Professionalität und fuhr fort mit seinem Vortrag. Wendi flog zurück auf Olivers Schulter. Er wandte sich zur Tür, ging zwei Schritte abseits und flüsterte: „Na warte, kleine Lady, darüber sprechen wir noch.“

„Ich kann’s kaum erwarten, Mylord.“

Als Artan schließlich genug hatte vom Museum und den Schauhäusern, gingen sie zu den Blausteinen und umrundeten die Anlage.

„Wie schade, dass wir nicht richtig nah herandürfen. Ich hätte gern mal so einen Stein angefasst. Ob man wohl irgendwas spürt? Was meinst du, Dandi?“ Als sie nicht antwortete, drehte er sich um. Sie war kreidebleich und stocksteif. „Au,“ machte er und griff zu seiner Schulter. Wendi hatte sich tief in den Stoff gekrallt; ein winziger Tropfen Blut sickerte durch den Hemdstoff. „Was ist hier los?“

„Oliver! Du solltest dir nicht wünschen, die Steine zu berühren. Siehst du das denn nicht?“

„Nein, was soll ich denn sehen? Wendi krallt sich total in meine Schulter. Stimmt hier was nicht?“

Artan legte schutzsuchend seine Arme um die Hüften seiner Mum. Er spürte die Angst der Drachen. Dandelia legte blitzschnell einen Zauber über ihn, damit er nicht hören konnte, was sie jetzt zu ihrem Mann sagen musste.

„Siehst du wirklich nicht das Feuerrad über dem größten Blaustein da vorn? Es kreist gegen den Sonnenlauf und Tropfen aus Licht oder Feuer fließen hinab. Und siehst du auch nicht die leuchtenden Runen, die von den Feuertropfen geschrieben werden? Sie sind zu alt, als dass ich sie ganz genau übersetzen könnte, aber sie sind eine Warnung. Das kann ich mit Sicherheit sagen, denn ich bin in Runenkunde ausgebildet. Das hier ist ein … warte, ja … eine Art Grab! Eigentlich ein Gefängnis. In einigen Steinen sind die Seelen böser Magier gebannt. Es gab mal einen Krieg. Oh, die Steine sind viel, viel älter als Stonehenge selbst. Die Seelen wurden mit hierhergebracht, vermutlich wussten die Erbauer von Stonehenge das gar nicht.“

Sie fuhr sich mit der rechten Hand am Hals entlang, wo Waldi seinen Schwanz herumgewickelt hatte, und lockerte den Druck. Er zitterte am ganzen Leib und sagte leise: „Wir müssen hier weg.“ Mit der linken Hand streichelte sie beruhigend über Artans Rücken.

„Ich sehe wirklich nichts“, raunte Oliver. „Meine Magie ist nicht stark genug, vermute ich. Wenn du meinst, uns droht hier Gefahr, dann gehen wir lieber. Aber was ist mit den anderen Menschen?“

„Denen wird nichts geschehen. Die merken auch nichts, schau sie dir an. Der Hass der Gebannten gilt nur ihren Feinden, ihren Kerkermeistern, den Zauberern. Ich spüre, sie halten uns dafür, denn sie reagieren auf die Magie in uns, regen sich, wollen raus aus dem Stein, aber sie können nicht. Der Zauber, der sie hält, ist mächtig und alt. Ich habe nie zuvor etwas Derartiges erlebt.“

„Wir hauen ab, kommt mit.“

„Ich wünschte, Glewlwyd wäre hier. Der alte Wächter kann bestimmt die Runen genauer übersetzen.“

„Wir werden ihn dazu befragen. Aber nicht hier, nicht heute. Wir gehen jetzt was essen und fahren dann weiter nach London. Ich will ankommen, bevor es dunkel wird.“

„Einverstanden.“ Und an Waldi gewandt sagte sie noch leise: „Wir werden deine Krallen alsbald schneiden. Die sind ja messerscharf.“

Sie wandten sich in Richtung Schotterweg, der sie letztlich zurück ins Besucherzentrum führen würde. Dandelia hob den Zauber unauffällig auf, damit Artan wieder hören konnte.

„Mum, was war denn? Mir war, als hätten die Drachen Angst.“

„Sie sind nicht ängstlich, sie fühlen nur, dass das Wetter sich bald verschlechtern wird“, log sie. „Darum wollen wir jetzt zurückgehen.“

„Außerdem habe ich einen Bärenhunger“, rief Oliver gespielt gut gelaunt. „Ich will ans Büffet! Ihr auch? Was sagst du, kleiner Bär? Mir ist nach Pommes und Burgern zumute. Im Urlaub darf man auch mal Ungesundes essen.“

„Jaaa! Will auch welche. Und Ketchup! Und Mayonnaise. Und Gummibärchen.“

„Sollst du haben“, versprach Oliver.

„Kriege ich auch Coca Cola?“

„Nicht übertreiben, mein Schatz“, bremste Dandelia ihn aus. „Wenn ihr zwei in den Salat-Obst-und-Gemüse-Streik tretet, könntet ihr doch wenigstens was Gesundes trinken.“

Eine Weile später saßen sie im vollen Schnellrestaurant. Dandelia hatte eine unsichtbare „Glocke des Schweigens“ über sie und ihren Mann errichtet, wie sie es nannte. Oliver musste innerlich grinsen und feixen, denn seine Frau hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie damit eigentlich Mini Max zitierte; er liebte die alte Fernsehserie „Die unglaublichen Abenteuer des Maxwell Smart“. Oliver hatte mal versucht, ihr die Handlung und die Protagonisten zu erklären, stieß aber nur auf Unverständnis und große, fragende Augen. Daraufhin hatte er sich die DVD-Sammlung zugelegt und mit ihr und Artan zusammen die Episoden angeschaut. Genauer gesagt, er mit Artan. Dandelia hatte schon nach wenigen Folgen aufgegeben. Sie verstand einfach nicht den schrägen Humor. So gesehen, war es für ihn extrem schräg und witzig, dass sie unbewusst einen Begriff aus dem Agentenfilm für ihren Zauber verwendete.

„Glaubst du, dass das ein böses Omen für unseren Urlaub ist?“, fragte sie leise.

„Wohl kaum. Weißt du, mit etwas Abstand betrachtet, glaube ich nicht mal, dass in den Steinen wirklich gebannte Seelen sind. Das ist doch Unsinn! Die Runen kaufe ich dir ab, dass du die gesehen hast und so, warum nicht? Aber du sagst doch selber, dass die für dich kaum zu übersetzen waren. Mag sein, du hast die Inschrift falsch verstanden. Und mit uns selbst hat das alles schon mal gar nichts zu tun.“

Er legte einige Chicken Nuggets und Pommes neben seinen Teller und sah zufrieden, dass die Drachen trotz des Schreckens einen guten Appetit hatten. War lustig anzuschauen, wie die Happen immer kleiner wurden und schließlich vom Tisch verschwanden bis auf den allerletzten Krümel. Dass der ältliche Tischnachbar hinüberschielte und anfing, an seinem Verstand zu zweifeln, angesichts der zunehmend unsichtbar werdenden Stücke, bemerkten beide nicht. Als auch noch der Salzstreuer umkippte, ohne dass ihn jemand berührt hatte, gab ihm das den Rest. Er nahm sein Tablett, suchte sich einen anderen Tisch und schwor dem Alkohol ab. Für immer!

 

 

 

-4-

Der Aufenthalt in London gestaltete sich aufs Angenehmste. Sogar der Campingplatz im Südosten Londons war erfreulich sauber und ruhig, es gab große schattenspendende Bäume und zahlreiche Büsche. Ein idealer Ort, um von dort seine Besichtigungstouren zu starten. Sie wollten sich drei volle Tage Zeit nehmen, um die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt zu erkunden. Am zweiten Tag, gegen Abend, als Artan im Spielzeugladen „Papagaio“, der auf dem Weg zum Crystal Palace Caravan Club lag, völlig abtauchte und in seiner eigenen Welt versank, nutzte Dandelia die Gelegenheit, etwas zur Sprache zu bringen, was ihr seit letztem Weihnachten auf der Seele lag.

„Oliver, ich möchte dich etwas fragen.“

„Sicher doch, Darling.“

„Es ist sehr persönlich.“

„Nur zu, wir haben doch keine Geheimnisse voreinander.“

Dandelia nahm seine Hand und lächelte ihn sanft an, im Wissen, dass es sehr wohl einige Geheimnisse gab, die sie hütete und auch welche, die er vor ihr hütete. „Ich habe mich gefragt, da wir nun in deinem Geburtsort sind, ob du uns nicht deinen Eltern vorstellen möchtest.“

Oliver zuckte zusammen. Damit hatte er nun gar nicht gerechnet.

„Du weißt doch, die wollen mit mir nichts mehr zu tun haben. Und ich nicht mit ihnen.“

„Aber es sind doch so viele Jahre vergangen. Mag sein, sie haben Sehnsucht nach dir.“

„Wenn das so wäre, bräuchten sie nur anzurufen. Mein Laden steht im Telefonbuch und im Internet. Schon vergessen? Wir haben eine Website.“

„Oliver, denk doch auch mal an Artan. Hat er nicht ein Recht auf seine Großeltern? Er ist so ein sonniger Knabe, er schließt ihnen bestimmt schon beim ersten Treffen das Herz auf. Willst du es nicht wenigstens versuchen? Du musst sie doch auch irgendwie vermissen, deine ganze Familie … also, ich habe meine vermisst. Ganz fürchterlich.“

Er vermisste seine Eltern ganz und gar nicht. Nur die Eltern, die sie ihm hätten sein können, sein müssen. Was in Merlins Namen war so verwerflich daran, dass er das Erbe seines Urgroßvaters angenommen hatte? Jede Familie hatte in ihrer Ahnenreihe einen bunten Vogel oder ein schwarzes Schaf. Dazwischen ganz viele normale Leute. Gegen seinen Willen stiegen Erinnerungen in ihm auf. Wie er mit seinem Dad über den gepflegten Rasen um die Wette lief, wie er von ihm hochgehoben wurde, seine Arme spreizte und sich wie ein Adler fühlte, der durch die Lüfte schwebt, frei und stark. Ja, es hatte auch schöne Momente gegeben, solange er ein kleiner Junge war. Viele sogar, um ehrlich zu sein. Doch er hatte ihn auch geschlagen, und das würde er ihm nie verzeihen. Der endgültige Bruch entstand erst, als er sein Studium abgebrochen hatte, um mit Ranald umherzuziehen, und hatte sich vertieft, als er den Laden und das Grundstück übernahm, um seinem Urgroßvater die Ehre zu erweisen. Immerhin hatte dieser ausdrücklich seinen Urenkel im Testament bedacht. Oliver zog seine Hand aus Dandelias, und strich sich durch die Haare, nahm seine Brille ab, putzte sie umständlich mit einem Stofftaschentuch und setzte sie dann langsam wieder auf. Sein altes Ritual, das ihm etwas Zeit zum Denken gab. War es an ihm, das Eis zu brechen? Zu vergeben, dass sie ihm keine bedingungslose Liebe schenkten, sondern mit ihrer Enttäuschung und Vorwürfen überhäuften, anstatt ihn mal zu fragen, was er sich wirklich vom Leben wünschte? Zu vergeben, dass sie ihn nach ihrem Bilde hatten formen wollen und keine Abweichung duldeten? Hatten sie auf ihre Art nicht auch einfach nur das Beste für ihn gewollt? So, wie er das Beste für Artan wollte? Und ihm vielleicht doch nicht geben konnte … durfte er seinem Sohn die Großeltern vorenthalten?

„Nun. Ich werde es versuchen. Einmal. Unter der Bedingung, dass ich zuerst allein zu ihnen fahre. Es ist, ehrlich gesagt, nicht weit weg von hier.“

Dandelia war erleichtert. Vielleicht würden sie nun doch eine große, glückliche Familie!

„Warum allein?“

Oliver lachte trocken. „Weil durchaus die Möglichkeit besteht, dass wir schon vom Butler abgewiesen werden wie Bettelvolk. Willst du das Artan zumuten?“

„Das würden sie doch wohl nicht tun! Oder doch? Und was ist ein Battla? Ein Türwächter?“

„Sowas in der Art, ja. Aber mit erweiterten Aufgaben. Hör zu, ich werde allein gehen und die Lage erkunden.“

„Du schämst dich doch wohl nicht für mich? Wir können ihnen verschweigen, dass ich eine Hexe bin. Ich werde mich auch sehr anstrengen, ich schwöre es dir. Keine Zauberei, sogar die Drachen werden wir im Caravan zurücklassen. Für die können wir nicht garantieren, das gebe ich zu.“

„Und wenn sie uns besuchen kommen in Exeter? Glaubst du, sie wären erfreut über unser kleines, wildes Paradies zwischen den Häusern oder über die Tatsache, dass der Laden nicht mal genug für ein Auto abwirft? Sie sind sehr reich und vom Leben verwöhnt.“

„Daddy, schau mal!“

Artan kam angerannt und hielt Oliver einen riesigen Stoffesel unter die Nase. Am Ohr hing das Preisschild, dass ihn innerlich erbleichen ließ. Und dann kam auch schon die befürchtete Frage.

„Bitteeee, darf ich ihn haben? Bitte, bitte, bitte! Er soll mein Freund sein.“

Dandelia wehrte ab. „Nein, der ist viel zu teuer, mein Bärchen. Willst du nicht lieber etwas anderes haben?“

Artans Gesichtchen verdunkelte sich förmlich vor Enttäuschung und Esel-Liebeskummer.

„Aber sicher bekommst du ihn!“, widersprach Oliver seiner Frau. „Wir machen doch Urlaub! Komm, wir gehen zur Kasse und danach geht’s ab zum Campingplatz, es ist spät genug. Okay?“

„Ja! Danke, Daddy, du bist der Beste!“

„Tja, dann lasst uns hoffen, dass mein Daddy während unseres Urlaubs guten Umsatz macht“, murmelte Dandelia, während sie leicht verärgert den Laden verließ, um draußen auf Mann und Sohn zu warten und ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Erwartete sie zu viel von Oliver?

 

 

Artan fiel auch an diesem Abend selig und todmüde ins Caravanbett. Dicht neben ihm stand der Esel, dessen langes Ohr er festhielt. Manchmal murmelte er im Schlaf oder lachte gar, seine Träume waren offensichtlich lebhaft. Dandelia und Oliver schauten ihn liebevoll an, während sie noch einen Rotwein genossen und dazu Käsewürfel und Salzstangen knabberten. Die Schulterdrachen schnappten sich auch Käsestücke und zogen sich in den Alkoven zurück.

„Frechheit!“, rief Oliver ihnen leise hinter, meinte es aber nicht so. „Und überhaupt, Wendi, deine Strafpredigt wegen des Feuers habe ich nicht vergessen. Hatte nur keine Zeit dafür.“

Wendi ließ von oben ihren gezackten Schwanz herabhängen, wackelte damit und deutete offensichtlich einen Stinkefinger an. Dann zog sie sich zu Waldi zurück und die Menschen hörten nur noch ein Schmatzen und Gurren.

„Ich fasse es ja nicht, hast du das gesehen, Dandi?“

„Allerdings. Seit wann ist sie so frech?“

„Noch nicht lange. Mir scheint, sie verändert sich. Ist dir auch schon aufgefallen, dass das Altrosa ihrer Schwanzzacken jetzt eher ein Kirschrot ist?“

„Jetzt, wo du es sagst – ja. Aber der Farbwechsel ging langsam vonstatten.“

„Ob sie krank ist?“

Dandelia nahm einen tiefen Schluck Wein und leckte sich danach die Lippen. Einfach herrlich, dieses Gesöff. Besser als ihr eigener Brombeerwein, und das wollte was heißen.

„Krank? Eher nicht. Ich halte das für ein Zeichen zunehmender Reife. Waldi hatte auch so eine Phase, aber da er durch und durch grün ist wie ein Frosch, fiel es optisch nicht so auf. Nur sein Verhalten war für einige Monate, sagen wir mal … rüpelhaft.“

„Keineswegs!“, erklang es gespielt entrüstet aus dem Alkoven.

Oliver zog die Augenbrauen hoch und dachte nach. Sollte das etwa heißen …? „Sag bitte nicht, magische Wesen aus dem Kessel haben auch sowas wie die Pubertät.“

„Doch, durchaus. Und wenn ich jetzt Parallelen ziehe zu den wenigen Schultertieren gewisser Leute aus Avalon, die Wirtin vom Pub mit ihrer durchgeknallten Eule gehört übrigens dazu, dann kann ich nur zu der Erkenntnis kommen, dass …“

„Nun red‘ nicht so geschwollen, spuck‘s aus!“

Dandelia beugte sich vor und flüsterte: „Deine ehrwürdige Blodwen-Rosalie will bald Babys haben. Kleine, grünweiße Waldi-Babys. Ich prophezeie dir, die wird bald zum Tier, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Nein!“, rief er entgeistert und auch etwas zu laut. Artans Augenlider flatterten kurz. Fast wäre er aufgewacht. Oliver bedeutete ihr, eine Schweigeglocke zu zaubern, damit sie offen reden konnten.

„Doch! Offenbar verändert das Leben außerhalb von Avalon nicht nur meine Eltern, es entmagisiert auch die Drachen. Sie werden wohl irgendwann richtige Tiere sein.“

Oliver runzelte die Stirn. Das würde ihm aber gar nicht gefallen. Es war schön, mit Wendi zu reden und mit ihr ein Späßchen zu machen. Dann kam ihm ein erschreckender Gedanke.

„Bei allen Heiligen – legen Schulterdrachen viele Eier oder nur eins? Oder gebären sie wie Säugetiere? Ist es dann Artans Drache oder wie läuft das ab? Was machen wir, wenn es ein ganzer Schwung wird? Die kriegen wir doch nie unter Kontrolle. Und wieso wird meine Wendi jetzt schon rollig, läufig … oder wie man das auch nennen soll. Gibt es für Drachen ein extra Wort dafür? Feurig? Und wieso meinst du zu wissen, dass sie Junge will?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Das gab es noch nie. Wir sollten Doria oder Glewlwyd dazu befragen. Oder die Drachen selber.“

„Wie, du hast ‚nicht die geringste Ahnung‘? Du hast doch gerade gesagt, dass Wendi …“

„Eine Frau fühlt sowas eben. Fühlen, Oliver, fühlen!“, unterbrach sie ihn und klimperte lustig übertrieben mit den Wimpern.

Oliver schaute seine Dandi lange an, sein Blick wurde weich und mild. Und ob er fühlen konnte … denn Liebe war das größte und schönste Gefühl. Und seine Liebe galt Dandelia allein. Und natürlich war da noch die Vaterliebe zu Artan, die Liebe zu Wendi und Waldi, zu seinem alten Zauberladen und noch das eine oder andere mehr. Sein Leben war erfüllt und gut. Oliver fühlte große Dankbarkeit und Zufriedenheit. „Was auch immer kommt – ich werde alles willkommen heißen, wenn ich nur mit dir zusammen sein kann bis ans Ende meiner Tage.“

Dandelia beugte sich über den schmalen Tisch und küsste ihn zärtlich. „So soll es sein. Du und ich für immer.“ Mit einer kleinen Drehbewegung der Hand ließ sie die Glocke zusammenfallen.

„Dir scheint es besser zu gehen, Darling, sind die Kopfschmerzen weg?“

„Fast. Aber der leichte Schwindel ist noch da. Ich glaube, das bisschen Zaubern hat mir gutgetan. Ich habe den Eindruck, dass auch ich mich verändere, seit ich nicht mehr auf Avalon lebe. Früher, auf Avalon, gab es auch mal Zeiten, wo ich lange nicht gezaubert habe. Einfach weil es keinen Grund dafür gab. Aber es ging mir gut dabei. Doch hier in England staut sich alles in mir an, will raus und darf nicht. Vielleicht war es doch ein Fehler, Avalon endgültig zu verlassen.“

„Denk daran, Dandi, es hätte Artan fast das Leben gekostet. Solange die Separatisten dort leben, werden wir zwischen den Fronten zerrieben. Selbst deine Eltern hatten dort Schwierigkeiten mit ihnen, weil sie sich verändert haben in der langen Abwesenheit von der Insel. Nicht umsonst sind sie zu uns nach Exeter gezogen und nehmen mit dem Dachboden und Gästebetten vorlieb.“

„Ich verstehe nicht, weshalb der Hohe Rat und Glewlwyd nicht härter gegen die Idioten vorgehen.“

„Sie sind doch alle miteinander verwandt. Und was sollten sie auch großartig tun? Die Abweichler bestrafen? Das gäbe Bürgerkrieg. Man kann nur mit ihnen reden, verhandeln, sie überzeugen.“

Dandelia schüttelte den Kopf. „Nein, sie sind zu extrem und rückwärtsgewandt. Das ist gar nicht so anders als hier oder auf dem Kontinent. Überall gibt es solche Typen. Sie hassen alle, die nicht so sind wie sie. Egal wo, ob Europa, Russland, die USA … überall gibt es eine gewisse Anzahl Extremisten, die sich absondern. Die lassen ja auch nicht vernünftig mit sich reden. Das sehe ich doch in den BBC-Nachrichten.“

Oliver goss noch mal Wein nach und stellte die leere Flasche dann in einen Korb. Aber wo sollte er mit seiner Familie denn leben? Alles änderte sich, ohne dass sie es aufhalten konnten. Da kam ihm ein wahrscheinlich abstruser Gedanke, aber er sprach ihn dennoch aus: „Gibt es eigentlich noch mehr magische Orte in der Welt? Abgesehen von der Harry-Potter-Ausstellung und Disneyland“, scherzte er halbherzig.

„Das weiß ich wirklich nicht. Ich kenne ja nur Avalon. Du meinst, damals haben sich noch mehr Magische von den normalen Menschen abgeschottet, an Orten, von denen man nichts mehr weiß?“

„Es ist doch vorstellbar. Wenn ihr eine ganze Insel im Ärmelkanal über fast tausend Jahre verstecken konntet, mag das anderen auch gelungen sein. Es gab bestimmt nicht nur in Britannien Zaubererfamilien. Und wenn doch, sind sie möglicherweise ausgewandert, haben sich in anderen Ländern niedergelassen und versteckt, um nach ihrer Art zu leben. Es ist auch denkbar, dass in alter Zeit Magier Avalon verlassen haben wegen Bevölkerungsüberschuss.“

„Davon ist mir nichts bekannt. Aber das heißt ja nichts. Die Aufzeichnungen sind nicht vollständig. Es mag auch sein, dass es Seuchen oder Hungersnöte gegeben hat und die Familien froh waren, überhaupt noch da zu sein und das Volk langsam wieder vergrößern zu können. Das sind aber alles nur Spekulationen. Wir haben unsere Existenz einfach als normal empfunden und nicht hinterfragt. Erst als wir euch wiederentdeckten, quasi die andere Seite des Lebens hinter dem Schleier, da wurden einige von uns wachgerüttelt. Es schien uns, als wäre da eine andere Welt – aber es gibt nur diese eine, nur die eine Erde. Wir haben uns jahrhundertelang einer Illusion hingegeben, ihr wart nur noch ein Mythos.“

„Ihr für uns ja auch. Was sagst du eigentlich zu Gandalf aus Herr der Ringe? Der ist doch gut gelungen, oder? Erinnert mich etwas an unseren Glewlwyd. Nur, dass er deutlich älter ist als unser magischer Haudegen.“

Dandelia seufzte. Ihr Kopfweh wurde wieder stärker.

„Lass uns nach diesem Glas schlafen gehen, okay?“

„Okay. Morgen früh, gleich nach dem Frühstück werde ich bei meinen Eltern vorbeischauen.“

 

 

Die Nacht bescherte der jungen Hexe unruhige Träume. Entsprechend müde war sie beim Frühstück, das Oliver gemeinsam mit Artan gemacht hatte. Es gab löslichen Kaffee für die Eltern, Kakao für den Jungen und Wasser für die Drachen. Die kleinen Pfannkuchen, warm aus der Pfanne auf den Teller, wurden dick mit Marmelade bestrichen. Dandelia hatte die Drachen unsichtbar gezaubert, damit sie draußen auf die Jagd gehen konnten. Ganz wohl war ihr dabei nicht, aber Waldi und Wendi waren so lange wortlos zwischen der Windschutzscheibe und der Tür hin- und hergeflogen, bis sie entnervt aufgab und sie rausließ.

„Wo fahren wir heute hin, Dad?“

„Gen Norden. Unser Ziel liegt in der Gegend von Inverness in Schottland. Wir fahren über Liverpool und Glasgow.“

„Schaffen wir das in einem Tag?“, fragte Dandelia.

„Nur, wenn wir zehn oder zwölf Stunden durchfahren. Das schaffe ich nicht. Wir nehmen uns zwei Tage Zeit dafür und halten unterwegs, wo es schön ist. Pro Tag ungefähr zweimal je drei bis vier Stunden fahren und zwischendrin Pause machen. Oder aber, wir fahren über Cambridge und Chester, und dann von dort nach Schottland. Was meinst du?“

„Die Route ist mir einerlei. Hauptsache, wir kommen bei deinem Freund Ranald an.“

„Und ich will Nessie sehen!“, verkündete Artan. „Ich werde ein Foto von dem Ungeheuer machen. Und dann werde ich berühmt!“

Oliver klopfte ihm gönnerhaft auf die zarte Kinderschulter. „Tu das. Und denk an deinen alten Vater, wenn du berühmt und reich geworden bist.“ Er freute sich, dass die Digitalkamera, die er dem Jungen aus seinem privaten Fundus überlassen hatte, ihn für die Fotografie begeistern konnte. Es gab jetzt schon zwei gefüllte Speicherkarten. Artan hatte wohl jeden Stein und Grashalm einzeln fotografiert.

Oliver erwischte Dandelia dabei, wie sie ins Leere starrte und ihren Kaffee kalt werden ließ. Er stupste sie leicht an und deutete auf sein Ohr und neigte den Kopf Richtung Kind. Sie verstand und zauberte eine Glocke über sie, die den Jungen ausschloss. Er drückte Artan noch schnell einen Asterix-Comic in die Hand, den er für ihn gekauft hatte.

„Hast du was? Du siehst so traurig aus.“

„Ach, eigentlich bin ich nicht wirklich traurig. Ich habe mir nur ausgemalt, wie es wäre, wenn ich wie meine Eltern werde. So völlig ohne Magie und Zauberkraft. Im Grunde wäre ich dann wie jemand, der blind und taub ist. So käme ich mir dann vor. Behindert. Unvollständig.“

„Das tut mir leid, dass sich das für dich so anfühlen würde. Andererseits wäre es vielleicht auch eine Erleichterung für dich. Denk mal nach! Nie wieder Geheimnisse. Sein, wie alle anderen sind, nicht mehr ständig aufpassen müssen. Du hast doch mal gesagt, du wärst gern wie die anderen Frauen in Exeter.“

„Mittlerweile weiß ich nicht mehr, was ich will.“

Sie beendete das Gespräch, indem sie mit einem Fingerzeig die unsichtbare Glocke verschwinden ließ.

„Ich mach mal die Tür auf, falls die Drachen wieder in den Caravan wollen. Warm genug ist es ja, um bei offener Tür zu sitzen.“

Artan stellte seinen Kakaobecher energisch auf den Tisch und schaute seine Eltern ernst an.

„Ihr habt es schon wieder getan!“

„Was denn?“, fragte Oliver, Ahnungslosigkeit vortäuschend.

„Ihr macht eure Stimmen weg! Als wir an den Steinen waren, habt ihr das auch getan.“

Er zuckte zusammen, als die Drachen mit Karacho in das Wohnmobil zurückkehrten, wieder sichtbar wurden und auf dem Tisch landeten. Wendi kippte dabei seinen Becher um, und schlabberte, die Gunst der Stunde nutzend, seinen Kakao auf.

„Ihr seid gemein!“

„Wieso bin ich gemein? Den Kakao hättest du doch eh nicht mehr getrunken“, fragte Wendi.

Artan sprang auf, schob sich an seiner Mutter vorbei und verließ den Wagen.

„Komm sofort zurück!“, rief Dandelia ihm hinterher. „Hat er jetzt uns oder die Drachen gemeint?“, wandte sie sich an Oliver und spürte ein leises, schmerzliches Ziehen um ihr Herz herum.

„Lass ihn für einen Moment, behalten wir ihn nur im Auge“, schlug Oliver vor. „Er hat ja recht. Wir schließen ihn aus durch die Glocke des Schweigens.“

„Aber das ist doch nur zu seinem Besten!“, widersprach sie.

„Wir sollten es ihm erklären. In Zukunft müssen wir eben warten, bis er schläft, wenn es etwas zu bereden gibt, was er nicht hören soll.“ Oliver beugte sich seitlich vor, damit er Artan durchs Fenster im Auge behalten konnte. Er saß an einen Baum gelehnt und hielt seine Kamera in der Hand, schaute sich, soweit sein Vater das aus der Ferne beurteilen konnte, die Fotos im Speicher an. „Ich geh doch mal zu ihm. Oder willst du?“ Dandelia verneinte, denn sie bekam grad wieder starke Kopfschmerzen. Oliver schlenderte zum Baum und ließ sich neben seinem Sohn im Gras nieder. Es war noch ein wenig feucht vom Morgentau. Auf der Spitze eines Halms neben seinem linken Schuh saß ein kleiner Grashüpfer und schwankte leicht hin und her. Artan beachtete seinen Vater nicht, klickte sich weiter durch seine Fotos.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137675
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Magie Hexe Schottland Familie Urban Fantasy Fantasy Humor

Autor

  • Marlies Lüer (Autor:in)

Die Autorin lebt mit Blick auf idyllische Weinberge in einem milden Klima. Das ist fast so gut, wie ein Hobbithaus im Auenland zu bewohnen, wo sie eigentlich mit ihrem Mann leben möchte. Sie liebt ihren Garten und sammelt - Drachen!
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Titel: Dandelia Dorca und das Ungeheuer von Loch Ness