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Die Farbe des Jenseits

von Hugo Nefe (Autor:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

Die Irrwege einsamer Seelen sind rätselhaft und düster. Doch manchmal scheint es, dass sie das Echo aus dem Jenseits deutlicher zu vernehmen vermögen als jene, die vom Lärm und der Geschäftigkeit der Welt betäubt durchs Leben hasten. Ludwig hat sich nach einem traumatischen Erlebnis in seiner Jugend weitestgehend in sich selbst zurückgezogen. Nur ab und zu lädt er zu skurrilen Seminaren und Workshops in seinen abgelegenen Einödhof im Bayerischen Wald ein. Als dort eine Frau erscheint, die ihn an seine tragische Jugendliebe erinnert, bricht eine alte Wunde in ihm auf. Eine Verkettung unglücklicher Umstände zwingt Ludwig Schritt für Schritt, zu immer makabreren Entscheidungen, bis schließlich die Grenze zwischen Schein und Sein für ihn verschwimmt. Liebe oder Wahnsinn? Täter oder Opfer? Diese beiden Fragen bleiben in diesem eiskalten Thriller bis zur letzten Seite offen. Hinweis: Die Erstauflage dieses Buches erschien 2018 unter dem Titel: "Sündige Wandlung".

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


HUGO NEFE

Die Farbe

Des Jenseits

Atelier-Verlag

2. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten!

© 2021 Atelier-Verlag 94363 Oberschneiding

www.nefe.de

„Was du liebst, das lasse frei!

Kommt es zurück,

dann gehört es dir – für immer.“

Konfuzius

Prolog

Ramona F. hatte sich schon oft gefragt, wie es wohl wäre, an ihrer eigenen Beerdigung teilzunehmen. Sie war jetzt 28, aber sie wollte nicht warten, bis sie gestorben war, um es herauszufinden.

Im Wartezimmer ihres Arztes war sie beim Blättern durch ein Magazin auf einen Artikel gestoßen, in dem es hieß, dass Scheinbeerdigungen in Südkorea gerade der volle Hype seien. Bei einer anschließenden Recherche im Internet stieß sie dann tatsächlich auf jemanden, der auch hier in Deutschland ein Seminar zu diesem Thema anbot.

Ramona F. liebte Seminare – je skurriler desto besser. Doch nahm sie nicht etwa daran teil, um sich fortzubilden, oder weil sie ein überzeugter Anhänger einer bestimmten Zeitgeistströmung gewesen wäre, sondern einzig aus dem Grund, ihre Zeit totzuschlagen. Zeit und Geld hatte sie genug – ein Umstand, der schon von jeher die ausgefallensten Wünsche weckte.

Der Mann bewarb sein Seminar mit dem vielversprechenden Slogan: „Gönn dir den 20-Minuten-Tod, um das Leben wieder zu genießen!“

Leider fiel der Termin des nächsten Seminars genau in den Zeitraum, in dem sie ihre dritte Psychotherapie am Bezirksklinikum Regensburg antreten sollte.

Der Umzug von Berlin und ihre zweite Scheidung hatten ein gewaltiges Loch in ihr soziales Netzwerk gerissen. Ein Großteil ihres Bekanntenkreises war weggebrochen und mit ihm etliche Zacken aus der Krone ihres Selbstwertgefühls. Leider hatte sie zu spät erkannt, dass viele ihrer sogenannten Freunde nur Gesinnungsgenossen waren – Gesinnungsgenossen ihres Mannes, dessen Gesinnung sie allzu bedenkenlos übernommen hatte, statt auch nach der Hochzeit noch an ihrer eigenen weiterzubasteln.

Das Job-Angebot, das ihr eine Regensburger Bank gemacht hatte, bot in keiner Weise die Karrieremöglichkeiten, wie sie sie in Berlin gehabt hätte, und so war sie erst mal zu Hause geblieben, um sich um die vielen Gäste zu kümmern, die in ihrer Villa in Lappersdorf, einem Vorort von Regensburg, ein und ausgingen.

Anfangs hatte es ihr sogar noch Spaß gemacht. Nach und nach aber zeichnete sich klar und deutlich ab, was ihr Umfeld wirklich an ihr schätzte – es war nicht ihre Persönlichkeit, es war ihre gesellschaftliche Funktion. Von da an begann der Wurm der Unzufriedenheit in ihr zu nagen. Als dann auch noch eine Affäre ans Licht kam, die ihr Mann – Chefarzt am Regensburger Klinikum, Halbgott in Weiß – mit einer Krankenschwester begonnen hatte, hing der Haussegen vollends schief. Alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn besagte Krankenschwester nicht auch noch schwanger von ihm geworden wäre. Das schmeckte bitter wie Galle, weil sie selbst keine Kinder mehr bekommen konnte.

Ihr Gatte war einsichtig – einsichtig allerdings auf seine ätzend überhebliche Art. „Du hast ja recht, Schatz“, hatte er Zerknirschung heuchelnd gemeint, „niemals mit dem Personal!“

Dies als Entschuldigung anzunehmen, hätte bedeutet, ihm selbst das Hintertürchen zu öffnen, das es ihm in Zukunft gestattete, auf alles Jagd zu machen, was sich außerhalb des Klinikbereichs herumtrieb.

Denkste! Sie war zwar in vielen Bereichen noch unerfahren, aber sie war auch nicht doof.

Sie besuchte etliche Scheidungsanwälte, bis sie schließlich auf den richtigen stieß: weiblich, bissig, selbst geschieden. Diese Qualifikation garantierte, dass das Feuer, das sie unter dem Hintern ihres Noch-Gatten zu entfachen gedachte, auch heiß genug sein würde.

Es war heiß genug.

Vielleicht ein bisschen zu heiß. Unbeabsichtigt hatte sie ihrem Ex den Status „Gegrillter Märtyrer“ verschafft, was seine Sympathiewerte in die Höhe schnellen ließ, während ihre eigenen drastisch sanken.

Einen um den anderen Namen musste sie aus ihrer Adresskartei streichen. Die Neueinträge, die jetzt darin erschienen, lasen sich wie das „Who is Who“ des Therapeutischen Gewerbes. Seelentröster jeglicher Couleur drängten sich jetzt in das Vakuum, das die abgefallenen Freunde und Bekannten hinterlassen hatten.

Ihr war klar, dass es sich dabei um nichts anderes als bezahlte Zuwendung handelte. Aber lieber bezahlte Zuwendung als gar keine, wenn man schon keinen mehr hatte, der sie einem schenkte.

Geld war kein Thema für sie. Zumindest in dieser Hinsicht waren ihre Scheidungen segensreich gewesen.

Ihren ersten Mann – 12 Jahre älter als sie – hatte sie mit 20 geheiratet. Nach drei Jahre, in denen jeder von ihnen seiner eigenen Karriere nachgegangen war – sie, bei einer Berliner Bank, er, als Gründer einer Softwarefirma, die er schließlich an die Börse brachte und kurz darauf für etliche Millionen verkaufte – war die Ehe zu Ende. Darauf folgten zwei Jahren Chaos in ihrem Leben: Reisen, Partys, Schönheitsoperationen und ein beträchtlicher Verschleiß an Männern – Männern für eine Nacht. Es war aber nicht unersättliche Lust, die sie in ihre Arme trieb. Vielmehr war der involvierte Sex nur eine unerwünschte Nebenwirkung dieser Medizin gegen die Einsamkeit. Sie nahm die Männer wie Notfalltropfen gegen die Angst allein zu sein; regelmäßig, automatisch und ohne großen Gefühlsaufwand – ex und hopp!

Dem Gros der Männer kam dies entgegen, weil sie schon von Natur aus eher hardware- als softwareorientiert waren. Für Ramona F. waren Männer in dieser Zeit eine Droge mit Kurzzeitwirkung, deren Dosis ständig erhöht werden musste, um noch zu wirken – ein Teufelskreis.

Dann lernte sie Max ihren zweiten Mann kennen. Er war Oberarzt an der Charité. 18 Jahre älter als sie. Ihr Hang zu älteren Männern wurde ihr damals bewusst. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ekstase. Heirat folgte. Dann die Berufung ihres Mannes als Chefarzt an die Uni-Klinik Regensburg. Sie wurde schwanger. Fehlgeburt. Die Ärzte rieten von weiteren Schwangerschaften ab. Sie ließ sich sterilisieren. Von da an war es, als habe die Verödung ihrer Eileiter auch die seelische Befruchtung in ihrer Beziehung unterbrochen – ihre Ehe trocknete aus. Ihr Mann begann mit seinen geheimen Exkursionen in andere Feuchtgebiete. Wenig später dann, die unvermeidliche Scheidung Nr. 2.

Ramona F. war der Typ, der keine Ruhe gibt, bis er erreicht hat, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Sie wollte dieses Seminar, und sie wollte es sofort. Das Motto „Gönn dir den 20-Minuten-Tod ...“ klang zu verlockend. Wenn sie nur daran dachte, bekam sie eine Gänsehaut. Gedanken an den Tod hatten bei ihr schon immer ein erotisches Prickeln ausgelöst. Die Verbindung von Tod und Eros hatte was von einer Schwulenehe – sie war ein Triumph des Geistes über die Natur.

Spontan hatte sie zum Telefon gegriffen und den Mann, der das Seminar veranstaltete, angerufen.

Mit ruhiger Stimme hatte er ihr erklärt, dass sein Seminarplan bereits feststehe und er des Aufwands wegen nur mit mindestens fünf Teilnehmern arbeite. „Kein Problem!“, hatte sie erwidert. „Ich bin bereit, auch die fünffache Kursgebühr zu zahlen, wenn Sie für mich einen Einzeltermin ermöglichen können. Gleich morgen! Ich brauche diese Erfahrung nicht irgendwann, ich brauche sie jetzt!“

„Cash?“, hatte der Mann gefragt, und ihre Antwort war: „Bar auf die Hand!“

Der Deal war abgeschlossen. Sie hatte wieder mal bekommen, was sie wollte.

Jetzt lag sie, nur mit einem weißen Leinenumhang bekleidet, in einem schlichten Sarg aus Fichtenbrettern und hörte das Dröhnen der Hammerschläge, mit denen der Mann den Deckel über ihr zunagelte.

Dies alles gehöre zum Ritual, hatte er ihr bei Kerzenschein und Weihrauchduft in seinem Einführungsgespräch erklärt. Sein Vortrag hatte sie tief berührt. Seine Worte waren Balsam für ihre wunde Seele gewesen.

Anschließend hatte er ihr noch ein Video gezeigt, in dem das Prozedere der Scheinbeerdigung zu den Klängen von Mozarts Requiem in D-Moll vorgestellt wurde. Dazu gehörte es auch, dass sie an einem Pult, das neben ihrem Sarg stand, einen Abschiedsbrief verfasste, in dem sie ihren Wunsch zu sterben ausführlich begründete. Sie sollte mit allem abschließen. Was bedingte, dass sie sich auch über die Verteilung ihres Vermögens Gedanken zu machen hatte. Das Ergebnis sollte sie, gleich einem Testament, ebenfalls zu Papier bringen.

Ramona F. war aber auf die Schnelle niemand eingefallen, dem sie aus Überzeugung irgendetwas hätte vermachen wollen. Ihre beiden Ehen waren kinderlos geblieben, und mit der Verwandtschaft hatte sie schon längst gebrochen. Sie war ein Einzelkind, aber auch zwischen ihr und den Eltern herrschte seit ihrer zweiten Scheidung Sendepause. Sie hatte deren biederes Lamento über ihre Bindungsunfähigkeit satt. Fragen wie „Was haben wir nur falsch gemacht, Liebes?“ oder Seufzer wie „Was ist doch, trotz liebevollster Aufzucht, für ein Widerborst aus dir geworden!“, hatte sie irgendwann nicht länger mehr ertragen.

In einem Anflug von augenzwinkerndem Galgenhumor hatte sie schließlich ihren Seminarleiter als Alleinerben eingesetzt. Was soll’s, dachte sie, ist ja nur für 20 Minuten.

Anschließend sollte dieses Testament nebst Abschiedsbrief von ihr eigenhändig verbrannt werden. In dem alten Kanonenofen, der da weiter hinten in dem düsteren Raum, der früher mal ein Stall gewesen war, vor sich hin wummerte. Alles würde bei diesem letzten Akt des Sterberituals in Rauch aufgehen, und sie wäre als neuer Mensch geboren.

Es konnten nicht mehr als vier Nägel gewesen sein, die der Kursleiter eingeschlagen hatte. Jetzt herrschte Ruhe und absolute Dunkelheit um sie.

Es war enger in dem Sarg, als sie gedacht hatte.

Tatsächlich war es eher eine Kiste, deren Deckel nicht wie bei regulären Särgen konisch aufgebaut war, sondern flach. Alles drehte sich ja nur um die Illusion.

Sie lag auf einer Steppdecke. Im Nacken ein Polster.

Wenn sie ihren Kopf zu heben versuchte, stießen Stirn und Nase nach wenigen Zentimetern an das Holz des Deckels. Ihre Arme lagen an den Außenwänden an. Kein angenehmes Gefühl. Aber darauf hatte sie der Mann hingewiesen und gemeint, sie solle sich auf eine Erfahrung gefasst machen, die unter die Haut ginge. Das war der Zweck der Übung. So musste es sein. Denn schließlich sollte sie aus diesem Ritual seelisch erfrischt und mit klaren Perspektiven für ihre Zukunft hervorgehen.

In der letzten Zeit hatte sie mehrere Suizidimpulse verspürt. Zunächst hatte sie diese wie den Ruf eines Geliebten empfunden, der um sie lockte und warb. Doch irgendwann wandelte sich diese Empfindung. Der Ruf wurde eindringlicher. Er wurde zum Kommando, dessen Echo nicht mehr aufhörte, in ihrem Kopf nachzuhallen. Das musste aufhören ... ein für alle Male! Deshalb die Psychotherapie, deshalb auch dieses Seminar.

Jetzt nahm sie den intensiven Harzgeruch wahr, und für einen Moment fühlte sie sich wie ein Käfer, der in Bernstein eingeschlossen war – starr, bewegungsunfähig, konserviert für die Ewigkeit.

Wie viel Zeit war schon vergangen?

Sie wusste es nicht.

Ihre Armbanduhr, ihr Handy und ihr Schmuck befanden sich in der Handtasche hinter dem chinesischen Paravent, wo sie ihre Kleidung gegen das Totenhemd ausgetauscht hatte. Alles hatte sie ablegen müssen. Nichts von Wert durfte sie auf dieser Scheinreise in den Tod begleiten. Das war die Regel.

Kein Lichtstrahl drang von außen durch die hölzernen Planken. Das Schwarz um sie herum war vollkommen.

Nach einer Weile, die ihr vorkam wie eine Ewigkeit, glaubte sie, kleine Lichtblitze zu sehen. Doch auch wenn sie die Augen schloss, waren sie da. Es konnte sich also nur um eine Gaukelei ihres über- oder unterforderten Gehirns handeln.

Dann kam die erste Welle der Angst, und sie brandete wie heiße Lava durch ihr Bewusstsein.

Sie fing zu rufen an.

Zaghaft zuerst, dann lauter und lauter, doch niemand antwortete.

O.K., logisch! Gehörte ja auch alles so zum Programm. Der Film hatte sie darüber aufgeklärt, dass es immer mindestens einen Teilnehmer gab, der schon nach den ersten Minuten zu rufen anfing, weil er das Zeitgefühl komplett verloren hatte. Sekunden dehnten sich in diesem abgrundtiefen Schwarz zu Äonen.

Sie hielt den Atem an und lauschte in das Nichts.

Nur das Klopfen ihres Herzens war da. Noch nie hatte sie es so laut vernommen. „Bubum ... bubum ... bubum ...“ wie ein SOS-Signal, das nach dem Ende aller Zeiten durch das leergefegte All pulste.

Das war’s! Sie hatte genug!

Vorstellung beendet!

Mit einem Bewusstseinserweiterungstrip hatte das nichts mehr zu tun. Das war Freiheitsberaubung! Das war Folter!

Sie drohte dem Mann, ihn anzuzeigen, wenn er nicht augenblicklich den Deckel öffnete.

Alles blieb still.

Dann kam die Panik und mit ihr das Adrenalin.

Massenhaft Adrenalin.

Sie begann zu strampeln. Doch die Enge des Raums begrenzte ihren Bewegungsspielraum drastisch. Zog sie ihre Beine nur ein wenig an, stießen ihre Knie sofort an den Deckel.

Jetzt versuchte sie es mit den Händen. Aber der Abstand zum Deckel war so gering, dass sie nicht genügend Kraft entfalten konnte, um ihn vielleicht ein wenig zu lockern.

„Bubum ... bubum ... bubum“, trommelte ihr Puls. Ansonsten herrschte Stille ... absolute Stille ... Totenstille.

Was war nur los mit diesem Kerl? War er nur eben mal aufs Klo gegangen, oder war er ... Nein, ein Freak war der nicht. Sie hatte die echten Freaks in der Psychiatrie kennengelernt. Dieser Mann aber hatte durch seine einfühlsame ruhige Art von Anfang an ihr Vertrauen gewonnen. Als er am Telefon hörte, dass sie wegen ihrer Medikamente nicht fahrtauglich sei – sie war zurzeit vollgepumpt mit einer bunten Mischung Psychopharmaka – hatte er sich sofort erboten, sie mit seinem Wagen vom Busbahnhof in Freyung abzuholen. Sie war mit dem Zug von Regensburg nach Passau gefahren und von dort mit dem Bus weiter nach Freyung. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich dort in einem Gasthof ein Zimmer zu nehmen und nach dem Seminar vielleicht noch einen weiteren Tag in dem kleinen Städtchen zu verbummeln. Doch der Mann hatte ihr angeboten, die Einliegerwohnung in seinem Haus zu benutzen und am nächsten Tag noch mit ihm und seiner Mutter zu frühstücken, bevor er sie wieder zum Busbahnhof bringen wollte. Nach kurzer Überlegung war sie darauf eingegangen. Sie war neugierig, wie er lebte. Etwas an ihm wirkte seltsam anziehend auf sie. Doch war es weniger sein Äußeres, als vielmehr etwas, das sie aus seinem Inneren heraus anstrahlte. Schon als er sie am Busbahnhof begrüßte, hatte sie verwundert den Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht wahrgenommen – freudige Überraschung, verehrungsvolle Überraschung. Selig lächelnd hatte er sie von oben bis unten gemustert wie eine lange vermisste Person, die plötzlich wieder in seinem Leben aufgetaucht war. Noch nie hatte sie sich so herzlich willkommen gefühlt ... so angenommen ... so ganzheitlich umarmt.

Nein, dieser Mann hatte nichts zu verbergen, weil er nichts verbergen konnte! Sein Innenleben spiegelte sich auf seinem Gesicht wie eine Leuchtreklame.

Diese Gedanken beruhigten sie für einen Augenblick. Alles würde gut werden. Sicher würde sie schon bald genauso befreit auflachen wie die Kursteilnehmer auf dem Video ... Lauter strahlende Gesichter, aus denen der Triumph leuchtete, der Triumph über den 20-Minuten-Tod.

Jetzt merkte Ramona F. plötzlich, wie ihr das Atmen schwerer fiel.

War es nur Einbildung?

Angst konnte ja Empfindungen ins Surreale übersteigern. Doch nein, sie täuschte sich nicht. Ihre Lungenflügel pfiffen ein anderes Lied. Die Luft in ihrem Gefängnis wurde definitiv knapp.

Ein nie gekanntes Grauen befiel sie jetzt. Ein Grauen, das sich wie Gift in ihrem Körper ausbreitete und nach und nach all ihre Glieder lähmte. Wieder versuchte sie zu schreien, doch diesmal kam kein Laut mehr über ihre Lippen. Horror und blankes Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu. Auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß. Ihr Herzschlag – ein höllisches Trommelfeuer, das ihre Brust zu sprengen drohte. Dann schwanden ihr die Sinne.

2

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 22. Juni 1974.

– Gestern haben der Sepp und ich geheirat.

Bin jetzt in der 17. Woch und hab noch keinen Bauch. Nur um die Hüften spannt es ein bisserl. Ein paar alte Weiber auf der Hochzeit haben vielleicht was gemerkt. Macht nix. Sollen sie sich das Maul ruhig zerreißen, ich hab jetzt jedenfalls einen Vater für mein Kind.

Hab dem Sepp gleich nach dem Fasching schöne Augen gemacht und mich nicht lang scheniert, wie er mir an die Wäsch hat wollen. 14 Tag drauf hab ich ihm gesagt, daß ich von ihm schwanger bin. Zuerst hat er geschaut wie der Ochs vorm Berg, dann aber hat es ihn gefreut ... und mich erst recht. Hat gemeint, daß bald geheirat werden muss … wegen der Leut! Ist ein kreuzbraves Mannsbild der Sepp! –

Ludwig Grünzinger war für die Leute der „Luk“, der „jung Sepp“ (nach dem Namen seines Vaters) oder der „Krückl“ (nach dem Hofnamen). „Herr Grünzinger“ nannte man ihn nur auf Ämtern, und wenn es anderweitig offiziell wurde.

Luk hatte seine Schullaufbahn am Freyunger Gymnasium ein Jahr vor dem Abitur wegen eines Vorfalles abgebrochen, der eine Welt in ihm hatte zusammenstürzen lassen. Seitdem war er noch schweigsamer geworden, als er schon gewesen war. Er hatte dann eine Lehre bei einem Tierpräparator begonnen. Seine Lehrer schüttelten seinerzeit nur verständnislos den Kopf. Seine Leistungen in allen Fächern waren gut bis ausgezeichnet. Wie konnte man nur so liederlich mit seiner Zukunft umgehen! Tierpräparator! Ein seltsamer Beruf! Ein Beruf für seltsame Menschen!

Nach der dreijährigen Ausbildung verschwand er und war dann neun Jahre lang verschollen. Niemand wusste, wo in Gottes weiter Welt er sich herumtrieb, und den meisten war es auch egal, ob der notorische Sonderling je wieder in seiner Heimat auftauchen würde. Nur seine Mutter erreichten in dieser Zeit ein paar wenige Briefe aus fernen Ländern Südamerikas, aus dem Kongo, aus Angola und aus Indonesien. Aus ihnen ging hervor, dass ihr Sohn bei verschiedenen Eingeborenenstämmen lebte, um deren Sitten und Gebräuche zu studieren. Sein spezielles Interesse galt den Medizinmännern und Schamanen dieser Naturvölker, die er als seine Lehrmeister ansah.

Seine Briefe, so sehr sie sich auch nach ihnen sehnte, hatten bei seiner Mutter nur Unbehagen hervorgerufen. Die Vorstellung, dass ihr einziger Sohn bei den Wilden lebte und deren heidnische Bräuche studierte, machte sie traurig.

Kurz vor seinem 30. Geburtstag war Luk nach Hause zurückgekehrt. Der Jüngling hatte sich zum Mann gemausert: braungebrannt, langhaarig, von asketischer Hagerkeit und mit tiefliegenden ausdrucksstarken Augen. Diese Augen durchdrangen sein Gegenüber wie Röntgenstrahlen und lieferten ihm ein detailgetreues Bild der Persönlichkeit. Luk war das eher unangenehm. Er empfand es wie Diebstahl, auf diesem Weg mehr über seine Mitmenschen zu erfahren, als sie freiwillig bereit gewesen wären, ihm anzuvertrauen. Die Gabe, durch ihre Masken hindurchzusehen und das Ausmaß ihres inneren Chaos zu erkennen, war für ihn Vorteil und Bürde zugleich. Die wahre Natur eines Menschen zu erkennen und dann mit seinem Verhalten konfrontiert zu werden, das diese Natur oft genug in Wort und Tat verleugnete, war eine bittere Erfahrung. Dann schlug er die Augen nieder und vermied den direkten Blickkontakt. Manche legten ihm das als Schwäche oder Schüchternheit aus. Doch es waren meist die, die sich hinter ihrer Maske allzu sicher wähnten und nicht ahnten, dass die Tür zu ihrer Seele für Luk sperrangelweit offenstand.

Sie konnten sich nicht vorstellen, dass es keinen schärferen Beobachter als den Schüchternen gab.

Schon im Dschungel von Borneo hatte Luk die Erfahrung gemacht, dass in extremen Situationen nur der Schüchterne überlebte, denn niemand erwog sein Handeln sorgfältiger als er.

Sein Körper war bedeckt von seltsamen Tätowierungen. Nicht vergleichbar mit den comichaften, größtenteils dilettantisch fabrizierten Motiven abendländischer Geschmacksrichtung. Nein, seine Tattoos waren anders. Rätselhafte Linien zogen sich über seinen Rücken, seine Brust, seine Beine und Arme. An manchen Stellen traten die Muster wie Narben und Noppen hervor und vermittelten den Eindruck einer Schatzkarte, die nur wenige Eingeweihte auf der Welt zu lesen verstanden.

Dann machte sich Luk als Tierpräparator selbständig, und es dauerte nicht lange, bis sich herumgesprochen hatte, dass er ein wahrer Künstler seines Fachs war. Aufträge kamen aus Nah und Fern. Museen, Schulen und wissenschaftliche Institute gehörten bald zu seiner zahlungskräftigen Kundschaft.

Die Seminare, die er veranstaltete, waren für ihn ein Ausgleich. Sie verschafften ihm Abstand zu seiner blutigen Arbeit mit Gedärmen, Knochen, Gefieder und Fellen. Aber sie waren noch etwas anderes: eine Mission, zu der er sich berufen fühlte, seit er als Zwölfjähriger das Paradies geschaut hatte – und er hatte es geschaut, dessen war er sich ganz sicher.

Auch wenn ihm mit den Jahren immer klarer wurde, dass mit Worten unmöglich auszudrücken war, was er während seiner Wiederbelebung am Unfallort oder im darauffolgenden Koma „erlebt“ hatte, so fühlte er sich doch verpflichtet, den Menschen auf irgendeine Weise die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Denn das unbeschreibliche Glücksgefühl, das ihn noch heute durchströmte, wenn er an die grandiose Erfahrung zurückdachte, die er gemacht hatte, suchte ein Ventil. Glück wollte nun mal geteilt sein, um sich in seiner ganzen Kostbarkeit zu entfalten.

Es wäre nicht übertrieben gewesen, wenn er behauptet hätte, alles zum Thema „Nahtoderfahrung“ gelesen zu haben. Trotz unzähliger anekdotischer Berichte darüber, war dieses Phänomen bis heute nie wirklich systematisch untersucht worden. Es war, als sträube sich die seriöse Wissenschaft, ihren Heimvorteil aufzugeben und ihr angestammtes Spielfeld zu verlassen. Nichts widerstrebte ihr mehr, als in die Sphäre der Mystik einzudringen. Doch das musste sie, wenn sie Einblick in diese heikle Thematik gewinnen wollte.

Das Fazit seiner eigenen Recherchen war erhellend und frustrierend zugleich. Luk pflegte via Internet weltweiten Kontakt zu Menschen, die wie er eine Nahtoderfahrung gemacht hatten. In ihren Berichten tauchten immer wieder bestimmte Muster auf. Muster, die sich auf geheimnisvolle Weise selbst kopierten: Strahlendes Licht am Ende eines dunklen Tunnels – Empfindung der allumfassenden göttlichen Liebe – Treffen mit Verstorbenen – Ablauf von Erlebtem im Zeitraffertempo. Es war wie mit Ufo-Sichtungen. Bei einer Häufung setzte sich immer irgendwann ein bevorzugtes Modell durch – je flacher, desto glaubwürdiger.

Luk stand all diesen Berichten skeptisch gegenüber. Zu deutlich zeichneten sie ein Bild der soziologischen und religiösen Prägung der Betroffenen. Nichts davon war wirklich neu. Alles war mit dem banalen Sehnsuchtsballast des Diesseits behaftet. Alles entlarvte sich bei genauerem Hinsehen als Projektion einer naiven Erwartungshaltung. Keiner dieser Berichte transportierte etwas von der köstlichen Fremdartigkeit, die er selbst erfahren hatte.

Bis zum Zeitpunkt seiner eigenen Nahtoderfahrung mit zwölf Jahren war er definitiv nicht mit dieser Thematik konfrontiert gewesen. Insofern war es ihm auch nicht möglich gewesen, aufgeschnappte Berichte anderer unbewusst zum Katalysator für seine eigene Geschichte zu machen. Zwar war auch er von der katholischen Religionslehre geprägt worden, die die Auferstehung predigte, doch war dieser Begriff damals für ihn noch ein ungeklärtes Rätsel gewesen. Das einzige, was es in seiner kindlichen Vorstellung hervorgerufen hatte, war immer ein und dieselbe Vision gewesen: Die mit duftenden Köstlichkeiten vollgepackte Fleisch- und Wurstwarentheke der Metzgerei Brodinger – Auferstehung im Fleische!

Was eine Wursttheke mit dem Paradies zu tun hatte, hinterfragte er damals noch nicht. Was immer für die Gemeinschaft der Gläubigen, in deren schützenden Kokon man ihn so fürsorglich eingesponnen hatte, Fakt war, wurde von ihm als Fakt akzeptiert. Da gab es kein Wenn und kein Aber. Egal welche Bilder die noch bescheidene Anzahl von Synapsen seines kindlichen Gehirns ihm dazu lieferte, er akzeptierte sie fraglos. Wenn ihn die fromme Gemeinschaft eines gelehrt hatte, so war es der eherne Grundsatz aller Gläubigen: Wer glaubt, hat recht! Und wer sich im Recht glaubt, hört auf zu fragen.

Heute hatte Luk den seligen Zustand gläubiger Fraglosigkeit hinter sich gelassen. Er hatte den steinigeren Weg gewählt, auf dem die Frage jeden Kiesel zum Fels machte.

Seine Nahtoderfahrung war eine andere gewesen: Zwar hatte auch er gleißendes Licht wahrgenommen, doch dieses Licht schien von ihm selbst auszugehen. Er war die Lichtquelle. Er hatte nicht wie all die anderen das Gefühl, einen Übergang zum Jenseits zu beschreiten, der voll von spukhaften Erscheinungen war – er war direkt im Jenseits aufgewacht, ohne sich erinnern zu können, überhaupt eingeschlafen oder unterwegs gewesen zu sein. Alles um ihn herum war auf einmal erfrischend neu, fremd und rätselhaft. Ähnlich der Micky Maus-Tapete in seinem Kinderzimmer, die ihm als Kleinkind noch als grenzenloses unbekanntes Universum erschienen war, bis er mit seinen kleinen Fingern angefangen hatte, Löcher hineinzukratzen, und auf weitere Schichten gestoßen war.

Sein ganzes Leben kam ihm heute vor wie jenes Tapetenuniversum seines Kinderzimmers, und er war sich sicher, dass auch das Jenseits, in das er einen kurzen Blick hatte werfen dürfen, nur eine Schicht war, die von anderen überlagert und wieder anderen unterlegt war.

Was ihn anfangs am Jenseits etwas gestört hatte, war, dass das Gefilde, in dem er sich befand, keinen Horizont zu besitzen schien und doch im weitesten Sinne als Landschaft bezeichnet werden konnte. Eine atemberaubende Landschaft, die in einem Licht erstrahlte, das von keiner Sonne herrührte. Die gewaltige Szenerie schien, wie er selbst auch, aus sich selbst heraus zu leuchten. Alles wirkte gläsern und transparent. Die einzigen Farben waren: Weiß, Indigo und Türkis in allen möglichen Abstufungen.

Er hatte diese Landschaft in einer Schärfe erblickt, die von keinem Adlerauge erreicht wurde. Ihm war, als sei er selbst alles, was er sah, und als sähe er statt mit Augen nun mit allumfassendem Verständnis.

Dann kam dieses Ding auf ihn zugeschwebt, das ihn vor Wonne erschauern ließ. Hätte er seine Gefühle bei dieser Begegnung beschreiben sollen, wäre ihm nichts anderes eingefallen als: „Die millionste Potenz eines Orgasmus“.

Das Ding hatte die Größe eines dreistöckigen Hauses. Seine Form war unregelmäßig. Auf einer Seite hatte es verschiedenlange Fortsätze ausgebildet. In seinem transparenten bis halbtransparenten Inneren waren kreisrunde und ovale Bereiche auszumachen, die silbrig schimmerten. In manchen von ihnen war flimmernde Bewegung wahrzunehmen. Luk wusste in diesem Moment nur, dass er noch nie etwas Schönerem, Liebreizenderem, Edlerem und Verehrungswürdigerem begegnet war als diesem Ding.

Erst zwei Jahre später sah er es wieder und war wie vom Donner gerührt. Das Ding war in seinem Biologiebuch abgebildet.

Unter einer mikroskopischen Aufnahme stand da zu lesen: Amoeba proteus: Einzeller mit Scheinfüßchen – Domäne: Eukaryota – Stamm: Amoebozoa – Klasse: Tubulinea – Ordnung: Tubulinida – Familie: Amoebidae.

Luk war fassungslos. Er war nicht nur enttäuscht und verärgert, er war zornig. In einem Tobsuchtsanfall riss er die Seite aus dem Biologiebuch und zerfetzte sie in tausend Stücke. Für den Rest des Unterrichts war er aus dem Klassenzimmer verbannt. Ein Verweis folgte. Auf die Frage des Direktors, was ihn denn zu seinem Zornesausbruch getrieben habe, antwortete er tränenerstickt mit einer Gegenfrage: „Warum nur muss es von jedem Ding ein Bild geben ... warum muss alles immer einen Namen haben?“

3

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 24. November 1974.

– Heute einen gesunden Buben zur Welt gebracht.

Die Hebamm sagt, ist alles an ihm dran und nichts zu viel. Soll auf Ludwig getauft werden. Sepp ist zufrieden. Ein Hoferbe! Endlich! Er strahlt vor Stolz. Auf den Jungen? Auf mich? Auf sich selbst???

Gott vergib mir meine Schuld! –

Luk kannte den Standpunkt der modernen Wissenschaft zum Thema „Nahtoderfahrung“. Nämlich, dass es sich bei der im Sterbeprozess ausgelösten Euphorie um nichts anderes handle, als um ein grandioses Feuerwerk im Gehirn, das seine letzten Zuckerreserven verbrenne, als wolle es dem Menschen den Abschied von dieser Welt versüßen.

Erfahrungen, die in diesem Stadium des letzten Aufflackerns aller Lebensgeister gemacht würden, seien mithin nur als halluzinatorische Reflexe zu werten.

Es war eine typisch wissenschaftliche Erklärung des Phänomens: kühl, nüchtern, sachlich und zeitgemäß. Doch sie erfolgte von außen und fußte nicht auf der Beschreibung der unmittelbar Betroffenen. Sie wurde von Menschen abgegeben, die von dieser Thematik genauso viel Ahnung hatten wie H. G. Wells von Marsmenschen. Sie wurde von Leuten fabriziert, die mangels eigener Erfahrung in solch einer Situation, quasi sine experimentum, nur auf Logik und Methodik zurückgreifen konnten. Logik und Methodik aber lieferten bezüglich übersinnlicher Erfahrungen immer nur verschwommene Standbilder, die überdies in einem fort retuschiert werden mussten, um ihre Gültigkeit für eine kurze Zeitspanne aufrechtzuerhalten.

Wissenschaftliche Deutungen hatten für Luk zweifellos ihre Berechtigung innerhalb der von der Wissenschaft selbst gezogenen Grenzen von Zeit und Raum. Bei Phänomenen aber, die diese Grenzen überschritten, erzeugten sie nur Unschärfe. Zur Klärung derselben war ein rezeptorisches Instrumentarium vonnöten, das entweder schon lange in Vergessenheit geraten war oder vor dessen Gebrauch sich der Mensch der modernen Gesellschaft aus unerfindlichen Gründen sträubte.

Einige Naturvölker, bei denen Luk gelebt hatte, hatten sich dieses Instrumentariums freimütig bedient. So, wie sie auf der Jagd ihre Erfahrung und ihren klaren Verstand einsetzten, um Beute zu machen, so benutzten sie bei ihren heiligen Ritualen die Trance, um Dingen nachzuspüren, denen mit reiner Logik nicht auf die Spur zu kommen war.

Ein alter Schamane hatte ihm einmal erklärt, dass das gesunde Funktionieren des Verstandes allein davon abhinge, dass er in gewissen Intervallen abgeschaltet werde. Sei es, auf natürliche Weise durch Schlaf oder durch künstlich herbeigeführte Trance. Passiere dieses Abschalten nicht regelmäßig oder nur unzureichend, werde sich der Verstand bald aufführen, wie ein verzogenes Einzelkind. Drängend und fordernd werde er immer öfter darauf beharren, zu bekommen, was ihm nicht bekommt.

Das hatte Luk zu denken gegeben. Wenn er die Entwicklung der fortschrittlichen Industrienationen betrachtete, war ein grotesker Trend auszumachen, der die Worte des alten Schamanen zu bestätigen schien. Bei allem Fortschritt, bei aller Globalisierung, bei aller Verschmelzung verschiedener Völker auf dem Reißbrett zu neuen Super-Nationen und Super-Unionen – der Mensch an sich war sich dadurch nicht wirklich nähergekommen.

Vielleicht hing es tatsächlich damit zusammen, dass er seinem Verstand immer weniger Auszeit gönnte und ihn mit allen Mitteln wachhielt. Wach sein bedeutete, auf dem Laufenden zu sein. Und um auf dem Laufenden zu bleiben, begann der Mensch, seine Wachheit künstlich aufrechtzuerhalten. Das Internet hatte ihn ungeduldig gemacht. Warten war heute keine Option mehr. Jede Minute, die man offline verbrachte, erzeugte jetzt eine so lähmende Gedankenleere im Kopf, wie sie kein Zen-Mönch auf dem Weg der Meditation je erreichen konnte. Schlaf war nur noch ein lästiger Zeitdieb, dem das Handwerk gelegt werden musste.

Die Trendwende beim Drogenkonsum sprach ebenfalls eine klare Sprache: Bewusstseinserweiternde Drogen waren out. Alt-68er, Leute aus der Flower-Power-Ära, Opas und Omas also, experimentierten gelegentlich noch damit. Doch das Gros der Szene fuhr heute auf Chemie ab, die das Bewusstsein explodieren ließ und auf den Verstand wirkte wie eine Lachgaseinspritzung auf einen Rennmotor. Ja, es waren die Hippies gewesen, die diesen neuen Trend mit klingendem Spiel eingeläutet hatten – unbewusst, weil auch sie Bewusstseinserweiterung nur als Ego-Trip betrieben hatten.

Luk hatte verstanden, dass die reine Ratio dem Menschen nur Trugbilder über das Sein lieferte, wenn sie ihre eigene Kontrollinstanz war. Sie brauchte ein Gegengewicht im Metaphysischen, um ihrer Bestimmung gerecht werden zu können.

Die Rastlosigkeit des Menschen, sein Drang zu permanentem Handeln, sein neurotischer Zwang zur Selbstdarstellung, noch bevor er diesem Selbst begegnet war, sein Streben nach Authentizität, die durch sein Verlangen nach ihr schon im Keim erstickt wurde, und seine allergischen Reaktionen auf jedes Eventvakuum bestimmten jetzt den Zeitgeist. Nur wenigen fiel auf, dass der menschliche Schwarm, wider den Anschein und trotz hyperaktiver Kommunikation, wie die Materie nach dem Urknall auseinanderdriftete. Immer größer wurde der Abstand zwischen den einzelnen Teilchen, immer schwächer ihre gegenseitige Anziehungskraft.

Waren dies die Geburtswehen eines neuen Menschentypus? Einer neuen Gesellschaft, für die Gemeinschaftssinn nicht mehr gefühlte Verbundenheit war, sondern nur noch Programm?

4

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 14. Juni 1976.

– Die Trudi hat jetzt auch einen Bub zur Welt bracht. Sie und der Walter haben letzten Sommer geheirat.

Hat es also doch noch geschafft, den Hallodri einzufangen. Na, viel Spaß miteinand! Ein Kater wie der läßt das Mausen nicht. Mit ihm wird sie noch was erleben, die Trudi. Ich beneid sie nicht. Kann einem eh leidtun, das Tschapperl, wenn man hört, was die Leut so reden, nämlich daß der Walter immer noch Jagd auf alles macht, was Haar am Arsch hat. Ich glaub es ihnen, weil ich es weiß!

Heilige Hildegard von Bingen, steh der Trudi bei!

PS

Ist heut auch Post von meinem lieben Vetter aus dem Kloster kommen. Hat mir den Himmel wieder so recht schmackhaft gemacht mit seinen schönen Worten. Ist schon ein bißerl blass in meiner Vorstellung gewest, der Himmel, aber er hat ihn mir wieder frisch ausgemalt. Und ein Spendenformular für die Mission hat er auch dazugelegt. 150 Mark hat er gleich selbst eingetragen und mit Bleistift druntergeschrieben: Gott vergelts euch tausend Mal, bis in den Himmel hinauf!

Dann ist er noch über unsern Ludwig kommen und hat gemeint, daß wir ihn, wenn die Zeit kommt, zu ihm aufs Internat schicken dürfen, damit er dort auf Pfarrer studieren kann.

Ich hab den Sepp gefragt, ob wir den Bub auf Pfarrer studieren lassen sollen, aber er hat sich nur ans Hirn gefaßt. Ja, spinnst jetzt, Leni, hat er gesagt, der Bub ist noch keine zwei Jahr alt! Was zerbrichst dir heut schon den Kopf darüber?

Sag ich: Der Vetter, der was im Kloster ist, hat halt nur gemeint ...

Ja, der schon wieder! Der Kuttenbrunzer der scheinheilige, ist mir der Sepp in die Red gefallen. Hat den Spendenschein für die Mission liegen sehen und ihn gleich zerrissen.

Mission, Mission, hat er geplärrt. Wenn ich das schon hör! Die sollen unsern Herrgott daheim lassen, wo er hingehört, und nicht an die Neger verkaufen, die was ihren eigenen haben und unsern gar nicht brauchen! Man möcht meinen, so einer hätt mit seiner eigenen Frömmigkeit genug zu schaffen und keine Zeit nicht, sich überall auf der Welt in fremder Leut Angelegenheiten zu mischen. Jedes Mal, wenn so einer mit sich selbst nicht zurechtkommt, geht er her und fängt an, auf fremde Felder Dünger zu häufeln. Und wenn man nicht aufpaßt, kommt er hinterher und hält die Hand auf, weil er behauptet, daß alles auf seinem Mist gewachsen ist.

Ja, das hat der Sepp gesagt!

Heiliger Josef von Nazareth, verzeih deinem Namensfetter und meinem Mann das sündige Gered! –

Die Frau aus Regensburg ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Luk war vier Stunden vor Tagesanbruch zur Jagd aufgebrochen. Er musste die Tragödie, die sich gestern Nachmittag bei ihm zu Hause abgespielt hatte, verarbeiten. Nirgendwo gelang ihm das besser als in freier Natur. Er liebte es, bei Wind und Wetter draußen zu sein, herumzustreifen, das Wild zu beobachten und alles in sich aufzunehmen, was in Wald und Flur vor sich ging. Er kannte jeden Baum und jeden Stein in seinem Revier. Er wusste, wo versteckte Quellen sprudelten und wo im Sommer die dicksten Steinpilze zu finden waren. Er kannte die Plätze, wo der Waldboden die giftigsten und die heilsamsten Kräuter sprießen ließ. Schon seit er ein Junge war, empfand er sich als Teil dieser Natur und registrierte hochsensibel jedes Ungleichgewicht in ihr. Er vertrat den Standpunkt, dass sich Fauna und Flora draußen im Wald am besten selbst regulierten. Deshalb war er auch kein Jäger im herkömmlichen Sinn. Er besaß weder Jagdschein noch Gewehr, und doch war er beständig auf der Jagd – auf der Jagd nach dem Jäger.

Zurzeit hatte der Weber Xav die Jagd in „seinem Revier“ inne. Er und sein Treiben waren Luk ein steter Dorn im Auge, ein Pfahl in seinem Fleisch.

Xav war der Sohn des Bürgermeisters von Freyung und handelte mit Immobilien. Zur Jagd fuhr er mit einem durstigen Jeep Wrangler Rubicon. Ansonsten war er höchst öffentlichkeitswirksam mit seinem eiergelben Ferrari F12berlinetta unterwegs, dessen brunftiges Röhren schon von weitem zu hören war. Dann hieß es nicht: „Schau, der Xaver Weber kommt!“, sondern: „Schau, der Sohn vom Bürgermeister kommt!“

Er war ein typischer Vertreter der Berufsgattung „Sohn“. Dass sein Immobiliengeschäft genug abwarf, um seinen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren, verdankte er fast ausschließlich dem Geschäftssinn und den Beziehungen seines Vaters. Als Bürgermeister, der über alles, was in Stadt und Landkreis vor sich ging, bestens informiert war, versorgte ihn dieser über Strohmänner mit den Filetstückchen des Immobilienmarktes.

Xaver Webers Frau, eine intelligente quirlige Grundschullehrerin, hatte schon vor Jahren Tochter und Hut genommen und sich von ihm verabschiedet. Beatrix, ihre gemeinsame Tochter, war heute 17 Jahre alt – ein nomadisierendes „Pubertier“, das seine Zelte mal beim Vater, mal bei der Mutter aufschlug, je nachdem, wo das Klima gerade am fruchtbarsten war und die reichere Ernte versprach.

Xavs pfauenhaftes Auftreten in allen Lebenslagen zeugte von seiner fortgeschrittenen Wohlstandsverwahrlosung. Aber er war zu eitel, um sein eigenes Elend zu erkennen.

Xaver Weber gehörte zu den wenigen Menschen, die Luk aus seinem inneren Gleichgewicht brachten. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er an Xav und sein Treiben mehr Gedanken verschwendete, als ihm selber guttat. Warum war das so? Es schien, als bestünde da eine unsichtbare Brücke zwischen ihnen, über die seine Gedanken, ob er wollte oder nicht, zum anderen hinüberstreunten. Das wurmte ihn gewaltig. Warum zog ihn an, was ihn so offensichtlich abstieß?

Wenn sie sich über den Weg liefen, sah jeder von ihnen demonstrativ in eine andere Richtung. Jeder kannte die Einstellung des anderen zur Jagd und zum Leben im Allgemeinen und begegnete ihr mit Verachtung.

Luk spürte es wie einen bevorstehenden Wetterumschwung in den Knochen, wenn Xav auf der Pirsch war. Dann zog es auch ihn hinaus. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, Xavs Weidwerk zu vereiteln, wo er nur konnte. Für ihn waren Jäger nichts anderes als Wilderer mit einer Lizenz zum Töten.

***

Luk hatte seine Runde gemacht und befand sich jetzt auf dem Heimweg. Schon begann der neue Tag zu grauen. Es schneite immer noch. Von Osten herüber blies „der Böhmische“, ein eiskalter Wind, der seine Spuren binnen Kurzem verweht haben würde.

Heute Nacht war es ruhig im Revier gewesen. Keine besonderen Vorkommnisse. Kein Jäger unterwegs. Er kannte die Stellen, wo Xav seinen Jeep zu parken pflegte. Er wusste, wo seine Hochsitze standen und welchen Weg er zu ihnen einschlug.

Beobachtung war alles – Beobachtung, ohne selbst entdeckt zu werden.

Luk beobachtete meist aus sicherem Abstand. Er trug Tarnkleidung und robustes Tracking-Schuhwerk. Um seinen Hals baumelte eine Wärmebildkamera, die ihm auch bei absoluter Dunkelheit bis auf 1800 Meter Entfernung jede Wärmequelle – ob Mensch, ob Tier – mit deutlichen Konturen anzeigte. Doch was ihm den größten Vorteil vor dem „Feind“ verschaffte, waren seine in Jahrzehnten des Outdoor-Trainings geschärften Sinne. Er hatte seit seiner Kindheit sehr viel Zeit in diesem Revier verbracht. Es war sein Revier. Es war sein Reich. Hier war er König, und hier herrschte sein Gesetz – das Gesetz „Leben und leben lassen“. Wer dagegen verstieß, hatte mit Konsequenzen zu rechnen.

Luk sprach mit den Bäumen, mit den Gräsern, mit den Tieren und mit dem Wind. Wenn er sich in der Natur draußen bewegte, wurde er eins mit seiner Umgebung. Er fühlte sich dann nicht mehr als Mensch auf zwei Beinen, sondern als Bestandteil eines unermesslich großen Schwarms, als Molekül, das in der Lage war, an alle anderen Moleküle seiner Umgebung anzudocken. Sein Ich verlor in diesen Momenten jegliche Bedeutung. Indem es sich mit allem anderen verband, löste es sich auf.

Auch er hatte an Jagden teilgenommen. Er war mit den Mongo, einem Bantu-Volk, im Nordwesten des Kongobeckens auf die Jagd gegangen. Er hatte mit den Nachkommen der Chibcha den kolumbianischen Dschungel durchstreift und war mit den nomadischen Penan durch den Regenwald von Sarawak auf Borneo gezogen. Diese Menschen jagten nur aus einem Grund: um satt zu werden. Ihre Rechtfertigung war der Hunger. Wohingegen in der Wohlstandsgesellschaft mit der abstrusen Begründung gejagt wurde, dass man das Gleichgewicht in der Natur bewahren müsse. Die Natur aber sorgte selbst für ihr Gleichgewicht, und sie tat es meisterhaft – seit Jahrmillionen. Wenn der Mensch sich plötzlich dieser Aufgabe annahm, so nur, um Schäden zu begrenzen, für die er selbst verantwortlich war.

Hier im Bayerischen Wald war die Jägerei, wie vielerorts, auch eine Angelegenheit des Prestiges. In gewissen Kreisen hatte man sich ganz einfach die Frage zu stellen: Spiele ich Golf oder Jagd?

Wie weit sich der Mensch bereits von der Natur entfremdet hatte, zeigte Luk vor allem sein Umgang mit Tieren. Hunde, Katzen und alles mögliche Getier durften ungestraft zu geschmäcklerischen Monstrositäten herangezüchtet werden, egal wie sie unter diesen „kreativen“ Eingriffen in ihr Wesen und ihre Physiognomie zu leiden hatten. Leute, die ihre eigenen Schoßtiere aus gedankenloser Liebe zu Tode fütterten, gehörten nicht selten militanten Tierschutzbewegungen an. Es war einfach nur grotesk.

Wenn Luk an den Catch & Release Trend in der Sportfischerei dachte – das Wiedereinsetzen von am Haken gefangenen Fischen –dann kam ihm die Galle hoch. Es war die reine Perfidie. Auch diese Tortur für den Fisch wurde mit dem Erhalt des Fischbestandes begründet. Dabei war es nichts anderes als eine Regelung zum Schutz der Sportangler. Es ging nicht mehr um Nahrungserwerb und Verwertung eines hochwertigen Lebensmittels. Es ging nur noch um die Befriedigung einer schrankenlosen Spaßkultur.

Luk war zufrieden mit seinem Rundgang. Bügelsäge und Klappspaten in seinem Rucksack hatten wieder mal gute Dienste geleistet: Die Sprossen eines neu errichteten Hochstandes von oben bis unten durchgesägt und zwei Marder-Fangbunker unschädlich gemacht und vergraben.

Außerdem hatte er zwei Wildkameras wieder eingesammelt, die er vor einer Woche an gut getarnten Stellen vor und in der kleinen Jagdhütte angebracht hatte, die von Xaver Weber gelegentlich für gesellige Treffen benutzt wurde – und nicht nur mit Jagdgenossen.

Die Kameras gehörten ihm nicht. Er hatte sie dort abmontiert, wo er Xav bei ihrer Installation beobachtet hatte. Schon ein halbes Dutzend von ihnen hatte er im Lausbüchlbach versenkt oder mit den Fallen vergraben. Doch immer wieder tauchten neue auf – es war die reine Pest. Bald konnte er keinen Schritt mehr in seinem Reich tun, ohne abgelichtet zu werden, und so tat er alles, um diese Kameras aufzuspüren.

Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, sich in die Jägerseele hineinzuversetzen. Er wusste, wie sie tickte. Meist fand er die Kameras denn auch dort, wo er sie selbst angebracht hätte: im Umkreis von Fuchsbauen und Sausuhlen und im Schussfeld um die Kanzeln herum, wo ein Häufchen Fallobst, Runkelrüben oder Maiskolben das Wild anlocken sollte.

Im Herbst hatte er Xav einmal dabei beobachtet, wie er vor der Hütte stand und in seinen Taschen kramte. Offensichtlich hatte er den Schlüssel vergessen. Schließlich war er zu einem flachen Stein am Fuße einer hohen Tanne gegangen und hatte unter diesem einen Zweitschlüssel hervorgeholt, den er dort für so einen Fall deponiert hatte.

Diese Beobachtung hatte es Luk nun ermöglicht, auch in der Hütte selbst eine Kamera anzubringen. Er hatte sie auf einem Sims versteckt, wo sie unauffällig hinter einer Batterie alter Bierkrüge hervorlugte. Die dicke Staubschicht auf den Krügen hatte ihm gesagt, dass sie reiner Zierrat waren und nicht mehr in Gebrauch – Jäger, die etwas auf sich hielten, tranken aus der Flasche.

***

Es war jetzt fast hell geworden.

Luk trat aus dem Wald heraus und blickte den Hang hinab, wo durch das Schneetreiben sein Haus, das Labor und der Hof der Mutter auszumachen war. Erst in diesem Augenblick kam ihm wie ein Paukenschlag wieder sein Problem zu Bewusstsein. Ein Problem, das ihm Wind und Wetter für ein paar Stunden aus dem Kopf geblasen hatten – die Frau aus Regensburg.

Das grelle Neonlicht der Küchenbeleuchtung im Altbau war durch den wirbelnden Tanz der Flocken zu erkennen. Doch was ihn verwunderte, war, dass aus dem Kamin noch kein Rauch aufstieg. Dann sah er die Schneehaube, die sich darauf gebildet hatte und wusste, dass er gleich etwas zu hören bekommen würde.

Missmutig stapfte er durch den mittlerweile 30 Zentimeter hoch liegenden Schnee den Hang hinunter. Vielleicht konnte er seine Mutter endlich doch noch davon überzeugen, in die Einliegerwohnung umzuziehen. Das alte Sach war aufgebraucht und das Leben darin nicht mehr zumutbar.

Als er sich dem Anwesen näherte, bemerkte er, dass Haustür und Stubenfenster bei der Mutter weit offen standen. Kopfschüttelnd ging er weiter. Vor dem Haus angekommen, klopfte er sich den Schnee von Schuhen und Anorak, nahm seinen Rucksack ab und trat ein.

„Mam!“

Keine Antwort.

„Mam!“, rief er erneut.

Nichts rührte sich.

Er ging in die Küche. Niemand da.

Er schloss das Fernster und blickte sich um. Die Feuertür des Herds stand offen.

Auf dem Tisch die Scherben einer zerbrochenen Tasse. Fein säuberlich der Größe nach sortiert, bis zum kleinsten Splitter. Sie wirkten dort wie eine verschlüsselte Botschaft.

„Mam?“ Luks Stimme klang jetzt heiser.

Er lief in den Flur und öffnete die Tür zum Bad. Nichts!

In die Schlafkammer hinüber ... auch da war sie nicht.

Auf dem Bett seiner Mutter lagen geöffnete Schachteln und Kartons. Aus einer Vase auf dem Fensterbrett ragte der Rest seiner alten Kommunionkerze.

Sie brannte.

Das goldene Kreuz darauf war schon zur Hälfte von der Flamme verzehrt. Der Heiland, schräg unterhalb, dessen Bildnis kunstvoll in eine Rosette aus rosa Wachs gebettet war, schnitt bereits qualvolle Grimassen. Er war als Nächster dran.

Luk ging in den Flur und probierte die Tür, die zum Stall führte. Zu!

Natürlich, er hatte sie ja von der Stallseite her verriegelt, um zu verhindern, dass seine Mutter plötzlich in eins seiner Seminare platzte. Der Stall war für seine Mutter tabu, ebenso das Labor. Er und die Seminarteilnehmer benutzten die Außentür.

Die Viehwirtschaft hatten sie schon Anfang der 90er Jahre auf­gegeben. Zum Wettbewerb um mehr und mehr Vieh und immer ­größere Ställe waren sie erst gar nicht angetreten. Es war von vornherein klar gewesen, dass sie mit 28 Tagwerk Grund und 15 Kühen im Stall nicht konkurrenzfähig waren, und Kapital zum Investieren hatten sie nicht gehabt. Der Vater, ein ausgebildeter Zimmerer, war schon immer nebenbei bei verschiedenen Baufirmen beschäftigt gewesen. Als das Vieh dann abgeschafft und die Felder verpachtet worden waren, war er oft die ganze Woche über auf Montage unterwegs gewesen. Bis zu dem Tag, im Juni 1992, an dem der Kleinbus mit ihm und seinen Kollegen auf der Rückfahrt von München, kurz vor Ringelai, aufs Bankett geriet und einen Abhang hinunterkollerte. Alle sechs Insassen waren damals ums Leben gekommen. Wieder mal hatte die Rallye der Montagearbeiter blutigen Tribut gefordert. Sie fand jeden Freitagabend und jeden Montagmorgen statt. Freitags schwappte die Welle vollbesetzter Firmenkleinbusse mit Top Speed waldeinwärts. Die Insassen fröhlich und in Wochenendstimmung – teils schon erheblich vorgeglüht. Montags dann dasselbe Schauspiel in umgekehrter Richtung – die Gesichter der Insassen versteinert in grimmiger Katerstimmung oder Montagslaune.

Luks Verhältnis zu seinem Vater war immer ein angespanntes gewesen. Vielleicht, weil dieser instinktiv spürte, dass sein Sohn von einem anderen Schlag war. Luk schien nichts von den Genen der Grünzingers geerbt zu haben. Das ließ ihn dem Vater fremd erscheinen. Zu viele und zu große Erwartungen hatte der Alte in ihn gesetzt. Erwartungen, die nur ihm selbst großartig erschienen waren, für Luk aber nicht mehr Reiz und Bedeutung gehabt hatten als ein vertrockneter Kuhfladen auf der Wiese.

Doch am schlimmsten war es dann für Luk gewesen, als er irgendwann merkte, dass ihn der Vater aufgegeben hatte. Er erwartete nichts mehr von ihm. Er hatte ihn abgehakt. Von da an ernteten Luks verzweifelte Bemühungen, doch noch etwas Anerkennung von ihm zu erhalten, nur Gesten der Gleichgültigkeit. Die Flamme war aus, der Funke erloschen. Der Vater verschloss sich mehr und mehr in ­seiner eigenen Welt, in die er den Sohn nicht hatte hinüberziehen können. Sein Tod beendete das stumme Drama, und Luk, der trockenen Auges vor der dunklen Grube stand, in den der Sarg hinabgelassen wurde, hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, frei durchatmen zu können.

***

Jetzt trat Luk vor die Eingangstür und blickte sich um.

Plötzlich sah er sie – die fast verwehten Fußspuren, die an der Hangseite hinauf zum Scheunentor führten. Das Tor stand einen Spalt breit offen.

Kopfschüttelnd stapfte er hinauf, schob es etwas weiter auf und betrat den Heuboden.

Finsternis umfing ihn. Die alte Porzellansicherung für die Lampe, die irgendwo weit oben unter dem Giebel hing, hatte er schon vor Jahren herausgedreht. Niemand hatte hier mehr etwas zu schaffen, nachdem das Vieh verkauft worden war. Es war ein toter Raum ohne Funktion, ein düsterer Safe für Erinnerungen, die keinen Wert mehr besaßen.

„Mam!“

Nichts regte sich.

Nochmals rief er und abermals, ohne eine Antwort zu erhalten.

Er spürte einen Kloß in seinem Hals wachsen.

Jetzt hatten sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt und er nahm den zarten Lichtschein wahr, der weiter vorn vom Stall unten heraufschien. Jemand musste den Deckel von der Futterluke geschoben haben.

Langsam trat er näher heran.

Sein Fuß stieß an etwas.

Er bückte sich und ertastete die alte Taschenlampe mit der Blockbatterie aus der Küchenschublade seiner Mutter. Er versuchte, sie anzuknipsen, aber sie glomm nur kurz auf und verlöschte dann wieder.

Plötzlich sah er ihn, den wie mit Kohle gezogenen Strich im senkrechten Lichtkegel, diesen schwarzen Strich, der alles schlagartig erklärte – ein Seil.

Luks Herz krampfte sich zusammen. Für Sekunden konnte er sich nicht bewegen. Es war, als sei die Zeit stehengeblieben und mit ihr alles Leben.

Als sich die Starre in seinen Gliedern löste, machte er ein paar taumelnde Schritte vorwärts und blickte durch die Futterluke hinunter in den Stall.

Da hing sie.

Ihr Gesicht war von hier oben aus nicht zu sehen, doch ihr Haupt war von einer schimmernden Gloriole umgeben – Magdalena Grünzinger, geborene Veicht, hatte sich zum Sterben ihren Brautkranz ins Haar gesteckt.

5

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 03. Juli 1986

– Hat heut ein Donnerwetter geben.

Der Sepp hat den Ludwig zum ersten Mal geschlagen. Hab meinen Mann noch nie so grantig erlebt. Aber was sich der Bub da geleist hat, ist wirklich ein starkes Stück.

Der Sepp kommt nachmittags von der Arbeit heim, macht seine Brotzeit und geht dann hintern Stadel, weil er die Böschung mahn möcht. Da hat er dem Bub seine Schandtat gesehen: An der Stadelwand, wo seit über hundert Jahr ein großer verwitterter Christus am Kreuz hängt, mit einem Dacherl drüber, daß es ihn nicht abregnet und mit allen Marterwerkzeugen drumherum, die was die römischen Henkersknechte benutzt haben, hängt gleich daneben ein toter Fuchs … Alle Viere von sich gestreckt. Durch die Pfoten gehen große Nägel … sein Kopf schaut zum Heiland auf. Ist von oben bis unten aufgeschlitzt. Sein Gedärm und alle Innereien, Stück für Stück, um ihn herum ans Holz genagelt. Alles voller Schmeißfliegen … und ein Gestank, daß Gott erbarm.

Sepp hat den Bub ohne Nachtmahl auf seine Kammer geschickt. Ich war gerade bei ihm und hab ihm die Striemen von Sepps Gürtel mit Melkfett eingerieben. Der Bub hat keinen Mucks getan. Hat nur an die Decke gestarrt. Als ich dann schon in der Tür steh, sagt er: Hab ihn tot im Wald gefunden … wahrscheinlich vergiftet. Vom Gibis Bauer weiß ichs ganz gewiß, daß er vergifte Köder um seinen Hennergarten auslegt.

Ja Bub, sag ich, aber warum nagelst das Viech dann an unsere Stadelwand und noch dazu grad nebens Kruzifix? Sagt er: Ich wollt halt, daß man ihn nicht vergißt, den Fuchs … ist a so a schönes Tier… wollt ihm halt dieselbe Ehr erweisen, wies unserm Herre Christ erwiesen ham. Tät keiner heut mehr an ihn denken, wenns ihn nicht angenagelt hätten.

Aber eine Sauerei hast gemacht, sag ich, hast ihn aufgeschnitten und ausgenommen. Drauf er: Die Tante Fini, was letztes Jahr gestorben ist, habens im Krankenhaus auch aufgeschnitten und ausgenommen. Alles habens ihr rausgetan und untersucht, hat mir der Onkel Max erzählt. Und dann habens die Tant wieder zugenäht und im Leichenschauhaus hergezeigt … damit man sie nicht vergißt.

Mei, der Bub!!!

Heiliger Bruder Konrad von Parzham, laß mich an meim Ludwig nicht verzweifeln! –

Im Stall war es kalt wie in einem Kühlhaus. Luk schätzte die Temperatur auf 5° Celsius. Nachdem das Feuer im Kanonenofen letzte Nacht ausgegangen war, war der Raum schnell abgekühlt. Die Futterluke, die seine Mutter am frühen Morgen geöffnet hatte, hatte dann noch den letzten Rest von Wärme in den Heuboden hinaufgezogen. Trotzdem hingen noch Duftspuren der Räucherkerzen in der Luft, die er gestern während des Sterbeseminars mit der Frau aus Regensburg abgebrannt hatte.

Sein Blick wanderte durch den Raum.

Auf etwa 50 Zentimeter hohen Stahlrahmengestellen standen die fünf Fichtensärge, die er für seine Seminare hatte anfertigen lassen. Neben jedem ein schlichtes hölzernes Pult, an dem die Teilnehmer ihren Abschiedsbrief und ihr Testament verfassten. Vier Särge waren offen und leer, ihre Deckel seitlich an den Rahmen gelehnt; beim fünften lag der Deckel leicht verschoben darüber. Der Zipfel eines weißen Leinengewandes lugte darunter hervor.

Jetzt fiel Luks Blick auf den Strick, an dem seine Mutter hing.

Ein langgezogenes Stöhnen drang aus seiner Kehle. Sein Gesicht – eine schmerzverzerrte Grimasse.

Das geliebte Antlitz war verschwollen und verfärbt. Duftmoleküle von Ammoniak und Exkrement trafen auf seine Nasenschleimhaut. Seine Hand krampfte sich um das Brotmesser, das er geholt hatte, um sie abzuschneiden.

Er wunderte sich über das Augenmaß, das seine Mutter bei ihrer letzten Aktion bewiesen hatte. Ihre grünen Gummistiefel schwebten nur wenige Zentimeter über dem Boden. Hätte sie den Strick zu kurz gewählt, hätte sie einen langen grausamen Todeskampf vor sich gehabt – sie hätte sich stranguliert. Hätte sie ihn zu lang gewählt, läge sie jetzt mit gebrochenen Beinen und Hüften da. Ihr Körpergewicht, bezogen auf die Fallhöhe, war ideal; ihre geschätzten 70 Kilo hatten wahrscheinlich gerade so ausgereicht, ihr das Genick zu brechen. Akkurat bis zum letzten Atemzug … das musste er seiner Mutter lassen.

„Ach, Mam, Mam, Mam“, stöhnte er, „warum nur, warum?“

Jetzt nahm er den Gegenstand wahr, der im Schatten zu ihren ­Füßen lag. Er bückte sich und hob ihn auf.

Es war ihr Gebiss.

Lange starrte er es an. Es war unbeschadet … im letzten Moment geflüchtet … dem Tod von der Schippe gesprungen. Er steckte die Prothese in die Hosentasche und machte sich daran, zu tun, was getan werden musste.

***

Eine halbe Stunde später hatte Luk seine Mutter in ihrer Kammer aufs Bett gelegt, das Fenster geöffnet, die Tür geschlossen und sich in die Küche begeben. Dort saß er jetzt – Ellbogen auf den Tisch gestützt, der Kopf schwer auf den Handflächen lastend. Sein Blick war unverwandt auf die Scherben der Kaffeetasse gerichtet, die seine Mutter so ordentlich in Reih und Glied auf den Tisch gelegt hatte. Sie wirkten in ihrer Anordnung wie eine Geheimschrift, bei der nur die Leerstellen eine magische Bedeutung zu haben schienen.

Was bewegte einen Menschen, der vorhatte, sich im nächsten Moment das Leben zu nehmen, zu solch einer Handlung? War es nur Zerstreutheit, oder war es ein letztes symbolisches Aufräumen und Ordnungschaffen?

Auf Luk jedenfalls wirkte das sonderbare Arrangement der Scherben wie ein Abschiedsgruß ohne Worte, wie ein Luftkuss der Sprachlosigkeit.

Dahin … Wieder war jemand freiwillig von Bord des schwankenden Schiffes gesprungen, das sich „Erde“ nannte. Ein Schiff, das seit undenklichen Zeiten durch die öde Weite des Alls driftete. Ziellos, wie es schien, und ohne Kapitän und Steuermann – den über die Jahrtausende verschlissenen Besatzungen die Heuer schuldig bleibend, die sie für ihre Arbeit, ihren guten Willen und all ihr Hoffen und Bangen verdient hatten.

Luk fühlte sich plötzlich wie ein Kind in einem De Chirico Gemälde – zurückgelassen in einer fremden kalten Welt.

Jetzt neigte er seinen Kopf zur Seite und lauschte. Er vermisste etwas, etwas, das zu diesem Raum gehörte wie das verblichene Blumen-Rollmuster an den gekalkten Wänden. Er ahnte, was es war, und nur langsam und widerwillig schweifte sein Blick hinüber zur alten Pendeluhr.

Sie war stehengeblieben.

Ihre Zapfen, die das 24-Stunden-Laufwerk in Gang hielten, waren ganz oben. Anscheinend hatte seine Mutter die Uhr noch aufgezogen. Die verschnörkelten Zeiger standen auf 7:25 Uhr. Er selbst war kurz vor acht aus dem Wald zurückgekehrt – eine halbe Stunde zu spät.

Ohne Vorwarnung war urplötzlich das Chaos in seinem Leben ausgebrochen: Gestern der Tod dieser Frau, der ihm die ganze Nacht wie ein Mühlstein im Magen gelegen und ihn nicht hatte schlafen lassen, bis er zu seiner Pirsch aufgebrochen war, heute seine Mutter am Strick.

Er musste den Selbstmord melden. Er musste den Polizeiposten in Freyung verständigen. Doch wenn er dies tat, würde es am Hof bald von Beamten wimmeln.

Luk konnte sich jetzt schon die Fragen vorstellen, die sie ihm bezüglich der Särge und seiner beruflichen Tätigkeit stellen würden.

Alles kein Problem, wenn da nicht noch die Leiche dieser Frau aus Regensburg gewesen wäre … dieser Frau, die ihn vom ersten Augenblick an die einzige große Liebe seines Lebens erinnert hatte – an Evi.

Er hatte sich bis jetzt nicht entschließen können, ihren Tod zu melden. Etwas hielt ihn davon ab. Es war das Gefühl, damit etwas zu verschenken, das um nichts in der Welt verschenkt werden durfte.

6

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 27. März 1991.

– Gestern ist das letzte Stückl Vieh abgeholt worden.

Es war die Maisi, unsere Beste. 4300 Liter hat sie uns letztes Jahr geben!!! Der Bub hat geweint. Ist jetzt 16 Jahr und hat geweint. Hat den Vater bettelt, daß er sie nicht hergibt, die Maisi, aber es hat nichts geholfen.

Eine Kuh ist keine Kuh, hat der Sepp gemeint, ist nur die Arbeit für nix. Zuviel Milch zum Selbersaufen und zu wenig zum Verkaufen. Aus­gschmatzt is, hat er gesagt, der Sepp.

Hat jetzt eine Freundin, der Bub. A ganz a fesche noch dazu. Evi heißt sie. Und vom Metzger in Freyung is.

Da ist Geld daheim!!!

Ich bet zur Gottesmutter, daß sie ihm bleibt. Er hätt es weiß Gott verdient, wenn er die Maisi schon nicht haben darf. –

Luk und Evi waren seit über einem Jahr ein unzertrennliches Paar. Sie besuchten beide dieselbe Klasse am Freyunger Gymnasium, und sie saßen in derselben Bank.

Es war Freitag, ein heißer Tag Ende Juli. Alle wichtigen Schulaufgaben waren geschrieben und die Sommerferien standen vor der Tür. Der Unterricht zog sich zäh wie Honig durch die letzten Vormittagsstunden. Die Motivation der Klasse hatte den Nullpunkt erreicht und die Aufmerksamkeit flimmerte auf Sparflamme. Auf den abwesenden Gesichtern konnte man wie in einer Programmzeitschrift lesen, was jeder Einzelne fürs Wochenende plante.

Auch Luk und Evi hatten einen Plan: Nachtschwimmen. Sie wollten am Spätnachmittag auf Luks altem Zündapp-Moped zu einem abgelegenen Weiher fahren und dort bis zum nächsten Tag kampieren. Luk hatte das Zelt und die Luftmatratze schon am Vorabend auf den Gepäckträger seines Mopeds geschnallt. Evi wollte für den Proviant sorgen: Grillwürste aus der elterlichen Metzgerei.

Jetzt spürte er Evis Knie wie zufällig das seine berühren. Nein, eigentlich berührte es ihn gar nicht. Es war noch einen guten Zentimeter von dem seinen entfernt, und doch hatte er die intensive Empfindung einer Berührung. Beide sahen sich an und mussten lächeln. Auch Evi hatte es gespürt. Ihre Hypersensibilisierung füreinander brauchte keinen direkten Körperkontakt, um den Strom fließen zu lassen. Der Funke ihrer Verliebtheit sprang auch aus dem Abstand wie ein Lichtbogen von einem zum anderen über. Es war ein zartes Kribbeln, das vom Knie bis in die Lenden ausstrahlte und ihre Körper schwer machte – schwer vor Verlangen und Hingabebereitschaft.

Evi steckte jetzt ihren Zeigefinger in den Mund und zog ihn wieder heraus. An seiner Kuppe glänzten kleine Spuckebläschen. Sie betrachtete ihn verträumt und drückte ihn dann auf Luks Oberschenkel. Als sie ihn wieder wegnahm, blieb ein feuchter Fleck auf seiner Jeans zurück.

Luk wusste, was sie ihm mitzuteilen versuchte. Sie war äußerst erfinderisch, wenn es darum ging, ihm ihre erotische Temperatur anzuzeigen. Dieser kleine Fingerabdruck sprach Bände. Er erzählte Geschichten aus 1001 Nacht, er enthielt den Code, der das Kamasutra in seinem Kopf öffnete und seine Fantasie darin blättern ließ.

Heute jedoch erregte ihn Evis Botschaft nicht so wie sonst. Der dunkle Fleck auf seiner Hose wurde heller und heller. Für ein paar Sekunden nahm er die Farbe des Paradieses an: Weiß, Indigo und Türkis. Dann verflüchtigte er sich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Zurück blieb nur ein bitterer Geschmack von Verlust.

„Was ist?“, fragte sie, als sie seine gekräuselte Stirn sah.

„Nichts!“, sagte er, sich zu einem Lächeln zwingend, das keine drei Pfennige wert war. Dann versuchte er, wieder dem Unterricht zu folgen, um die Vorahnung abzuschütteln, die ihn plötzlich beschlichen hatte – eine Vorahnung, ebenso vage wie düster.

***

Langsam schob die hereinbrechende Nacht von Osten her ihren dunklen Schleier über die bewaldeten Kuppen. Erste Sterne flammten auf. Im Westen war noch ein Schein wie von geschmolzenem Kupfer auszumachen, den die längst untergegangene Sonne jetzt wie das Ende einer Schleppe langsam hinter den Horizont zog.

Die Oberfläche des Weihers schimmerte wie schwarze Tinte. Keinem Dichter wären hier und zu dieser Stunde die Zeilen aus der Feder geflossen: Es lächelt der See, er ladet zum Bade. Nein, dieses Gewässer wirkte geheimnisvoll und bedrohlich wie das Tor zur Unterwelt. Statt Zerberus bewachte eine Myriadenschaft blutsaugender Insekten den Zugang, und ein Käuzchen im Schwarz der hohen Fichten schien ohne Unterlass zu rufen: „Tabu … tabu!“

Luk hatte Probleme, aus seiner engen Jeans zu kommen. Auf einem Bein herumhüpfend wie ein besoffener Storch zerrte er am Hosenbein des anderen, bis er das Gleichgewicht verlor und fluchend ins Gras plumpste. Er hörte Evis glockenhelles Lachen über den Weiher schallen. Sie war schon im Wasser. Weit draußen. Kein Kunststück. Sie hatte ja auch nur ihr T-Shirt und den Wickelrock abzulegen gehabt. Unterwäsche trug sie nicht.

Luk hatte ihr zugesehen, wie sie sich mit ein paar Handgriffen ihrer Kleidung entledigt hatte und zum Ufer gegangen war. Er konnte einfach nicht anders, als in Ehrfurcht erstarrt zu gaffen. Sie war so schön. Ihr nackter Körper schimmerte vor dem Hintergrund des schwarzen Gewässers lilienhaft weiß wie der einer Elfe. Ihr langes dunkelblondes Haar mit den hellen Strähnen umgab sie wie ein duftiger Schleier aus Naturseide. Die ganze Szene wirkte so märchenhaft unwirklich, dass er glaubte zu träumen. Dann winkte sie ihm, und das Bild ihrer winkenden Gestalt brannte sich für immer in seine Seele ein – es war von einer Schönheit, die schmerzte.

***

Der Taucher, der Evi einen Tag später aus dem Wasser barg, gab an, dass er sie aufrecht schwebend, einen knappen Meter unter der Wasseroberfläche, vorgefunden hatte. Ihre Arme in einem 45° Winkel vom Körper abstehend, wie die Flügel eines Engels, der sich zum Flug erhebt. Er hatte ihren linken Fuß aus dem Astwerk eines Biberbaus befreien müssen. Es war anzunehmen, dass sie sich bei dem Versuch, mit den Zehenspitzen die Tiefe des Weihers auszuloten, darin verfangen hatte.

7

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 12. August 1991.

– Ich und der Bub gerade aus Lourdes zurück.

Hab ihn endlich doch noch überreden können, mit mir das Gelübde einzulösen.

Die ganze Reise eine einzige Katastrofe!

Schon im Pilgerzug von München weg hat er den Leuten erzählt, daß der Himmel ganz anders ist, als sie ihn sich vorstellen. Ein Kranker hat sich darüber so aufgeregt, daß er eine Spritze braucht hat.

Dann, an der Gnadenstätte, da wo die Pilger ihre kauften Kerzen unter ein Dacherl stellen und anzünden, hat er völlig durchdreht.

Was tuts ihr mit die Kerzen, hat er ein paar Laienbrüder gefragt, die was die frisch anzünten Kerzen in einem Wagerl abtransportiert haben, gleich nachdem die frommen Leut sie hingestellt haben und weitergangen sind. Es waren große zentnerschwere Kerzen dabei, mit viel Schmuck und Dekor, die was in den Andenkenläden mehrere hundert Mark kostet haben.

Wir schmelzen sie ein und gießen neue daraus, haben die Brüder gesagt. Da ist der Bub aus der Haut gefahren.

Ist jetzt a kräftiger Bursch, mein Ludwig. Hat sich die Ärmel hochkrempelt, sich neben die Kerzen gestellt und keinen von den Brüdern mehr hinlassen.

Nix da, hat er geplärrt! Ihr laßts die Kerzen brennen, bis sie ausgehen, sonst passiert was!

Irgendwann ist ein Ordnungsdienst kommen und hat uns aus dem heiligen Bezirk vertrieben. Was für eine Schand!

Der Bub hat auf der ganzen Rückfahrt seinen Schnabel nimmer aufbracht. Ich habs ihm angesehen, daß er immer noch zornig war.

Daheim hat er gemeint: Mam, das nächste Mal fahrn wir nach Hellabrunn in Zoo, da gibts kein Falsch nicht bei die Viecher!

Oh, heilige Bernadette von Lourdes, schenk meinem Bub den Glauben wieder, den was er mehr und mehr verliert! –

Luk stand auf und setzte das Pendel der alten Küchenuhr wieder in Gang. Er hielt es nicht aus, dass ihm die stehengebliebenen Zeiger den Todeszeitpunkt seiner Mutter ins Gesicht schrien.

Dann setzte er sich wieder an den Tisch und wurde das Gefühl nicht los, auf einer Anklagebank zu sitzen. Die Scherben der zerbrochenen Kaffeetasse starrten ihn an wie ein Häuflein vereidigter Geschworener, die über seine Schuld oder Unschuld zu befinden hatten.

Er schloss die Augen.

In Gedanken zog jetzt der schicksalhafte gestrige Tag an ihm vorüber …

***

Er hatte den Sargdeckel gerade festgenagelt – vier acht Zentimeter lange Nägel so eingeschlagen, dass sie noch einen Zentimeter hervorstanden, damit er sie später leicht mit der Zange wieder herausziehen konnte.

Nach einem Blick auf seine Armbanduhr setzte er sich in den alten Ohrensessel und begann, sich zu konzentrieren.

Wie immer während der 20 Minuten, in denen die Teilnehmer seines Seminars in ihren Särgen lagen und ihren Scheintod starben, versuchte er auch heute, jene lichtdurchflutete gläsern wirkende Szenerie vor seinem geistigen Auge wieder heraufzubeschwören, in die ihn das Koma seinerzeit katapultiert hatte.

Doch diesmal gelang es ihm nicht.

Immer wieder schweiften seine Gedanken zu der Frau im Sarg ab. Ihre Ähnlichkeit mit Evi war frappierend. So hätte Evi als reife Frau aussehen können. Leider hatte sie die wunderbare Entwicklung vom Mädchen zur Frau nicht mehr erleben dürfen. Das Schicksal, die Götter oder auch nur der pure Zufall hatten es anders gewollt.

Egal wie viele Tausend Kilometer er zwischen sich und den Ort zu bringen versucht hatte, an dem das Unglück mit Evi geschehen war, die Erinnerung an sie hatte ihn als bittersüße Wegzehr überallhin begleitet.

Nie und nirgendwo konnte er bis zum heutigen Tag an Liebe denken, ohne gleichzeitig den Hauch des Todes zu verspüren. Doch langsam begann er zu begreifen, dass die Liebe keine Chance auf der Welt hätte, wäre da nicht der Tod, dieser ständig drohende Totalverlust alles Errungenen, Erkämpften und Eroberten.

Vielleicht war die Liebe ein noch größeres Geschenk als das Leben selbst und verhielt sich zu ihm wie die Perle zur Schale der Auster.

Luk sah jetzt wieder auf seine Uhr.

Die Frau im Sarg verhielt sich noch ruhig. Zehn Minuten waren bis jetzt vergangen.

Plötzlich fiel ihm auf, dass die Zange, die er zum Ziehen der Sargnägel benötigte, nicht an ihrem Platz lag. Er hatte sie zur Reparatur eines Fensterladens bei seiner Mutter drüben gebraucht. Weil der Termin für sein nächstes Sterbeseminar offiziell erst im Februar stattfinden sollte und er nicht mit der Frau aus Regensburg gerechnet hatte, hatte er sie noch nicht wieder zurückgelegt. Das musste er schleunigst nachholen.

Er stand auf, nahm den Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und sperrte die äußere Stalltür auf. Als er draußen war, verschloss er sie wieder, wie es seiner Gewohnheit entsprach. Dann ging er ums Haus herum zum Vordereingang. Im Flur blieb er stehen und überlegte, wo er die Zange hingelegt hatte.

Natürlich, jetzt fiel es ihm ein, sie musste noch auf dem Fenstersims in der Küche liegen.

Als er die Tür zur Küche öffnen wollte, merkte er, dass sie von innen durch etwas blockiert wurde. Er stemmte sich dagegen und steckte seinen Kopf durch den entstandenen Spalt.

Seine Mutter lag reglos auf dem Boden.

„Mam!“

Seine Mutter rührte sich nicht.

Vorsichtig zwängte er sich durch die Tür und kniete neben ihr nieder. Sie lag auf dem Bauch. Er drehte sie um und fühlte ihren Puls – unregelmäßig und kaum spürbar … wie das Trippeln einer Ameise.

„Mam, hörst du mich?“, rief er und tätschelte dabei ihre Wange.

Nichts. Nur ein kaum merkliches Zucken ihres kleinen Fingers.

Luk stand auf und ging zur Spüle. Er hielt einen Lappen unter den Wasserhahn, wrang ihn aus und legte ihn dann seiner Mutter auf die Stirn.

„Mam, ich bin’s! Kannst du mich hören?“ Wieder tätschelte er ihre Wangen.

Nur ihr kleiner Finger begann, etwas schneller zu zucken, sonst gab sie kein Lebenszeichen von sich.

Luk zog jetzt sein Handy aus der Tasche und wollte den Notruf wählen. Fluchend schob er es wieder ein. Er wusste, dass er hier keinen Empfang hatte, und trotzdem passierte es immer wieder, dass er das Gerät zückte, um jemanden anzurufen. Die Grimmasse, die er dann schnitt, war jedes Mal die eines Rauchers, der nach einer leeren Zigarettenschachtel gegriffen hatte.

Er musste hinauf ins Labor und dort das Festnetz benutzen. Nur im Labor gab es einen Telefonanschluss, weil er sich dort die meiste Zeit aufhielt und öfter sogar darin übernachtete.

Suchend blickte er sich um.

Mit einem Ruck zog er jetzt den Holzkorb zu sich herüber, der neben dem Herd stand. Er leerte ihn aus, drehte ihn um und schob ihn seiner Mutter unter die Beine. „Beine hochlagern!“, war alles, an was er sich aus seinem Erste-Hilfe-Kurs bei der Führerscheinprüfung noch erinnern konnte. Dann zog er seine Jacke aus, rollte sie zusammen und platzierte sie im Nacken seiner Mutter.

Raus jetzt und hinaufgespurtet zum Labor, wo das Telefon stand!

Als er keuchend vor der Tür des Labors ankam, stieß er einen Fluch aus. Er hatte den Schlüsselbund in der Jacke vergessen, die er seiner Mutter unter den Kopf geschoben hatte. (Während er das Wohnhaus nur abends zusperrte, schloss er das Labor jedes Mal ab, sobald er es betrat oder verließ. Genauso verfuhr er mit dem Seminarraum im Stall. Es war ihm zur eisernen Gewohnheit geworden.)

„Mist!“

Er lief zurück.

Seine Mutter lag so reglos da, wie er sie verlassen hatte. Er holte den Schlüsselbund aus der Jackentasche. Dann kam ihm der Gedanke, dass sie sich auf dem kalten Küchenboden verkühlen könnte. Er hob sie auf, trug sie in ihre Schlafkammer hinüber und legte sie dort aufs Bett. Wieder spurtete er zum Labor hinauf, betrat es und setzte von dort einen Notruf ab. Er hatte das noch nie vorher getan und fluchte innerlich über die ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung, die alle Zeit der Welt zu haben schien. Sie fragte und fragte … nach Namen, Adresse, Zufahrtsmöglichkeit, der betroffenen Person, deren Alter und nach dem, was passiert war. Als er den Hörer schließlich unsanft auf die Ladeschale spießte, kochte er inwendig, obwohl ihm klar war, dass es nur so laufen konnte.

Keuchend stand er endlich wieder vor der Schlafkammer seiner Mutter. Seine Stirn glänzte vor Schweiß.

Er öffnete die Tür.

Die Schlafkammer war leer.

Aus der Küche hörte er Geräusche. Er riss die Tür auf und blieb wie angewurzelt stehen.

„Mam!“

Da kniete sie vor dem Herd und legte Holz nach. Überrascht fuhr sie herum. Er hatte fast geschrien. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Verwirrung wider.

„Geht’s dir gut?“, fragte er verwundert.

„Ach, weißt du, Bub, ich glaub, ich werde alt ... alt und vergesslich. Stell dir vor: Da wach ich doch auf meinem Bett auf und kann mich gar nicht mehr erinnern, dass ich mich hingelegt hätt. Mit samt der Wäsch auf’m gemachten Bett ... und dann find ich den Holzkorb mitten in der Küch und alle Scheit daneben ... ich weiß wirklich nicht, was da ...“

„Du bist ohnmächtig auf dem Boden gelegen. Ich hab dich in deine Kammer gebracht und dann den Notarzt gerufen.“

„Den Notarzt?“

„Ja, den Notarzt. Der Sanka kommt auch gleich mit, haben sie gesagt.“

„Ich brauche keinen Notarzt nicht und einen Sanka schon gar nicht ... die nehmen einen mit, und heimkommen tut man nicht mehr! Weißt noch, wie’s der Atzinger Zenz gangen hat im letzten Jahr? Heimkommen ist’s nicht mehr!“

Luk musterte sie von oben bis unten. „Hast du dir wehgetan?“

Seine Mutter betastete ihren Hinterkopf. „Ich weiß nicht … der Schädel brummt mir ein bisserl, sonst nichts.“

„Egal, der Sanka ist unterwegs, und es kann nicht schaden, wenn dich mal wer untersucht.“

„Nix da, ich brauch keinen, der mich untersucht, ich bin gesund ... hab nie einen Doktor braucht!“

„Mam, sei gescheit! Man liegt nicht bewusstlos auf dem Boden rum, wenn man gesund ist. Vielleicht brauchst ja nur was für deinen Blutdruck ... Lass dich anschaun vom Doktor!“

Leni stampfte jetzt mit dem Fuß auf den Boden. „Ruf an und sag, dass sie nicht kommen brauchen, mir geht’s wieder gut!“

So zornig hatte Luk seine Mutter schon lange nicht mehr erlebt. Oder war der Zorn nur Ausdruck ihrer Angst?

Er steckte jetzt den Schlüsselbund zurück in die Jacke, die seine Mutter vom Boden aufgehoben und über eine Stuhllehne gehängt hatte.

„Schau, Mam, wenn wir das so machen, wie du sagst, dann müssen wir den Einsatz des Rettungswagens voll aus der eigenen Tasche bezahlen, das ist nun mal so geregelt.“

„Dann ist es eben so ... ich brauch keine Rettung! Und jetzt lass mich meine Arbeit tun, und tu du die deine!“

„Mam!“

„Nix, ‚Mam‘! Die kommen mir nicht ins Haus. Ich sperr zu und lass keinen rein!“

„Geh, spinn doch nicht, das kannst du nicht machen!“

„Und ob ich kann, das wirst schon sehn!“

Plötzlich durchfuhr es Luk siedend heiß. Dort auf der Fensterbank lag die Zange, die er eigentlich zu holen gekommen war. Er schnappte sie sich und warf einen gehetzten Blick auf die alte Pendeluhr an der Wand.

Die Frau drüben im Stall lag jetzt schon über 30 Minuten im Sarg. Länger als ausgemacht. Länger als für sie gut war … Sie hatte ihm von den Medikamenten erzählt, mit denen sie vollgepumpt war … deshalb auch ihre Fahruntauglichkeit.

„Bin gleich wieder da!“, warf er seiner Mutter über die Schulter zu und eilte hinaus.

Draußen war es bereits dunkel geworden. Schnee lag in der Luft. Wahrscheinlich würde es in der Nacht zum ersten Mal schneien. Den ganzen Tag schon hatte sich bleigraues Gewölk zusammengeschoben und der Böhmwind hatte aufgefrischt.

Luk hatte noch keine fünf Schritte getan, als er hinter sich ein schweres metallisches „Klack ... Klack“ vernahm. Genau dieses Geräusch aber brachte ihm den verdammten Schlüsselbund wieder in den Sinn, den er zurück in die Jacke gesteckt hatte ... in genau die Jacke, die jetzt in der Küche über der Stuhllehne hing.

„Verflixt und zugenäht!“

Er ging zurück.

Er hatte sich nicht getäuscht – die Haustür war verschlossen.

Er rannte zum Küchenfenster, schrie, fluchte und fuchtelte wild mit den Armen.

Nein, das war noch nie bei seiner Mutter angekommen.

Also auf die sanfte Tour!

Er versuchte es mit theatralischem Händeringen und einem gequälten Lächeln.

Sie würdigte ihn keines Blickes, klapperte nur emsig mit ihren Töpfen auf dem Herd herum.

Er begann, ans Fenster zu klopfen.

„Ritsch ... ratsch“ waren die Vorhänge zugezogen. Nein, seine Mutter wollte nicht, und wenn sie nicht wollte, war da nichts zu machen. Ihr Kopf bestand aus echtem Bayerwaldgranit.

Luk wurde jetzt unwohl in seiner Haut. Er lief auf die andere Seite des Hauses und inspizierte die Fenster des Stalles. Durch diese Fenster war kein Hineinkommen. Alle vier hatten eine steinerne Einfassung, in die zwei senkrecht verlaufende Eisenstangen eingelassen waren.

Er ging zur Tür und lauschte.

Zuerst drang nicht das leiseste Geräusch aus dem Stall zu ihm heraus. Dann glaubte er, einen langgezogenen gedämpften Schrei zu vernehmen. Oder war es die Sirene, deren Klang jetzt in der Ferne erscholl und lauter und lauter anschwoll?

Luk fiel die Futterluke ein, durch die er vom Heuboden in den Stall gelangen konnte. Das war die Rettung.

Als er sich von der Tür abwandte, um zum Scheunentor auf der anderen Seite zu laufen, verstummte die Sirene plötzlich. Stattdessen nahm er das zuckende Blaulicht wahr, das jetzt durch das laubfreie Geäst der Buchen den Hang hinauf tanzte.

Luk blieb stehen.

Er wirkte wie eingefroren.

Volle 30 Sekunden lang stand er nur da und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Vor oder zurück? Hin oder her? Es war, als hätte etwas in seinem überhitzten Gehirn den Überlastungsschalter umgelegt. Zwei Befehle mit gleichstarker Dringlichkeit hatten einen Kurzschluss in ihm ausgelöst.

Der Notarztwagen war jetzt vor dem Haus angekommen. Der Sanka quälte sich noch über den ausgefahrenen Schotterweg den Hang herauf. Wenig später schwenkte auch er in die Hofeinfahrt ein. Jetzt wurde Luk von den Scheinwerfern erfasst. Er stand in seltsam verrenkter Pose auf der Hangwiese und wirkte dort wohl für die Ankömmlinge wie eine abstrakte Gartenskulptur.

„He, Sie da! Haben Sie angerufen? Wo müssen wir hin? Wo ist der Patient?“, rief ihm der Notarzt zu, der mit einem Koffer in der Hand bereits aus dem Wagen gesprungen war.

Das grelle Licht der Scheinwerfer und der Zuruf des Arztes ließen Luks Batterien wieder anspringen. Das Schicksal hatte eingegriffen. Die Umstände nahmen ihm die Entscheidung ab. Eins nach dem anderen ... nur so kann der Mensch funktionieren!

„In der Küche!“, rief er und winkte mit einer matten Handbewegung in Richtung der beleuchteten Fenster. „Aber meine Mutter ...“

Dem Arzt reichten die ersten drei Worte als Information. Alles, was Luk noch zu sagen hatte, war jetzt zweitrangig. Er besaß Routine, das konnte man sehen. Effizientes Handeln war für ihn oberstes Gebot. Er rannte zur Haustür, die er mit Schwung zu öffnen versuchte. „Rums“ knallte seine Stirn gegen das schwere Eichenholz. Benommen blieb er stehen. Dann wandte er sich um.

„Was zum Teufel ... Na, kommen Sie schon, sperren Sie auf! Beeilung! Sowas hab ich doch noch nicht erlebt ... ruft den Notarzt, sperrt das Haus zu und geht spazieren!“

Die Sanitäter hatten mittlerweile eine Trage aus dem Wagen geholt und kamen jetzt auf Luk und den Arzt zu.

„Was gibt’s?“, fragten sie erstaunt.

Als sie von Luk erfuhren, was es gab, entspann sich eine Diskussion, die nahe daran war, in Handgreiflichkeiten auszuufern, als plötzlich wieder ein hartes metallisches „Klack ... klack“ zu hören war.

Da stand sie im Türrahmen, die Krückl-Bäuerin. Kopf schräg zur Seite geneigt und die Hände in die Hüften gestemmt.

„Was ist jetzt das für eine Narretei? Ja, könnt ihr euren Händel nicht woanders austragen als vor meiner Tür?“

„Ist das die Patientin?“, fragte der Arzt sichtlich verdutzt.

Luk nickte beklommen.

„Nein, bin ich nicht!“, kam es mit Bestimmtheit aus dem Mund seiner Mutter. „Mir fehlt nix, solang man mir meine Ruh lässt! Und jetzt gute Nacht!“

„Klack ... klack“ machte es wieder, und die Tür war zu.

Der Notarzt sah sich zu den Sanitätern um und meinte kopfschüttelnd: „Das ist ja ein Fall für die Psychiatrie!“

„Na, das geht jetzt aber zu weit!“, kam es ohne rechte Überzeugung von Luk. Die ganze Sache war ihm höchst peinlich. Er wusste, dass er sich eigentlich entschuldigen musste, doch in seinem Kopf spukte nur die Frau im Sarg herum. Die Uhr tickte, und alles, was er wollte, war, dass diese Herren endlich verschwanden, damit er sich um die Frau kümmern konnte.

Die Augen des Arztes blitzten ihn hinter der Nickelbrille hervor feindselig an.

„Das geht Ihnen also zu weit, was ich da gerade gesagt habe? Dann passen Sie mal auf, wie weit das noch geht, mein Herr. Für diesen Einsatz werden Sie teuer bezahlen. Wir fahren nämlich nicht zum Spaß in der Gegend herum. Und wenn ich Ihnen noch einen guten Rat geben darf: Lassen sie Ihre Mutter mal untersuchen ... ich meine, vom entsprechenden Facharzt.“ (Er ließ seinen Zeigefinger vielsagend vor der Schläfe kreisen.) „Und wenn Sie schon dabei sind ...“ (Eine wegwerfende Handbewegung.) „... ach, vergessen Sie’s!“

Als die roten Schlusslichter der beiden Wagen im Dunkel der Nacht verglommen waren, ging erneut die Haustür auf – diesmal fast geräuschlos und nur einen Spalt breit.

„Sind sie weg?“

Luk schob seine Mutter grimmigen Blickes beiseite und rannte in die Küche. Er zog sich die Jacke über, zog den Schlüsselbund aus ihrer Tasche und war auch schon wieder auf dem Weg nach draußen. Ein flüchtiger Blick auf die Wanduhr sagte ihm, dass die Frau jetzt seit 50 Minuten im Sarg lag.

Natürlich hatte er seine Särge mehrfach selbst getestet, bevor er die ersten Teilnehmer zu einem Seminar einlud. Er hatte sich hineingelegt, den Deckel sauber auf den Falz geschoben und abgewartet. Immer dabei: seine Armbanduhr mit den Leuchtziffern und der Stoppuhr. 20 Minuten waren überhaupt kein Problem. Doch ab 30 Minuten begann der Zeiger der Uhr zu kriechen und wenig später auf der Stelle zu kleben. Das Gehirn, gewohnt, bei geöffneten Augen vom Sehnerv mit optischen Daten versorgt zu werden, fing nun, da die Lieferung solcher Informationen ausblieb, selbst an, Bilder in das schwarze Nichts zu projizieren. Seltsame Bilder. Bilder wie unter Stroboskoplicht aufblitzend und wieder verschwindend, noch bevor sich einem ihr Inhalt recht vermittelte. Ein Gefühl der Relativität aller Zeit stellte sich ein. Man begann, ihr zu misstrauen, der Zeit. Mit diesem Misstrauen jedoch krochen Ängste aller Art in einem hoch. Unbegründete Ängste in seinem Fall. Er konnte ja den Deckel jederzeit beiseiteschieben. Nach 40 Minuten glaubte er, mit jedem Atemzug zähe Flüssigkeit in seine Lungen zu ziehen. Die letzten Minuten, die er es im Sarg ausgehalten hatte, bevor er nach einer Dreiviertelstunde in Panik den Deckel vom Falz stieß, hatten ihn all seine Willenskraft gekostet.

Hastig zog Luk jetzt die Nägel aus dem Holz. Er hielt die Luft an, hob den Deckel vom Sarg und – ließ ihn krachend zu Boden fallen.

Zu spät!

Da lag die Frau, die sich vertrauensvoll dem 20-Minuten-Tod in die Arme geworfen hatte – verraten und um ihr Leben betrogen. Ihre gebrochenen Augen waren weit aufgerissen, ihre Gesichtszüge verzerrt. Unter ihren Fingernägeln steckten blutige Splitter aus Fichtenholz.

Luk versuchte, ihren Puls an der Halsschlagader zu fühlen.

„Lächerlich!“, schrie ihn die Leere ihrer Augen an. „Aus und vorbei!“

Und so war es. Kein Leben würde je in diese menschliche Hülle zurückkehren. Jetzt nicht und auch nicht irgendwann. Die Auferstehung des Fleisches war eine Illusion – gestrickt aus der wärmenden Wolle geistiger Behäbigkeit für all jene, deren Intellekt noch von den schlafenden Mumien des alten Ägypten regiert wurde. Denn sie träumten immer noch denselben Traum wie diese, den Traum von der Auferstehung im Fleische. Ihre materialistische Weltsicht machte auch vor dem Jenseits nicht halt. Jedes Kilo, das sie sich hienieden angefressen, sollte auch in himmlischen Gefilden noch Gewicht haben. Jede Warze auf Nase oder Gesäß sollte möglichst mit ihnen transzendieren, damit sich ihr selbstverliebtes Ich dort auch wiedererkannte.

Luk schloss jetzt die Augen der Frau und streichelte zärtlich über ihr Gesicht. Seine Finger zitterten dabei, als stünde er unter Strom. Wieder tauchte das Bild vor ihm auf, das sich vor so vielen Jahren in seine Seele eingebrannt hatte: Das nächtliche sternenübersäte Firmament ... der verborgene Weiher im Wald ... sein Gewässer, schwarz wie die Fluten des Styx ... davor eine weiße elfengleiche Gestalt, die ihm zuwinkte ... Evi.

Langsam beugte er sich jetzt zu der toten Frau hinab und küsste ihre bleichen Lippen.

Als er den Deckel vom Boden aufhob, um ihn wieder auf den Sarg zu legen, hatte er das Gefühl, eine Schatztruhe zu verschließen, deren Inhalt ihm fortan niemanden mehr entreißen würde.

Es schauderte ihn. Doch es war ein Schauder der Freude und Erregung. Ein Schauder, wie man ihn empfindet, wenn ein lange gehegter Wunsch plötzlich und unerwartet in Erfüllung geht.

Etwas verband ihn mit der Frau im Sarg: Ein nichtstofflicher ­Ariadnefaden, der ins Jenseits hinüberführte, ein unsichtbares Glasfaserkabel, über das er mit der Toten kommunizierte.

Ihre Unterhaltung war einvernehmlich. Es war wie ein gegenseitiges Besitzergreifen. Kampflos. Einzig beseelt vom Gedanken untrennbarer Zusammengehörigkeit.

Ein zartes Flüstern drang jetzt aus der Kiste aus Fichtenholz an sein Ohr: „Nimm mich! Tu mit mir, was du willst!“

Und Luk antwortete: „So soll es sein! Ich werde dich nicht enttäuschen!“

8

Auszug aus dem Tagebuch der Magdalena Grünzinger vom 03. September 1992.

– Ludwig hat mit der Schule aufgehört. Geht jetzt bei einem alten Mann in die Lehr, der was tote Viecher ausstopft. Mein Gott, wenn ich nur dran denk, wird mir ganz schlecht.

Wie hätt ich es mir gewünscht, daß er einmal auf Pfarrer studiert. Hätt wirklich das Zeug dazu gehabt, der Bub. Aber nur im Kopf. Im Herzen hat er unserem Heiland schon längst Lebewohl gesagt. Denkt immerzu nur über das nach, was er im Koma gesehen hat. Mam, hat er gesagt: Das Paradies ist blau … wirst schon sehen!

Glaubt nur noch an seine närrischen Fantasien und nicht mehr an die Wahrheit, die was uns die heilige Kirche lehrt.

Dieses Jahr war hart für ihn gewesen. Im Juni hat er den Vater verloren, meinen guten Sepp, und im August seine Evi.

Seit dem Unglück mit seiner Freundin bringt der arme Bub das Maul kaum noch auf. Das Essen will ihm auch nicht mehr schmecken. Kommt letzthin zu mir und sagt: Mam, brauchst mir ab jetzt kein Fleisch mehr zu kochen, ich mag es nicht mehr. Ja Bub, sag ich, soll ich dir jetzt Sägspän in die Fleischpflanzerl tun? Hat nur mit den Schultern zuckt und mich stehenlassen.

Geh ich neulich in den Keller und will einen Schübel Kraut aus dem Faß heraufholen, da seh ich, daß im Regal mehr Weckgläser stehen, als ich eingemacht hab. Ich geh hin und schau mir das Vermehrungswunder näher an. Da hätt mich bald der Schlag troffen. Das erste Glasl, was ich nimm, fällt mir gleich vor Schreck aus der Hand. Auf dem Boden liegt ein toter Frosch und alles stinkt nach Spiritus.

Saubub elendiger, denk ich mir und schau mir die anderen Glasl an. Hat sie alle schön beschriftet. Auch das Datum draufgeschrieben, so wie ich es mit den Kirschen und den Zwetschgen mach. Nur war in seinen Glasln lauter grausligs Zeug: Eidechsen, Tausendfüßler, Ratzen und Mäus.

Heiliger Antonius von Padua, laß den Buben wieder ein Mädel finden! Ein junger Mensch braucht was Lebendigs an seiner Seit. Was aus Fleisch und Blut, das er abbusseln kann, sonst geht er kaputt. –

Luk wischte die trüben Gedanken an den gestrigen Tag beiseite. Seine Finger begannen, auf den Küchentisch zu trommeln. Er war nervös. So nervös wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er musste die Polizei verständigen und den Selbstmord seiner Mutter melden.

Zuvor aber musste etwas mit seinem „Schatz“ geschehen.

Sein Unterbewusstsein hatte bereits eine Entscheidung gefällt. Zu verlockend klang das zarte Rufen aus dem Fichtensarg, das er jetzt immer deutlicher zu vernehmen glaubte. Wie lieblicher Sirenensang schwang eine Botschaft durch den Äther, für die nur eine von Sehnsucht verzehrte Seele empfänglich war.

Was konnte er von der Justiz schon erwarten, wenn er die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit auf den Tisch legte? Im günstigsten Falle eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung.

Wem war damit gedient, außer dem Gesetz?

Die Frau war, logisch betrachtet, das Opfer einer Verkettung widriger Umstände, ihr Tod die Folge von höherer Gewalt.

Die Wahrheit war gefährlicher als Nitroglyzerin. Selbst bei vorsichtigstem Umgang mit ihr und genauester Dosierung blieb ihre Wirkung stets unberechenbar. Im vorliegenden Fall hatte sie weder moralischen Wert noch ethisches Gewicht. Sie würde nur einmal mehr ihre destruktive Kehrseite zeigen.

Nein, hier machte die volle Wahrheit wenig Sinn. Sie würde nur Verwirrung stiften und zu verhängnisvollen Entscheidungen führen. Hier musste das Gesetz mit der halben Wahrheit vorliebnehmen – eine Leiche war genug!

Aus der Unterhaltung mit der Frau wusste er, dass sie nach ihrer Scheidung allein gelebt hatte und das Seminar für sie eine Spontan­idee gewesen war. Sie war auf sein Angebot im Internet gestoßen, hatte ihn umgehend angerufen und ihm einen Termin gleich für den nächsten Tag abgerungen; bereit, auch die fünffache Kursgebühr zu bezahlen, in bar. Sie war mit Zug und Bus nach Freyung gelangt. Kein Pkw also, der mit auswärtigem Kennzeichen irgendwo verdächtig lange herumstand.

Keine Mails waren hin und hergegangen. Keine Banküberweisung war getätigt und keine Anmeldebestätigung verschickt worden. Es gab also keine Spur, die zu ihm führte. Sie könnte höchstens einem Freund oder einer Freundin mitgeteilt haben, was sie vorhatte. Doch hinsichtlich dessen, was sie ihm über ihre derzeitige soziale Situation berichtet hatte, war dies eher unwahrscheinlich, noch dazu in der Kürze der Zeit.

Sie hatte ihm gesagt, dass sie zurzeit nicht fahrtauglich sei, wegen der Medikamente, die sie einnehme. Tatsächlich hatte sich ihre Handtasche, als er sie gestern untersuchte, als gutbestückte Apotheke entpuppt. Ein Sammelsurium an Tabletten und Pillen jeder Art und Farbe war da zum Vorschein gekommen. Dabei hatte sich ihm die Vermutung aufgedrängt, dass die Frau die knappe Stunde im Sarg, ohne die Chemie in ihrem Körper, vielleicht sogar überlebt haben könnte. Vielleicht war sie gar nicht erstickt … es könnte auch die Angst gewesen sein, die das Schlagen ihres Herzens gestoppt hatte.

Wie es schien, war die Frau auf der Suche gewesen … auf der Suche nach etwas, das ihr das Leben missgönnte.

Luk zog ihren Abschiedsbrief aus der Tasche und begann, ihn zum wiederholten Male zu lesen. Sein Inhalt schmeckte bitter wie Schierlingstrunk und besaß die Sprödigkeit eines erpressten Vaterunsers.

WARUM ICH STERBEN WILL:

Ich misstraue dem Leben, weil es sich mir vom ersten Augenblick an als etwas Vollkommenes aufzudrängen versucht hat. Als schön geschmückter Geschenkkorb voll schillernder Verheißungen. Dabei spüre ich mit jedem Jahr, das vergeht, dass es mir einen Großteil der Wahrheit über sich verschweigt. Es behandelt mich wie meine zwei Ex-Ehemänner. Auch sie haben ihre wahre Natur vor mir verborgen. Ich musste ihnen erst selbst auf die Schliche kommen. Doch was ich dabei herausfand, war keineswegs erfüllte Verheißung.

Meine Geburt empfinde ich im Rückblick als einen Ruf zu den Waffen, ohne Kampferfahrung und Grundausbildung, als Einberufung ohne Recht auf Verweigerung. Über das Ziel des Kampfes und die mögliche Beute schweigt sich das Leben aus. Nur Gerüchte … nichts als vage altersschwache Gerüchte!

Ich weiß nicht, ob ich noch normal bin oder schon verrückt. Doch manchmal kommt es mir vor, als sei Verrücktheit die einzige Zuflucht vor den Lügen der Normalität.

Das Einzige, woran ich noch glauben kann, ist die Liebe. Je mehr der Sinn alles anderen verblasst, desto sinnvoller erscheint sie mir. Und finde ich sie nicht in dieser Welt, so gehe ich in einer anderen auf die Suche nach ihr.

Normalerweise bekam Luk die Abschiedsbriefe und Testamente nicht zu Gesicht, weil sie von den Kursteilnehmern in ein Kuvert gesteckt und versiegelt wurden. Nach der „Auferstehung“ wurden sie dann in einem feierlichen Ritual verbrannt.

Auch er hatte das Testament der Frau zusammen mit ihrer Handtasche, dem Handy, den Schuhen, der Kleidung, den Kreditkarten, dem Führerschein und dem Ausweis der Toten im Kanonenofen des Stalls verbrannt. Nur dieses Blatt, auf dem geschrieben stand, warum sie sterben wollte, hatte er aufbewahrt. Es war nicht unterschrieben und konnte von irgendjemandem stammen, doch sein Inhalt brachte etwas auf den Punkt, das die ganze Menschheit betraf: Ein Leben ohne Liebe entbehrt jeden Sinns!

Der kleine Rollkoffer mit dem ausziehbaren Griff, den die Frau mitgebracht hatte und der jetzt oben in seinem Haus in einem Zimmer der Einliegerwohnung stand, würde ebenfalls noch in den Ofen wandern.

Dass sie ihn in ihrem Testament bedacht hatte, schmeichelte ihm. Er wertete es als Zeichen, dass auch sie sich ihm irgendwie verbunden gefühlt hatte. Vielleicht war auch sie in einer Welt von Milliarden von Menschen einsam gewesen, so einsam wie er.

Aber damit war jetzt Schluss.

Er hatte Gesellschaft bekommen. Gesellschaft, die sein Herz frohlocken und seinen Geist jubilieren ließ.

Luks Entschluss stand fest: Er würde sich von nun an um diese Frau kümmern.

Ihr Tod hatte die Taue gekappt, die das Schiff seiner Sehnsucht im Hafen der Trauer festhielten. Nun segelte es mit geblähten Segeln neuen Horizonten entgegen.

„Vertrau mir, ich werde gut zu dir sein!“, kam es wie ein feierlicher Eid über seine Lippen. Dann stand er auf und begab sich in den Stall.

9

Bürgermeister Weber faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Frühstückstisch. Seine Stirn unter dem grauen Haaransatz war gerunzelt. Seine buschigen Brauen hatten sich über den tief in den Höhlen liegenden Augen zusammengeschoben. Die Falten, die von seiner markanten Adlernase zu den Mundwinkeln hinab verliefen, wirkten wie Kerbschnitzerei auf gekalkter Eiche.

Er hatte gerade den Polizeibericht überflogen. Der Inhalt war ihm bereits bekannt. Die Informationen waren ihm zugetragen worden, noch bevor sie in die Redaktion der Passauer Neuen Presse gelangt waren.

Das Übliche im Großen und Ganzen: Alkohol am Steuer – Schlägerei in einer Disco – Sicherstellung von selbstgezogenen Hanfpflanzen etc.

Ein Ereignis aber, ein Todesfall der weniger schönen Art, hatte ihn nachdenklich gestimmt – ganz gegen seine Natur.

Er war kein nachdenklicher Mensch. Er war ein Macher. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass allzu langes Nachdenken Entscheidungen immer schwieriger machte und deren Folgen nicht unbedingt besser. Er hatte sich häppchenweise durch Machiavellis „Il Principe“ gearbeitet und sich mit „Die Kunst des Krieges“ von Sun Zhou befasst. Letzterer beispielsweise riet: „Wenn du dich nicht entscheiden kannst, von welcher Seite du die Burg des Feindes angreifen sollst, dann stürme durch das Hauptportal!“

Das gefiel ihm. Das war seine Art. Er war ein Stürmer. Sein Credo lautete: Wer lange fragt, geht lange irr!

Doch das hier war etwas anderes – er kannte die Frau, die da mutmaßlich Selbstmord begangen hatte.

Versonnen begann er, mit seiner Kuchengabel in der Kaffeetasse zu rühren. Mechanisch. Sein Blick war dabei auf einen imaginären Punkt an der Wand gerichtet. In Gedanken spulte er die Zeit zurück. Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, bis in jene Faschingsnacht 1974, in der sich ihm diese Frau im Rausch der Sinne hingegeben hatte.

„Was ist mit dir, Walter? Hast du Ärger im Amt?“, fragte seine Frau vom anderen Ende des Tisches, wo sie in einer Modezeitschrift blätterte.

Walter Weber sah seine Frau an wie ein lästiges Insekt, das plötzlich in den Raum geflattert war. „Wieso?“

„Na, weil du jetzt schon eine Minute lang in deiner Tasse rührst. Vielleicht darf ich dich daran erinnern, dass du ihn schwarz und ohne Zucker trinkst, da gibt es eigentlich nichts zu rühren.“

Walter Weber nahm die Kuchengabel aus der Tasse und ließ sie klirrend auf die Untertasse fallen. Er fühlte sich ertappt, und wenn er sich ertappt fühlte, weckte das nicht Schuldgefühle bei ihm, sondern Kampfgeist. Aber er und Trudi hatten schon genug gekämpft. Den Großteil ihres Pulvers hatten sie bereits verschossen. Was davon noch übrig war, war feucht geworden und zündete nicht mehr. Und mit der Philosophie von Machiavelli oder den Strategien eines Sun Zhou war Frauen ohnehin nicht beizukommen. Frauen kämpften anders. Die Evolution hatte ihnen eingebläut, dass im Geschlechterkampf ein Frontalangriff ihrerseits nur selten gut ausging. Deshalb erfolgten ihre Attacken meist verzögert, wenn „Mann“ nicht mehr damit rechnete – und niemals durch das Hauptportal.

Walter Weber hatte den Spaß an derlei häuslichem Geplänkel verloren. Er wollte zu Hause nur möglichst seinen Frieden haben. Seine Kampfarena war das Rathaus. Dort erzielten Willenskraft und hemdsärmeliges Auftreten noch Erfolge. Hier zu Hause verpufften sie wirkungslos, weil dem Partner das Repertoire aller Tricks und Finten bekannt war. Mit Streit war nach Jahrzehnten der Ehe kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Gelegentliche Ausbrüche dienten nur noch der Gemütshygiene. Mit Diplomatie verhielt es sich ähnlich – sinnloser Kraftaufwand!

Das einzig brauchbare Instrument in einer Beziehung wie der ihren war ein sechster Sinn für Distanz und Nähe, für Ausweichen oder Aufeinanderzugehen.

Bei Walter und Trudi waren die tausend Gründe für eine Scheidung, die in ihrer Ehe aufgetaucht waren, stets wie Seifenblasen an der Einsicht zerplatzt, dass eine Trennung und die Aufteilung ihrer Mittel und Güter keinesfalls zwei halbe Vermögen hinterlassen hätte, sondern allenfalls einen Scherbenhaufen auf beiden Seiten.

Naja, nicht ganz, denn Walter, der ihr gemeinsames Vermögen verwaltete, hatte da ein paar kluge, wenn auch hundsgemeine Vorkehrungen für diesen Fall getroffen. Aber auch für ihn stellte eine Trennung mit Getöse eine unkalkulierbare Gefahr dar.

Das Image, das er sich zusammen mit Trudi aufgebaut hatte – ein Beispiel von Frömmigkeit, Ehrbarkeit, Traditions- und Familienbewusstsein – galt es mit aller Kraft zu pflegen. Denn hier in der ländlichen Provinz hatte man auf dem politischen Parkett ohne ein solches Image denkbar schlechte Karten.

Walter brauchte seine Trudi als First Lady, so wie sie ihn als Finanzier brauchte. Ihre Ehe war ein Joint Venture und Effizienz der einzige Kitt, der sie noch rechtfertigte und zusammenhielt.

Ab dem Zeitpunkt, als er für das Bürgermeisteramt zu kandidieren begonnen hatte – und er hatte mit seinen 67 Jahren jetzt schon mehrere Amtsperioden hinter sich – war an Scheidung überhaupt nicht mehr zu denken gewesen. Image und gesellschaftlicher Status eines jeden waren so miteinander verstrickt, dass sie sich nicht ohne weiteres mehr trennen ließen. Jeder für sich allein wäre nur noch eine verkrachte Existenz gewesen.

Aber so lange sich Soll und Haben hübsch die Waage hielten, ging die Rechnung für sie auf. Beide hatten schon früh erkannt, dass es leichter war, einander zu ertragen als zu lieben. Für das gegenseitige Ertragen ließen sich klare Regeln aufstellen, für die Liebe niemals. Kurz und gut, sie hatten es sich gegenseitig nicht leichtgemacht, und deshalb waren sie immer noch zusammen.

Auch sie gingen jeden Sonntag zur Kirche, um sich mit dem frommen Wahlvolk der Region, das hier 90% ausmachte, für eine Stunde gleichzuschalten. Doch mit der Liebe, wie sie dort in den geweihten Hallen gepredigt wurde, konnten beide nichts mehr anfangen.

Walter z.B. bekam eine Gänsehaut, wenn 1. Korinther 13 verlesen wurde. Die Botschaft war für ihn grotesk:

… denn die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles und hält allem stand …

Er hatte diese Verse nach allen Regeln der Logik zerpflückt, sie unter dem Rasterelektronenmikroskop seines Intellekts beleuchtet und quasi unter Laborbedingungen getestet. Das Ergebnis:

Selbst zwei Götter wären mit dem Postulat einer solchen Liebe überfordert gewesen, deren Anwendbarkeit bedingte, dass zumindest einer Schuld auf sich lud, damit der andere ertragen, glauben, hoffen und standhalten konnte. Stets musste einer von ihnen Gott, der andere Teufel spielen, damit sie funktionierte. Nur wenn sich einer von ihnen aus reiner Nächstenliebe verpflichtete, den anderen zu misshandeln, konnte der andere nach diesem Prinzip der vollkommenen Liebe frönen.

Solche Botschaften, ob göttlichen Ursprungs oder nicht, waren für Walter Weber die sprichwörtliche Schlange, die sich vom Schwanz her selbst auffraß.

Misstrauisch schon von Amts wegen fragte er sich, was derjenige wohl bezweckte, der für solchen Umgang miteinander plädierte. Mit Sicherheit war es nicht die Läuterung aller Übeltäter, um sie dann als Gerettete an Bord der Liebe zu holen. Nein, solche Liebe wusste ja, dass ihr Boot mit jedem bekehrten Bösewicht schwerer wurde und irgendwann unweigerlich kentern würde. Also warf sie den verirrten Schafen nur öffentlichkeitswirksam bunte Rettungsringe zu und segelte weiter zur nächsten Rettungsaktion. Das war der eigentliche Sinn ihrer Existenz: Auch die Liebe wollte sich nur wohlfühlen in ihrer eigenen Haut, mehr nicht. Und dazu brauchte sie das Übel dieser Welt.

Walter Weber war kein schlechter Mensch, aber er ließ sich nicht mal von Gott höchstpersönlich ein „A“ für ein „O“ vormachen – er schrieb sich seine Gesetzestafeln selbst.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137781
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Mord Freundschaft Bayern Hochzeit Bayerischer Wald Heimat Spannung Liebeskummer Liebe Heimatroman Horror Liebesroman

Autor

  • Hugo Nefe (Autor:in)

Hugo Nefe, geb. 1956 in Simbach/Inn ist seit 1982 als freischaffender Künstler und Autor tätig. Seine Werke befinden sich in so bedeutenden Sammlungen wie der Bayerischen Staatsgemäldesammlung-Neue Pinakothek, der Hypo-Kulturstiftung und der Staatl. Kunstsammlung der Volksrepublik China. Hugo Nefe lebt und arbeitet in Reißing (Gem. Oberschneiding/Ndb)
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Titel: Die Farbe des Jenseits