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Unter die Räder gekommen

Ein Justizkrimi

von Peter Märkert (Autor:in)
286 Seiten

Zusammenfassung

›Es gibt kein Halten mehr, wenn man einen Berg hinabstürzt, nichts, um sich festzuklammern. Man traut sich nicht mal, den Blickwinkel zu ändern, sondern starrt gebannt in die Tiefe.‹ Kristof Driesen wird nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft in der Bochumer Altstadt erschossen. Gibt es einen Zusammenhang mit seinen Überfällen? Oder dem heftigen Streit in der Familie? Hauptkommissar Kramer erhofft sich Unterstützung bei Marie Marler, die als Bewährungshelferin Kristofs Freunde betreut. Sie erfährt von einem zurückliegenden Missbrauch.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

Das Glück trägt häufig den Mantel des Unglücks. Während des Abendessens erinnert er sich an das Sprichwort seines Vaters. Warum schenkt ihm Onkel Wolfgang das Handy zum zwölften Geburtstag? Hätte Vater nicht damit vorbeikommen können? Ein ganzes Jahr hat er ihn nicht gesehen. Er mag den Onkel nicht, der immer so nah an ihn heranrückt, dass ihm allein vom Mundgeruch schlecht wird. Mutter sieht ihn an, als ließe sich Dankbarkeit mit einem Blick befehlen: Los, nimm deinen Onkel in den Arm, mach schon! Ob er will oder nicht, er kann sich nicht gegen sie wehren. Er stellt sich die neidischen Blicke der Mitschüler vor, wenn er ihnen das Handy zeigt, und überwindet sich. Eine schnelle Umarmung und zurück auf den Stuhl.

Der Onkel schüttet mit fleischigen Händen Bier und Schnaps in sich hinein. Glasige Augen starren ihn an, die Stimme schwärmt von seiner Figur und fragt, ob er sich für Mädchen interessiert. Er schämt sich, überlegt, auf sein Zimmer zu gehen, doch fürchtet die Reaktion seiner Mutter. Sie betont bei jeder Gelegenheit, wie wichtig es ist, sich mit dem Onkel gut zu stellen, weil der so großzügig ist.

Mit einem gekünstelten Lächeln lässt er sich auf das Gespräch ein, schwärmt von einer Mitschülerin, die mit den Jungen in der Klasse Fußball spielt und sich sogar für Ballerspiele interessiert. An den Stirnfalten seiner Mutter erkennt er, dass ihr die Geschichte nicht gefällt. Schon schimpft sie, dass er auf Vater herauskommt, der nur an seine Interessen gedacht hat, nicht an die Kinder, nicht einmal an ihren Geburtstagen. Immer die gleiche Aufregung, wenn sie zu viel Wein getrunken hat. Sie könne die große Wohnung nicht halten, ihm kein Taschengeld geben. Vaters Unterhalt reiche vorne und hinten nicht, obwohl er in Afghanistan ein Vermögen verdiene. Soll er ihn verteidigen oder sich auf sein Zimmer zurückziehen? Er sagt kein Wort und hofft, dass ihr Anfall vorübergeht. Schon wegen des kleinen Bruders, der ihn mit panischem Blick vom anderen Ende des Tisches ansieht.

Die fleischigen Hände kramen im Portemonnaie, fingern Geldstücke heraus. Wieder muss er sich bedanken, den Onkel umarmen, der ihn drückt, als wolle er ihn nicht mehr loslassen. Er ekelt sich vor dem Geruch nach Alkohol und Schweiß, will weg, nur weg. Mutter lacht über seinen gequälten Gesichtsausdruck. Er reißt sich los, sieht, wie sein kleiner Bruder aufsteht, um ihm zu folgen, doch von Mutter zurückgehalten wird.

Für den Geburtstag hat er sein Zimmer aufgeräumt, seine Sachen im Schrank verstaut. Hätte ja sein können, dass Vater auftaucht. Ob er noch daran denkt, wie sie auf dem Spielplatz tobten? Auf der Schaukel, am Drehkreuz. Welchen Spaß sie auf der Rutsche im Freizeitpark Lago hatten. Er denkt immer daran und würde so gerne die Zeit zurückdrehen. Mutter sagt, er müsse sich mit der Situation abfinden, dabei hat er den Eindruck, dass sie sich selbst damit nicht abgefunden hat.

Er hört, wie sie den kleinen Bruder ins Bett bringt. Erst gehen sie ins Bad, dann ins Kinderzimmer. Sie wird ihm vorlesen, bis er eingeschlafen ist, um zu verhindern, dass er zu ihm kommt. Nach zwanzig Minuten hört er, wie sie vorsichtig die Tür schließt. Soll er nachsehen, ob sein Bruder schläft? Er lauscht in den Flur hinein. Aufgeregte Stimmen dringen aus dem Wohnzimmer. Onkel Wolfgang verteidigt ihn vor seiner Mutter. Er will das nicht, der soll sich nicht für ihn einsetzen. Er holt das Handy aus der Verpackung, dreht es in den Händen und überlegt, es wortlos zurückzugeben, doch kann sich nicht überwinden. Stattdessen zieht er die Folie vom Bildschirm, schließt es an das Ladegerät an. Dann legt er sich aufs Bett und schaltet den kleinen Fernseher ein, den Vater ihm schenkte, als die Welt noch in Ordnung war.

In der Nacht sieht er sich an der Haustür, während sein Vater zu der fremden Frau in den Jeep steigt, der Wagen sich in Bewegung setzt, immer kleiner wird und im Nichts verschwindet. Er wartet auf die Rückkehr, spürt gleichzeitig, dass es sinnlos ist. Er wacht schweißgebadet auf.

Wolfgang kommt ins Zimmer, legt sich wie selbstverständlich zu ihm aufs Bett. Er dreht sich zur Wand, der Onkel rückt näher an ihn heran, er spürt den Bauch an seinem Rücken. Das ist noch nie passiert. Er ist völlig panisch. Warum ist Wolfgang nicht auf der Couch im Wohnzimmer geblieben, die Mutter immer für ihn bezieht? Er stellt sich schlafend. Hoffentlich bemerkt sein Onkel den Irrtum und verschwindet wieder. Oder soll er ihn schlafen lassen und selbst auf die Couch ausweichen?

Hände berühren seinen Rücken, streichen über die Haut, tasten sich nach vorne zu den Brustwarzen. Hätte er sich bloß ein T-Shirt angezogen. Die Hände gleiten abwärts. Über den Bauch unter seine Shorts. Er kann nicht glauben, was da passiert, fühlt sich lebendig begraben, zwei Meter unter der Erde. Mit Onkel Wolfgang. Kein Mensch kann ihn hören, kein Laut dringt nach außen. Sein Herz rast, er wünschte zu sterben. Er hört den Onkel stöhnen, liegt mit dem Gesicht zur Wand, die Augen geschlossen, wie tot.

Wolfgang versucht, ihm einzureden, dass er ihn dazu verleitet hat durch sein ständiges In-den-Arm-nehmen. Ist das wahr? Ist es wirklich wahr? Nein! Mutter wollte es, er nicht. Warum hat er das Handy nicht zurückgegeben? Warum ist er nicht gleich aufgesprungen, als der Onkel sich zu ihm ins Bett legte? Warum hat er es sich gefallen lassen? Die Fragen kreisen in seinem Kopf, nachdem Wolfgang das Zimmer längst verlassen hat. Bis zum Morgen liegt er wach, unfähig, sich zu bewegen. Sein Onkel hat ihm verboten, darüber zu reden. Es ginge nur sie beiden etwas an, sei ihr Geheimnis. Andere würden es nicht verstehen. Er entdeckt fünfzig Euro auf dem Schreibtisch. Meint Wolfgang, ihn dafür bezahlen zu können? Er möchte den Geldschein vernichten, das Handy, den Geburtstag, alles, was ihn an die Nacht erinnert. Er springt aus dem Bett, wundert sich, dass es so leicht ist, als wäre nichts passiert. Dabei würde er sich am liebsten auf den Boden werfen und schreien. Er zieht sich an, um es seiner Mutter zu sagen, läuft in die Küche. Der Blick verrät ihre schlechte Laune. Sie wird ihm die Schuld geben oder die ganze Sache ins Lächerliche ziehen. Nein, soweit darf er es nicht kommen lassen. Er schämt sich zu Tode, schenkt ihr den Fünfziger, um ihre Stimmung zu heben. »Von Onkel Wolfgang«, sagt er und verschwindet ins Bad, um Nachfragen zu entgehen. Er kann sich nicht von der Dusche lösen, bis Mutter an die Tür klopft und ihn an die Schule erinnert.

Beim Frühstück bedankt sie sich bei ihrem Bruder für die Großzügigkeit und lädt ihn ein, bald wieder bei ihnen zu übernachten. Der Onkel verspricht, auf ihr Angebot zurückzukommen. Beim Abschied drückt er seine Hand, bis sie schmerzt, sieht ihm dabei fest in die Augen.

Kapitel 1

Sechs Jahre später. An einem Mittwoch im September. Verhandlungspause im großen Sitzungssaal des Bochumer Amtsgerichts. Richter und Schöffen ziehen sich zur Beratung ins Hinterzimmer zurück. »Höchstens zehn Minuten«, verkündet der Vorsitzende und bittet die Anwesenden, auf ihren Plätzen zu bleiben.

Was gibt es da zu beraten? Für Bewährungshelferin Marie Marler ist die Beweislage nach den Geständnissen der drei Heranwachsenden eindeutig. Sie kann sich nur vorstellen, dass der Vorsitzende die beiden Schöffen überzeugen will, auf die Zeugenaussagen zu verzichten. Das wäre großartig, dann könnte sie direkt nach der Pause ihre Stellungnahme abgeben und ins Büro fahren, wo jede Menge Arbeit auf sie wartet. »Meinst du, sie hören noch die Zeugen an?«, fragt sie ihren Kollegen Udo Fröbel, der neben ihr am Tisch der Sachverständigen sitzt.

»Keine Ahnung«, brummt der in sich hinein, ohne den Blick von seinem Smartphone zu nehmen. Marie greift automatisch in ihre Tasche. Nein, jetzt nicht. Sie möchte nicht von irgendwelchen Nachrichten abgelenkt werden. Sie könnte die junge Staatsanwältin am Nachbartisch nach deren Einschätzung fragen, doch die scheint zu sehr in die Akten vertieft, um ihren Blick zu bemerken. Sie betrachtet die modische Brille, die zurückgekämmten Haare. Unter der Robe trägt die Staatsanwältin einen dunklen Hosenanzug. Sie strahlt Eleganz und Wichtigkeit aus. Marie wirft einen Blick auf ihre Klamotten. Lederjacke mit Nieten, kurzer schwarzer Rock, in aller Eile am Morgen aus dem Schrank gezogen. Sie schlägt die Beine übereinander, um die tätowierte Schlange um den Stab an ihrer Wade zu verdecken. Eine Erinnerung an eine Sommerliebe in Griechenland. Konnte sie keine Jeans anziehen mit einem Jackett? Es ging am Morgen wieder alles viel zu schnell. Sie muss früher aufstehen, um sich Zeit für ein passendes Outfit zu nehmen. Vor allem, wenn sie zum Gericht geladen ist. Immerhin ist sie vor ein paar Tagen sechsundzwanzig geworden. Wieder fragt sie sich, ob sie irgendwann erwachsen wird. Anderen scheint es zu gelingen. Ihr Blick wandert zu ihrem Klienten auf der Anklagebank. Fabian Meisner, dunkle Locken, fast kindliche Gesichtszüge. Zwischen den Mittätern wirkt er klein, zerbrechlich, dazu passte die traurige Stimme bei dem Geständnis. Was soll sie sich vormachen? Er war bei den Straftaten dabei, daran gibt es nichts zu rütteln. Er hat es zugegeben. Nur darauf kommt es an. Nicht mal einen Monat nach dem Urteil zu einer Jugendstrafe wegen räuberischer Erpressung mit Aussetzung zur Bewährung lässt er sich von den Mittätern zu neuen Straftaten hinreißen. Schuld ist dieser Kristof Driesen, der mit der Anwältin neben Fabian sitzt. Dem möchte Marie nicht im Dunkeln begegnen. Glatze, kalter Blick, groß und kräftig, eine vorgebeugte Haltung. Den Dritten im Bunde, Timo Mitter, kann sie nicht einschätzen. Kleiner als Driesen, etwas untersetzt. Er trägt die ganze Zeit ein Grinsen auf dem Gesicht, das hier völlig fehl am Platz ist. Er scheint in dem Vorsitzenden seinen Vater zu sehen, dem er beweisen will, dass ihm Strafen nichts ausmachen, er sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht erträgt. Übertreibt sie mit ihren Deutungen? Wenn schon, sie liebt es, die Gedanken fließen zu lassen. In der Fußgängerzone in einem Straßencafé zu sitzen, Vorbeiziehende zu betrachten und zu überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen. Grandios!

»Hat dein Klient sich verlaufen oder was macht er auf der Anklagebank?« Die leise Stimme ihres Kollegen. »Ehrlich, was hat er mit Kristof und Timo zu schaffen? Die spielen in einer anderen Liga.«

»Sie haben ihn beschützt, als er in seiner Klasse gemobbt wurde«, flüstert Marie ihm zu. »Das hat er mir beim Besuch in der Untersuchungshaft erzählt.« Hat ihr Kollege es geschafft, sich vom Smartphone zu lösen.

Udo flüstert zurück: »Hat er gesagt, warum er gemobbt wurde?«

»Nein. Nur, dass er anders ist als die Mitschüler in seiner Klasse. Das haben sie gespürt.«

Sie wird lauter: »Ich brauche Zeit, um sein Vertrauen zu gewinnen. Im Knast gerät er unter die Räder. Da bin ich mir sicher.«

»Du plädierst für eine erneute Jugendstrafe mit Aussetzung zur Bewährung«, stellt Udo ebenfalls mit lauter Stimme fest. Wie abgesprochen blicken sie zur Staatsanwältin. Marie überlegt, ob sie selbstständig über den Strafantrag in ihrem Plädoyer entscheiden kann oder im Referendariat ist und den Anweisungen des Sachbearbeiters zu folgen hat.

Die Staatsanwältin dreht sich mit ernster Miene und aufrechter Haltung zu ihnen, wobei ihre hohe Stimme ein Klingeln in Maries Ohren verursacht. »Für eine Strafaussetzung zur Bewährung verlangt das Gesetz eine günstige Prognose. Die kann ich aufgrund der Rückfallgeschwindigkeit mit einschlägigen Taten bei keinem der Beschuldigten erkennen.« Sie sieht zur Anklagebank und wendet sich wieder ihren Akten zu.

Fabians Blick beschwört Marie, ihm zu helfen. Klar, die Worte der Staatsanwältin waren nicht zu überhören. Sie sucht nach einer passenden Antwort, sagt lauter als gewollt: »Hinsichtlich der Tatbeteiligung erkenne ich Unterschiede zwischen den Beschuldigten. Fabian Meisner hat nie in das Geschehen eingegriffen.«

Die Staatsanwältin schüttelt den Kopf, wobei eine Haarsträhne über ihrem rechten Auge zum Liegen kommt. Sie streicht sie mit der Hand zurück und spricht in die Akten hinein: »Alles wie gehabt. Kristof Driesen als Frontmann, Timo Mitter direkt daneben und Fabian Meisner im Hintergrund. Ich war schon vor drei Monaten gegen eine Aussetzung zur Bewährung. Für die Angeklagten ist sie gleichbedeutend mit einem Freispruch.« Sie betont die Worte in einer Weise, als wollte sie das Urteil vorwegnehmen. Marie bleibt nicht einmal Zeit, sich aufzuregen. Das Gericht kehrt aus der Beratungspause zurück. Die Anwesenden erheben sich. Der Vorsitzende bittet sie, wieder Platz zu nehmen. Es würden die Geschädigten gehört, um ein umfassendes Bild von der Tatbeteiligung der Beschuldigten zu erhalten.

»Das Gericht erkennt Unterschiede zwischen den Dreien«, frohlockt Marie.

»Warten wir ab, was die Zeugen sagen. Das kann nach hinten losgehen«, bemerkt ihr Kollege.

Er nervt sie mit seinem Pessimismus. Marie sieht zu den Zuschauerbänken und versucht, Blickkontakt zu Fabians Mutter herzustellen. Vergeblich, die starrt stur geradeaus. Marie wundert sich, wie die Frau sich für die Verhandlung aufgestylt hat. Hochgesteckte Haare, kurzes Kleid mit tiefem Dekolleté. Um den Vorsitzenden zu beeindrucken oder ihren Sohn? Schon bei ihrem Besuch in der vergangenen Woche vermittelte Frau Meisner den Eindruck einer in die Jahre gekommenen Barbiepuppe. Dazu fielen ihr die vielen Stofftiere in der Wohnung auf. Stopp! Dieses Mal wird sie nicht psychologisieren. Was hatte Freud gesagt? Eine Zigarre kann auch mal eine Zigarre bedeuten oder so ähnlich. Außerdem sollte nicht mit Steinen werfen, wer im Glashaus sitzt. Sie versucht, an ihrem Rock zu ziehen.

Die Protokollantin ruft den ersten Zeugen auf: Wilhelm Neuberger. Die schwere Holztür öffnet sich, ein Mann Mitte sechzig mit vollem weißem Haar kommt herein. Er sieht sich im Gerichtssaal um und nähert sich dem Zeugentisch im Saal.

Marie meint, ein mildes Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. Na ja, sie lag mit ihrer Einschätzung schon daneben. Mit dem gutmütigsten Gesichtsausdruck hat so mancher Höchststrafen gefordert. Der Vorsitzende reißt sie aus ihren Gedanken. Er belehrt den Zeugen über die Wahrheitspflicht vor dem Gericht und befragt ihn zu seinen Personalien.

Wilhelm Neuberger, neunundsechzig Jahre alt, Rentner, wohnhaft in Bochum, mit den Beschuldigten nicht verwandt oder verschwägert. Zum Tatgeschehen schildert er, gegen Nulluhrdreißig aus der Gaststätte gekommen und zu seinem Auto gegangen zu sein, das in unmittelbarer Nähe parkte. Noch bevor er sich anschnallen konnte, sei die Fahrertür aufgerissen worden. Zwei junge Männer hätten ihn aus dem Auto gezerrt, dabei lautstark nach Portemonnaie und Handy verlangt. Er habe sofort zugestimmt, spiele nicht gerne den Helden. Die jungen Männer hätten ihn zur Eile angetrieben, ihm die Sachen regelrecht aus der Hand gerissen. Den Schlag habe er nicht kommen sehen, nur den Schmerz gespürt und das Blut geschmeckt. Er sei neben dem Auto in sich zusammengesunken und für kurze Zeit bewusstlos gewesen, habe zumindest so getan in der Hoffnung, keine weiteren Schläge zu kassieren. Es sei ihm gelungen, sie hätten sich nicht mehr um ihn gekümmert, sondern wären mit der Beute geflohen.

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er den Schlag einem der Anwesenden zuordnen könne, deutet er auf den jungen Glatzkopf, der am nächsten zum Richterpult sitzt. Den Beschuldigten auf der anderen Seite erkennt er als denjenigen, der half, ihn aus dem Auto zu zerren. Den dritten in der Mitte der Anklagebank habe er bei dem Vorfall nicht wahrgenommen.

Marie spürt einen Hoffnungsschimmer. Die Aussage des Zeugen bestätigt, dass Fabian nicht aktiv ins Geschehen eingegriffen hatte. Neuberger hatte ihn nicht mal bemerkt. So kann ihn die Staatsanwältin nicht ernsthaft in das Bedrohungsszenario einbauen. Sie lächelt zu Fabian herüber. Wenn die anderen Zeugen sich ähnlich äußern, wird sie eine Bewährungsstrafe für ihn herausholen.

Neuberger erklärt, sein Portemonnaie nach wenigen Tagen mit den Karten und Ausweisen im Briefkasten gefunden zu haben. Lediglich das Bargeld von hundert Euro habe gefehlt. Es sei ihm vom Rechtsanwalt des dunklen Lockenkopfs, er zeigt auf Fabian, in voller Höhe erstattet worden.

Oberler nickt zustimmend und erklärt, dass er mit seinem Mandanten und der Jugendgerichtshilfe übereingekommen sei, vor der Verhandlung eine Wiedergutmachung zu leisten.

Auf Nachfragen des Vorsitzenden erwidert Neuberger, seine Verletzungen seien ausgeheilt. Er sei von dem Vorfall nicht dauerhaft beeinträchtigt, habe keine psychologische Hilfe in Anspruch genommen und fürchte sich nicht vor ähnlichen Taten.

»Läuft doch gut«, meint Marie zu ihrem Kollegen. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie, wie Fabian sich vorbeugt, um etwas zu sagen. Kristof Driesen kommt ihm zuvor, zaubert für einen Moment sogar Reue auf sein Gesicht. Er sei auf die Idee gekommen, das Portemonnaie in den Briefkasten zu werfen, um dem Geschädigten die Laufereien und den Ärger zu ersparen. Er sieht kurz zu Fabian, wendet sich schnell wieder dem Zeugen zu. Marie hofft, dass der Vorsitzende es gesehen hat und die richtigen Schlüsse daraus zieht.

»Ich möchte mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Ich verspreche, dass es nie wieder vorkommt. Die Tage auf der Zelle haben mich verändert. Glauben Sie mir, ich hatte zum ersten Mal Zeit, über mein Leben nachzudenken. Ich möchte nicht im Knast enden, sondern mich beruflich fortbilden. Ich möchte mein eigenes Geld verdienen und ein ordentliches Leben führen.«

Zu viele: »Ich möchte, mein und mich«, denkt Marie. Dazu die Redewendung: »Glauben Sie mir«. Klingt doch nicht echt, oder? Fortbilden! Als hätte er jemals im Leben eine Ausbildung begonnen. Sie sollte nicht übertreiben, redet sich ein, dass in jedem Menschen eine Begabung steckt, auch in Driesen. Sie wurde durch unzählige Konflikte in die Ecke gedrängt, statt sich entfalten zu können, daher rührt sein Hass. Sie muss sich zurücknehmen, um über ihre Schönfärberei nicht zu lachen. Ein Überfall ist ein Überfall ist ein Überfall.

Der Vorsitzende sieht zu Fabian und Timo, die sich wie auf Kommando bei dem Zeugen entschuldigen. Nach Sekunden der Stille sagt Neuberger: »Ich hoffe, ihr meint es ehrlich und denkt nicht nur an eine milde Strafe.«

Er wird aus dem Zeugenstand entlassen und erhält seine Legitimation für Fahrgeld mit dem Angebot, die weitere Verhandlung von den Besucherplätzen aus zu verfolgen. Mit einem Blick zur Anklagebank zögert er und setzt sich auf einen freien Stuhl in der hinteren Reihe.

Kapitel 2

Marie Marler massiert sich die Schläfen. Von der Klimaanlage im Gerichtssaal und dem gleißenden Neonlicht bekommt sie bei den Sitzungen regelmäßig Kopfschmerzen. In ihrer Handtasche sucht sie nach Tabletten, erinnert sich an die letzte Verhandlung, wo sie sich verschluckt hatte. Sie musste fürchterlich husten und vor die Tür gehen, um sich zu fangen. Sie wird in der nächsten Pause in der Gerichtskantine einen Kaffee trinken und dabei die Tablette einnehmen. Sie beneidet ihren älteren Kollegen, der voller Gleichmut der Verhandlung folgt. Zumindest sieht es so aus. Sie fragt sich, ob sie auch so wird, ob es erstrebenswert ist oder sie die Bewährungshilfe vorher verlassen sollte. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt? Spürt man ihn? Wird man nicht von dem regelmäßigen Einkommen abhängig? Sie muss schmunzeln. Sie hat nicht mal eine unbefristete Stelle bei der Justiz und macht sich solche Sorgen. Ihr Vater würde sagen, erst das eine, dann das andere. Sie kann das nicht, denkt immer an alles zugleich. Mit einer Spannung im Bauch, als ginge es um ihr Leben, als würde es sich in diesem Moment entscheiden. Irgendwo hat sie diesen Satz gelesen: Jeder Schritt, den du heute gehst, bestimmt dein Leben von morgen.

Die Protokollantin ruft Philipp Christiansen auf. Ein Zwanzigjähriger mit weißem Hemd, Jackett und dunkler Jeans kommt herein. Die angespannten Gesichtszüge vermitteln Marie seine Wut im Bauch. Bestimmt hat er auf den Moment gewartet, um sich Luft zu verschaffen. Sie kann ihn verstehen. Ein Horror, auf der Straße ausgeraubt zu werden. Sie hofft, dass er bei seiner Aussage Fabian ausspart.

Der Vorsitzende belehrt den Zeugen über die Wahrheitspflicht und erkundigt sich nach den Personalien.

Philipp Christiansen, 21 Jahre, Student der Rechtswissenschaften, wohnhaft in Witten, mit den Beschuldigten nicht verwandt oder verschwägert.

Zu dem Vorfall teilt er mit, dass die Angeklagten seiner Freundin Lena und ihm nach einem Besuch der Diskothek Zeche in Bochum hinterherliefen. In Höhe der Bushaltestelle hätten sie sie eingeholt und um Feuer gebeten. »Sie waren sehr aggressiv. Die Haltung, die Sprache. Ich nahm in aller Ruhe mein Feuerzeug aus der Jackentasche.«

So ruhig wirkt er nicht, denkt Marie. Seine Hände zittern auf der Bank, obwohl er sie zu einem Gebet gefaltet hat.

»Da schlug Driesen zu«, sagt er. »Einfach so, ohne jeden Anlass.« Er schüttelt den Kopf, deutet mit dem Zeigefinger zur Anklagebank, zieht die Hand sofort zurück, als hätte er sich verbrannt, faltet die Hände wieder und wendet sich an den Vorsitzenden: »Mit der Faust schlug er mir ins Gesicht … verlangte unsere Handys und Portemonnaies … meine Freundin gab ihre Sachen sofort ab. Ich zögerte einen Moment. Da schlug er erneut zu. Das Blut lief mir aus der Nase. Das rechte Augenlid schwoll an.« Er stockt.

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie nicht fliehen konnten, schildert der Zeuge, dass er festgehalten wurde. »Von dem Angeklagten Mitter. Meisner hielt in der Zeit meine Freundin fest. Das wird sie bestätigen.«

Damit hat Fabian aktiv ins Geschehen eingegriffen. Marie sieht das überhebliche Lächeln der Staatsanwältin und das Kopfschütteln der Besucher. Die Stimmung im Saal ist vollends gegen die Angeklagten gekippt. Wen wundert es? Die sanfte Stimme des Vorsitzenden holt sie aus ihren Gedanken zurück. »Sie erkennen in den drei Beschuldigten zweifelsfrei diejenigen wieder, die Ihnen unter Anwendung körperlicher Gewalt das Portemonnaie und das Handy weggenommen haben.«

Christiansen nickt bestätigend und macht ein ernstes Gesicht. »Ich bin mir hundertprozentig sicher.«

»Gibt es weitere Fragen an den Zeugen?« Der Vorsitzende sieht zu den beiden Schöffen.

Die junge Frau mit dem blonden Zopf neben ihm wendet sich mit eindringlicher Stimme an Christiansen: »Wenn ich Sie richtig verstehe, haben die Beschuldigten den Raubüberfall gemeinsam geplant und ausgeführt. Sie schließen aus, dass es ein alleiniger Plan von Kristof Driesen war, der die anderen erst am Tatort einbezog?«

Hätte die Schöffin die Frage nicht dem älteren Zeugen stellen können?, ärgert sich Marie. Bei Christiansen ist die Antwort vorhersehbar.

»Sie hatten uns zu dritt von der Zeche aus verfolgt«, erläutert er prompt. »Der Disco an der Prinz-Regent-Straße. In Höhe der Bushaltestelle griffen sie uns an. Es war abgesprochen … meine Freundin wird es Ihnen bestätigen. Sie wartet draußen.«

Marie starrt in die Akte auf ihrem Tisch. Warum erwähnt er ständig die Freundin. Traut er der eigenen Meinung nicht? Das kann ja heiter werden. Sie hätte Lust, ihre Sachen zu packen und sich in der Kantine zu stärken. Ihr ist schwindelig, sie braucht auf der Stelle etwas Süßes, sonst fällt sie vom Stuhl. Stopp! Sie darf sich da nicht hineinsteigern. Sie sollte der Verhandlung folgen, statt sich mit dem eigenen Befinden zu beschäftigen.

Die junge Schöffin äußert keine weiteren Fragen, der Schöffe winkt ebenfalls ab. Die Staatsanwältin schaltet sich ein: »Der Raubüberfall liegt etwas mehr als zwei Monate zurück. Leiden Sie noch unter den Verletzungen?«

»Nein, sie sind verheilt. Allerdings träume ich von dem Überfall … wache schweißgebadet auf. Auf der Straße überkommen mich Panikattacken. Ich gehe kaum raus, bleibe meistens auf dem Grundstück meiner Eltern.«

Er übertreibt, oder rührt sein Zittern von der Tat her? Sie sollte objektiver sein, kann nicht erwarten, dass jeder die Sache kleinredet. Der Zeuge vor ihm hatte eine gewisse Altersmilde. Die haben nicht alle Senioren, sie möchte nichts verallgemeinern.

»Haben die Angeklagten versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, um eine Wiedergutmachung zu leisten?«, setzt die Staatsanwältin die Befragung fort.

»Nein!«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. »Das will ich nicht.« Seine Stimme zittert vor Anspannung. »Ich will ihr Geld nicht und überhaupt keinen Kontakt zu ihnen.«

Dabei zieht er an dem linken Hemdsärmel. Marie erkennt eine Rolex-Uhr. Möchte er darstellen, wie wohlhabend er ist? Sie wundert sich. Gerade die Reichen versuchen doch, aus allem Geld zu scheffeln, Steuern zu hinterziehen, an der Börse zu spekulieren, die Armen zu betrügen, um noch reicher zu werden. Sie hätte Lust, ihn zu fragen, ob er die teure Uhr zur Tatzeit trug, doch lässt es bleiben.

Der Vorsitzende sieht zur Staatsanwältin und zu den Rechtsanwälten. Es gibt keine weiteren Fragen an den Zeugen.

Kristof Driesen räuspert sich. »Ich entschuldige mich in aller Form bei Ihnen und verspreche, dass ich mein Leben von Grund auf ändern werde.«

Niemand rührt sich oder sagt etwas. Der Satz steht leer im Raum. Es glaubt ihm keiner, denkt Marie. Ist auch absolut unglaubwürdig. Der Zeuge blickt demonstrativ zur Staatsanwältin. Die Angeklagten existieren in seiner Welt höchstens als Schreckgespenster, die es wegzusperren gilt. Hoffentlich wird er kein Richter, wenn er das Jura-Studium beendet hat. Sie sieht an dem Zeugen vorbei zu Fabian und Timo. Offenbar erwartet der Vorsitzende auch von ihnen eine Entschuldigung. Sie scheinen sich nicht zu trauen, weil Christiansen in die andere Richtung blickt. Marie ist erleichtert, als der Vorsitzende das Schweigen bricht. Er bittet den Zeugen, im Saal zu bleiben, falls sich aus der Aussage seiner Freundin Nachfragen an ihn ergeben. Er erhebt sich langsam, bewegt sich zu den Besucherreihen und setzt sich in die erste Reihe.

Lena Lindner wird in den Zeugenstand gerufen. Herein kommt eine zierliche Schülerin in flauschigem Pulli, schwarzer Lederhose und Sneakers aus Leder und Metall. Ein Parfümduft streift Marie, während sich die junge Frau auf den Zeugenstuhl setzt und den Vorsitzenden aus großen Augen ansieht.

Marie beobachtet Kristofs Blicke. Es ging ihm nicht nur um die Wertsachen. Er wollte sich vor der Frau aufspielen, kapiert nicht, in was er sich und seine Freunde mit dem idiotischen Balzgehabe hineingeritten hat. Sie vernimmt die schüchternen Worte der Zeugin auf die Fragen des Vorsitzenden.

Lena Lindner, achtzehn Jahre, Abiturientin, wohnhaft in Bochum, mit den Angeklagten nicht verwandt oder verschwägert.

Bei den Angaben zum Tatgeschehen blickt sie zu Boden, weint in der Erinnerung. Totenstille im Raum, nur ihre leise Stimme und die vorsichtigen Fragen des Vorsitzenden. Der Schrecken des Überfalls spiegelt sich auf ihrem Gesicht wieder, die Angst vor der Wiederholung des Schrecklichen, ihr Zurückziehen in den familiären Kreis. Ein Besucher verlässt den Sitzungssaal, ein hagerer, mittelgroßer Typ, es könnte Fabians Vater sein, dieselben lockigen Haare, allerdings vollständig ergraut. Marie hat ihn vorher nicht beachtet, er war von der rothaarigen Nachbarin verdeckt worden. In Fabians Blick liest sie seine Aufregung. Er rückt den Stuhl zurück, als plane er, aufzustehen und ihm nachzulaufen. Der Anwalt beruhigt ihn, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legt.

Marie sieht zu Fabians Mutter. Sie starrt stur geradeaus, als ginge sie das alles nichts an. Eine seltsame Frau, sie wirkt wie versteinert. Was mag mit ihr geschehen sein, dass sie so hart wurde? Liegt darin die Ursache für Fabians Auffälligkeit?

»Sein Vater?« Udo Fröbel weist mit der Hand zur Tür.

Sie muss sich sammeln. »Dem Aussehen nach könnte es hinkommen. Außerdem versprach er am Telefon, zur Verhandlung zu kommen«, flüstert sie. »Was soll`s, ich werde ihn fragen … bin gleich zurück.«

»Das geht nicht«, vernimmt sie die Worte des Kollegen im Rücken und verlässt schnell den Saal. An der Treppe holt sie ihn ein. »Hallo, ich bin Marie Marler, die Bewährungshelferin Ihres Sohnes. Wir haben miteinander telefoniert.«

Er mustert sie, lächelt. »Der Äskulapstab. Um meinen Sohn zu heilen? Entschuldigen Sie, Jürgen Meisner. Sie sehen, ich bin gekommen, aber habe mich dabei übernommen. Die Verhandlung strengt mich zu sehr an. Entschuldigen Sie mich bitte bei meinem Sohn. Sagen Sie ihm, er wird von mir hören.« Er wendet sich zur Treppe.

Marie gibt sich alle Mühe, freundlich zu bleiben, obwohl sie ihn am liebsten zurechtweisen würde. »Besteht keine Chance, Sie zu bewegen, den Urteilsspruch abzuwarten?«, flötet sie.

Er dreht sich zu ihr, sieht sie an und schüttelt den Kopf. »Sagen Sie, warum hat Fabian die junge Zeugin festgehalten? Was meinen Sie?«

»Sie tat ihm leid. Er wollte sie vor den anderen schützen. Sie hat es falsch verstanden. Kein Wunder in der Situation.«

»Schön, dass Sie es so sehen. Wissen Sie, vor Afghanistan haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Fabian ist ein guter Junge. Es wäre nie passiert, wenn ich zuhause geblieben wäre.«

»Das glaube ich Ihnen, nur im Augenblick hilft es Fabian nicht. Bleiben Sie, das wird ihm helfen. Wollen Sie es sich nicht überlegen?«

Er steigt die nächsten Stufen herab. »Nein, es ist zu viel passiert. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Leider. Sagen Sie ihm, dass ich ihn verstehen kann … und ihm die Daumen drücke.«

»Nun warten Sie! Ich schlage vor, Sie entspannen sich in der Kantine und kommen später in den Gerichtssaal zurück.« Sie eilt ihm nach. »Es würde ihm viel bedeuten.«

»Ich kann nicht.« Er schüttelt den Kopf, drückt ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Mein Anwalt wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Auf mich wartet die Therapiestunde.«

»Die rothaarige Frau im Saal ... Ihre neue Partnerin?«, ruft sie ihm nach.

Er dreht sich um, hat Tränen in den Augen. »Nein. Sie kam wegen Fabian … um mir Mut zuzusprechen.« Er winkt ab. »Sprechen Sie mit Dr. Krone, bitte.« Er deutet auf die Visitenkarte in ihrer Hand und verschwindet in Richtung Ausgang.

Eine Anwaltspraxis in Münster. Marie geht zurück in den Gerichtssaal, entschuldigt sich beim Vorsitzenden und setzt sich neben ihren Kollegen. »Er erträgt es nicht«, flüstert sie ihm zu. »Die Therapiestunde würde warten. Was weiß man schon von dem anderen, was er durchgemacht hat.«

Udo Fröbel deutet zur Besucherbank. Sie sieht direkt in die Augen von Fabians Mutter, die sich schnell abwendet. Überlegt sie, was ihr Exmann erzählt hat? Die Maske ist nicht zu durchdringen. Marie erinnert sich an das Gespräch mit Fabian im Jugendvollzug, an seine Angst vor den Mitgefangenen. Was hatten die mit ihm angestellt? Eine laute Stimme lässt sie aufblicken. Der letzte Zeuge, Simon Wrede. Er trägt Lederjacke und Lederhose, dazu ein weißes Hemd.

»Ich fuhr mit dem Fahrrad vom Bermuda3eck in Richtung Schauspielhaus. Unter der Brücke kamen mir die Angeklagten entgegen. Sie stellten sich vor mich. Ich kam nicht vorbei.« Er zeigt mit dem Finger zur Anklagebank.

»Sie meinen den Beschuldigten Driesen«, ergänzt der Vorsitzende mit freundlicher Stimme.

»Interessiert mich nicht, wie der heißt«, braust Wrede auf. »Jedenfalls verlangte er eine Zigarette. Ich rauche nicht, erklärte ich ihm. Er nannte mich einen verdammten Lügner, riss mich vom Rad und versetzte mir einen Faustschlag ins Gesicht.« Der Zeuge verstummt und starrt zur Anklagebank.

Wenn die Tische nicht im Weg stünden, würde er sich auf Driesen stürzen, denkt Marie. Überhaupt wirkt er dermaßen aufgedreht, als hätte er vor der Verhandlung eine ordentliche Dosis Amphetamine eingenommen.

»Würden Sie bitte zu mir sehen«, fordert der Vorsitzende ihn auf. »Was geschah nach dem Schlag?«

»Ich sollte die Taschen leeren. Verstehen Sie, es waren drei. Mit einem wäre ich fertig geworden«, sagt er in Richtung Driesen. »Ich holte das Handy und die Brieftasche heraus. Er nahm die Sachen und verschwand mit den anderen.«

»Erkennen Sie die Mittäter im Gerichtssaal?«, erkundigt sich die Schöffin.

»Ja, sicher.« Er zeigt auf die beiden Mitangeklagten.

»Ich möchte mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen und verspreche, dass es nie wieder vorkommt.«

»Nicht in diesem Ton, Herr Driesen, außerdem sind Sie noch nicht dran.« Die Stimme des Vorsitzenden, sanft, aber entschieden. »Gibt es weitere Fragen an den Zeugen?«, wendet er sich an die Schöffen und die Staatsanwältin.

»Waren Sie an dem Abend alkoholisiert?«, fragt die junge Schöffin.

»Wir hatten ein Bier getrunken, wenn Sie das meinen. Unter Freunden. Mit dem Fahrrad konnte ich fahren.«

»Danke, das ist alles. Ich habe keine weiteren Fragen.« Die Schöffin lehnt sich zurück. Die Sache ist entschieden. Marie überlegt, ob sie noch Bewährung für Fabian beantragen kann, ohne sich lächerlich zu machen. Vielleicht sollte sie Udo fragen, was er davon hält. Sinnlos, sie kennt seine Antwort.

Die Stimme der Staatsanwältin: »Leiden Sie noch unter dem Vorfall?«

»Das Hämatom an dem rechten Auge ist verheilt, wenn Sie das meinen.« Er grinst zur Anklagebank rüber.

»Ich möchte mich entschuldigen, es wird nicht mehr vorkommen.« Driesen mit der gleichen Aggression in der Stimme.

»Was ist in ihn gefahren?«, fragt Marie ihren Kollegen.

»Keine Ahnung. Bei den anderen Zeugen klang es entschieden besser«, bestätigt Udo Fröbel. »Wir sollten ihnen einen Boxring empfehlen.« Er lacht.

Der Vorsitzende lässt sich von der angespannten Stimmung im Saal nicht beeindrucken, sondern sieht zu den Mitangeklagten, ob sie sich Kristof anschließen. Tatsächlich nutzen sie die Stille, um ihre Entschuldigungen vorzubringen. Der Zeuge schüttelt den Kopf. Es gibt keine weiteren Fragen an ihn, der Vorsitzende reicht ihm die Legitimation für die Auszahlung von Fahrtkosten und Verdienstausfall. Simon Wrede begibt sich betont lässig zu den hinteren Besucherplätzen.

Der Vorsitzende schließt die Beweisaufnahme. Die Bundeszentralregisterauszüge werden verlesen, ebenso das letzte Urteil des Schöffengerichts und ein schriftlicher Bericht der Jugendgerichtshilfe, indem Jugendstrafen für die drei Beschuldigten angeregt werden. Eine Teilnahme an der Verhandlung wurde aufgrund von Krankheit abgesagt, auf die Mitwirkung der Bewährungshilfe verwiesen. Der Vorsitzende bittet um kurze Stellungnahmen in der Reihenfolge Driesen, Mitter, Meisner. Marie Marler versteht kaum, was ihr Kollege für seine Klienten vorträgt, zu sehr ist sie mit der eigenen Einlassung beschäftigt. Sie ergänzt ihre Notizen in der Akte für den Fall, dass sie den Faden verliert. Ist ihr schon passiert. Wieder überkommt sie das Gefühl, ob es nicht besser wäre, sich anderswo als Sozialarbeiterin zu bewerben, vielleicht in einer Therapieeinrichtung. Oder neu zu starten mit einer Ausbildung oder einem Studium. Sie interessiert sich für Kunst, Gestaltung, alles, was mit Inneneinrichtung und Dekoration zu tun hat. Die Gerichtsverhandlungen regen sie zu sehr auf, es graut ihr davor, Jugendliche einzusperren. Sie muss sich immer wieder sagen, dass sie nicht jeden schützen kann. Die letzte Entscheidung trifft das Gericht. Ihr Kollege schließt eine günstige Prognose für Driesen und Mitter aus, plädiert auf Jugendstrafen mit dem vordringlichen Ziel, sie aus ihrem Umfeld zu lösen. Im offenen Vollzug könnten sie einen Schulabschluss erreichen, um die Voraussetzung für eine Ausbildung nach der Entlassung zu schaffen. Seine Ausführungen decken sich mit den Berichten der Jugendgerichtshilfe, die allgemeine Zustimmung im Saal ist ihm sicher. Marie fragt sich, ob der Umgang im Jugendvollzug weniger schädlich ist, doch sieht zumindest bei Driesen keine positive Prognose. Vielleicht würde ihn eine intensive Betreuung auf dem Bauernhof verbunden mit einer Ausbildung auf einen anderen Weg bringen. Auf keinen Fall dürfte er in die bisherigen Verhältnisse zurückkehren. Udo ist mit der Stellungnahme fertig, er beugt sich zu ihr. »Spar dir lange Ausführungen, die Sache ist entschieden.« Er lehnt sich zurück.

Sie sieht zum Vorsitzenden, zur Staatsanwältin, zu Fabian, seiner Mutter. Soll sie auf den Kollegen hören? Nein, sie lässt sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen, auch wenn das Urteil feststeht. Sollen sie von ihr denken, was sie wollen. Wenn sie anfängt, sich zu verbiegen, gibt es kein Halten mehr. Dann wird sie die Bewährungshilfe schneller verlassen, als es ihr lieb ist, auch wenn sie nachher ohne einen Cent dasteht. Sie setzt sich aufrecht, wird nicht an ihrem Rock ziehen, sondern sich auf Fabian konzentrieren. Sie schildert die Trennung seiner Eltern, den Kontaktabbruch zum Vater, betont, dass die Mutter alle Hände voll mit dem jüngeren Bruder zu tun hatte, erntet dafür ein zustimmendes Nicken von der hinteren Besucherreihe. Fabian habe Vorbilder außerhalb der Familie gesucht, sie in den beiden Mittätern aus der höheren Klasse gefunden, die ihn zu den räuberischen Ausflügen mitgenommen hätten. Nach der ersten Verurteilung habe er sich nicht lösen können. »Jede Veränderung benötigt Zeit. Mit einem Urteilsspruch allein ist es nicht getan. Erst in den Nächten auf der Zelle hat er sich geschworen, sein Leben von Grund auf zu ändern. Da hat er die Tragweite seines Handelns eingesehen.«

»Waren Sie dabei?«, fragt die Staatsanwältin von oben herab. »Das klang beinahe so.«

Marie senkt den Blick, um ihre Wut zu verbergen. »Es gibt keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.« Sie hat sich wieder im Griff und führt aus, dass Fabian Meisner bei den Taten stets im Hintergrund geblieben war, der Zeuge Neuberger ihn nicht mal wahrgenommen hatte. Er könne nicht mit den Mitbeschuldigten auf eine Stufe gestellt werden. Es wäre erzieherisch geboten, dabei auch ausreichend, auf den jungen Menschen im Rahmen einer Bewährungsstrafe einzuwirken, um neue Straftaten zu verhindern. Sie nimmt das Kopfschütteln der Staatsanwältin und einiger Besucher wahr, unter denen sie Christiansen und seine Freundin erkennt. Sie sehen wesentlich hochnäsiger aus als im Zeugenstand. Sie versucht es erneut: »Die Unterlagen vom Schöffengericht erhielt ich verzögert. Ich hatte ihn gerade ins Büro eingeladen, als die Nachricht über die Untersuchungshaft einging. In Freiheit fand bei ihm noch keine Betreuung statt.«

»Genau wie bei den Mittätern.« Die Stimme der Staatsanwältin. Von ihr lässt sie sich nicht in die Stellungnahme pfuschen. »Beim Besuch im Jugendvollzug Wuppertal-Ronsdorf wirkte er von der Haftverbüßung abgeschreckt. Er berichtete offen über seine Vergangenheit. Kristof Driesen und Timo Mitter halfen ihm, als er in der Klasse gemobbt wurde. Er begleitete sie dafür bei den Überfällen.« Sie erhebt ihre Stimme. »Sehen Sie zur Anklagebank! Sie können ihn nicht auf eine Stufe mit den Mittätern stellen.« Automatisch blicken alle dorthin. Marie ist überrascht, hält einen Moment inne, holt tief Luft und fährt fort: »Ich wiederhole: Fabian hat sich nicht aktiv ins Geschehen eingemischt, er war auch nicht in der Lage, die Freunde zurückzuhalten oder den Tatort zu verlassen.« Sie wird von der Staatsanwältin unterbrochen. »Sie vergessen die Zeugin Lindner. Sie hat uns unter Tränen mitgeteilt, dass Herr Meisner es war, der sie festhielt, um ihre Flucht zu verhindern. Zweifeln Sie an den Worten der Zeugin?«

Marie denkt an Fabians Vater auf dem Flur: »Sie tat ihm leid. Das war alles. Er wollte sie vor den anderen schützen.« Ein anerkennender Blick von der Anklagebank.

»Versteh ich nicht«, sagt die Staatsanwältin. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden anderen ihr nachgelaufen wären.«

Marie atmet tief durch, wird lauter: »Ich rege an, Fabian Meisner eine zweite Bewährungschance zu geben. Bei einer engmaschigen Betreuung wird er strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung treten. Sollte sich das Gericht meinen Ausführungen anschließen, werde ich die Hintergründe der Mittäterschaft mit ihm aufarbeiten, gleichzeitig die schulische und berufliche Entwicklung unterstützen.« Sie sieht sich um. Ihre Worte haben die Stimmung im Saal nicht verändert. Was soll sie noch anführen? Gegen die Staatsanwältin hat sie keine Chance. »Fabian ist nachhaltig von der U-Haft abgeschreckt, ein Zusammentreffen mit den Mittätern draußen nicht möglich. Bei einer positiven Orientierung auf Schule und Beruf wird er nicht rückfällig. Es besteht eine günstige Sozialprognose …«

»Meinen Sie«, fährt die Staatsanwältin sie an, »draußen gibt es keine anderen Driesen und Mitter, mit denen Ihr Klient die Überfälle fortsetzen kann? Es liegt in seiner Verantwortung, ob er Straftaten begeht … mit wem auch immer. Im Vollzug kann er sich Betreuer, Sozialarbeiter, Lehrer zum Vorbild nehmen. Niemand zwingt ihn, sich an Mithäftlinge zu halten. Oder wird seine Schuldfähigkeit angezweifelt? Wird ein Gutachten angeregt?«, wendet sie sich mit einem Lächeln an den Rechtsanwalt. »Die junge Bewährungshelferin scheint Ihren Mandanten unterbringen zu wollen.«

»Nein, dafür gibt es keine Anhaltspunkte«, entgegnet Oberler sichtlich genervt.

»Na also!«, betont die Staatsanwältin. »Reden wir Klartext. Fabian Meisner hatte seine Bewährungschance. Wie die beiden anderen auch. Dass die Betreuung nicht griff, lag an der kurzen Zeitspanne bis zu den neuen Straftaten. Da kann die Bewährungshelferin kaum erwarten, dass wir die nächsten Überfälle abwarten. Sie haben die Tränen der Zeugin bei der Erinnerung an die brutale Tat gesehen. Besondere Tendenzen, die Beschuldigten zu belasten, waren nicht spürbar. Übrig bleiben die Raubüberfälle nicht mal einen Monat nach dem milden Urteil des Schöffengerichts. Da kann ich beim besten Willen keine günstige Prognose erkennen, die Voraussetzung für eine Bewährung ist. Ich bleibe dabei, die Angeklagten würden eine erneute Aussetzung der Jugendstrafe als Freispruch werten und ihr Treiben unvermindert fortsetzen.«

Marie schließt die Augen, streicht mit den Händen über ihre kurzen Haare. Sie hat sie gestern nachschneiden lassen, muss sich erst daran gewöhnen.

»In drei Monaten würden wir erneut hier sitzen«, vernimmt sie die unnachgiebige Stimme. »Die Verbüßung im Jugendvollzug ist erzieherisch geboten. Da werde ich der Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe und Ihrem erfahrenen Kollegen folgen. Alles andere wäre eine Verhöhnung des Gerichts.«

Marie sieht zu Udo Fröbel. Dem Gesichtsausdruck entnimmt sie die Mahnung, keinen Aufstand zu proben, sondern ruhig zu bleiben. Schon bei ihrer Einstellung hatte er ihr Temperament angesprochen und Gelassenheit gepredigt mit den Worten des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr: Die Dinge hinzunehmen, die sie nicht ändern kann. Wenn das so einfach wäre. Sie hat das Gefühl, dafür müsste sie sich ihr Herz herausreißen. Warum wollen sie Fabian keine zweite Chance geben? Einsperren können sie ihn immer noch, wenn es schiefgeht.

 

 

Kapitel 3

Der Vorsitzende verkündet eine einstündige Sitzungspause. Die Staatsanwältin und die Rechtsanwälte bittet er zur Beratung ins Hinterzimmer, die Besucher den Saal solange zu verlassen. Die Wachtmeister führen die Angeklagten durch einen Hinterausgang zu den Vorführzellen.

Fabian freut sich, dass sein Vater zu der Verhandlung gekommen ist, bedeutet es doch, dass er sich für ihn interessiert. Er spürt Kristof dicht neben sich.

»Was erzählt die geile Bewährungshelferin für einen Schwachsinn? Wir sollen Knast schieben, während du bei Mama auf dem Sofa sitzt.«

»Was kann ich dazu?«, verteidigt sich Fabian. »Ehrlich, wir haben bei ihrem Besuch nicht darüber gesprochen.«

»Pass mal auf!«, flüstert Kristof. »Wir haben uns die Suppe zusammen eingebrockt, die löffeln wir auch zusammen aus. So einfach ist das. Kapiert?«

Fabian entgegnet kleinlaut: »Ich gehe nicht mehr in den Knast. Ich halte es nicht aus. Echt nicht.«

»Aber wir, was?«, zischt Kristof. »Bist so ein Opfer!«

Ein Wachtmeister mischt sich ein. »Ruhe, bitte!«

Timo schleicht sich von hinten an Kristof heran. »Du hast dem Neuberger das Portemonnaie gebracht? Sonst nicht deine Art.«

»Der Schleimer hat`s ihm gegeben.« Kristof deutet auf Fabian. »Aber die Tour habe ich ihm vermasselt.«

»Geht`s ein bisschen schneller! Wir haben nicht ewig Zeit.« Der Wachtmeister hält die Verbindungstür zu den Zellen auf. Weiße Wände, helles Neonlicht.

»Mein Anwalt hat von einer Vereinbarung gesprochen«, hört Fabian die Worte von Timo. »Sie lassen uns raus, wenn wir das Urteil annehmen. Bei mir sind es zwanzig Monate.«

»Hat er was zu mir gesagt?« Fabian zwingt sich zur Ruhe. »Klar, Mann! Heute geht`s zur Mama. Morgen zur Nachschulung in den Knast.« Timo lacht über seinen Scherz.

Der Beamte schließt eine Eisentür auf. »Wir sind da.«

»Damit das klar ist. Wir nehmen die Vereinbarung an. Treffen uns heute um acht vorm Mandra«, hört Fabian die Worte Kristofs, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Er schlägt die Hände vors Gesicht. Warum um alles in der Welt musste er weiter mit denen abhängen? Er wusste, wie Kristof tickt. Er hofft auf die Überzeugungskraft der Bewährungshelferin, redet sich ein, die zweite Chance verdient zu haben. Die können ihn nicht mit den anderen auf eine Stufe stellen und zurück in den Knast schicken. Er wachte jede Nacht schweißgebadet auf. Wenn er die Augen schloss, rückten die Wände näher, drohten ihn zu zerdrücken. Er brauchte etwas zur Beruhigung. Der Anstaltsarzt wollte ihm nichts verschreiben, die Dealer auf den Fluren forderten ihren Preis. Was sollte er machen? Sein Blick verschwimmt. Er erträgt keine weitere Nacht. Überlegt, einen Gürtel auf die Zelle zu schmuggeln, wenn er nach Wuppertal zurückgeschickt wird. Er muss ihn gut verstecken, sonst kassieren sie ihn ein.

Nach einer dreiviertel Stunde dringt der Schlüssel von außen in die Tür. Fabian hofft auf die Bewährungshelferin, doch der Pflichtverteidiger kommt herein. Oberler erläutert ihm die Vereinbarung, von der Timo sprach. Achtzehn Monate im offenen Vollzug, dafür die sofortige Aufhebung der Untersuchungshaft. Er redet von restlichen Sommertagen im September, von einem Schulabschluss, den er im offenen Vollzug nachholen könne. Bei guter Führung sei bei der ersten Inhaftierung eine vorzeitige Entlassung zur Halbstrafe zu erreichen. »Heute kriegen wir ein rechtskräftiges Urteil, mit dem es sich leben lässt. Sie müssen nur zustimmen.«

Fabians Blick wandert von seinem Anwalt zur Tür. Kann sein Vater nicht hereinkommen und ihn abholen? Er würde überall mit ihm hingehen. Auf den Augenblick wartet er, seit Vater mit der Freundin aus seinem Leben verschwunden ist. Oberler redet und redet, ob er zuhört oder nicht. Inzwischen ist der Anwalt bei den eigenen Kindern angelangt, die bald ein Einser Abitur in den Händen hielten. Weil er ihnen früh genug verdeutlicht habe, wie wichtig die Schule sei. »Was kann man heute ohne Studium machen?« Oberler schüttelt den Kopf. Offenbar hält der Anwalt ihn für einen Vollpfosten. Soll er ihm sagen, dass er die qualifizierte Fachoberschulreife nachgeholt und sich für die Kollegschule im Bereich Gestaltung angemeldet hat, um später Grafikdesign zu studieren? Dass er vor der Haft Stunden damit verbracht hatte, Comics zu entwerfen und sie am Notebook seiner Mutter zu bearbeiten. Nein, sinnlos. Der Anwalt sieht in ihm nur den Straftäter genau wie das Gericht, als hätte er Tag und Nacht Raubüberfälle verübt und keine anderen Interessen. Mit einem Stift und einem Block würde er riesige Zahnräder malen, die ineinandergreifen und ihn langsam zermalmen. Marie Marler hatte er bei ihrem Besuch im Knast von den Panikanfällen erzählt, der Schlaflosigkeit, den Demütigungen in Haft. Von Vater, der klanglos aus seinem Leben verschwunden ist, und Mutter, die sich nur um den kleinen Bruder gekümmert hat und in Fabian Vaters Ebenbild sah. Von Onkel Wolfgang hat er niemandem erzählt. Vielleicht hätte er es tun sollen.

»Kann ich meine Bewährungshelferin sprechen?«, fragt er den Anwalt.

»Wozu? Sie wird Ihnen nichts anderes sagen. Es gibt nur die Möglichkeit, die Vereinbarung anzunehmen. Sie haben die Aussagen der Zeugen gehört. Ich kann Ihnen versichern, die Stimmung ist gegen Sie. Es bedurfte meiner ganzen Überredungskunst, die Vereinbarung durchzusetzen. Die Schöffen wollen Sie nicht rauslassen, das können Sie mir glauben. Wenn Sie ablehnen, ist Ihnen nicht mehr zu helfen. Sie riskieren eine hohe Strafe und bleiben bis zur Entscheidung über die Berufung hinter Gittern.« Oberler wird laut, seine Stimme überschlägt sich, als hätte Fabian den Vorschlag abgelehnt. »Wie lange soll das dauern?«, fährt der Anwalt fort. »Ich habe Sie so verstanden, dass Sie aus dem geschlossenen Vollzug rauswollen. Also, was gibt es zu überlegen?«

»Nichts«, antwortet Fabian klar und deutlich. Es stimmt ja, er hat die Stimmung im Saal gespürt. Er kann seinem Anwalt dankbar sein, dass er ihn aus der U-Haft befreit. Oberler hat ihm eine Frage gestellt. Ob er bereit sei, in den Sitzungssaal zurückzukehren. »Das Gericht hat nicht ewig Zeit. Die Stunde ist um.«

Fabian nickt ihm zu. Das Gesicht seines Anwaltes entspannt sich. Er hat sein Ziel erreicht und drückt auf die Ampel neben der Tür, die den Wachtmeistern in der Zentrale das Ende des Gesprächs signalisiert.

Fabian hatte sich die Verhandlung anders vorgestellt, er hatte gehofft, sie würden die Beweggründe durchleuchten, die Entwicklung, die Tatbeteiligung berücksichtigen. Hätte es etwas genutzt, der Bewährungshelferin alles zu erzählen? Er bezweifelt es. Die Wachtmeister führen ihn über Hintertüren in den Sitzungssaal zurück. Neugierige Augen mustern ihn. Er nickt den Mittätern zu, während Oberler gegenüber den Kollegen von einer schweren Geburt spricht und zur Unterstreichung tief ein- und ausatmet. Seine Freunde wirkten erleichtert, warum kann er sich nicht freuen? Weil es nur aufgeschoben ist. Er wird nicht schlafen können, nächtelang wachliegen. Wird jeden Morgen zum Postkasten laufen, um zu kontrollieren, ob der Brief der Staatsanwaltschaft eingetroffen ist. Er wird die Erleichterung spüren, wenn er eine weitere Nacht zuhause bleiben kann, und die Panik, wenn er die Ladung zum Strafantritt in den Händen hält.

Kapitel 4

Auf dem Weg in die Gerichtskantine versucht ihr Kollege, Marie zu trösten. »Deine Worte waren gut, zu gut. Ich würde Fabian die Zusammenarbeit mit dir gönnen. Dem Gericht fehlt die Sensibilität, dass der Junge jemanden braucht, der an ihn glaubt. Sie sind überzeugt von seinen schädlichen Neigungen, die sie hinter Gittern kurieren wollen. Marie, wir haben gerade den Glauben an Exorzisten hinter uns gelassen, vor wenigen Jahrzehnten Menschen wegen ihrer Herkunft oder Gesinnung eingesperrt. Was erwartest du? Eine gegen alle …« Udo lacht.

Sie denkt an seine Vorliebe für Menschheitsgeschichte. Erst vor kurzer Zeit schwärmte er vom Besuch des Neandertal-Museums in Mettmann mit seiner fünfzehnjährigen Tochter. Vor den Toiletten hält er sie auf: »Bestellst du mir einen großen Kaffee und ein Stück Streuselkuchen? Ich komm nach.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückt er ihr fünf Euro in die Hand und verschwindet hinter der Tür.

An der Verkaufstheke wird sie sofort bedient, trägt Kaffee und Kuchen auf einem Tablett zu einem Tisch am Fenster. In ihrem Kopf versuchen Exorzisten, Fabian den Teufel auszutreiben. Ihr Kollege kommt von der Toilette. Sie winkt ihm zu, doch er geht direkt an ihr vorbei. Sie sieht ihm verwundert nach und erkennt Kramer und Schulz von der Mordkommission an einem der hinteren Tische. Wie konnte sie die beiden übersehen? Sie sollte einen Augenarzt aufsuchen. Nein, daran liegt es nicht, tröstet sie sich. Wenn sie in Gedanken vertieft ist, nimmt sie ihre Umgebung nicht wahr. Sie folgt Udo und begrüßt die Kollegen des KK11. »Nanu, ein Mordfall im Gericht?«, fragt sie Kramer mit ihrem schönsten Lächeln.

»Eine Besprechung beim Oberstaatsanwalt«, entgegnet er. »Und Sie versuchen, die Welt zu retten?« Er lächelt zurück.

Sie spürt seinen Blick, der ihren Körper streift. Es gefällt ihr, sie versucht automatisch, ihre Figur zu betonen. »Nur einen Klienten«, sagt sie. »Doch mein Kollege hat mir alle Hoffnung genommen.«

Udo Fröbel zuckt mit den Schultern. »Man sollte keine Hoffnung wecken, wo es nichts zu hoffen gibt ... meinte Nietzsche.«

Die hellblauen Augen von Kramer, dazu seine Stimme: »Lassen Sie sich Ihr Engagement nicht kaputtreden … es gefällt mir besser als nur Sprüche.«

Er spricht aus, was sie fühlt. Sie erwidert überschwänglich: »Wenn ich mich für eine Bewährung einsetze, halten mich alle für naiv. Wissen Sie, wie frustrierend das ist … gegen Windmühlenflügel anzukämpfen.« Sie erinnert sich, dass Kramer bei der Polizei arbeitet, und weicht seinem Blick aus. Sie hat den Eindruck, den Augen entgeht nichts.

»Bleiben Sie sich treu«, betont er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Darauf kommt es an.« Er entschuldigt sich, die halbe Belegschaft sei krank, sie müssten überall vertreten und schon aufbrechen. Er nimmt das Tablett vom Tisch, sieht in ihre Augen. Sie hält dem Blick stand. Er stolpert, kann nur durch heftige Jonglierbewegungen verhindern, dass das Geschirr auf den Boden rutscht. Sein Kollege sieht ihm kopfschüttelnd zu. Marie kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Kaum sind die Beamten aus der Tür, fragt sie Udo Fröbel: »Ist er mit Nina zusammen?«

»Ich glaube, unsere hübsche Verwaltungskraft ist mehr an ihrer Freundin interessiert.«

»Meinst du?« Marie wundert sich, dass Udo Fröbel darüber besser informiert ist als sie.

»Frag sie, wenn wir zurück sind«, ergänzt Udo.

»Genau das habe ich vor. Wie ist Kramer denn so? Du kennst ihn schon länger.«

Udo zuckt mit den Schultern. »Nur von der Arbeit … da ist er immer zur Zusammenarbeit bereit. Für das andere interessiere ich mich nicht. Das musst du herausfinden. Du hast ihn nervös gemacht.«

Marie würde gerne länger über Kramer reden, doch Udo wechselt das Thema. Wahrscheinlich hat ihm die Kritik an seinem Spruch nicht gefallen. Sie muss grinsen.

»Was haben Fabians Eltern gesagt? Wie ist dein Eindruck?«, fragt er.

»Du hast die Mutter im Gerichtssaal gesehen. Sie wirkte unnahbar. Sie ist nicht einmal in der Lage, Blickkontakt aufzunehmen.«

Er nickt bestätigend. »Ja, das ist mir aufgefallen.«

»Beim Besuch schob sie alles auf Fabians Vater. Der Auslandseinsatz mit der jungen Kollegin wäre ihm wichtiger gewesen als seine Kinder. Er habe super verdient, trotzdem nur den Pflichtteil geschickt. Die große Wohnung wäre ihr zu teuer geworden. Fabian hätte nicht mal ein eigenes Zimmer, wenn er aus der Haft komme. Sie könne ihm nur die Schlafcouch im Wohnzimmer beziehen.«

»Und vor der Haft?«, fragt Udo amüsiert. »Ich meine, es ist nicht lange her. Zwei Monate! Er muss vorher irgendwo geschlafen haben.«

»Nach dem Umzug in die kleine Wohnung hätte er mit seinem Bruder ein Zimmer geteilt. Eine Zumutung!«

»Also hofft sie, dass er in Haft bleibt. Ist ja super. Was ist mit dem Vater? Er machte einen kranken Eindruck. Hattest du ihn gebeten, zur Verhandlung zu kommen?«

»Ich hatte bei seiner Einheit angerufen. Montag rief er zurück, ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet. Angeblich hatte er keine Ahnung von den Straftaten. Ich habe ihn gefragt, wie er sich die Entwicklung erklärt. Ob Fabian in seiner Kindheit schwer traumatisiert wurde.«

»Intuition oder gab es Hinweise?«, fragt Udo.

»Die Vollzugsbeamten machten eine Andeutung. Er gerate dort unter die Räder.« Sie errötet leicht.

»Was sagte sein Vater zu einer Traumatisierung?«

»Die Trennung sei für Fabian ein schwerer Schlag gewesen. Vor dem Afghanistaneinsatz hätten sie viel unternommen, Centerparks besucht und so. Von Missbrauch oder Misshandlung wollte er nichts wissen.«

Udo Fröbel stopft den Kuchen in sich hinein und stürzt den Kaffee runter. »Wir müssen zurück.« Er sieht auf ihren Kaffeepott. »Du hast ihn nicht mal angerührt.«

Marie nimmt eine Tablette, trinkt einen Schluck und folgt ihrem Kollegen.

Udo hält ihr die Tür zum Gerichtssaal auf. Sie winkt ab. »Ich komm nach.« Sie hat Frau Meisner auf einer Sitzgruppe an den Fenstern entdeckt. Die Rothaarige aus dem Besucherraum redet auf sie ein, dieselbe, die vorhin neben Fabians Vater saß. Sie wüsste zu gern, was die Frau für eine Rolle spielt, doch möchte die Unterhaltung nicht stören. Sie versucht, ein paar Worte zu erhaschen, und versteht, dass die Rothaarige jemanden aus der Wohnung geworfen hat, der Frau Meisner nahesteht. Mit ihrem Mann sei nicht zu spaßen, wenn es um den Jungen gehe. Er sei in einem Schützenverein und ein Waffenliebhaber. Marie versteht die Zusammenhänge nicht. An den Blicken der umstehenden Zeugen und Besucher nimmt sie wahr, dass sie der Unterhaltung nicht allein zugehört hat.

Udo Fröbel kommt aus dem Gerichtssaal. Er meint, es würde dauern. In der anderen Ecke des Flures wird es laut. Herr Mitter regt sich auf. »Driesen hat meinen Sohn auf dem Gewissen. Das können Sie ruhig hören«, schimpft er in Richtung Fröbel.

Ihr Kollege legt Mitter vorsichtig die Hand auf die Schulter und redet beruhigend auf ihn ein.

»In Sachen Driesen und anderen werden die Beteiligten gebeten, wieder einzutreten«, ertönt es über die Lautsprecheranlage.

Marie hält die Tür ihrem Kollegen auf und wartet auf Frau Meisner, die flüchtig grüßt und zu ihrem Platz eilt, bevor Marie sie ansprechen kann. Die Rothaarige verlässt die Etage über das Treppenhaus.

Beim Erscheinen des Vorsitzenden stehen die Anwesenden auf. Er bittet, wieder Platz zu nehmen. Die Anwälte verkünden, nach Rücksprache mit ihren Mandanten den Vereinbarungen zuzustimmen. Die Erleichterung ist bei Richtern und Schöffen erkennbar.

Die Staatsanwältin und die Rechtsanwälte halten ihre Plädoyers. Die Beschuldigten haben das letzte Wort. Kristof und Timo schließen sich ihren Anwälten an. Fabian zögert, bringt keinen Laut heraus, nickt schließlich dem Vorsitzenden zu. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.

Marie geht zur Anklagebank und umarmt ihren Klienten. »Ich hatte keine Wahl, als die Vereinbarung anzunehmen«, entschuldigt er sich.

Marie sieht zu seinem Anwalt, der mit einem Kollegen den Saal verlässt.

»Ich konnte das Gericht nicht von einer Bewährung überzeugen«, sagt sie. »Leider.«

»Trotzdem danke ich Ihnen.« Er versucht ein Lächeln.

»Wenn das Gericht die Vereinbarung bestätigt, wirst du in vier bis sechs Wochen eine Ladung in den offenen Vollzug der JVA Hövelhof erhalten. Das ist mit einem großen Jugendlager zu vergleichen. Du schaffst es, da bin ich mir sicher.« Marie sieht ihm in die Augen. »Geh vorher zu deinem Hausarzt. Erzähl ihm von den Panikattacken auf der Zelle. Er soll dir was zur Beruhigung verschreiben. Du hast doch einen Hausarzt?«

»Ja, Dr. Konrad. Ich werde ihn morgen aufsuchen. Versprochen.« Sein Blick hält sie fest.

»Möchtest du mir etwas sagen? Nur raus damit.« Sie wartet, doch er schüttelt den Kopf.

»Ich hoffe, ihr trefft euch nicht gleich am ersten Abend. Zusammen heckt ihr nur Unsinn aus«, mahnt Marie. Seine Mutter kommt dazu, hat die letzten Worte mitgehört. »Wie oft habe ich ihm das gesagt. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Man kann den Jungen in dem Alter nichts verbieten. Sie machen, was sie wollen.« Sie umarmt ihren Sohn. Zu flüchtig für Marie. Vielleicht ist es ihr unangenehm vor den Leuten. Oder sie fürchtet um ihre stylische Aufmachung. Da könnte schon etwas verrutschen, denkt Marie. Sie überlegt, Frau Meisner auf die rothaarige Gesprächspartnerin anzusprechen, doch der Zeitpunkt ist ungünstig.

Kapitel 5

Fabian Meisner überlegt, wie er seine Sachen von der Anstaltskammer holen soll. Während der Untersuchungshaft werden sie dort aufbewahrt. Ob die Bewährungshelferin ihn nach Wuppertal fährt, wenn er sie fragt? Unterwegs könnte er ihr von seinem Onkel erzählen. Er bekommt sofort eine Gänsehaut. Es verfolgt ihn bei Tag und Nacht. Er hat bis heute keine Antwort, warum er es immer wieder zugelassen hatte. Er könnte schreien, die Stühle durch die Gegend werfen. Er fühlte sich ohnmächtig in der Gegenwart von Onkel Wolfgang. Im Internet hat er von einer Traumatherapie gelesen, er könnte Frau Marler danach fragen. Sie wird wissen, ob es die Möglichkeit einer Therapie statt Strafe gibt. Im Knast meinten sie, das gäbe es nur für Drogenabhängige. Es kann nicht sein, dass er dafür Drogen nehmen muss. Sie hat ihm eine Frage gestellt. Ob er ihr etwas sagen möchte. Sie hat einen siebten Sinn. Es ist die Gelegenheit. Er überlegt sich die Worte, doch bleibt stumm. Er traut sich nicht, der richtige Zeitpunkt verstreicht. Sie erwähnt, dass sie mit seinem Vater gesprochen hat, der zu einem dringenden Termin musste. Er würde ihm die Daumen drücken. Fabian schluckt. Ein Fünkchen Hoffnung. Seine Mutter begrüßt ihn mit einer flüchtigen Umarmung. Wie sie sich aufgemacht hat, er schämt sich vor der Bewährungshelferin, die zu ihrem Kollegen zurückkehrt. Er ist enttäuscht. Konnte er nicht einmal seine Angst überwinden? Das ewige Schweigen bringt ihn nicht weiter. Er nimmt sich immer wieder vor, seine Gedanken auszusprechen. Wenn es soweit ist, findet er die Worte nicht, ist nur Leere in seinem Kopf. Mutter steht vor ihm, als erwarte sie etwas. Was denn? Wünscht sie, dass er im Knast bleibt? Fürchtet sie, ihn wieder zuhause zu haben? Er erkundigt sich nach dem kleinen Bruder, nimmt ein kurzes Blitzen in ihren Augen wahr. Sie berichtet von guten Schulnoten, von Erfolgen beim Fußballverein. Sie schwärmt von Moritz, bis das Gericht von der Beratung zurückkehrt.

Der Vorsitzende verkündet das Urteil. Achtzehn Monate Einheitsjugendstrafe für Fabian unter Einbeziehung der ersten Jugendstrafe. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft werden die Haftbefehle aufgehoben. Staatsanwalt und Rechtsanwälte verzichten auf die Einlegung von Rechtsmitteln. Alles wie besprochen. Fabian versteht nicht, was es so lange zu beraten gab. Es schlich sich bei ihm die Hoffnung ein, sie könnten es sich anders überlegt haben.

Seine Mutter scheint es eilig zu haben. Sie erklärt ihm, dass Moritz vor der Schule warte. Sie habe versprochen, ihn abzuholen. »Ich hatte Angst, die Urteilsverkündung zu verpassen … wie dein Vater«, betont sie. »Hast du gesehen, wie grau er geworden ist? Na, ich sage ja nichts. Nachher heißt es wieder, ich ziehe über ihn her. Bis später, ich mache uns ein Abendessen.«

Mit den Worten lässt sie Fabian stehen und rauscht aus dem Gerichtssaal. Zu spät bemerkt er, dass sie ihm nicht mal Geld für die Bahn gegeben hat. Da kann er zusehen, wie er nach Wuppertal kommt, um seine Sachen zu holen. Ist klar, Moritz war ihr immer wichtiger. Er sieht sich um. Die Bewährungshelferin hat den Sitzungssaal verlassen. Soll er ihr nachlaufen? Nein, er möchte sich nicht aufdrängen. Es bleibt ihm der Gefängnistransporter. Das hat er von seiner Zurückhaltung. Er kann endlos warten, bis es losgeht. Unterwegs werden sie andere Vollzugsanstalten anfahren, um Gefangene nach Wuppertal mitzunehmen. Hoffentlich geben sie ihm Geld für die Rückfahrt, sonst gibt´s ein neues Strafverfahren wegen Leistungserschleichung. Kristof steuert mit seiner Mutter auf den Ausgang zu, fängt Fabians Blick auf und ruft: »Um acht im Bermuda3eck … direkt am Mandra. Wenn die Sonne scheint, draußen, wenn´s regnet, drinnen.«

Fabian überlegt, ihnen nachzulaufen. Etwas hält ihn zurück. Timo kommt in den Saal, bietet ihm eine Mitfahrgelegenheit bei seinen Eltern an. Er habe die Mutter allein weggehen sehen. Der Vater sei ja nur kurz geblieben. Es sei doch sein Vater gewesen?

Fabian fällt ein Stein vom Herzen. »Jaja«, bestätigt er, »mein Vater. Er hatte keine Zeit, musste zu einem wichtigen Termin.« Er begrüßt Timos Eltern. Die Mutter wirkt in den Joggingsachen immer so energisch, der Vater hat Hände wie Schaufeln. Fabian dankt ihnen für das Angebot, ihn mitzunehmen. Vor der Drehtür am Ausgang des Gerichts wird ihm schwindelig. Seine Augenlider zittern. Sein Herz rast. Die Verhandlung war zu viel für ihn, er hat nichts zur Beruhigung, keine Tabletten, keine Zigaretten. Er hatte sich immer gegen Pillen gewehrt, im Vollzug war es nicht auszuhalten. Wie oft hat er sich eingebildet, die Nacht nicht zu überleben. Jetzt muss er sehen, wie er von dem Zeug runterkommt. Die Bewährungshelferin hat es gemerkt, sie sprach von einem Hausarzt. Genau da wird er morgen hingehen, um sich etwas verschreiben zu lassen gegen seine Panikattacken.

Auf dem Weg zum Auto bietet der Vater Timo und ihm eine Zigarette an, steckt sich dabei selbst eine an. Fabian zieht den Rauch ein, als hinge sein Leben daran. »Im Auto ist Rauchverbot«, erklärt die Mutter mit abfälligem Blick.

Fabian nimmt zwei kräftige Züge, flippt die Zigarette aus den Händen und rutscht mit Timo in dem Clio nach hinten.

»Ihr habt euch nicht viel zu erzählen«, stellt die Mutter nach kurzer Zeit fest. Fabian fühlt sich schuldig. Er hasst solche Vorwürfe. Soll sie sich ein Thema einfallen lassen, sie hat mit ihrem Mann noch kein Wort gewechselt. Ein leichtes Zittern, er darf es nicht zulassen, muss sich beruhigen. Es gibt hinten im Auto keine Türen, er fühlt sich eingeschlossen. Timos Eltern werden die Fahrt seinetwegen nicht unterbrechen. »Ich bin in Gedanken bei der Verhandlung. Timo wird es genauso gehen. Super nett von Ihnen, dass Sie mich mitnehmen. Wirklich, ich hätte sonst auf die Beamten warten müssen, bis sie nach Wuppertal aufbrechen.«

»Hatte deine Mutter keine Zeit?«, unterbricht sie ihn. »Ich habe sie bei der Verhandlung gesehen.«

Die Antwort liegt ihm auf der Zunge: Sonst wäre er nicht mit ihnen gefahren. Er hält sich zurück. Sie könnte es falsch verstehen. Überhaupt muss er aufpassen, nicht frech zu werden. Mit Timos Eltern ist nicht zu spaßen. Er möchte jeglichen Stress vermeiden. »Sie holt meinen kleinen Bruder von der Schule ab«, sagt er leise.

Timos Mutter schüttelt den Kopf. Das Zittern setzt wieder ein. »Sie konnte ja nicht wissen, dass wir aus der Untersuchungshaft entlassen werden.«

»Wir auch nicht«, kontert Frau Mitter. »Trotzdem waren wir vorbereitet.«

Fabian würde gerne erwidern, dass Timo keinen kleinen Bruder hat. Es würde nichts bringen, die Stimmung nur unnötig aufheizen. Das Zittern lässt sich nicht beruhigen. Er hat alle Mühe, einen aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.

»Und dein Vater? Ist ja ordentlich grau geworden. Jaja, das Leben. Er soll sich damals eine Jüngere genommen haben. Ist er krank? Ich meine, er wirkte krank.«

»Wir haben keinen Kontakt. Es hat mich gewundert, dass er gekommen ist. Ich wusste nicht, dass er aus Afghanistan zurück ist.« Fabian redet nicht gerne über seinen Vater. Er ist froh, dass Herr Mitter sich einmischt.

»Was passiert ist, könnt ihr nicht mehr ändern. Aber lasst die Finger von Kristof. Mit dem nimmt es kein gutes Ende. Was habt ihr euch bei dem jungen Mädchen gedacht? War es spannend, sie mit ihrem Freund in Angst zu versetzen?«, braust er in der Erinnerung auf.

»Nein, natürlich nicht«, sagt Timo kleinlaut.

Sein Vater ist noch nicht fertig. »Von der Polizei wie Schwerverbrecher abgeholt ... vor den Augen der Nachbarn ... ich hoffe, es war euch eine Lehre. Beim nächsten Mal könnt ihr sehen, wo ihr bleibt. Da spiele ich nicht mehr mit. Wenn ich euch noch einmal mit diesem Kristof erwische, sorge ich für einen kurzen Prozess.«

Fabian erinnert sich an die Polizeibeamten, die ihn am frühen Morgen abholten. Der Untersuchungsrichter erließ den Haftbefehl. Sie brachten ihn mit anderen in dem Transporter nach Wuppertal-Ronsdorf. Auf der Kammer der Haftanstalt musste er alle Sachen abgeben, wurde durch Gittertüren auf eine Zelle geführt. Eingeschlossen, zum ersten Mal in seinem Leben. Es war die Hölle. Nie mehr, er hat es sich geschworen.

»Der offene Vollzug soll einem Ferienlager ähneln«, dämpft die Mutter die Spannung im Auto. »Das hat zumindest der Anwalt gesagt.«

»Hoffentlich könnt ihr die Zeit für eine Ausbildung nutzen«, tönt ihr Mann dazwischen wie Rechtsanwalt Oberler. »Oder wollt ihr euer Leben lang Hartz IV beziehen? Wenn ich an früher denke, was mein Vater mit mir gemacht hätte.«

»Die Zeiten sind vorbei«, fährt Timos Mutter ihn an. »Ich möchte nichts mehr davon hören!«

Fabian ist froh, Wuppertal zu erreichen. Ihm graut vor der Rückfahrt, vor den Sticheleien und Vorwürfen. Es dauert ewig, bis sie ihre Sachen von der Kammer in Empfang nehmen können. Zurück im Auto murmelt er etwas von totaler Müdigkeit und schließt die Augen. Er denkt an Moritz, den kleinen Bruder. Er hat absolut kein Geld, um ihm ein Geschenk mitzubringen.

Vor seiner Haustür erinnert ihn Timo an das Treffen im Bermuda3eck. Sofort denkt er an die warnenden Worte der Bewährungshelferin. Das Gericht hat nicht auf sie gehört, er braucht es auch nicht. Außerdem hat ihm Timo heute das Leben gerettet. »Bis später«, sagt er und bedankt sich noch einmal bei den Eltern.

Kapitel 6

Fabian Meisner zieht sich nach der Begrüßung des kleinen Bruders ins Bad zurück. Er genießt das Alleinsein in der vertrauten Umgebung ohne lärmende Geräusche von außen. Wenn Vater bis zur Urteilsverkündung geblieben wäre, hätte er es ihm erklären können. Er hofft immer noch auf ein Wunder, dass alles wie früher wird. Wenn Vater nur nicht mit dieser Frau nach Afghanistan gegangen wäre. Da ist eine solche Wut in ihm, er weiß nicht, damit umzugehen. Moritz klopft an die Tür. Fabian soll zum Abendessen kommen. Mutter mag es nicht, wenn man sich verspätet. Als die Familie vollständig war, regte sie sich darüber tierisch auf. Warum kann er sich nicht von der Vergangenheit lösen? Es kommt ihm vor, als sei er in einen Wartesaal gesperrt und hoffe auf Befreiung.

Es gibt Pfannkuchen mit Apfelmus, die Lieblingsspeise seines Bruders, dazu Hagebuttentee. Es ist alles wie früher, als wäre er nie weg gewesen. Oder? Die Stimmung ist anders, Moritz ist anders, zumindest hatte er immer etwas zu erzählen. Über ein neues Spiel oder einen Film, ein Video auf YouTube. Mit irgendetwas hat er ihn beim Essen genervt. Warum verhält er sich so abweisend? Ist es der Knast? Hat er davon erfahren trotz Mutters Geheimhaltetaktiken? Sein Bruder ist nicht blöd, er hatte mitgekriegt, wie sie ihn abholten. Vorsicht! Er darf das Thema nicht anschneiden. Dabei liegt es ihm auf der Zunge: Dreiundzwanzig Stunden auf der Zelle, nur eine Freistunde auf dem Hof. Ihr ahnt ja nicht, was es bedeutet, die Gedanken im Bad fließen zu lassen ohne Angst, von anderen behelligt zu werden. Er darf es nicht sagen. Mutter möchte verhindern, dass sein Bruder das Familiengeheimnis in einem unbedachten Moment verbreitet. Sie hat ihm von einem Internatsaufenthalt erzählt, weil Fabian die Schule schwänzte und schlechte Noten erzielte. Als Vorbeugung, dass der kleine Bruder nicht in das gleiche Fahrwasser gerät. Moritz sieht ihn erwartungsvoll an, er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, stopft sich ein Stück Pfannkuchen nach dem anderen in den Mund. Mutter wird ihm verboten haben, den großen Bruder mit Fragen zu überhäufen. Oder woran liegt es, dass Moritz so still ist? Verdammte Scheiße! Vor der Haft hatte er ihn mit Fragen bombardiert. »Ich finde es okay mit dem Zimmer, wirklich. Du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen«, spricht er seinen Bruder an. »Ich schlafe gerne im Wohnzimmer. Da ist der große Fernseher.«

Moritz sieht ihn traurig an und nickt. Kein Kommentar, nichts. Fabian spürt, wie ihm heiß wird, wie er schwitzt. »Das heiße Bad und der Tee«, entschuldigt er sich, nimmt die Rolle ZEWA von der Küchenzeile, reißt zwei Blätter ab und wischt sich über die Stirn. Die Frage lässt sich nicht verdrängen. War der Onkel während seiner Abwesenheit bei Moritz? Ist es das? Hat Mutter es zugelassen für das beschissene Geld? Genau wie bei ihm? Er versucht, im Gesicht des Bruders zu lesen. Tatsächlich hat sich ein Schatten darüber gelegt oder bildet er es sich ein? Seit der Onkel zu der Verlobten gezogen ist, hat er sich von ihnen zurückgezogen. Oder? Ist er während seiner Untersuchungshaft zurückgekehrt?

Der zwölfte Geburtstag vor einer Woche. Wie konnte er ihn vergessen? Er war mit dem Überleben hinter Gittern beschäftigt. Er springt auf, gratuliert seinem Bruder, umarmt ihn. Moritz lässt es über sich ergehen, als wäre es ihm unangenehm. So hat er ihn nie erlebt. Fabian legt den Pfannkuchen zurück, den er sich auf den Teller genommen hatte, und versucht, Blickkontakt zur Mutter herzustellen.

»Ist was?«, fragt sie. »Schmecken sie dir nicht mehr?«

Schwingen da Schuldgefühle mit? Offenbar ist ihr nichts heilig, wenn es ums Geld geht. Nicht mal ihr Lieblingssohn. Fabian zwingt sich zur Ruhe, möchte alles vermeiden, was die Stimmung aufheizen könnte. »Ich habe mich überschätzt«, erwidert er endlich. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er direkt in den offenen Vollzug verlegt worden wäre. Wie bescheuert er war, sich die Rückkehr in rosaroten Farben zu malen. Alles wollte er verändern nach der Entlassung. Schule, Studium, Freunde. Wie konnte er glauben, dass es nur an ihm lag? Wer hatte es ihm eingeredet? Sein Anwalt oder die Sozialarbeiter im Knast? Schluss damit! Er lässt sich keine Schuldgefühle mehr einreden, spürt richtig, wie ein Sandsack von seiner Seele rutscht. Er greift zu der Tasse, trinkt einen Schluck, fühlt den warmen Tee im Mund.

»Onkel Wolfgang besucht uns am Freitag«, sagt sie, als spräche sie übers Fernsehprogramm. »Seit der Trennung hat er niemanden mehr.«

Fabian meint, in ihrem Gesicht ein diabolisches Grinsen zu sehen. Die Worte hämmern in seinem Kopf. Er verschluckt sich, prustet den Tee auf den Tisch, holt die Rolle ZEWA, die Mutter ihm aus der Hand reißt. Er sieht in das erstarrte Gesicht von Moritz, rennt ins Bad, lässt Wasser über seine Unterarme laufen. Wartet, bis sich sein Herzschlag beruhigt hat, erst dann kehrt er ins Esszimmer zurück. »Ich bin noch nicht richtig angekommen«, entschuldigt er sich. »Was ist mit seiner Verlobten?«, greift er das Thema auf, ohne Moritz und sie anzusehen.

»Ach, du bist bei Onkel Wolfgang«, erwidert sie mit dem gleichen Grinsen im Gesicht.

»Hat dich mächtig verletzt, dass er damals nicht mehr kam … so von heute auf morgen. Ja, sie haben sich Anfang der Woche getrennt. Endgültig! Das hat er zumindest gesagt.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739436425
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Bochum Schuld Spannung Bewährungshilfe Missbrauch Ruhrgebiet Krimi Ermittler

Autor

  • Peter Märkert (Autor:in)

Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und wohnt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen, arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Seine Erfahrungen verarbeitet er in den Kriminalromanen, in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt.
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Titel: Unter die Räder gekommen