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Schweigen ist Tod

Justizkrimi

von Peter Märkert (Autor:in)
280 Seiten

Zusammenfassung

Der Leser wird Zeuge, wie Bewährungshelfer Windich nach der Sprechstunde in seinem Büro ermordet wird. Hauptkommissar Kramer erhofft sich Hinweise von Mitarbeitern und Klienten, während der Täter versucht, jede Spur zu verwischen, die ihn belasten könnte, dabei sogar vor weiteren Morden nicht zurückschreckt. Die fieberhafte Suche nach dem Täter führt Kramer mit Bewährungshelferin Marie Marler in ihrem ersten Fall zusammen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

Kapitel 1

Donnerstag. Ende der Sprechstunde. Engel schleicht von der Besuchertoilette ins leere Wartezimmer, schließt das Fenster und löscht das Licht. Die Bewährungshelfer strömen aus ihren Büros, wünschen sich einen schönen Abend und verlassen die Etage. Außer Windich, der wird auf den unbekannten Anrufer warten, der sich aus beruflichen Gründen verspätet.

Schritte nähern sich dem Wartezimmer. Er horcht auf das Klackern der Absätze und versteckt sich hinter der Tür. Was soll er sagen, wenn sie ihn entdeckt? Die Fenster auf den Toiletten werden geschlossen. Sie kommt auf das Wartezimmer zu, steht vor der Tür. Nicht atmen, nicht bewegen. Er zählt: zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Sandra, seine Freundin, hatte ihm geraten, in bedrohlichen Sekunden zu zählen, dabei immer daran zu denken, dass alles vorübergeht. Morgen beginnt ein neuer Tag, hatte sie gesagt. Ein Stein ist ihm geblieben auf dem Bochumer Hauptfriedhof.

Die Mitarbeiterin geht zurück. Das Klackern auf dem Steinboden wird leiser. Er atmet auf und erwartet das Knarren der Glastür. Nichts! Er traut sich einen Schritt vor, wagt einen Blick in den langen Flur. Hinter der Glastür liegen links und rechts jeweils fünf Büroräume. Er hat eine Skizze gefertigt, die Namen der Mitarbeiter von den Schildern an den Türen abgeschrieben. Er entfaltet sie. Es ist Marie Marler. Was sucht sie noch in ihrem Büro? Er sollte laut Feierabend rufen. Die Tür wird nach innen aufgerissen. Er weicht in sein Versteck zurück, hört das Schnurren eines Fahrrades. Das ist es! Sie hatte es mitgenommen in ihr Büro, damit es nicht gestohlen wird. Ihre Pumps hat sie gegen Turnschuhe getauscht, deshalb hört er ihre Schritte nicht. Erleichtert vernimmt er das Knarren der Glastür, bleibt in seinem Versteck, bis die Außentür ins Schloss fällt.

Windich hat noch einen Klienten in seinem Büro, er hätte sich den Anruf am Mittag sparen können. Was haben die so lange zu besprechen? Er sieht auf die Uhr. Schon zwanzig nach sieben. Oder haben sie die Dienststelle verlassen, als die Mitarbeiterin ihre Runde machte? Und er hat es vor Aufregung nicht bemerkt? Er schleicht über den Flur und lauscht an der Tür.

»Ein Kind kostet eine Menge Geld, Herr Kastas. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht?«

Bei den Worten steigt seine Wut hoch. Wie gerne würde er sich einmischen, stattdessen schleicht er ins Wartezimmer zurück. Nicht auszudenken, wenn Kastas in dem Moment die Bürotür geöffnet hätte oder Windich selbst. Er sollte seine Gefühle unter Kontrolle halten. Keine unbedachten Schritte, sonst ist alles sinnlos, und er kann nach Hause trotten, um weiterhin von seiner Rache zu träumen. Er schnallt den Gürtel mit dem Schlagstock um, berührt ihn andächtig.

Die Verkleidung! Worauf wartet er? Er nimmt die Sachen aus dem Rucksack, legt den schwarzen Umhang um, streift die Handschuhe über. Noch die Maske und die Brille. Fast hätte er die Überschuhe vergessen. Nachher sind es die Schuhe, die ihn verraten. Er muss sich beeilen. Windich wird nicht länger auf den unbekannten Anrufer warten, sondern nach seinem Besucher die Dienststelle verlassen. Hoffentlich nicht mit ihm zusammen, dann war alles umsonst. Noch die Handschellen, um ihn an die Heizungsrohre zu fesseln. Er möchte die Angst in den Augen sehen, die Ohnmacht. Soll er ihn zwingen, sich auszuziehen? Es würde ihm gefallen, Windich nackt und hilflos zu sehen, ihm ausgeliefert.

Kontrollieren, ob alles sitzt. Er schleicht zur Toilette, sieht in den Spiegel über dem Waschbecken. Stellt befriedigt fest, dass er in der Verkleidung nicht zu erkennen ist. Die Stimme hatte er mit der Diktierfunktion seines Handys mit und ohne Maske aufgenommen und abgespielt, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Sogar an das Parfüm hat er gedacht, obwohl er dem Bewährungshelfer keinen Geruchssinn zutraut.

Es schellt. Die Außentür wird aufgedrückt. Erwartet Windich noch einen Klienten? Oder eine Freundin, einen Freund, wollen sie ihn zum Essen oder zum Sport abholen? Er verschwindet im Wartezimmer, bevor der Besucher die Treppen hochgestiegen ist, und wagt einen Blick in den Flur. Ein Typ mit rotblonden, struwweligen Haaren steht vor der Glastür mit einer blauen Kappe in der linken Hand. Lukas Soundso, der Nachname ist ihm entfallen. Es ist einige Zeit her, doch es ist zweifellos Lukas, der Drogendealer vom Herner Berufskolleg. Immer gute Ware, aber teuer, umsonst lief da nichts.

Windich lässt ihn auf die Etage. Keine Vorwürfe, kein Abschieben an der Tür mit dem Hinweis auf die Uhrzeit. Wenn Lukas ins Wartezimmer kommt, bleibt nur, ihn zur Seite zu schubsen und zu fliehen. Auf keinen Fall darf er die Maske abnehmen. Er lauert hinter der Tür. Jeder Muskel ist angespannt. Er zählt: zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Lukas kommt nicht, er wird vor der Bürotür warten. Glück gehabt. Er setzt die Maske ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, stößt dabei gegen die Tür. Nicht auszudenken, wenn ihm das zu einem früheren Zeitpunkt passiert wäre.

Die Glastür knarrt. Also hat Kastas die Etage verlassen und Lukas ist im Büro. Windich wird ihn für den verspäteten Anrufer halten. Er sieht sich im Wartezimmer um. Sechs Stühle um einen runden Holztisch, darauf verschiedene Zeitschriften, in der Ecke eine gepflegte Birkenfeige auf einem Hocker. Er nimmt die aktuelle Ausgabe vom Stern, starrt auf die Wörter, ohne den Zusammenhang zu verstehen. Zuckt zusammen, als die Bürotür erneut geöffnet wird, und wartet, bis Lukas die Dienststelle verlassen hat. Es ist so weit. Er ist mit Windich allein auf der Etage. Sein Puls beschleunigt sich. Auf den Moment hat er gewartet, ihn sich immer wieder vorgestellt. Warum zögert er? Der Schritt vom Planen zum Handeln. Tausendmal ist er alles in seinem Kopf durchgegangen. Es kann nichts schiefgehen. Windich wird vor Angst wie gelähmt sein. Oder? Der Schlagstock. Er muss ihn blitzschnell in die Halterung stecken und wieder hervorholen können. Er löst den Gürtel unter dem Umhang, schnallt ihn darüber. Das Loch passt nicht. Er sucht ein anderes. Seine Hände zittern. Warum hat er es vorher nicht in aller Ruhe gemacht? Er hatte so viel Zeit. Endlich. Er zieht den Stock heraus, steckt ihn zurück. Es funktioniert reibungslos. Er verlässt das Wartezimmer, schleicht über den Flur.

»Herr Briest? Sind Sie noch da?«

Er stockt. Hält den Atem an. Die Hand am Schlagstock. Er hört sein Herz klopfen, kann sich nicht entschließen, weiterzugehen. Die Tür erscheint ihm wie eine undurchdringliche Mauer. Soll es wirklich so sein? Die Sekunden vergehen. Gleich wird Windich herauskommen und die Dienststelle verlassen. Soweit darf er es nicht kommen lassen. Er zwingt sich, an seine verstorbene Freundin zu denken. Fühlt den Schmerz wie tausend Nadelstiche auf der Haut und gibt sich einen Ruck. Formuliert zum hundertsten Mal die Worte, die er auswendig gelernt hat: Wenn Sie tun, was ich sage, passiert Ihnen nichts. Er wird das Portemonnaie verlangen und einen Raub vortäuschen.

»Warum kommen Sie nicht herein? Was soll das Versteckspiel? Sie haben Glück, mich noch anzutreffen. Ich wollte längst fort sein.«

Es gibt kein Zurück mehr. Er stößt die Tür auf. Sieht Windich am Kleiderschrank, schreit: »Wenn Sie tun, was ich sage, passiert Ihnen nichts!« Er weidet sich am Schrecken des Bewährungshelfers, gibt seinen Worten einen harten Unterton: »Ihr Portemonnaie! Schnell!« Verfolgt, wie Windich in die Jackentasche greift. »Die Hände auf den Rücken! Das Portemonnaie dazwischen. Schnell, schnell!« Er holt die Handschellen hervor, darf ihm keine Zeit zum Nachdenken lassen.

»Herr Degen? Wenn Sie es sind … weil Sie den Anhörungstermin erhalten haben … wir können mit dem Richter über alles sprechen. Noch ist nichts entschieden. Ich verspreche Ihnen, der Vorfall bleibt unter uns.«

»Die Hände auf den Rücken, habe ich gesagt! Langsam zum Schrank umdrehen!« Er verfolgt den Blick des Bewährungshelfers zum Schreibtisch, sieht ein Springmesser, und die Hand, die danach greift.

Das Dreckschwein will dich reinlegen. Er schlägt mit dem Schlagstock zu, verliert ihn aus der Hand, schnappt sich das Messer. Trifft den Druckknopf. Die Klinge schnellt heraus. Er nimmt die Bewegung von Windich wahr, der ihm das Messer entreißen will, dabei in die Klinge fasst. Das verzerrte Gesicht, die Platzwunde am Kopf. Er sticht zu. Erwischt ihn am Hals, sieht das Blut, die Panik in den Augen, die Hand, die versucht, die Wunde zuzudrücken. Sticht erneut zu, steigert sich in einen Rausch, bis Windich zwischen Schreibtisch und Schrank zu Boden gleitet. Er kann den Blick nicht abwenden, fühlt eine Macht, wie er sie noch nie im Leben empfunden hat.

Kapitel 2

Engel hält das Springmesser in der Hand. Was wollte Windich damit? Warum lag es auf dem Schreibtisch? Er lässt es auf den Toten fallen, betrachtet das Büro. Keine Bilder, keine Blumen. Tisch, Computer, Schrank, Stühle. Der Schlagstock. Er hebt ihn auf, wischt ihn mit den Handschuhen ab. Steckt ihn zurück in die Halterung am Gürtel. Das Portemonnaie von Windich. Er nimmt es in die Hand, zählt über dreihundert Euro. Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch entdeckt er ein weiteres Portemonnaie, das an den Rändern zerfleddert ist. Wer immer es vergessen hat, wird zurückkommen, das Licht im Büro sehen und schellen. Soll er die dreihundert Euro in das fremde Portemonnaie stecken? Um den Bullen und der Presse den Täter frei Haus zu liefern? Es soll so sein, an Zufälle glaubt er nicht. Er ahnt die Schlagzeile in der Presse voraus:

Raubmord in der Bewährungshilfe! Auf der Flucht verlor der Täter seine Beute.

Er klappt das Portemonnaie auf. Zwanzig Euro. Ein Foto von Lukas und einer Frau, bestimmt seiner Freundin. Sie strahlt in die Kamera. Noch ein Foto von den beiden. Arm in Arm. Sofort ist Engel an Sandra erinnert und fühlt die Leere seit ihrem Tod. Er nimmt den Personalausweis aus der Seitentasche: Lukas Briest. Er zögert. Soll er das Geld abgeben? Dreihundert Euro könnte er brauchen, zumindest einen Teil davon. Woher sollen die Bullen wissen, wie viel Geld Windich bei sich hatte? Er stopft hundertfünfzig Euro in seine Hosentasche unter dem Umhang. Drei Fünfziger benetzt er mit Windichs Blut und steckt sie zu dem Zwanziger in das Portemonnaie, das er neben dem Toten auf den Fußboden wirft. Einem inneren Zwang folgend rennt er ins Wartezimmer, um die Grünpflanze aus der Ecke zu holen und sie neben Windich aufzubauen. Ein bisschen Leben in der Bude. Verrückt. Er beißt sich auf die Zunge, um den Schmerz zu fühlen. Nimmt den Notizblock des Bewährungshelfers an sich. Mit einem letzten Blick auf den Toten verlässt er das Büro. Streift die Verkleidung auf der Toilette ab, verstaut sie in dem mitgeführten Rucksack im Wartezimmer.

Wollte er es so? Ohne Worte? Ohne Verstehen? War das seine Rache? Nein, er wollte Windich mit der Maske und dem Schlagstock einschüchtern, ihn fesseln, aber nicht umbringen. Das Springmesser gab den Ausschlag. Sein Plan wurde von der Wirklichkeit übertroffen. Warum war er von dem Anblick des Toten nicht mehr erschrocken? Er hat ihn ermordet, einen Menschen erstochen. Er fühlt eine Eiseskälte in sich, die ihn erschreckt, zugleich mit Stolz erfüllt.

Von einem Fenster im Hausflur beobachtet er den Parkplatz vor dem Gebäude, den Bürgersteig, die Straße. Er wartet, bis zwei Fußgänger vorüber sind und alles leer wirkt. Mit dem Keil verhindert er das Zuschlagen der Außentür, bevor er auf die andere Straßenseite wechselt. In der Garageneinfahrt erkennt er eine Gestalt. Er schlägt schnell die Kapuze seiner Regenjacke hoch, verdeckt das Gesicht und läuft zu den Ampeln an der Straßeneinmündung. Aus sicherer Entfernung wagt er einen Blick zurück. Licht in Windichs Büro, die Außentür einen Spalt geöffnet.

Er könnte wetten, dass Lukas zurückkommt, stellt sich den Schrecken beim Anblick des Toten vor. Wird Lukas das Portemonnaie aufheben und aus dem Gebäude stürmen? Oder die Bullen rufen? Er wird es nehmen, zur Platte fahren, um sich dichtzumachen, dabei das Blut an den Scheinen nicht mal bemerken. Die Bullen werden die Spur verfolgen und die drei blutigen Fünfziger bei ihm finden.

Der Regen setzt wieder ein. Engel findet eine Überdachung in einem Hauseingang. Es ist kalt, er friert, zittert, hat keine Lust zu warten. Warum kommt Lukas nicht? Hat er seine Freundin in der Stadt getroffen? Es ist schon acht Uhr. Die Sprechstunde endet um sieben, da wird er Windich nicht mehr in seinem Büro vermuten.

Engel macht sich auf den Weg zum Zentrum, hat sich zweihundert Meter entfernt, da nähert sich ein Jogger auf der anderen Straßenseite. Beim näheren Hinsehen erkennt er Lukas und freut sich wie ein Kind. Er folgt ihm bis zur Straßeneinmündung. Sieht, wie Lukas vor dem Eingang der Bewährungshilfe steht und zum ersten Stock sieht. Gut, dass er das Licht in Windichs Büro angelassen hat.

Wieso geht er nicht rein? Entdeckt er den Keil nicht? Los, geh rein, sieh dir die Schweinerei an. Wie auf Befehl drückt Lukas die Tür auf. Licht im Hausflur. Engel wartet. Nichts passiert. Es dauert ihm zu lang. Nachher ist alles voller Bullen. Er möchte nicht damit in Verbindung gebracht werden.

Kapitel 3

Für Alexander Windich will die Sprechstunde an dem Donnerstag nicht enden. Noch eine ganze Stunde bis neunzehn Uhr. Er betrachtet den Klienten, der ihm gegenüber am Schreibtisch sitzt und auf die nächste Frage wartet. Von sich aus erzählt der nichts, hat angeblich keine Probleme. Veränderungen in seiner Situation gibt es auch nicht. Windich ruft den letzten Vermerk in der elektronischen Akte auf, erinnert sich an die Arbeitsauflage im Gerichtsbeschluss. »Haben Sie die Sozialstunden aufgenommen? Sie sollten mir eine Bescheinigung vorlegen.«

Timo Bolt springt vom Stuhl. »Ich habe es nicht geschafft. Immer kommt mir was dazwischen.« Er stellt sich ans Fenster, sieht auf den Parkplatz.

»Setzen Sie sich!«, fährt Windich ihn an. »Niemand ist gezwungen, Sozialstunden zu leisten.« Er spielt mit der Überraschung des Klienten. Wartet, bis Bolt sich wieder gesetzt hat, um hinzuzufügen: »Ich hatte erwartet, dass Sie es zumindest versuchen. Warum haben Sie die Arbeitsauflage bei Gericht angenommen, wenn Sie es nicht mal schaffen, eine einzige Stunde zu leisten?«

»Was blieb mir für eine Wahl?« Bolt sieht zum Fenster.

»Sie hätten gegenüber dem Richter mit offenen Karten spielen können. Soll ich ihm berichten, dass sie lieber die Strafe verbüßen möchten. Sie brauchen es nur zu sagen.«

»Wollen Sie das? Mich in den Knast bringen?«

Windich versucht, ruhig zu bleiben. »Das liegt allein an Ihnen. Meine Aufgabe ist es, die Einsatzstelle zu vermitteln und das Gericht über Ihre Arbeitsaufnahme zu informieren. Sie haben keinen Grund, sich aufzuregen.«

»Ich rege mich nicht auf. Kann ich gehen?« Schon springt Bolt auf, ist an der Tür, zögert noch.

Windich hat das Gefühl, als wäre eine Mauer zwischen ihnen. Ihm fehlen die Worte, um sie zu überwinden. Vielleicht sollte er ihn an Marie abgeben, sie ist neu und hat kein volles Pensum. Er wird sich in der Dienstbesprechung dafür einsetzen, Klienten an Kollegen abgeben zu können, wenn der Funke nicht überspringt. Erst in der letzten Dienstbesprechung hatte sich sein Anleiter im Berufspraktikum dafür eingesetzt. Er hatte es verhindert, weil er fürchtete, Kollegen könnten es zum Anlass nehmen, ihre schwierigen Klienten loszuwerden. Außerdem mag er die Besserwisserei von Udo Fröbel nicht. Er blättert zu einer leeren Seite im Notizblock, um in Großbuchstaben deutlich lesbar zu schreiben:

Beim heutigen Termin wurde Herr Bolt an die Ableistung der gemeinnützigen Arbeit als Bedingung seiner Strafaussetzung zur Bewährung erinnert. Er erklärte, lieber die Haftstrafe verbüßen zu wollen.

Er schiebt den Notizblock über den Tisch.

»Kann ich es dem Richter so berichten? Oder wollen Sie erst eine Nacht darüber schlafen und mich morgen anrufen?«

Bolt kommt zum Schreibtisch zurück. Seine Finger berühren den Block, während er liest. Die fast weiße Gesichtshaut färbt sich ins Bläuliche, die Lippen wirken mit einem Mal blutleer.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich die Strafe verbüßen möchte. Sie können sich nicht vorstellen, was Knast für mich bedeutet.«

»Es reicht, wenn Sie es sich vorstellen können«, unterbricht Windich mit lauter Stimme. »Und diese Vorstellung Ihnen hilft, die Arbeit am Montag pünktlich um sieben Uhr auf dem Friedhof aufzunehmen. Ansonsten werde ich den Widerruf der Strafaussetzung beantragen, da können Sie sich drauf verlassen. Hintertüren gibt es bei mir nicht. Am Ende der nächsten Woche werde ich beim Grünflächenamt nachfragen.«

Bolt rauscht aus dem Büro. Windich hört die Etagentür heftig zuschlagen, würde ihm am liebsten hinterherrufen, die Tür könne nichts dafür. Seit Mittag belasten ihn die Klienten mit ihren Problemen. Kein Geld. Ärger mit der Polizei, beim Jobcenter oder bei der Arbeit. Krach in der Familie, mit der Partnerin, den Eltern, alles multipliziert mit Alkohol und Drogen. Soll er in jedem Fall die Hintergründe erkunden? Sie bei der Hand nehmen und ihre Angst beruhigen, wie es sein Kollege Fröbel im Praktikum formuliert hatte. Er weiß bis heute nicht, ob es ernst gemeint war, nur, dass es nicht zu leisten ist. Die Zeit reicht nicht. Die Betreuungen werden komplizierter und der Verwaltungsaufwand hat mit der Einführung des Computerprogramms zugenommen, die Zahl der Mitarbeiterinnen in den Geschäftsstellen dagegen abgenommen. Wenn der Fortschritt darin gesehen wird, Menschen durch Automaten zu ersetzen, würde er gerne darauf verzichten.

Achtzehnuhrdreißig. In einer Stunde ist er mit Nina verabredet. Er hätte es sich nicht träumen lassen. Über vierzig und verliebt wie ein Teenager. Dabei hatte er gedacht, mit seiner Scheidung vor einem Jahr wäre das Thema Liebe für ihn erledigt. Nina, die Mitarbeiterin aus der Geschäftsstelle, zwölf Jahre jünger als er. Strahlend blaue Augen, ein blonder Wuschelkopf, zierlich gebaut. Ein runder Po, den sie mit engen Jeans betont. Er fand sie gleich bei der ersten Begegnung sympathisch, doch seit der Verabredung ist er nur noch aufgeregt. Er sollte den Computer runterfahren, seine Vertreterin informieren, dass er früher geht. Er kann sich nicht mehr auf die Klienten konzentrieren. Ein paar Schritte durch die Stadt laufen, den Nachmittag abschütteln, einen Strauß Blumen besorgen. Er überlegt, ob Nina eine Lieblingsblume erwähnt hat. In ihrem Büro hält sie nur Grünpflanzen, nichts Blühendes. Er könnte am Hauptbahnhof vorbeigehen, etwas Besonderes in dem Blumenladen aussuchen. Er sieht sich in seinem Büro um, auch hier könnte etwas Grün nicht schaden. Dazu sollte er ansprechende Bilder aufhängen. Nina liebt es, Räume zu gestalten, hat oft darüber gesprochen. Im Geschäftszimmer spürt er die angenehme Atmosphäre durch die vielen Dekorationen. Sein Büro vermittelt den Eindruck, als wäre er auf der Durchreise. Nichts Persönliches, kein Bild, kalt, sachlich. Ist er so? Räume sagen viel über Menschen aus, die sie bewohnen.

In Recklinghausen wirkte sein Büro lebendiger. Er hatte sich dort wohler gefühlt. In Bochum ist er nicht zur Ruhe gekommen, es galt, neue Klienten kennenzulernen, sich bei den Behörden und sozialen Einrichtungen vorzustellen. An allen Besprechungen teilzunehmen und die neuen Standards in der Arbeit umzusetzen. Mehr als einmal hat er sich gefragt, wozu er das alles auf sich genommen hat.

 

Kapitel 4

Es klopft an der Tür. Windich erinnert sich. Ein Klient hatte Nina während der Mittagspause mitgeteilt, dass er sich etwas verspäten würde. Sie hatte den Namen nicht verstanden oder vergessen, ihn aufzuschreiben. Er ruft: »Herein« und nimmt sich vor, das Gespräch so kurz wie möglich zu halten, um gleich danach zu verschwinden. Die hagere Gestalt von Jannis Kastas schiebt sich durch die Tür, reicht mit seinem Kopf bis an den oberen Rahmen. Trotz der Länge und des dunklen Anzugs wirkt der Klient kindlich auf ihn. Die weichen Gesichtszüge, der Blick, als könnte dahinter kein reifer Gedanke entstehen. Er gibt Kastas die Hand. Den wird er so schnell nicht los. Der muss bei jedem Gespräch seinen Hass auf Gott und die Welt offenbaren, die er für sein Schicksal verantwortlich macht. An erster Stelle die Justiz, die ihn im Maßregelvollzug untergebracht hatte. Er bittet den Klienten, sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. »Wir haben nicht viel Zeit, Herr Kastas. Ich habe gleich einen wichtigen Außentermin. Hatten Sie am Mittag in der Geschäftsstelle angerufen?«

»Warum sollte ich anrufen? Sie hatten mich zur Sprechstunde bestellt. Schon vergessen?« Kastas schüttelt den Kopf. »Sonst wäre ich nicht gekommen. Ich habe Ihre Einladung dabei.« Er legt ihm das Schreiben auf den Tisch, zieht sich in aller Ruhe die Jacke aus und hängt sie über einen Stuhl vor dem Schreibtisch.

»Die Sprechstunde endet in ein paar Minuten.« Windich legt die Einladung beiseite und betrachtet mit Sorge, wie Kastas es sich auf dem Stuhl bequem macht. Einmal nimmt er sich nach der Sprechstunde etwas vor. Ein einziges Mal! Schon meinen alle, kurz vor Schluss vorbeischauen zu müssen. Es ist wie verhext. Er überfliegt den letzten Vermerk in der elektronischen Akte. »Haben Sie den Termin bei Dr. Kriem wahrgenommen?«

Kastas starrt ihn mit glänzenden Augen an und nickt mit dem Kopf. »Ja. Habe ich.«

Windich kennt diesen Blick, der Offenheit vorspielen soll, doch reine Schauspielerei ist. Er lehnt sich auf dem Stuhl zurück. »Wirklich? Ich werde es nachprüfen.«

»Prüfen Sie! Oder fragen Sie meine Verlobte. Sie hat mich hergefahren.« Kastas erhebt sich umständlich, beugt sich über den Schreibtisch. »Jasmin wartet im Auto. Ich kann sie holen.«

Bloß nicht, denkt Windich. Dann dauert es noch länger. »Dazu habe ich heute keine Zeit, Herr Kastas. Reichen Sie mir die Bescheinigung von Dr. Kriem in der kommenden Woche ein. Wenn ich nicht da sein sollte, geben Sie das Schreiben im Geschäftszimmer ab. Zum nächsten Gespräch bringen Sie Ihre Verlobte mit ins Büro. Lassen Sie sie nicht im Auto sitzen. Frauen warten nicht gern.« Mit der Anspielung hofft er, Kastas loszuwerden. Doch der lässt sich mit verdüsterter Miene zurück auf den Stuhl fallen.

»Darüber wollte ich mit Ihnen reden … über Jasmin und mich. Sie haben völlig recht, sie wartet nicht gerne.« Kastas kneift ihm ein Auge zu, als teilten sie ein geheimes Wissen über das Wesen der Frau.

»Das besprechen wir am besten im Beisein Ihrer Verlobten. Wir können einen Termin vereinbaren«, versucht er, auszuweichen. Doch sein Klient achtet nicht auf die Worte, sondern teilt gewichtig mit: »Die Depotspritze! Ich vertrage sie nicht. Fühle mich immer schlapp. Hänge herum. Keine Lust, verstehen Sie?«

Windich nickt verständnisvoll, während er den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr verfolgt und sich einen Pickel am Kinn aufkratzt, bis es blutet. Er nimmt ein Taschentuch aus der Schublade, um sich das Blut abzutupfen. Das Telefon klingelt. Er hebt den Hörer ab. »Bewährungshilfe …« Weiter kommt er nicht. Die Stimme von Marie Marler, der jungen Kollegin, unterbricht ihn.

»Die anderen sind schon weg. Soll ich warten oder kommst du klar?«

Windich stellt sich vor, wie sie mit dem Telefon in der Hand vor ihrem Schreibtisch hin- und herläuft. Zumindest ruft sie an, die anderen werden schon verschwunden sein. »Nein, Marie. Du brauchst nicht zu warten. Herr Kastas ist gerade dabei, sich zu verabschieden.« Bei den Worten lächelt er seinen Klienten an.

»Dann bis morgen«, dringt die weibliche Stimme durch den Hörer. »Ich ziehe die Außentür ins Schloss. Sonst verirrt sich noch ein Nachzügler. Und vergiss Nina nicht!«

Es versetzt ihm einen Stich. Nina hat ihr von der Verabredung erzählt, obwohl er gebeten hatte, sie geheim zu halten. Er begegnet dem abwartenden Blick von Kastas und versucht, sich an das Gespräch zu erinnern. Die Depotspritze. Keine Lust. »Sprechen Sie mit dem Arzt über die Medikation«, versucht er, das Thema abzuschließen, doch Kastas schweigt und er fühlt sich zu einer ergänzenden Erklärung verpflichtet. »Vielleicht kennt Dr. Kriem ein anderes Mittel, das Sie besser vertragen können. Oder ein Medikament, das die Nebenwirkungen von Risperdal lindert.«

»Dr. Kriem versteht mich nicht«, bricht es aus Kastas heraus. »Geht mir auf die Nerven mit seinem Gerede, der Körper würde sich daran gewöhnen. Er muss das Zeug ja nicht nehmen. Ich breche die Behandlung ab. Fertig.«

Windich nimmt eine aufrechte Haltung ein. »Nach dem Gerichtsbeschluss dürfen Sie die Behandlung nicht eigenmächtig abbrechen. Nur im Einvernehmen mit dem behandelnden Arzt. Ich hatte Sie beim ersten Gespräch ausführlich darüber belehrt. Ich hoffe, Sie erinnern sich daran.«

»Niemand kann mich zwingen, so ein Mittel zu nehmen. Ich habe mich bei meinem Anwalt erkundigt. Weisungen müssen zumutbar sein. Auch Richter können nicht machen, was sie wollen. Ich vertrag das Zeug nicht. Basta! Es ist mir nicht zuzumuten.« Kastas verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust.

Das hat Windich am Ende der Sprechstunde gefehlt. Er schüttelt den Kopf, besinnt sich und versucht, die Spannung herauszunehmen. »Was halten Sie davon, Ihre Lustlosigkeit in der Therapiegruppe anzusprechen? Vielleicht gibt es bei den anderen Patienten ähnliche Erfahrungen. Ich habe allerdings gehört, dass Risperdal gut angenommen wird.«

»Damit brauchen Sie mir nicht zu kommen.« Kastas beugt sich über den Schreibtisch. Windich weicht automatisch zurück. »Da gehe ich nicht mehr hin.«

Der Bewährungshelfer reibt sich mit den Händen über die Stirn. Von dem Ärger mit den sturen Klienten mischen sich schon graue Strähnen in seine Haare. Soll Kastas doch machen, was er will, wenn er ihn nur in Ruhe lässt. Doch das Gericht hat ihn aufgefordert, einen Führungsbericht zu schicken. Darin hat er sich zu den Weisungen zu äußern. Er rollt auf dem Drehstuhl näher an den Schreibtisch, stützt sich mit den Unterarmen auf. Fragt seinen Klienten in einem Tonfall, in dem er ein Kind fragen würde: »Warum gehen Sie da nicht mehr hin?«

»Weil ich keine Lust habe, mir ständig die Probleme der anderen anzuhören. Ich komme überhaupt nicht zu Wort.«

Windich schließt für Sekunden die Augen und atmet tief durch. »Sagen Sie zu Beginn der nächsten Gruppenstunde, dass Sie ein Thema einbringen möchten!«

»Warum? Ich will kein Thema einbringen. Mich interessieren die anderen nicht. Die machen mich krank mit ihren Themen. Sollen die das Zeug nehmen, wenn es ihnen hilft. Ich brauche es nicht, auch die Gruppe nicht!«

Windich ist verblüfft. Verschwendet Kastas nur einen Gedanken daran, wie er andere krankmacht, wie er ihn in diesem Moment krankmacht? Wie gerne Windich auf der Stelle das Büro verlassen würde, bevor er den ganzen Abend genervt herumläuft, am Ende Nina den Appetit verdirbt. Er entgegnet lauter als gewollt: »So geht das nicht, Herr Kastas! Sie müssen die Weisungen einhalten! Was meinen Sie, was der Richter sagt, wenn er davon erfährt? Glauben Sie, der beschließt alles zum Spaß oder um Sie zu ärgern? Gerade hat er einen Bericht in Ihrer Sache angefordert.«

»Sie sind mein Bewährungshelfer!«, kontert Kastas ebenso laut und richtet sich auf dem Stuhl auf, dass er Windich überragt. »Schreiben Sie dem Richter, dass ich das Zeug und die Gruppe nicht brauche. Berichten Sie ihm von meiner Beziehung zu Jasmin. Ich bin völlig okay. Er kann die Weisungen aufheben.«

Windich überlegt, ob er ihn anschreien oder ruhig bleiben soll. Überlegenheit äußert sich sachlich. »Die gerichtlichen Weisungen helfen Ihnen, dass sich die damalige Krise nicht wiederholt.« Bei seinen Worten spürt er, dass ihm die Deeskalation nicht gelingt. Es mischt sich zu viel Ärger hinein, durch das sinnlose Gespräch Nina warten zu lassen. Blumen kann er nicht mehr besorgen, er wird mit leeren Händen vor ihr stehen. Warum hat er sich nicht in der Dienststelle mit ihr verabredet, um gemeinsam zum Restaurant aufzubrechen? Das wäre entschieden besser gewesen.

»Mit Jasmin habe ich mich von früheren Kollegen zurückgezogen. Keine Kneipenbesuche mehr, kein Alkohol. Ich gehe kaum raus. Wir wünschen uns ein Kind. Verstehen Sie? Doch ohne Sex klappt das nicht.«

Windich staunt seinen Klienten an, zieht dabei die Stirn in Falten. Kaum ist der aus der Klinik entlassen, will er mit seiner Verlobten ein Kind in die Welt setzen. Warum gibt es keinen Elternschein, der erst abgeschlossen werden muss? So wird das Kind in einigen Jahren auch hier sitzen. Nicht die erste Familie, die in zweiter und dritter Generation betreut wird. Ob Nina sich ein Kind wünscht? Sie ist keine dreißig und kinderlos. Bevor er eine Beziehung mit ihr eingeht, sollte er es geklärt haben. Mit seinen vierzig Jahren und dem ganzen Beziehungsmüll auf der Arbeit fühlt er sich einem Kind nicht gewachsen. Wenn es in die Pubertät kommt, wäre er über fünfzig. Wie alt mag Kastas sein? Er sieht in die elektronische Akte. »Sie sind siebenundzwanzig geworden. Da haben Sie alle Zeit für den Kinderwunsch. Wie alt ist Ihre Freundin?« Seine Ehefrau hatte von Babysachen geschwärmt, sich immer wieder neue Namen ausgedacht, bis sie ihn von heute auf morgen verließ. Zu einem anderen Partner, um ihre Familienplanung zu verwirklichen. Er könnte wetten, dass sie schon schwanger ist.

Kastas beugt sich vor. Der abwehrende Blick lässt Windich vermuten, dass ihm die Frage nach dem Alter seiner Verlobten missfällt.

»Jasmin wird in ein paar Wochen einundzwanzig. Sie möchte nicht warten, bis sie grau ist.«

»Da liegen ein paar Jahre dazwischen«, wirft Windich ein, doch sein Klient lässt sich nicht stoppen.

»Sie haben vorhin selbst gesagt, Frauen warten nicht gerne. Wir haben uns gefunden und fertig. Es ist, als würden wir uns ewig kennen. Während der Zeit in der Klinik haben wir uns täglich geschrieben. Sie hat mich besucht, so oft sie konnte. Seit meiner Entlassung sind wir Tag und Nacht zusammen. Was uns fehlt, ist ein Kind.«

»Sie wurden vor drei Monaten aus der Klinik entlassen«, meint Windich mit einem Blick in die elektronische Akte.

»Genau«, bestätigt Kastas. »Wir heiraten, wenn die Unterlagen vollständig sind.«

»Wie wollen Sie eine Familie ernähren?« Windich fragt sich, was ihn hindert, das Gespräch abzubrechen und die Fortsetzung auf einen anderen Tag zu verschieben. Die Art seines Klienten reizt ihn zu sehr zum Widerspruch. Warum schweigt Kastas jetzt? Zum Schweigen fehlt nun wirklich die Zeit. Da lehnt sich sein Klient schon wieder auf dem Stuhl zurück und verschränkt die Arme. Hat er die Frage nicht verstanden? Oder ist die Formulierung: Eine Familie ernähren zu veraltet? »Ein Kind kostet eine Menge Geld, Herr Kastas. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht?«, versucht Windich, die Frage klarer zu formulieren.

»Ich war beim Jobcenter.« Kastas holt einen zerknitterten Brief aus seiner Jackentasche, den er Windich reicht. »Mein Eingliederungsvertrag. Es soll untersucht werden, wie viele Stunden ich am Tag arbeiten kann.«

Windich entfaltet das Schreiben und starrt auf die Zeilen. Er hat keine Lust, den Vertrag für die Akte abzulichten, möchte seinen Klienten auch nicht im Büro alleinlassen. Außerdem hat er sich nicht mit dem Multifunktionsgerät im Geschäftszimmer vertraut gemacht, mit dem Kopien direkt in die elektronische Akte gescannt werden. Es ist keiner mehr da, der es für ihn erledigen könnte. »Wann ist der nächste Termin bei der Ambulanz?« Er faltet den Vertrag und reicht ihn Kastas zurück, spürt dabei, wie der ihn feindselig mustert.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich da nicht mehr hingehe.«

Windich sieht auf seine Armbanduhr. Gleich halb acht. Er stellt sich vor, wie Nina im Restaurant einen Milchkaffee bestellt und auf ihn wartet. Er könnte bei ihr sein, wenn er sich rechtzeitig losgerissen hätte. Das Gespräch mit Kastas hätte er sich ersparen können. »Ich rufe morgen Dr. Kriem an, um ein gemeinsames Gespräch mit ihm zu vereinbaren. Ist Ihre Handynummer noch aktuell?«

Kastas holt sein Handy aus der Tasche, murmelt: »Ich weiß die Nummer nicht auswendig.«

Windich tippt sie aus der elektronischen Akte ins Telefon. Das Handy von Kastas vibriert, ein Popsong ertönt als Klingelzeichen: Over The Rainbow. Die ruhigen Gitarrenklänge rücken Kastas in ein angenehmeres Licht. Er legt den Hörer zurück auf die Station. »So, jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr. Ich komme schon zu spät zu meiner Verabredung. Ich werde Sie anrufen, sobald ich mit Dr. Kriem gesprochen habe.« Er erhebt sich vom Stuhl, geht zur Tür, um die Worte zu unterstreichen.

»Ich brauche zwanzig Euro für Fahrgeld«, meint Kastas. »Schließlich haben Sie mich eingeladen.«

»Sagten Sie nicht, Ihre Verlobte würde im Auto warten?« Kastas schafft es, immer noch einen draufzusetzen. Windich sieht ihn stirnrunzelnd an. Er hat zwar die Möglichkeit, den Klienten in Notlagen mit geringen Beträgen auszuhelfen, doch die Anfahrt sollten sie selbst aufbringen.

»Was denken Sie?«, entgegnet Kastas. »Dass Jasmin mich für Luft und Liebe durch die Gegend fährt? So viel Geld verdient sie nicht als Friseurin.«

Windich gibt sich geschlagen, holt den Quittungsblock aus der Schublade, setzt zehn Euro ein. »Das wird keine Dauereinrichtung«, betont er. »Die Kosten für die Anfahrt müssen Sie zukünftig selbst aufbringen!«

»Von dem Geld vom Jobcenter? Haben Sie mal versucht, davon zu leben?«

Es schellt. War Windich klar, dass der Anrufer vom Mittag auch noch kommt. Hoffentlich ist es nicht Degen. Nach seinem Bericht wird das Gericht ihn zur Anhörung geladen haben. Nein, mit Degen möchte er heute nicht mehr sprechen. Er wird die Dienststelle zusammen mit Kastas verlassen, Degen an der Tür einen Termin für morgen Vormittag geben und sich nicht aufhalten lassen. Er erkundigt sich über die Sprechanlage nach dem Besucher.

»Lukas Briest. Es ist wichtig.«

»Nur kurz, Herr Briest! Sie sind eine halbe Stunde zu spät.« Er öffnet die Haustür mit dem elektrischen Türöffner und verlässt das Büro, um ihn an der Glastür zu empfangen. Erleichtert, dass es nicht Degen ist, doch besorgt, noch mehr Zeit zu verlieren. Vor der Bürotür bittet er Briest, einen Moment zu warten. Mit Blick auf den Schreibtisch stellt er fest, dass Kastas die Quittung unterschrieben hat. Er nimmt sein Portemonnaie aus der Jackentasche im Schrank und erinnert sich, auf dem Weg zur Arbeit dreihundert Euro vom Konto abgeholt zu haben. Er sucht verdeckt nach zehn Euro, klappt das Portemonnaie zu und steckt es in seine Jackentasche zurück. Er wundert sich, dass es Kastas in der gespielten Einfalt gelingt, ihm Geld aus der Tasche zu ziehen. »Ich rufe Sie an, sobald ich mit Dr. Kriem gesprochen habe.«

Kastas geht ohne ein weiteres Wort zur Tür, rempelt beim Hinausgehen den hereinkommenden Briest an, der seine blaue Kappe fallen lässt, sich bückt, um sie wieder aufzuheben.

Windich erinnert sich an das erste Gespräch mit Briest, der mit der Kappe auf dem Kopf ins Büro kam und sich gleich auf einen Stuhl setzte. Nicht mit ihm. Er schickte ihn heraus, um ohne Kopfbedeckung noch einmal anzuklopfen.

 

Kapitel 5

Lukas Briest rückt den Stuhl dicht vor den Schreibtisch des Bewährungshelfers. Unter der Tischplatte spielt er mit der Kappe, ständig versucht, sie hervorzuholen und aufzusetzen. Doch er darf Windich nicht reizen. Das erste Gespräch ist ihm in Erinnerung geblieben, als er aus dem Büro geschickt wurde, um noch einmal ohne Kopfbedeckung anzuklopfen.

»Ich habe morgen ein Vorstellungsgespräch bei Randstad in Dortmund. Die suchen Lagerarbeiter«, erklärt er dem Bewährungshelfer.

»Es freut mich, dass Sie vorbeigekommen sind, um es mir persönlich zu sagen, Herr Briest. Sollte es zum Abschluss eines Arbeitsvertrages kommen, bringen Sie ihn beim nächsten Gespräch mit. Ich drücke Ihnen die Daumen.«

Freundliche Worte, um ihn abzuwimmeln. Glaubt der Bewährungshelfer, dass er vorbeigekommen ist, um ihn über das Vorstellungsgespräch zu informieren? Windich kann sich denken, dass er Fahrgeld nach Dortmund braucht, doch legt Wert darauf, dass er das Anliegen klar und deutlich formuliert. Warum erwartet Lukas von allen, seine Gedanken lesen zu können? »Am Telefon meinten sie, ich hätte gute Chancen. Dreizehn Euro pro Stunde. Plus Zulagen für Überstunden und Nachtschicht. Bis zum nächsten Jahr könnte ich was zurücklegen.«

Der Bewährungshelfer löst den Blick vom Bildschirm und sieht ihm in die Augen. »Ich gehe davon aus, dass Ihnen so kurz vor dem Ersten das Fahrgeld nach Dortmund fehlt.«

Na, das ist ja mal eine Einsicht. Lukas staunt über den plötzlichen Sinneswandel. »Ich zahle es Ihnen nach dem Ersten zurück«, versichert er. »Versprochen.«

»Zwanzig Euro.« Windich dreht sich von ihm weg, um verdeckt im Portemonnaie zu wühlen. Meint wohl, er würde ihn berauben, wenn er die Millionen sieht. Verurteilt wegen Drogen, da ist ihm alles zuzutrauen. Die Kollegen sind ausgeflogen, also ist Vorsicht geboten. Er nimmt den Zwanziger entgegen, schämt sich für seine Gedanken, bedankt sich und unterschreibt die Quittung. Windich steht auf, reicht ihm die Hand. Lukas erhebt sich gleichzeitig, zieht dabei sein Portemonnaie mit einem Ruck aus der Hosentasche, um den Zwanziger einzustecken. Prompt rutscht sein Springmesser heraus, fällt scheppernd zu Boden. Er bückt sich, um es aufzuheben und in der Tasche verschwinden zu lassen.

»Darf ich mal sehen?«

Lukas atmet tief durch und reicht Windich das Messer. Der Bewährungshelfer betrachtet es von allen Seiten, lässt die Klinge mit einem Knopfdruck seitlich herausschnellen und sieht Lukas mit einem durchdringenden Blick an. »Wozu benötigen Sie das Springmesser?«

Hoffentlich glaubt Windich nicht, dass er ihn berauben wollte, wenn er kein Geld erhalten hätte. Mit einem harmlosen Lächeln erwidert er: »Nur zur Verteidigung!«

»Warum brauche ich so was nicht zur Verteidigung?«

»Weil Sie nicht mit Drogen gehandelt haben. Sie kennen es nicht, ständig auf der Straße angesprochen zu werden. Die glauben mir nicht, dass es vorbei ist, sind sauer, wenn ich ihnen nichts verkaufe. Halten mich für einen Spitzel.« Lukas beobachtet den Bewährungshelfer, der seinen Worten offensichtlich keine Bedeutung beimisst, sondern vorsichtig die Klinge des Messers ertastet. Schon überlegt er, ihn durch einen demonstrativen Blick auf die Uhr an die Zeit zu erinnern, doch ist sich nicht sicher, ob es als respektlos aufgefasst werden könnte. Er betrachtet die blaue Kappe in seiner Hand und hält den Mund.

»Für den Verteidigungsfall taugt so ein Springmesser nichts«, doziert Windich. »Ehe Sie zustechen können, hat der Angreifer Sie überwältigt. Wenn Sie schneller sind, blüht Ihnen ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung, wenn nicht sogar wegen Totschlags. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie wieder in den Knast wollen.«

Als habe Lukas jemals vorgehabt, mit dem Messer zuzustechen. Es vermittelt ihm Sicherheit, das ist alles. Er überlegt, es Windich zu erklären, denkt an den Zwanziger und lässt es sein. »So habe ich es noch nicht betrachtet«, erwidert er kleinlaut.

»Deswegen sage ich es Ihnen«, meint Windich. »Sind Sie damit einverstanden, wenn ich das Messer einziehe, um es bei der Polizei abzugeben?«

Lukas stimmt zu, er würde allem zustimmen, um aus der Nummer rauszukommen. Hauptsache, er hat das Fahrgeld für das Vorstellungsgespräch. »Besser Sie ziehen es ein, als wenn es die Polizei bei mir findet.« Genug geschleimt, denkt Lukas und öffnet die Bürotür. Windich folgt ihm auf den Flur, reicht ihm die Hand.

»Beim nächsten Mal legen Sie mir einen Drogentest vor. Wir hatten über die Weisung des Gerichts gesprochen.«

Verdammter Idiot! Bei einem Rückfall würde er kein Screening machen, sondern entgiften. Er versteht das System nicht, wollen sie einem helfen oder einen schikanieren? Wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht. An der Glastür nimmt er den Duft nach Moschus wahr, der von der Toilette kommt. Bei seinem Eintreffen hatte er ihn mit Windich in Verbindung gebracht. Er sieht den Bewährungshelfer im Büro verschwinden und verlässt die Etage. Er wird in seiner Wohnung ausschlafen, um morgen ausgeruht beim Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Natalie verbringt den Abend bei ihrer Freundin. Er wird sie erst informieren, wenn er das Ergebnis kennt, er möchte keine Hoffnung wecken, die sich nicht erfüllt.

Vor der Dienststelle wartet der Besucher, der ihn an der Bürotür angerempelt hatte. Auf ihn? Lukas nimmt zwei Zigaretten aus der Schachtel, bietet dem Langen eine an. »Dafür, dass du Windich aufgehalten hast. Sonst hätte ich ihn nicht mehr angetroffen.«

Der Lange guckt überrascht. »Hast einen Zehner abgestaubt, was? Wie heißt du überhaupt? Kannst mich Jannis nennen.«

»Lukas. Auf wen wartest du?« Ihn wundert nichts mehr, offenbar neigt er dazu, andere zu unterschätzen.

»Meine Freundin kauft ein paar Sachen ein. Wenn du willst, nehmen wir dich nachher ein Stück mit.«

»Nein, danke. Ich habe es nicht weit«, wehrt Lukas ab. Er winkt Jannis zu und geht die Straße rauf in Richtung Ampel. Er will sich nicht kutschieren lassen. Allein die Vorstellung, eingequetscht hinter Jannis und seiner Freundin auf der Rückbank zu hocken, verursacht ihm Übelkeit. Gut, dass er sich herausreden konnte. Wie oft hat er sich geärgert, im richtigen Moment nicht Nein gesagt zu haben. Bei scheinbar unwichtigen Dingen fängt es an und endet in einer Therapie. Er freut sich über das Geld von Windich, fühlt sich mit Gott und der Welt versöhnt. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof lacht ihn eine junge Frau an, überhaupt scheinen die Menschen in der Fußgängerzone gut gelaunt zu sein. Selbst das Regenwetter stört sie nicht. Er denkt an das morgige Vorstellungsgespräch und die Freude von Natalie, wenn er die Stelle bekommt.

 

Kapitel 6

Alexander Windich reißt das Fenster auf, um an der frischen Luft durchzuatmen. Noch ein paar Minuten hinsetzen, abschalten. Die Sprechstunde hat ihn geschafft. Vor allem das Gespräch mit Kastas. Soll er einen Vermerk in der elektronischen Akte aufnehmen, um sich den Ballast aus dem Kopf zu schreiben. Sonst wird er Nina beim Essen damit nerven. Er sollte sie anrufen, um ihr den Grund für die Verspätung zu nennen. In seiner Kontaktliste im Handy hat er sie noch nicht aufgenommen. Er durchwühlt die Schreibtisch-Schubladen. Wo hat er die privaten Telefonnummern der Mitarbeiter? Er könnte wetten, morgen entdeckt er sie, wenn er sie nicht braucht. Er gibt die Suche auf, möchte nicht noch mehr Zeit vergeuden. Was hatte er zu Kastas gesagt? Frauen warten nicht gerne. Bei seiner geschiedenen Ehefrau reichten fünf Minuten, um ein Donnerwetter auszulösen. Er hofft, bei Nina mehr Verständnis zu finden. Er braucht Ruhe in seiner Freizeit, keinen Stress. Das hat er sich während der Trennungszeit geschworen. Er fährt den Computer runter. Die Klienten hat er in der Sprechstunde nicht gezählt, sieht nur den vollen Notizblock vom heutigen Tag. Immer aufmerksam sein, zuhören, Perspektiven finden. Das schlaucht. Bevor er zu Nina aufbricht, wird er sich Stichpunkte zu den letzten Gesprächen notieren, morgen hat er alles vergessen.

Jannis Kastas: Dr. Kriem anrufen! Einhaltung der Weisungen hinterfragen. Gemeinsames Treffen vereinbaren. Eingliederungsvertrag mit dem Jobcenter. Familienplanung mit der Verlobten Jasmin Gerritz.

Er erinnert sich an den starren Blick. Kastas hat die Depotspritze vor zwei Tagen nicht abgeholt, dafür würde er jede Wette eingehen. Die Klienten glauben, sie könnten einem alles erzählen. Dabei ist er fast fünfzehn Jahre in dem Beruf, da lernt man, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Kastas wollte seine Verlobte zur Bestätigung hereinholen. Scheint die Richtige zu sein, wenn sie sich zu einer Lüge anstiften lässt. Kastas kann froh sein, dass er keine Zeit mehr hatte, sonst hätte er sie antanzen lassen, um den beiden ordentlich ins Gewissen zu reden. Er sieht aus dem Fenster. Draußen hat es angefangen zu regnen. So ein Sauwetter bei der Verabredung mit Nina. Sein Schirm liegt im Kofferraum seines Golfs und der steht in der Garage. Er nimmt das Auto grundsätzlich nicht mit, wenn er plant, ein oder zwei Gläser Wein zu trinken. Er wird notfalls durch den Regen laufen. So weit ist es nicht. Wer war vor Kastas in der Sprechstunde? Timo Bolt. Er liest den Vermerk auf dem Notizblock, den er während des Gesprächs formuliert hat, setzt eine Notiz dazu.

Am Ende der nächsten Woche beim Grünflächenamt nachfragen, ob Bolt die Stunden aufgenommen hat. Ansonsten Widerruf beantragen.

Zweihundert Sozialstunden sind zu schaffen. Wenn er Bolt wäre, würde er Überstunden leisten, an Wochenenden arbeiten, um sich den Ärger mit dem Gericht zu ersparen. Bolt hat es schon mal verpatzt, obwohl er in den Gesprächen einen intelligenten Eindruck vermittelt. Durch das offene Fenster surrt eine Wespe ins Zimmer. Er wundert sich, dass es um diese Jahreszeit noch welche gibt. Er ist gegen Wespenstiche allergisch, kann gleich ins Krankenhaus laufen, wenn sie ihn sticht. Er beobachtet sie vom Schreibtisch aus, rührt sich nicht von der Stelle. Wahrscheinlich handelt es sich um die letzte Wespe in diesem Jahr, ausgesandt, um seine Verabredung zu stören. Vergiss Nina nicht. Die Worte der jungen Kollegin am Telefon. Morgen wird die gesamte Dienststelle davon wissen. Er zweifelt, ob Nina die Richtige ist, wenn sie nicht mal das erste Treffen für sich behalten kann. Aber er fühlt sich zu ihr hingezogen, nicht nur körperlich, sie lieben die gleiche Musik, Musicals. Er wird sie zu einer aktuellen Veranstaltung einladen, wenn sie bereit ist, eine Trennung zwischen beruflich und privat zu akzeptieren. Das wird er ihr deutlich sagen. Das Springmesser liegt vor ihm auf dem Schreibtisch. Er schüttelt den Kopf. Briest müsste wissen, dass so ein Messer in der Öffentlichkeit verboten ist. Sonst scheint er auf einem guten Weg zu sein, zumindest spricht die Wahl seiner Freundin für ihn. Solche Frauen erreichen bei den Klienten oft mehr als alle Maßnahmen der Justiz.

Lukas Briest: zwanzig Euro für die Vorstellung bei Randstad. Ab nächstem Jahr: Studium in Dortmund. Positiver Einfluss seiner Freundin Natalie, die als Erzieherin arbeitet und mit ihm studieren will. Das Springmesser bei der Polizei abgeben.

Ob Nina sich für ihn besonders reizvoll angezogen hat? Im Büro trägt sie meist Pullis und enge Jeans, die ihre schlanke Figur und die langen Beine betonen. Er sieht an sich herunter: graues Hemd, blaue Jeans. Im Schrank hängt die dunkle Herbstjacke. Seine Frau hatte ihm Farbenblindheit vorgeworfen, ihm jeden Morgen und zu besonderen Anlässen passende Kleidung herausgelegt. Seit er allein ist, konzentriert er sich auf blaue und graue Sachen. Da kann er nichts verkehrt machen. Nina hat Geschmack, sie wird ihm sagen, wenn etwas nicht übereinstimmt. Darf er sie bei der Begrüßung in den Arm nehmen? Das würde von Anfang an eine vertraute Atmosphäre schaffen. Er ist aufgeregt vor der ersten Begegnung mit ihr außerhalb des Büros, obwohl er sie seit einem halben Jahr kennt. Soll er im Restaurant eine Flasche Wein bestellen oder die Getränkeauswahl ihr überlassen? Er ist der Mann, also wird er die Bestellung übernehmen.

Kann er es wagen, sie nach dem Essen auf einen Drink in seine Wohnung einzuladen? Oder würde sie es als Aufforderung zum Sex verstehen? Nachher lehnt sie ab und tratscht herum, er habe sie ins Bett kriegen wollen. Er muss sich eingestehen, keine Übung in solchen Sachen mehr zu haben. Er ist sich nicht mal sicher, ob sie an ihm interessiert ist oder nur zugesagt hat, weil sie sich Vorteile auf der Arbeit verspricht. So oder so, wenn er sich nicht bald auf den Weg macht, wird er sie in dem Restaurant nicht mehr antreffen. Die Wespe hat sich auf dem Schreibtisch niedergelassen. Er überwindet sich, nimmt den Notizblock, um sie zu verscheuchen. Im gleichen Augenblick schwirrt sie aus dem Fenster. Er stürzt dahin, um es zu schließen.

Ein Geräusch auf der Etage. Ist noch jemand da? Ein Kollege? Wohl kaum. Briest auf der Toilette? Er ruft: »Herr Briest? Sind Sie noch da?« Nichts. Briest hatte die Glastür hinter sich geschlossen. Warum sollte er zurückkommen? Die Arbeit macht ihn fertig. Er bildet sich Geräusche ein. Oder? Er erinnert sich an die Drohungen von Alois Degen. Noch vor ein paar Tagen am Telefon. Degen hatte während einer heftigen Auseinandersetzung mit seiner Partnerin im betrunkenen Zustand den Fernseher aus dem Fenster im zweiten Stock geworfen. Nachbarn hatten die Polizei alarmiert, die ihn für eine Nacht zur Ausnüchterung auf die Wache brachten, nachdem er sie bei dem Einsatz beschimpft und angegriffen hatte. Was blieb ihm übrig, als eine vorübergehende Unterbringung im Maßregelvollzug bei Gericht anzuregen? Degen hatte wiederholt gegen die Weisung verstoßen, auf jeglichen Alkoholkonsum zu verzichten. Nicht auszudenken, wenn jemand auf der Straße verletzt worden wäre. Da endet für ihn das Wohlwollen mit den Klienten, da ist der Schutz der Allgemeinheit vorrangig.

Wie soll Degen in die Dienststelle gelangt sein? Marie hatte am Telefon versprochen, die Außentür ins Schloss zu ziehen. Vor dem Verlassen der Etage kontrolliert sie die Toiletten und das Wartezimmer. Darauf kann er sich verlassen. Degen könnte höchstens mit Briest hereingekommen sein. Warum hat er seine Mitarbeiter nicht über die Bedrohung informiert? Er möchte als Dienststellenleiter keine Schwäche zeigen, das ist es. Wer seinen Kopf aus der Menge herausstreckt, macht sich angreifbar. Er hätte das Gespräch mit Kastas unterbrechen und die Etage um sieben Uhr mit den anderen verlassen sollen. Er nimmt sich vor, es verpflichtend einzuführen. Vor der Tür hat sich jemand bewegt. Ganz eindeutig. Das ist keine Täuschung. Sein Herzschlag beschleunigt sich.

»Briest! Sind Sie noch da?« Keine Antwort. Er hält inne, um zu lauschen, sieht dabei auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch ein zerfleddertes Portemonnaie liegen. Das kann nur Briest vergessen haben. Er atmet auf. »Warum kommen Sie nicht herein? Was soll das Versteckspiel? Sie haben Glück, mich noch anzutreffen. Ich wollte längst fort sein.«

Die Tür fliegt auf. Ein Maskierter stürzt herein mit einem Schlagstock in der Hand. Schwarze Maske, schwarzer Umhang, schwarze Handschuhe. Windich unterdrückt ein Zittern. Was will er? Sein Portemonnaie? Weiß er von den dreihundert Euro? Windich soll seine Hände auf den Rücken legen, sich dabei umdrehen. Er sieht die Handschellen. Das kann nicht wahr sein, das darf er nicht zulassen. Augenblick! Ja, klar! Das Parfüm. »Herr Degen. Wenn Sie es sind … weil Sie den Anhörungstermin erhalten haben … wir können mit dem Richter über alles reden. Machen Sie es nicht noch schlimmer. Ich werde Ihnen helfen.«

Ein kurzes Zögern. Seine Chance. Er muss handeln. Das Springmesser liegt in Reichweite auf dem Tisch. Er greift danach. Da schlägt der Maskierte zu, trifft ihn am Kopf. Er taumelt zurück. Das Messer! Der Angreifer ist schneller. Er will es ihm entreißen, fasst in die Klinge. Ein Schmerz. Er zieht die Hand zurück. Gott, der Maskierte hat ihn am Hals erwischt. Er berührt die Wunde, versucht, sie zuzudrücken. Blut läuft über seine Hand. Ein Schmerz in der Brust raubt ihm alle Kraft.

Kapitel 7

Lukas Briest verspürt am Hauptbahnhof Heißhunger auf ein Menü von McDonalds. Er kann sich hundertmal sagen, dass er das Geld morgen braucht, sein Bauchgefühl pfeift darauf. Er hat seit dem Frühstück nichts gegessen und verdammten Hunger. Mit dem Zwanziger hat Windich ihm mehr gegeben als erwartet, also kann er etwas abzweigen. Für ein Menü reicht das Geld nicht, er wird morgen nach dem Vorstellungsgespräch noch etwas brauchen, aber zwei Cheeseburger kann er sich leisten. Er betritt die Filiale und hat Glück, eine Kasse wird gerade geöffnet. Er bestellt die Cheeseburger bei der farbigen Kassiererin und greift in gewohnter Weise in die Jackentasche. Da ist nichts! Sofort bildet sich Schweiß auf seiner Stirn. Er leert alle Taschen auf der Theke aus, versucht, sich zu erinnern, wo er sein Portemonnaie zuletzt aus der Jacke nahm. Natürlich beim Bewährungshelfer, um die zwanzig Euro einzustecken. Nachher hat er es nicht mehr benutzt. Es kann nur bei Windich im Büro sein. Bei dem Theater mit dem Springmesser hat er es liegen lassen. Aber würde sein Bewährungshelfer ihn nicht anrufen? Die Handynummer hatte er ihm gleich beim ersten Gespräch vor einem Monat gegeben. Oder hat Windich es nicht bemerkt? Am Ende hat er das Portemonnaie nicht richtig eingesteckt und unterwegs verloren. Dann ist alles weg, nicht nur das Geld, auch sein Ausweis. Es gruselt ihn vor den Laufereien, den Kosten. Wie soll er morgen nach Dortmund kommen?

»Was ist nun?«, wird er von hinten bedrängt. »Es wollen noch andere dran!«

Er sieht zu der Kassiererin, die über ihn oder die gesamte Situation lacht. Offenbar denkt sie, er wollte ihr imponieren. Trotz seiner Aufregung fallen ihm ihre strahlend weißen Zähne auf. Überhaupt sieht sie gut aus, wenn auch ein bisschen klein. »Ich habe mein Portemonnaie nicht dabei. Es muss mir … bei einem Bekannten … aus der Tasche gefallen sein.« Beim Bewährungshelfer möchte er nicht sagen. »Ich werde es holen, bin gleich zurück.«

Er spürt, wie die schwarzen Augen ihn prüfen.

»Kannst sie bezahlen, wenn du es gefunden hast, okay?« Sie reicht ihm die Cheeseburger.

Er bedankt sich, sieht auf die Uhr. Schon acht. Er rennt los, muss Windich noch im Büro erreichen. Zwischendurch beißt er in einen Cheeseburger, denkt an die Kassiererin, nimmt sich vor, ihr auf jeden Fall das Geld zu bringen. Er verschluckt sich, hustet, pausiert einen Augenblick und läuft weiter.

In der Fußgängerzone versperren ihm Regenschirme die Sicht. Er stößt hier und da an, hört ärgerliche Aufschreie, würde am liebsten zurückbrüllen, um seiner Wut Luft zu machen, rennt aber weiter. Lässt sich nicht aufhalten, von den Fußgängern nicht, die ihm vorhin noch so freundlich erschienen, dem Regen nicht, seiner Wut nicht, die ja verdrängte Tränen sind, wenn er den Therapeuten glauben darf. Die sollten mal in so eine Situation geraten.

Keuchend und durchnässt erreicht er die Bewährungshilfe. Atmet erleichtert auf. Im Büro von Windich brennt Licht. Er kann sein Glück nicht fassen und schellt. Keine Reaktion. Er schellt noch einmal. Da bemerkt er den Keil an der Tür. Der war vorhin nicht da. Windich scheint auf jemanden zu warten. Na, auf ihn bestimmt nicht, oder? Wenn er das Portemonnaie entdeckt hat? Er betritt den Hausflur, steigt die Treppen hoch zur ersten Etage. Etwas sagt ihm, dass er verschwinden sollte, hier nichts mehr zu suchen hat. Das Zittern seiner Lippen als untrügliches Zeichen, dass er dabei ist, sich in Schwierigkeiten zu begeben. Seine Freundin hatte ihn angefleht, keinen Unsinn mehr zu machen. Ihr und seiner Mutter zuliebe hat er den Kontakt zur früheren Clique aufgegeben. Er öffnet die Etagentür, ruft: »Herr Windich?«

Keine Antwort. Das bildet er sich nicht ein, da stimmt etwas nicht. Er bleibt stehen. Warum antwortet Windich nicht? Hat er Besuch? Er erinnert sich an den Moschusduft. Windich und Sex im Büro? Unvorstellbar! Die Fantasie geht mit ihm durch. Warum sollten die Türen geöffnet sein, wenn eine Frau bei ihm ist? Wäre eher ein Grund, alles zu verriegeln. Oder warten sie auf einen Dritten, um gemeinsam was zu unternehmen? Kino, Restaurant, Bowling, Skat, woher soll er das wissen? Gut, dass er den Keil an der Tür nicht weggenommen hat, sonst käme der Nachzügler nicht rein. Er ruft in den Flur hinein: »Herr Windich! Ich bin es, Lukas Briest. Ich habe mein Portemonnaie bei Ihnen vergessen. Möchte es holen, dann bin ich wieder weg.«

Keine Antwort. Das muss er gehört haben. Lukas steht vor dem Büro. Sein Herz klopft. Kein Laut von innen, die Tür angelehnt. Er nimmt allen Mut zusammen, drückt sie auf. Sieht ins Zimmer. Windich am Boden mit leblosen Augen, überall Blut. Er wendet sich ab, schnappt nach Luft. Es kam zu unerwartet. Ein Würgereiz. Er rennt über den Flur zur Toilette, schafft es bis zum Spülbecken. Zwingt sich zur Ruhe. Spült das Erbrochene weg. Sieht alles verschwommen. Nicht schwach werden. Nicht umkippen! Er hat nie einen Toten gesehen. Vor nicht mal einer Stunde saß er Windich gegenüber. Wie oft hat er versucht, sich den Tod vorzustellen. Nicht mehr da zu sein, kein Denken, kein Fühlen. Er muss etwas unternehmen. Den Notruf wählen: Eins, eins, null oder eins, eins, zwei. Er nimmt sein Handy in die Hand.

Soll er wirklich anrufen? Windich könnten sie nicht mehr retten, aber er müsste auf sie warten, ihnen Rede und Antwort stehen. Sie würden ihm nicht glauben, nichts würden sie ihm glauben, einem Süchtigen, sie würden ihm nachweisen, dass Windich mit seinem Springmesser ermordet wurde. Erklärungen könnte er sich sparen. Er überlegt zu fliehen, um nicht in den Mord hineingezogen zu werden. Dabei wird ihm klar, dass er mitten drinsteckt. Er darf seine Sachen auf keinen Fall bei dem Toten lassen. Wie viele sitzen wegen eines Indizienprozesses im Knast, bei denen sich erst nach Jahren ihre Unschuld herausstellt.

Seine Gedanken springen zu dem Moschusduft. Der Mörder hatte sich versteckt, um mit Windich allein zu sein. Warum der Keil an der Tür? Ein Versehen? Oder hatte der Täter sein Portemonnaie entdeckt und gedacht, dass er zurückkommt und sich verdächtig macht? Lukas geht zurück zum Büro. Sieht Windich, das Blut, die leeren Augen. Einstiche am Hals und im Brustraum. Auf dem Toten liegt sein Springmesser, blutverschmiert, auf dem Boden daneben sein Portemonnaie. Er kann sich nicht überwinden, die Sachen an sich zu nehmen. Du nimmst sie mit, befiehlt sein Kopf. Der Körper weigert sich, rührt sich nicht von der Stelle. Musste ihm das Messer aus der Tasche fallen? Bis dahin war alles gut verlaufen. Es ist nicht mehr zu ändern. Er muss handeln, gibt sich einen Ruck. Nimmt das Messer, das Portemonnaie. Blut an seinen Händen, dem Shirt, der Jacke. Er rennt über den Flur zum Waschbecken. Dreht das Wasser auf, hält die Sachen unter den Strahl. Das Blut abwaschen, den Ekel abwaschen.

Die Glastür knarrt. Jemand ist auf dem Flur. Das hat ihm noch gefehlt. Das Wasser aus. Ruhig verhalten. Der Täter ist zurückgekommen, um die Leiche wegzuschaffen, deswegen der Keil. Ist doch klar. Warum hat er nicht daran gedacht? Nur raus hier, bevor der Mörder ihn erwischt. Der kann keinen Zeugen brauchen. Lukas hastet aus dem Bad zum Ausgang. Erkennt die hübsche Kanzleikraft mit den blonden Locken im Flur mit Jeansjacke, buntem Pulli, kurzem Rock über Leggins und Stiefeletten. Bleibt verdutzt stehen und starrt sie an. Sie kann Windich unmöglich umgebracht haben. Er betrachtet ihre nassen Sachen. Sie ist durch den Regen gelaufen, dämmert es ihm. Was will sie hier? Eine Verabredung. Das wird es sein. Deswegen war Windich bei dem Gespräch so abwesend. Er erschrickt bei dem Gedanken an den Toten.

»Was ist los?«, ruft sie. »Sagen Sie mir, was los ist!«

Lukas kommt sich vor wie in einem Albtraum. So sehr er sich wünscht, aufzuwachen, die Frau steht vor ihm und erwartet seine Antwort. »Ich war's nicht! Ehrlich, ich war's nicht! Sie müssen mir glauben. Es tut mir wahnsinnig leid. Ich kann nichts dafür. Ich habe nichts damit zu tun.«

»Womit haben Sie nichts zu tun? Was tut Ihnen leid? Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.«

Woher soll sie wissen, was passiert ist? Er muss sie aufhalten. Auf keinen Fall darf sie zu Windich. »Gehen Sie nicht zu ihm! Kommen Sie mit! Raus hier!« Er will ihre Hand nehmen, sie mitreißen. Sie weicht zurück, denkt bestimmt, er wäre auf Drogen. Wenn er voll drauf war, haben ihn die Leute so angestarrt. Es liegt an seinen Augen, der Iris, sie glänzt außerirdisch in einem hellen Blau mit einer stecknadelgroßen Pupille in der Mitte. Er hat es selbst im Spiegel beobachtet. Sie hört nicht auf ihn, sondern geht auf Windichs Büro zu. Keine Chance, sie aufzuhalten. Er hetzt aus der Tür, die Treppen runter. Überrennt auf dem Gehweg fast einen älteren Fußgänger, sieht ihn taumeln, sich fangen. Ruft eine Entschuldigung rüber, er habe es nicht gewollt. Rennt weiter mit dem Blick nach hinten, stolpert, stürzt. Rappelt sich wieder auf, humpelt, überwindet den Schmerz, rennt weiter durch die Fußgängerzone zum Hauptbahnhof, um die Bahn nach Herne zu nehmen. Zu seiner Mutter. Erst mit ihr sprechen. Vielleicht kann sie ihm helfen.

 

 

 

Kapitel 8

Nina Reider steigt am Rathaus aus der U-Bahn, um den restlichen Weg zu Fuß zu gehen. Bei dem einsetzenden Regen bereut sie sofort, keinen Schirm mitgenommen zu haben. Mit den hochhackigen Stiefeletten kann sie nicht schnell laufen. Sie ist nicht daran gewöhnt, trägt zu Hause und im Büro nur flache Absätze. Wieso hat sie die Schuhe ausgesucht? Alexander ist nicht der Größte. Ob es ihm gefällt, wenn sie ihm auf Augenhöhe begegnet? Sie muss schmunzeln. Vor dem Restaurant Una Mas schüttelt sie die Wassertropfen aus ihren blonden Locken. Er ist noch nicht da. Bei der Kellnerin nennt sie seinen Namen und wird zu dem reservierten Tisch geführt. Sie bestellt einen Hauswein und erklärt, dass sie mit dem Essen auf den Arbeitskollegen warten möchte. Warum hat sie Alexander von dem Anrufer erzählt, der sich verspäten würde? Sie weiß, wie gewissenhaft er ist, wenn es sich um die Arbeit dreht. Sie hätte dem Anrufer sagen sollen, dass sein Bewährungshelfer nach der Sprechstunde einen wichtigen Außentermin hat. Aber der war aus der Leitung, bevor sie etwas sagen konnte. Nicht mal den Namen hatte sie verstanden. Seit Tagen freut sie sich auf das Essen in dem spanischen Restaurant, hat nach dem Frühstück auf das gewohnte Mittagessen und alle Süßigkeiten verzichtet, um es zu genießen, ohne an ihre Figur zu denken, dann kommt er nicht. Beim Anblick der gefüllten Teller, die an ihrem Tisch vorbeiziehen, läuft ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie versucht, sich abzulenken, indem sie die anderen Gäste betrachtet. Meist Pärchen, dazu eine Gruppe Jugendlicher und Geschäftsleute, die nach der Arbeit gemeinsam essen. Vom Nachbartisch hört sie lobende Worte über die Küche. Schon studiert sie die Speisekarte, bestellt in Gedanken Putenbrust in Mangosoße und Schweinemedaillon mit Rum - Honig Sauce, dazu Tortilla mit Gemüse.

Sie möchte beim Essen nicht allein sein. Dazu ist sie nicht hergekommen. Bei ihrem Pech würde Wolle auftauchen, ihr Exmann. Seit der Trennung vor vier Wochen stellt er ihr nach, verfolgt sie, belästigt sie mit SMS, Mails und Anrufen. Bei WhatsApp hatte sie ihn aus ihrer Freundesliste gelöscht, dann geblockt, um seine blödsinnigen Kommentare und Nachrichten nicht mehr zu erhalten. Kurze Zeit später stand er bei Rewe hinter ihr, tat so, als wäre es das Normalste auf der Welt, ihr beim Einkaufen zu helfen. Was sie natürlich ablehnte und er zum Anlass nahm, sie in übelster Weise zu beschimpfen. Sie wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Nicht an Wolle denken, sagt ihr Verstand, doch der bringt sich ihr ständig ins Gedächtnis. Heult sich bei seinen Freunden aus, die sie mit Berichten quälen, wie sehr er unter der Trennung leidet. Alles will er bei einer zweiten Chance ändern. Absoluter Unsinn. Wer einmal eine Frau schlägt, der tut es immer wieder. Sie würde nach und nach ihre Selbstachtung verlieren, bis es für sie normal wäre, von ihm erniedrigt zu werden und sich bei seinen reumütigen Entschuldigungen im Bett zu versöhnen. Diese Art von Liebe braucht sie nicht. Versteht auch seine Freunde nicht, die sich für die Vermittlerrolle hergeben.

Um zwanzig Uhr fragt sie sich, ob es zu viel von Alexander verlangt ist, bei der ersten Verabredung halbwegs pünktlich zu sein? Sie ist enttäuscht, würde ihm Vorwürfe machen, wenn er jetzt hereinkäme. Bringen würde es nichts. Er wäre gereizt von einer überfüllten Sprechstunde, sie von der Wartezeit. Der Abend wäre gelaufen. Sie winkt die Bedienung heran, bezahlt und verlässt das Restaurant. Beim Rathaus bleibt sie stehen. Kann er ein anderes spanisches Restaurant gemeint haben, vielleicht das Tapas im Bermuda3eck? Oder konnte er den Anrufer nicht abwimmeln? Sie möchte wissen, ob er noch im Büro ist, wird zu Fuß dahin laufen, um sich abzuregen. Unterwegs erinnert sie sich an ihre erste Begegnung mit Alexander.

Udo Fröbel, ein Kollege, hatte ihn ihr in der Dienstbesprechung als seinen früheren Praktikanten und jetzigen Chef vorgestellt, dabei das Gedicht von Tucholsky: An einen Bonzen zitiert und gelacht. Sie hatte die Spannung kaum ausgehalten. Alexander hatte ihr mit knallrotem Gesicht die Hand gereicht, dabei mit dem Arm den Kaffeepott umgeworfen. Der Kaffee hatte sich auf seiner grauen Hose und dem Boden ausgebreitet. Es tat ihr leid, wie er so begossen dastand und sie durch seine runden Brillengläser anstarrte, während Udo Fröbel einen Lachanfall kaum beherrschen konnte. Sie holte die Papierrolle und half Alexander beim Aufwischen.

In den folgenden Gesprächen entdeckten sie die gemeinsame Leidenschaft für Musicals, überlegten, mit anderen Mitarbeitern eine Aufführung in der Nähe zu besuchen. Leider zeigten die Kollegen nach anfänglicher Zustimmung kein Interesse mehr. So wurde nichts daraus. Die Einladung zu dem Essen erhielt sie erst vor einer Woche, nachdem sie ihm von der Trennung und ihrem Umzug zu ihrer Freundin Anna erzählt hatte. Alexander bat sie, das Treffen vor den anderen geheim zu halten. Sie hielt sich daran, weihte nur ihre Freundin Anna ein. Bis heute Mittag! Beim Kaffeetrinken rutschte es ihr heraus. Natürlich bat sie die anderen, es für sich zu behalten. Wie konnte sie so naiv sein? Nichts verbreitet sich schneller im Büro, als wenn es unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt wird. Sie werden es Alexander todsicher während der Sprechstunde gesteckt haben. Fehlt noch, dass er deswegen nicht erschienen ist. Weil er Gerüchte befürchtet, als Dienststellenleiter mit einer Angestellten auszugehen, vielleicht sogar mit ihr ins Bett zu gehen. Sie kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Ist schon besser, wenn nichts draus wird. Sie hat sich nicht von ihrem eifersüchtigen Mann getrennt, um in das nächste Fettnäpfchen zu treten. Wenn Alexander aus seinem Leben einen Privatsafe machen will, ist er bei ihr falsch. Sie kann nichts für sich behalten, irgendwann rutscht es ihr heraus. Sie hat auch keine Lust, wegen so was ständig mit einem schlechten Gewissen herumzulaufen. Nein, auf so eine Beziehung kann sie verzichten, fragt sich, ob sie nach dem Drama mit Wolle überhaupt schon wieder zu einer Partnerschaft bereit ist. Sicher hat sie sich über die Einladung von Alexander gefreut, aber ihr Zusammenleben mit Anna wird sie deswegen nicht aufgeben. Sie fühlt sich unbeschwert wie in ihrer Jugend, braucht sich niemandem gegenüber zu rechtfertigen, wenn sie später nach Hause kommt oder allein sein möchte. Sie kann tun und lassen, was sie will, fühlt sich auch körperlich zu Anna hingezogen, hat sich nur noch nicht getraut, es der Freundin zu sagen. Sie nimmt die anderen Fußgänger mit den Schirmen wahr und sieht an sich herunter. Die Jeansjacke, der kurze Pulli, der Rock, die Leggins, alles feucht. Warum musste sie ihren Twingo vor der Tür stehen lassen? Sie erreicht die Dienststelle. Zittert vor Kälte. In Alexanders Büro brennt Licht. Das einzige Büro, in dem Licht brennt. Sie kann die Männer nicht verstehen. Entweder krankhafte Eifersucht oder völlige Gleichgültigkeit. Nur weil sie eine Andeutung gemacht hat, bleibt er in seinem Büro hocken, um den Beleidigten zu spielen. Oder? Nein, der Anrufer vom Mittag kann nicht mehr da sein. Sie nimmt den Keil am Eingang wahr. Da kann jeder hereinspazieren, obwohl die Sprechstunde längst vorbei ist. Es ist ihr unheimlich. Können die anderen nicht zumindest die Haustür ins Schloss ziehen, wenn sie die Dienststelle verlassen? Gibt es keine Verantwortung mehr? Sie zögert, überwindet sich und steigt die Stufen herauf. Drückt die Glastür auf. Auf der Toilette brennt Licht. Alexander? Ist er krank? Braucht er Hilfe? Sie wartet einen Augenblick. Die Kleidung klebt an ihrem Körper. Sie verschränkt automatisch die Arme über der Brust. Wie aus dem Nichts steht ein junger Mann vor ihr. Sie erschreckt sich zu Tode. Starrt ihn an. Die rotblonden, struwwelige Haare, die unter der blauen Kappe hervorgucken, kommen ihr bekannt vor. Sie hat ihn schon bei Alexander gesehen. Er war mit seiner Freundin in der Sprechstunde, einer Dunkelhaarigen mit strahlend blauen Augen. Wie ist sein Name? Sie hatte die Akte angelegt, geht in Gedanken alle Vornamen durch, fängt bei A im Alphabet an. Dabei sieht er sie an, als hätte er mit dem Tod getanzt. Wie versteinert steht er da. Sie entdeckt das Blut an seiner Jacke, unterbricht ihre Namenssuche. »Was ist los? Sagen Sie mir, was los ist!« Sie schreit es fast, möchte ihn schütteln. Er bewegt sich auf sie zu.

»Ich war's nicht. Ehrlich. Ich war's nicht. Es tut mir wahnsinnig leid. Ich kann nichts dafür. Ich habe nichts damit zu tun.«

»Alexander!« Sie dreht sich zum Büro. »Was ist mit ihm?«

»Gehen Sie nicht dahin. Kommen Sie mit. Raus hier.« Er will ihre Hand nehmen, sie mitreißen.

Sie weicht ihm aus, geht mit schnellen Schritten zum Büro, nimmt dabei wahr, wie er fluchtartig die Etage verlässt.

Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie erreicht den Eingang. Sieht Alexander am Boden, die leeren Augen. Die Wunde am Hals. Läuft zurück, die Treppen runter, raus aus dem Gebäude, ihm hinterher. »Wo ist er? Wo ist er hin?« Auf der Straße wird sie von Fußgängern aufgehalten.

»Tot! Der Bewährungshelfer ist tot!« Sie zeigt auf das Fenster im ersten Stock. »Er hat ihn umgebracht. Er kann nicht weit sein. Wir müssen hinter ihm her.«

Die Fußgänger reden beruhigend auf sie ein. Sie hätten den Flüchtenden beobachtet, wie er einen älteren Passanten fast umrannte, sich entschuldigte, dabei selbst stürzte, sich aufraffte, weiterlief. Er sei über alle Berge. Sie alarmieren über ein Handy Polizei und Notarzt, bitten Nina zu warten.

Sie setzt sich auf die Treppe. Nimmt wahr, dass es aufgehört hat zu regnen. Ist das wichtig? Sie sieht in besorgte Gesichter, die sich um sie versammelt haben. Plötzlich kommt Bewegung hinein. Sirenen, Uniformen. Polizeibeamte stellen Fragen. Gehen mit ihr zusammen in die Dienststelle, steigen die Stufen hinauf. Das Büro. Das Blut überall. Eine Fliege auf dem Gesicht. Sie reißt sich los, läuft zur Toilette, schafft es nicht. Übergibt sich auf dem Weg. Ein freundlicher Arzt setzt ihr eine Spritze. Etwas Beruhigendes. Fragt, ob sie jemanden anrufen möchte. Sie könne in ihrer Verfassung nicht mehr fahren.

»Anna Meinold«, erwidert sie. »Meine Freundin. Wir wohnen zusammen.« Muss sie ihm sagen, dass sie mit der Bahn gekommen ist? Nein, er braucht es nicht zu wissen. Sie nimmt ihr Handy, wählt die Nummer. Bittet die erstaunte Freundin, sie von der Bewährungshilfe abzuholen. Ihr fällt keine Erklärung ein, nur, dass etwas Schreckliches passiert ist. Kaum hat sie das Gespräch beendet, stellt sich der Beamte der Mordkommission als Christian Kramer vor. Dunkelblonde Haare, dunkle Lederjacke, Jeans. Sie sieht in hellgrüne, wache Augen, erzählt ihm, dass sie mit dem Bewährungshelfer verabredet war. Als er nicht kam, lief sie hierher, um nach ihm zu sehen. Sie fand ihn tot im Büro. Er fragt, ob sie etwas beobachtet hat. Beobachtet. Hat sie etwas beobachtet? Sie überlegt die Bedeutung des Wortes.

»Ja, tatsächlich. Der Klient wollte mich hindern, zum Büro zu gehen … dann flüchtete er aus der Dienststelle. Ich lief ihm nach … er war schneller. Hatte auf der Straße fast einen alten Mann umgerannt. Die Fußgänger haben es mir gesagt.«

»Haben Sie ihn erkannt?«, unterbricht Kramer mit ruhiger Stimme.

»Ein Klient von Alexander … ich meine von Herrn Windich. Ganz sicher. Ich habe ihn verfolgt. Sie haben ihn laufenlassen.«

»Wer hat ihn laufenlassen?«, fragt Kramer freundlich nach.

»Die Fußgänger auf der Straße.« Warum versteht er sie nicht? Drückt sie sich unverständlich aus? Ihr Kopf dröhnt. Die feuchte Kleidung klebt am Körper, sie versucht, daran zu ziehen. Schließt für einen Moment die Augen. Spürt, wie der Beamte sie stützt, einen Stuhl heranschafft, sie daraufsetzt. Seine Fürsorge gefällt ihr. Sie löst ihre verkrampfte Haltung.

»Können Sie sich an seine Worte im Flur erinnern? Sie sagten, dass er sie hindern wollte, ins Büro von Herrn Windich zu gehen.«

Sie öffnet die Augen, sieht Kramer an. »Nur raus hier oder so ähnlich. Er meinte, dass er nichts damit zu tun habe. Dabei hatte er Blut an seiner Jacke.« Sie betrachtet den Polizisten mit dem intensiven Blick, der athletischen Figur.

»Gibt es einen Dienststellenleiter, den wir anrufen können?«, fragt er.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739450285
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Gericht Schuld Mordkommission Psychologie Spannung Beziehung Marler Bewährungshilfe Ruhrgebiet Kramer Krimi Thriller

Autor

  • Peter Märkert (Autor:in)

Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und wohnt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen und arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Die Erfahrungen verarbeitet er in seinen Kriminalromanen, die im Ruhrgebiet zwischen JVA, Drogen, Mord spielen und in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt.
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Titel: Schweigen ist Tod