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TEUFELSJÄGER: Die 9. Kompilation

„Diese Kompilation beinhaltet die Bände 41 bis 45 der laufenden Serie!“

von Wilfried A. Hary (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: TEUFLSJÄGER Kompilation, Band 9

Zusammenfassung

TEUFELSJÄGER: Die 9. Kompilation W. A. Hary: „Diese Kompilation beinhaltet die Bände 41 bis 45 der laufenden Serie!“ Kompilationen sind Sammlungen mehrerer Romane in einem Buch. Das gibt es auch für die Serie TEUFELSJÄGER Mark Tate. Enthalten in dieser Sammlung: 41 »Im Dunkeln hockt das Grauen« W. A. Hary 42 »Dämon ohne Gesicht« W. A. Hary 43 »Der Teufel kommt selten allein« W. A. Hary 44 »Im Hause des Grauens« W. A. Hary 45 »Geisterschatten fallen düster« W. A. Hary

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Titel

Wichtiger Hinweis

Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Seit Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band (siehe Druckausgaben hier: http://www.hary.li) ist jederzeit nachbestellbar.

TEUFELSJÄGER

Die 9. Kompilation

W. A. Hary: „Diese Sammlung beinhaltet die Bände 41 bis 45 der laufenden Serie!“

Enthalten in dieser Sammlung:

41 »Im Dunkeln hockt das Grauen« W. A. Hary

42 »Dämon ohne Gesicht« W. A. Hary

43 »Der Teufel kommt selten allein« W. A. Hary

44 »Im Hause des Grauens« W. A. Hary

45 »Geisterschatten fallen düster« W. A. Hary

Impressum

Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de

ISSN 1614-3329

Copyright dieser Fassung 2018 by www.HARY-PRODUCTION.de

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

www.HaryPro.de

eMail: wah@HaryPro.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.

Covergestaltung: Anistasius

TEUFELSJÄGER 041

Im Dunkeln hockt das Grauen

W. A. Hary:

„…aber dort bleibt es nicht - garantiert!“

Der Friedhof lag im Schatten der Nacht. Er war klein und unbedeutend für Helsinki, der Hauptstadt von Finnland, aber nicht für das Böse, das ihn zu seinem Zentrum erko­ren hatte.

Und da geschah es. Am Himmel erschienen dräuende Wolken. Sie hingen so tief, als würden sie jeden Augenblick herunterstürzen, um alles unter sich zu begraben - die Lebenden und die Toten. Ein Sturm kam auf, peitschte die Trauerweiden, die Büsche, die Sträucher, warf Blumenstö­cke um und wirbelte raschelndes Laub über die engen Pfade zwischen den Gräbern. Ein Grollen erschütterte die Erde.

Vielerorts hoben die Menschen lauschend die Köpfe. Sie spürten ein Schaudern, ohne es sich erklären zu können.

Aber es blieb nicht bei dem unterirdischen Grollen. Der Laut schwang empor, erwuchs zu einem wahren Erdbeben, das jedoch auf den kleinen Friedhof beschränkt blieb. Wie war das möglich? Was verursachte das Grauen?

*

Niemand war zu sehen, bis sich ein mächtiger Schatten auf den Friedhof nieder senkte. Er ge­bot dem Sturm Einhalt und befahl der Erde, sich zu öffnen.

Knarrend bildete sich ein Spalt. Felsen zersplitterten. Die Friedhofserde wurde von Rissen übersäht. Der Spalt öffnete sich weiter, bis er die ersten Gräber berührte. Dort bewegte sich et­was. Es kreuchte und fleuchte wie Ungeziefer. Der Schatten wurde intensiver. Ein erneutes Beben erschütterte die Erde. Es mischte sich lautes Klagen dar­ein, das seinen Ursprung direkt in der Friedhofserde hatte. Der Spalt war breit genug und dennoch öffnete er sich weiter, diesen berstenden, knackenden, knarrenden und schließlich donnernden Laut des Grauens hervorrufend.

Da, eine Knochenhand schob sich aus dem Spalt, zitternd und zaudernd zunächst, aber gleich zielsicherer. Sie fand Halt und zog den Körper eines Toten nach. Knurrend schlug er um sich, als müsste er sich gegen etwas wehren. War es der mächtige Schatten, der die Toten in ihrer ewigen Ruhe störte und zu etwas antrieb, was sie selber nicht woll­ten? Die Toten mussten sich erheben. Dazu waren sie ver­dammt. Der schwarze Schatten verkörperte das Böse und entweihte den Friedhof.

Der Tote kletterte vollends aus dem Erdspalt. Ihm folgte ein Schreckensheer von Leichen, die teilweise schon viele Jahre unter der Erde gelegen hatten.

Der erste Blitz zuckte vom Himmel. Er überzog das Firmament mit einem glühenden Adernetz und konzentrierte seine Energien auf den Friedhof.

Hundert Tote hatten die Gräber verlassen. Mehr brauchte das Bö­se nicht. Die Energien fuhren in die Toten hinein und ver­wandelten sie. Als würde man Tarnkappen über sie werfen, verschwand der Eindruck, dass es sich um Leichname handelte, die vom Bösen beseelt wurden. Sie bekamen ihr menschliches Aussehen zurück. Mehr noch als das: Sie wirkten wie Zeitgenossen, denn selbst die Kleidung war auf das Heute abgestimmt.

Jenseits des Friedhofes stand ein Mann, der dies alles beobach­tete und vor sich hin murmelte: »Ich danke euch allen, Brüder und Schwestern, die ihr wie ich in der Schwarzen Mafia verbunden seid. Mit eurer Macht habt ihr das Heer geschaffen, mit dem ich in den Krieg ziehen will. Ich habe euch versprochen, Helsinki für das Böse zurückzuerobern, nach­dem es als Bastion der Schwarzen Mächte dank Mark Tate und seinen Freunden verlo­ren gegangen ist. Dunkel senkt sich über die Hauptstadt von Finnland - und in diesem Dunkel hockt das Grauen!«

Kaum hatte er ausgesprochen, als sich der Höllenspalt wieder schloss. Erneut raste ein Sturm über den Friedhof. Er brandete gegen die hundert Untoten an, ohne sie umwerfen zu können. Ihre Gesichter waren bleich und ihre Augen wirkten gläsern. Sonst konnte man sie nicht von Lebenden unterscheiden. Die Erde wurde geglättet, die Risse wurden verkittet. Danach sah alles wieder so aus wie vordem. Selbst die Wolken verzogen sich. Etwas Grauenvolles war ge­schehen und kein Mensch ahnte etwas davon.

Das Schreckensheer setzte sich in Marsch und stieß auf seinen Hauptmann: Per Brake, der dä­monische Gesandte der Schwarzen Mafia. Sie waren be­reit zur Rache und Per Brake übermittelte ihnen auf lautlose, ja gespenstische Art und Weise die Details seines grausamen Planes...

*

Alle hundert waren in Gruppen auf gespalten. Per Brake befand sich bei einer der Gruppen. Die Verständigung erfolgte mittels Schwarzer Magie. Denn Per Brake war ein Magier. Falls er hier in Helsinki Erfolg hatte - woran er keine Sekunde zweifelte -, avan­cierte er innerhalb der Schwarzen Mafia zum Schwarzen Don und mächtigsten Magier - von Finn­land. Damit würde Finnland in­offiziell von der Schwarzen Mafia ausgebeutet werden.

Per Brake knirschte mit den Zähnen. Ein großes Ziel. Zuerst aber musste er das Chaos in Hel­sinki säen, damit jedermann wusste, zu was er fähig war. Nach dieser Nacht des Schreckens würde er seine Macht ausbauen und Forderungen an die Mächtigen stellen. Der Triumph und der Sieg waren ihm gewiss. Daran würden auch Tab Furlong und seine Frau Kathryn nichts ändern, die sich als Vertreter der weißmagischen Gruppe um Mark Tate in Helsinki befanden.

Per Brake orientierte sich kurz. Dann gab er das Zeichen. Alles musste auf die Sekunde genau hinhauen. Das ergab die größten Erfolgsaussichten in diesem ent­scheidenden Vorspiel.

Die ersten Untoten stürmten aus der Deckung über den freien Platz. Es war eine Kleinigkeit ge­wesen für sie, durch den gesi­cherten Zaun zu kommen. Jetzt erfolgte die letzte Hürde. Das war nicht so ungefährlich, denn die Zentrale der Energieversorgung wurde seit dem Terroranschlag im letzten Jahr überwacht. Damals war es Terroristen gelungen, alle fünf Elektrozentralen lahm zu legen und Helsinki in das Chaos zu stürzen.

Per Brake lachte schadenfroh. Die ganze Bewachung würde nichts nützen und das Chaos würde diesmal noch schlimmer werden.

Das Summen der Hoch­spannung verfolgte die beiden Untoten. Ungeheure Energien flossen in den Drähten über ih­nen. Ausnahmslos endeten sie in dem weitläufigen Gebäude. Hier war eine der wichtigsten Elektro­hauptzentralen. Ein Großteil von Helsinki, der Hauptstadt Finn­lands, wurde von hier aus ver­sorgt. Ja, das war goldrichtig für die finsteren Pläne der Schwarzen Mafia.

Die beiden erreichten das Ein­gangsportal. Per Brake wunderte sich schon, wieso noch nichts passierte. Der Platz, an dem frü­her der Wächter gestanden hatte, war leer. Keiner der heute vor­handenen Wächter befand sich auf dem Präsentierteller. Man hatte nur deshalb so lange gezö­gert, um zu sehen, ob noch ande­re nachfolgten. Gewiss standen jetzt die Männer in der Wach­zentrale an ihren Infrarot­schirmen und wunderten sich, dass sie niemanden sehen konn­ten. Denn Untote hatten keine Körperwärme und auch Per Bra­ke, der Magier, war für die In­frarotkameras unsichtbar.

Im nächsten Augenblick flammten die Scheinwerfer auf und gossen grelles Licht über das Gelände.

»Halt, stehen bleiben!« rief eine mächtige Lautsprecherstimme über den Platz.

Die beiden Untoten rissen wie gedrillte Soldaten ihre Ma­schinenpistolen hoch und schick­ten eine Garbe in den Lautspre­cher. Es gab einen Kurzschluss. Rauch puffte empor. Und da wurde das Feuer von den Wäch­tern eröffnet.

Per Brake wusste genau, wo die Wächter zu finden waren. Weil er es wusste, war es auch seinen Untoten bekannt. Die Wächter setzten ihre Maschinengewehre ein. Sie feuerten erst auf den Boden vor die beiden laufenden Untoten. Abermals rissen diese ihre Maschinenpistolen hoch. Sie schossen mit einer unglaublichen Präzision. Drei Wächter, die sich nicht tief genug in Deckung ge­drückt hatten, wurden getroffen. Sie kippten über die Brüstung der Wachgalerie und segelten in die Tiefe. Mit einem dumpfen Lauf kamen sie im Hof an. Die anderen Wächter drehten durch, als sie das sahen. Sie hielten ihre Ma­schinengewehre jetzt genau auf die beiden Mörder und zogen den Abzug durch. Die Kugeln trafen ins Ziel, aber Tote können nicht mehr sterben. Die beiden Toten wurden zwar vom Aufprall der Geschosse zu Boden gerissen, doch sie standen sofort wieder auf und liefen weiter. Einer hatte seine Maschinenpistole verloren und hob sie wieder auf.

Die Tür zum Gebäude war ge­schlossen. Sie jagten ihre Kugeln in das Schloss und warfen sich gegen die Tür. Ein Mensch hätte diese brutale und rücksichtslose Gewalt nicht in solchem Maße durchführen können, aber die Untoten waren unempfindlich gegenüber jedem Schmerz und rücksichtslos sich selbst gegenüber. Die Tür wurde von ihnen aufgesprengt. Die beiden liefen weiter.

Die Wächter der Elektrozentra­le schalteten die Alarmsirenen ein und beeilten sich, um den beiden Eindringlingen entgegenzutreten.

Per Brake hörte im Inneren des Gebäudes die Maschinenpistolen seiner Leute knattern und lachte hart. Jetzt löste er sich mit zwei weiteren Untoten aus der De­ckung und rannte ebenfalls über den Platz. Der Rest blieb zurück und gab Feuerschutz. Die Kugeln zischten über sie hinweg und ließen den Verputz des Gebäudes herunterrieseln. Einer der Wäch­ter, die sich noch auf der Galerie befanden, bediente todesmutig sein Maschinengewehr und hielt es direkt auf den Dreiertrupp. Die Geschoßgarbe hämmerte herüber und traf voll ins Ziel. Im gleichen Augenblick wurde der Schütze selber tödlich getroffen und schrie ein letztes Mal. Per Brake wurde von den Treffern umgeworfen. Er stöhnte laut. An drei Stellen waren Kugeln in seinen Körper eingedrungen. Eine Kugel hatte sein Herz durchbohrt. Er knallte die rechte Hand mit der Handflä­che auf die schreckliche Wunde und saugte die Kugel mit ma­gischen Kräften wieder heraus. Sofort schloss sich die Wunde wieder. Der wahnsinnige Schmerz verging, als er es an den anderen Körperstellen genauso machte. Dabei verlor er naturgemäß Kräf­te, doch das konnte sich Per Brake leisten. Er brauchte nur daran zu denken, wie groß das selbst gesteckte Ziel war. Das beflügelte ihn.

Er sprang auf und hetzte sei­nen Untoten hinterher. Sie waren schneller und besser mit den Treffern fertig geworden und hatten im Summen der Anlage fast den Eingang erreicht. Per Brake hetzte in langen Sätzen über den Platz und lief einen Superrekord. Das machte ihm kein Mensch nach. Aber Per Bra­ke war kein Mensch mehr. Er war dabei, vom Magier zum Dämon zu reifen.

Ein einzelner Wächter wagte es, sich der Dreiergruppe ent­gegenzustellen. Er hatte keine Chance. Lautes Rattern zerstörte den Frieden unter den singenden Drähten. Tödlich getroffen sank der Wächter zu Boden. Ohne sich auch nur einen Sekundenbruch­teil aufhalten zu lassen, stiegen die drei über ihn hinweg und stießen das innere Portal auf. Die Türflügel schwangen hinter ihnen wieder zu. Die drei nahmen einen anderen Weg als ihre Vorgänger, denn diese mussten sich um den Rest der Bewachung kümmern.

Der zweite Schub preschte her­an. Per Brake registrierte es nur am Rande. Von oben wurde kein Feuer mehr gegeben. Die Wächter auf der Galerie waren bereits aus­geschaltet.

Die drei rannten den kahlen Gang entlang zur Zentrale und erreichten die Eingangstür. Mit den Füßen traten sie die Tür auf. Hier herrschte keine hektische Betriebsamkeit. Nur drei Männer versahen ihren wichtigen Dienst. Sie saßen im großen Rund des Raumes verteilt, beobachteten Messanzeigen und betätigten Knöpfe und Schalter und Hebel. Sie taten Dinge, von denen die Eindringlinge keine Ahnung hatten. Aber die ungebetenen Gäste interessierten sich auch gar nicht dafür. Sie hatten anderes vor, als eine Informa­tionsbesichtigung zu veranstal­ten. Die drei Angestellten hatten die Schüsse sehr wohl gehört. In ihren Gesichtern stand die nackte Angst. Bis jetzt hatten sie gehofft, dass die Bewachung stark genug war. Jetzt sahen sie sich ge­täuscht. Wieder zogen die Unto­ten die Abzüge der Maschinenpis­tolen durch.

Per Brake brüllte begeistert: »Wir haben massenhaft Zeit. Macht alles kurz und klein.« Sie ballerten wild in die Anlage hin­ein. Meterlange Stichflammen schossen aus der aufplatzenden Verkleidung. Einer der Untoten kam zu nahe und wurde vom Feuer erfasst. Er grollte abgrund­tief. Per Brake hätte ihm vielleicht helfen können, aber er sah wenig Sinn darin. Kalt lächelnd schaute er zu, wie einer seiner Kämpfer im Feuer verging. Am Ende blieb nur noch ein Häufchen Asche übrig - und eine Maschinenpistole, die nun keinem mehr gehörte.

Das Grauen griff weiter um sich. Per Brake konzentrierte sich auf die anderen vier Kommandos. Synchron hatten sie die restli­chen Anlagen, in und um die Stadt verteilt, angegriffen. Überall waren die Sirenen aufgeheult. Und in Helsinki gab es totalen Stromausfall. Außer in den Kran­kenhäusern und in anderen wichtigen Institutionen, die sofort auf Notstromaggregate um­schalteten.

So ein Notstromaggregat hatte auch der Rundfunk. Über Radio hörte man die nervöse Stimme eines Sprechers: »Bitte, keine Panik, verehrte Helsinkier. Den­ken Sie an die Ereignisse von vor einem Jahr. Leider ist schon wieder in Helsinki der Strom aus­gefallen. Bleiben Sie bitte daheim in Ihrer Wohnung und verschließen Sie Fenster und Tü­ren.«

Per Brake hatte kein Radio. Trotzdem wusste er von der Radiosendung. Hier waren sie noch nicht fertig. Noch hätte man die Anlage reparieren können. »Die Handgranaten«, brüllte er. Diese beiden Worte wurden auch von den Untoten in den anderen vier Elektrozentralen verstanden. Er übermittelte sie ihnen auf ma­gische Weise. Jeder der Untoten hatte Handgranaten dabei. Sie wurden gezündet und strategisch verteilt. Ihre Ladungen hatten eine Verzögerung von mehr als die üblichen fünf Sekunden. Da­für war die Sprengkraft höher. Die Untoten agierten im Auftrag der Schwarzen Mafia und in dieser Organisation gab es für alles Spezialisten, die sich nicht auf Zufälle einließen. Die Schwarze Mafia schlug noch ein­mal zu. Ausführende waren die lebenden Toten, die in dieser Nacht ihren Gräbern entstiegen waren, weil man ihre ewige Ruhe unterbrochen hatte. Jetzt rannten sie. Mitten unter ihnen war Per Brake. Er freute sich auf das Feu­erwerk.

Kaum hatten sie das Ende der Absperrung erreicht, als das Ge­bäude der Elektrozentrale hoch­ging. Mehrere Detonationen vermischten sich zu einem grollenden Konzert der Vernich­tung. Die Mauern platzten aus­einander, das Dach wurde weggefetzt, um einer Feuersäule Platz zu machen, die zum Himmel raste. Drähte, die von Überland kamen und noch Energie führten, klatschten zusammen und erzeugten ein Feuerwerk beson­derer Art. In der Folge fiel ein Teil der Stromversorgung auch im Hinterland aus.

Per Brake betrachtete das Feu­er. Es spiegelte sich in seinen grausamen Augen wider. Die ersten Gesteinsbrocken regneten nieder, gefolgt von leichterer Asche. Der Rauchpilz über dem kläglichen Überrest der stolzen Elektrozentrale wurde vom Wind erfasst und über die Stadt ge­trieben. Per Brake genoss es mit seinem teuflischen Gemüt. Ein Gesteinsbrocken traf ihn am Schädel und erzeugte nicht ein­mal eine Schramme. Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte sein schreckliches, grausames, mit magischer Energie angerei­chertes Lachen. Der Wind trug es der Rauchsäule nach und wo es die Ohren von Menschen erreich­te, erzeugte es Angst und Ent­setzen. Per Brake. Das war seine große Nacht - die Nacht des Grauens.

*

»... wird der Ausnahmezustand verhängt. Die Bürger von Helsinki werden noch einmal gebeten, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Militär wurde angefordert, um die Straßen von Helsinki zu überwa­chen. Es handelt sich erneut um einen gut vorbereiteten Terrorakt. Die Terroristen hatten keine Gna­de mit den Menschen, die in den Elektrozentralen arbeiteten. Das Militär wird Notzentralen errich­ten und damit versuchen, die Versorgung der Stadt im Laufe des morgigen Tages wieder einigermaßen zu sichern. Wichtig ist dabei, dass die Bürger nicht in Panik ausbrechen. Sonst vergrö­ßern sie nur das Unglück. Es wird alles getan, die Täter ausfin­dig zu machen. Noch ist nicht be­kannt, ob es sich um die selbe Tätergruppe wie voriges Jahr...«

Yrjö Sibelius schaltete das Radio aus. Das flackernde Kerzenlicht warf taumelnde Schatten über sein Gesicht und verlieh ihm ein gespenstisches Aussehen. Er betrachtete seine Gäste: Kathryn und Tab Furlong.

»Was halten Sie davon?« fragte Sibelius, der Polizeipräsident von Helsinki. Er hatte die beiden Eng­länder dazu überredet, ein paar Tage seine Gäste zu sein.

»Die Schwarze Mafia!« sagte Tab Furlong, seines Zeichens Chefinspektor von New Scotland Yard.

Kathryn, seine Frau, knetete die Hände. »Ja, die Schwarze Ma­fia«, sagte sie tonlos. »Wie heißt es noch im Sprichwort: Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Die Katze heißt in diesem speziellen Fall Mark Tate. Seit Mark in der Dimension Oran verschollen ist, wird die Schwarze Mafia immer dreister. So schwere Geschütze hat sie noch nie aufgefahren. Was hat sie denn vor? Will sie sich in dieser Art an Helsinki rächen?«

Tab Furlong nickte zu ihren Worten. »Die Schwarze Mafia will ein Exempel statuieren und zeigen, wozu sie in der Lage ist. Aber die Mitglieder der Schwarzen Mafia sind im Grunde genommen feige. Ich bin überzeugt davon, dass hinter alldem nur ein einziger Magier steht. Den gilt es ausfindig zu machen.«

»Nur ein einziger Magier?« echote Sibelius erstaunt. Er hatte einen unglaublichen Wandel mit­gemacht - vom ungläubigen Realisten zum Mitstreiter gegen das Böse. Schuld daran waren seine Erfahrungen im Falle Scharlon.

»Und seinen untergeordneten Helfern!« fügte Tab Furlong hinzu. »Das ist typisch für die Vorge­hensweise der Schwarzen Mafiosi. Würden sie auf einmal ihre Macht vereinen, könnten sie die Erde überrollen. Aber das werden sie niemals wagen. Diese Frage darf ich nicht nach den Gesetzen der Logik beantworten, denn so etwas wie Logik besteht bei den Schwarzen Mafiosi nicht. Vielleicht haben sie Angst davor, mit einem solchen ent­scheidenden Schlag die Mächte des Himmels auf den Plan zu rufen? Entscheidend dürfte vor allem auch die Tatsache sein, dass sie aufeinander eifersüchtig sind. Früher hätte ich niemals für möglich gehalten, dass es so et­was wie die Schwarze Mafia über­haupt geben könnte. Jetzt weiß ich es besser und lasse mich dennoch nicht täuschen. Würde die Schwarze Mafia mit einem Schlag die Erde unter ihre Knute zwingen, müssten sich unter ihr Führer herauskristallisieren, auf deren Wort die anderen hören. Das ist nach wie vor undenkbar. Jeder würde gern die Welt beherr­schen und keiner gönnt es dem anderen. Deshalb haben wir Men­schen auch noch eine Chance.«

»Also nur einen einzigen Gegner und seine Helfer«, brummte Sibelius und lehnte sich zurück. »Es ist unglaublich, was dieser einzige alles auf die Beine gebracht hat. Da sind die Terro­risten vom vorigen Jahr wahre Waisenknaben. Und damals hatten wir enorme Hilfe. Der ame­rikanische Präsident war zu Gast. Entsprechend dem wimmelte es nur so von Geheimdienstlern. Wir Polizisten hatten mit der Ange­legenheit relativ wenig zu tun. Ehe wir uns versahen, war der Fall auch schon abgehandelt.« Er schnellte nach vorn wie ein zu­schnappender Raubvogel. »Aber der Ausnahmezustand bedeutet auch, dass wir erneut die Besetzung des Regierungspa­lastes befürchten. Zufällig waren noch einige der Herren und Damen Senatoren anwesend, als das Licht ausfiel.«

»Aber das ist ja entsetzlich!« rief jemand von der Tür her. Es war die Frau von Polizeipräsident Yrjö Sibelius. Minna Sibelius hatte noch immer nicht ganz verdaut, dass es so etwas wie Schwarze Magie und Schwarze Mafia wirklich geben sollte. Sie kam nä­her.

Ihr Mann sagte: »Ich muss mit Ihnen rechnen können, Herr und Frau Furlong. Hören Sie? Es gibt in dieser Stadt nur zwei Experten, was Schwarze und Weiße Magie betrifft. Das sind Sie. Und kom­men Sie mir nicht mehr mit Mark Tate. Er hat mit diesem Fall nichts zu tun, weil er wahrschein­lich selber in der Patsche sitzt.«

Die Furlongs standen auf. »Wir sind bereit dazu.«

»Und wie gehen Sie vor?«

»Sorgen Sie für ein gutes Funk­gerät und eine Stelle, mit der wir ständig in Verbindung bleiben können. Des weiteren müssen Ih­re Polizisten die Straßen überwa­chen. Und dann machen wir uns auf den Weg, um unseren Gegner zu finden.«

»Brauchen Sie Unterstützung?«

»Nein, Herr Sibelius, vorläufig nicht. Wir werden sie gegebenen­falls anfordern.«

»Viel Glück!«

*

Per Brake brauste mit dem Wagen kreuz und quer durch die Stadt. Er wusste, dass Dunkel­heit allein genügte, um Massen­hysterie und Panik zu erzeugen. In der Nähe des Vergnügungs­zentrums stellte er den Wagen ab. Er war allein und befand sich dennoch ständig im Kontakt mit seinen rund hundert Untoten. Auf der Straße herrschte Getüm­mel. Einige in der Menge be­gannen zu schreien. Die Men­schen wollten der Finsternis ent­rinnen - aber alle in verschie­denen Richtungen. So bildete sich eine Menschentraube nach der anderen. Per Brake begab sich mitten hinein. Er genoss es mit satanischer Freude, war er doch für alles Böse in dieser Nacht verantwortlich.

Jemand setzte ihm seinen Ellenbogen ins Gesicht. Dank sei­ner Magie konnte Per Brake in der Dunkelheit so gut wie am helllichten Tag sehen. Wenn er es nur wollte. Er erkannte die angst­verzerrte Miene des Schuldigen. Der Mann war völlig außer sich und wusste nicht mehr, wo er war und was er tat. So erging es Tausenden. Der Himmel war leicht bedeckt. So drang nicht einmal das Sternenlicht zu ihnen herunter. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen.

Irgendwo machte einer einen schrecklichen Fehler, indem er sich in sein Auto hockte und die Scheinwerfer einschaltete. Die Menschen schrieen auf und jag­ten hinüber wie Motten zum Licht. Per Brake sah die riesigen Schatten, die gegen die Häuserwände geworfen wurden und hörte die Angst und das Ent­setzen. Der Autofahrer bezahlte seinen Fehler mit dem Leben und Per Brake, der Grausame, der Furchtbare, der Gesandte der Schwarzen Mafia, lachte dazu sein schreckliches Lachen. Die Menschen um ihn herum spürten das Böse und wichen erschro­cken vor ihm zurück. Per Brake lachte ihnen ins Gesicht.

Die Scheinwerfer erloschen. Glas zersplitterte. Die Sirenen von Polizeifahrzeugen klangen auf und hallten herüber. Die Streifen­wagen näherten sich rasch. Yrjö Sibelius hatte seine Polizisten ge­schickt, um die Ordnung wieder­herzustellen. Nur Per Brake wusste, dass ihm das nicht gelingen konnte. Die lange Nacht hatte erst ihren Anfang gefunden. Und er lachte abermals. Die Men­schen flohen vor ihm, aber das Lachen holte sie ein. Sie wussten, dass niemand dem Grauen ent­rinnen konnte - dem Grauen, das da rings um sie im Dunkeln hockte. Hundert Untote waren unterwegs, um das Chaos zu vergrößern.

*

Helsinki, schwedisch Helsing­fors, war seit 1812 die Haupt­stadt Finnlands und der absolute Mittelpunkt sowohl in kultureller als auch in wirtschaftlicher Hin­sicht. Und der Mittelpunkt von Helsinki wiederum war der re­präsentative Senatsplatz, von den Einheimischen Suurtori genannt, mit dem Denkmal Zar Alexanders II., gesäumt von der klassizistischen Domkirche, dem Senatsgebäude und der Universität. Auf den breiten Treppen, die zur Domkirche hinaufführten, hatten sich Ungezählte versammelt, um gemeinsam das Ende der Katastrophe mit Namen Dunkelheit abzuwarten. Denn nicht überall brachen die Menschen in Panik aus. Und sie gaben nicht viel auf die Meldungen, dass die Dunkelheit in dieser Nacht besiegt werden konnte. Gemeinsam fühlten sie sich stark. Meistens handelte es sich um Jugendliche. Manche wirkten abgerissen und ver­gammelt. Ein Volk, wie man es in jeder Großstadt antrifft - bei den Brunnen, in den Parks, in den Zentren und Fußgänger­zonen.

Per Brake, der Schwarze Ma­fioso, wusste von seinen Untoten, wie viele Menschen versammelt waren. Das passte ihm gut. Er verließ das Vergnügungsviertel mit dem gestohlenen Wagen und fuhr in Richtung Suurtori. Ob­wohl er es auf einmal eilig hatte, fuhr er einen kleinen Umweg. Er mied die Hauptstraßen, denn dort würde erfahrungsgemäß das Chaos am größten sein. Nach sei­ner Rechnung spaltete sich die Einwohnerschaft von Helsinki nunmehr in drei Hauptgruppen: Die einen würden weisungsgemäß Türen und Fenster verbarrika­dieren und erst einmal abwarten. Die anderen gingen auf die Stra­ße, weil für sie die Einsamkeit ih­rer Wohnung unerträglich war. Die anderen strebten zwar eben­falls nach draußen, aber ihr Mo­tiv war Plünderung, Raub und Mord.

Per Brake knirschte mit den Zähnen. »Die Nacht der Nächte!« knurrte er. Es klang abgrundtief wie aus einem Grab. Er befuhr gerade eine Seitenstraße und trat auf das Gas, um schneller voran zu kommen. Die Häuser rechts und links wurden vom Schein­werferlicht überstrahlt. Keine Menschenseele war zu sehen und der Motor übertönte alles. Als wä­re Helsinki eine tote Stadt. Plötz­lich änderte sich das Bild. Aus einer Einfahrt schoss ein schwe­rer amerikanischer Stra­ßen­kreu­zer und stellte sich quer. Im Schatten des Fahrzeuges spran­gen ein paar Figuren her­um. Per Brake glaubte, ein Messer Sekun­denbruchteile blitzen zu se­hen. Es gab nur eine Alternative: Entweder anhalten oder mit voller Geschwindigkeit gegen den Stra­ßenkreuzer prallen. Aber auch dann würde er nicht weit kom­men.

Per Brake ging mit dem Gas herunter und bremste ab. Darauf hatten die Typen nur gewartet: Ein Plünderungskommando, das auch vor einem Mord nicht zu­rückschreckte. Im Verborgenen, in der Finsternis, in der Deckung des Nachtschattens blühte und gedieh das Verbrechen. Men­schen sahen es als einmalige Ge­legenheit an, sich zu bereichern. Gewiss stiegen allerorten auch Kriminelle in abgesperrte Wohnungen hinein. Wenn der Tag erwachte, würde man die Spuren des Grauens schon se­hen: Erwachender Tag? Per Brake kicherte leise. Er war gespannt darauf, was die Gangster zu tun gedachten. Kaum stand sein Wagen, ging alles sehr schnell. Sie preschten von zwei Seiten heran. Insgesamt waren es etwa fünfzehn, meist im halbwüchsigen Alter. Sie waren mit Schlagstöcken, Fahrradketten und dergleichen bewaffnet. Einige trugen ziemlich lange Messer bei sich und der große Bärtige, der zur Fahrerseite kam, sogar ein altmodisches Schwert, das er bestimmt aus einer Sammlung entfernt hatte.

Per Brake rührte sich nicht von seinem Platz. Die mit den Schlag­stöcken hieben gegen die Wind­schutzscheibe. Sie zerplatzte und die Scherben regneten auf Brakes Schoß. Brake grinste breit. Die Fahrertür wurde aufgerissen. Die Hand des Bärtigen zuckte vor, um Brake zu packen.

Die Beifahrertür war abge­schlossen. Kein Problem für die Killer. Sie schlugen auch da die Scheibe ein und entriegelten die Tür. Wie die Geier warfen sie sich auf Per Brake. Sie schlugen und traten nach ihm und zerrten ihn nach draußen. Eine Taschen­lampe leuchtete ihm ins Gesicht. Im Schein der Lampe glitzerten seine Augen wie geschliffene Dia­manten. Sie sahen diese Augen, ließen sich aber nicht zurück­schrecken. Geübt durchsuchten sie seine Kleidung. Aber er hatte nichts bei sich, was für sie von Wert gewesen wäre. Auch der Wagen war völlig leer. So lange ließen sie ihn am Leben - bis sie zu dieser Erkenntnis gelangt waren.

Alle gingen schweigend und routiniert vor, als hätten sie jah­relang nichts anderes getan. Der Bärtige holte mit seinem Schwert aus, um Per Brake zu erschlagen. Es durfte keine Zeugen dieser ruchlosen und dabei völlig sinn­losen Tat geben. Das Schwert zuckte herunter und traf Per Bra­ke, den Schwarzen Mafioso, am Hals. Ein Laut, als hätte das Schwert Granit getroffen. Von der Wucht des Schlages wurde das Schwert aus den Händen des Bärtigen geprellt. Der Killer, der hinter Per Brake stand, ließ sich auch davon nicht beirren. Er sah den schmalen Rücken von Per Brake vor sich und stieß mit dem Messer zu. Die Klinge drang tief ein. Im nächsten Augenblick wurde sie glühend heiß. Der jungendliche Killer wollte den Griff loslassen und schrie über­rascht. Die Hand ließ sich nicht mehr lösen. Die Hitze stieg sprunghaft und verbrannte seine Hand. Das Metall des Messers verflüssigte sich und tropfte weiß glühend zu Boden. Der Killer schrie wie am Spieß. Der grau­same Schmerz warf ihn um. Er strampelte und schrie.

Die anderen wichen plötzlich vor dem Schwarzen Mafioso zu­rück. Sie hatten erkannt, dass sie an den Falschen geraten waren. Per Brake wollte sie nicht ver­nichten, sondern wollte ihnen nur eine Lehre erteilen. Danach soll­ten sie noch grausamer weiterma­chen. Das war in seinem Sinne. Sie kamen nicht weit. Seine Ma­gie hielt sie auf. Einer zog einen Revolver und richtete ihn auf Per Brake. »Das Schwein mache ich alle!« schrie er. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Der Hammer schlug vor und traf die Patrone. Der Schuss brach. Jeder konnte die Mündungsflamme und den Pulverdampf sehen. Und je­der konnte sehen, dass die Kugel ein kleines Loch in die Jacke von Per Brake stanzte. Vom Aufprall wurde Per Brake herumgerissen. Aber er griff sich an die Wunde und lachte heiser. Als er die Hand öffnete, lag die Kugel darin. Achtlos ließ er sie fallen. Als der Mordschütze erneut den Abzug betätigen wollte, ging das nicht mehr.

Per Brake streckte die Rechte aus. »Her damit!« forderte er auf Finnisch. Der Killer wollte es nicht, doch die Waffe machte sich selbständig und ließ sich nicht mehr halten. Die jugendlichen Verbrecher starrten darauf und wollten es nicht begreifen. Der Revolver schwebte frei durch die Luft und landete in der Hand des Magiers. Er hielt die Waffe hoch, damit auch jeder sehen konnte, was er damit anstellte. Wie vordem das Messer, begann der Revolver zu glühen. Die Patronen, die sich noch in der Trommel befanden, detonierten mit ohren­betäubendem Krachen. Es war, als würde Per Brake mit seiner Hand einen Blitz zum Himmel schicken. Als er die leere Hand herunternahm, war sie unver­letzt.

Per Brake ließ die anderen sein grausames, satanisches Lachen hören. Der Schwerverletzte, der ihn hatte niederstechen wollen, wimmerte längst nicht mehr. Per Brake hatte für ein Opfer gesorgt. Endlich brachten sie ihm den nö­tigen Respekt entgegen. Sie er­kannten das personifizierte Böse und wussten auf einmal, dass sie nicht entrinnen konnten.

»Ihr habt euch bereits ent­schieden, bevor ihr mich getroffen habt«, sagte Per Brake hart. »Ihr habt euch für das Böse entschie­den. Es gibt keinerlei Möglichkeit mehr für euch, dem Satan zu ent­rinnen. Gehorcht!« Per Brake hatte recht. Sie waren rettungslos verloren. »Geht und mehret das Chaos - nicht um euch zu bereichern, sondern um dem Bösen zu dienen, denn diese Nacht gehört dem Bösen allein!« Jetzt ließ er sie allesamt laufen. Schweigend wandten sie sich ab und gingen davon. In ihren Augen brannte das Feuer des Satans, dem sie nunmehr unrettbar gehörten. Sie würden Böses tun bis zu ihrem Tod, dann war der Pakt erfüllt. Die Hölle wartete auf sie.

Per Brake lachte wieder einmal und sein Lachen hallte von den dunklen Hausfassaden wider, bis er in den amerikanischen Stra­ßenkreuzer stieg und davon­brauste. Das Fahrzeug, mit dem er gekommen war, ließ er einfach stehen. Er hatte durch das In­termezzo Zeit verloren, doch das war nicht so tragisch. Die Zeichen auf dem Senatsplatz mit Namen Suurtori standen nach wie vor günstig. Der Untotentrupp warte­te auf ihn.

Kurz nahm er Kontakt mit den Untoten auf. Alles in bester Ord­nung. Und dann gab es noch einen Kontakt mit einem anderen Trupp. Die Falle für Tab Furlong und seine Frau Kathryn, denn mit den beiden hatte Per Brake etwas ganz Besonderes vor. Es galt, ein Exempel zu statuieren. Die Furlongs hatten sich im Kampf gegen das Böse bislang als zu erfolgreich erwiesen. Vor allem hatten sie der Schwarzen Mafia maßgeblich geschadet.

Per Brake dachte gehässig: Ich werde auch ihnen eine Lehre er­teilen - nachhaltig und triumphal! Die Schwarze Mafia wird daran erkennen, was sie an mir hat.

Ja, das waren seine Gedanken. Ähnliche Gedanken, wie sie noch vor wenigen Tagen Scharlon, der mächtige Dämon aus dem Zwi­schenreich der Dämonen, gehegt hatte. Scharlon war gescheitert und von den Furlongs vernichtet worden. Für Per Brake zählte das wenig. Umso größer wertete er seinen eigenen Erfolg, den er so gut wie in der Tasche zu haben glaubte. Denn die Voraus­setzungen waren diesmal ganz anders.

*

Tab Furlong und seine Frau waren mit ihrem Mietwagen un­terwegs. Tab hatte das Steuer übernommen, während seine Frau das Handsprechgerät auf dem Schoß liegen hatte. »Nimm doch mal probehalber Ver­bindung auf«, bat Tab sie.

Kathryn nickte ihm zu und öff­nete das Fenster einen Spalt breit, um die Antenne hinauszu­schieben. »Vögel an Nest«, sagte Kathryn in das Mikrophon.

»Hätten sich auch einen anderen Code aussuchen können«, brummte Tab Furlong missmutig. Er blickte nach vorn durch die Windschutzscheibe. Die Menschen schienen dem Rat der Polizei zu folgen und sich in ihren Wohnungen zu verkriechen. Je­denfalls war hier niemand zu se­hen. Tab fuhr nicht so schnell. Die Scheinwerfer seines Wagens trieben zwei Lichtkegel in die Dunkelheit. Wieder einmal schob sich eine Wolke vor die Scheibe des Mondes und verdeckte ihn ganz. Die Schwärze der Nacht lag wie ein schwarzer Mantel über Helsinki. Tab Furlong erinnerte sich, dass vor mehr als einem Jahr schon einmal das Licht in Helsinki ausgefallen war. Damals war US-Präsident Jimmy Carter ausnahmsweise zu Besuch in der finnischen Hauptstadt gewesen. Eine Terrorgruppe hatte das Kommando über Finnland übernehmen wollen und besetzte das Senatsgebäude. Wie sich die Vorgänge ähnelten! Tab Furlong hatte damals in der Zeitung darüber gelesen. Wie behauptet wurde, hatten der russische und der amerikanische Geheimdienst ausnahmsweise zusammengearbeitet, um der Gefahr zu begegnen, ehe sie sich über die Grenzen von Finnland hinaus zu einer Katastrophe ausweiten konnte. Viele behaupteten sogar, damals habe die Welt ganz dicht vor dem dritten Weltkrieg gestanden. Denn die Terroristen hatten geglaubt, die Russen würden sie unterstützen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass die Russen in Wirklichkeit ihre Afghanistanaktion vorbereiteten und deshalb für so etwas absolut keine Zeit hatten. Mit ihrer gemeinsamen Arbeit mit dem CIA postulierten sie in aller Welt Friedfertigkeit.

Ja, das alles ging Tab Furlong durch den Kopf, als er durch die auf seiner Route leeren Straßen von Helsinki fuhr. Leer waren sie gewiss nur deshalb, weil er sich in den Seitenstraßen hielt. Das war kein Zufall. Er suchte das Böse, das Zentrum der negativen Kräfte, die diesmal für das Grauen verantwortlich zeichne­ten. Das Böse hatte von den Ter­roristen damals gelernt und wendete eine ähnliche Taktik an, um Angst und Schrecken zu ver­breiten. Etwas, womit man nicht hatte rechnen können, denn die Elektrozentralen waren besser be­wacht worden als überall in der Welt. Das Böse hatte damit be­wiesen, wie mächtig es war.

Tab Furlong knirschte mit den Zähnen, während Kathryn ihre Sprachprobe zelebrierte. »Einwandfrei«, kommentierte sie das Ergebnis. Sie bogen um die Ecke. Beide erschraken. Auf der Straße hatte sich eine Menschen­menge versammelt. Sie würden nicht hindurch kommen. Schon wurde man auf sie aufmerksam. Die Leute wurden von den Scheinwerfern geblendet. Ihre Augen hatten sich an das Licht von Taschenlampen gewöhnt. Tab Furlong schaltete um auf Stand­licht. Die Leute winkten ihm zu. Kurz öffnete sich die Front der Versammelten. Tab und Kathryn sahen jemand in verkrümmter Haltung am Boden liegen: eine Leiche! Die rechte Hand war total verstümmelt.

»Mein Gott!« entfuhr es Ka­thryn. Tab Furlong stoppte den Wagen und stieß den Wagen­schlag auf. Er tat es nicht aus Neugierde. Sie waren auf der Su­che. Beide spürten die Anwesen­heit des Bösen, hatten jedoch das Zentrum noch nicht geortet. »Du willst wirklich aussteigen?« erkundigte sich Kathryn ein wenig bang. Sie betrachtete die Versammlung.

»Ja!« erwiderte Tab fest. Ka­thryn wollte nicht allein zurück bleiben. Sie stieg mit aus. Ge­meinsam gingen sie auf die Leute zu. Es wurde Schwedisch geredet. Die Furlongs verstanden kein Wort.

»Was ist denn passiert?« rief Tab in englischer Sprache. Englisch und Deutsch waren die häufigsten Fremdsprachen in diesem Land, in dem ansonsten Schwedisch und Finnisch ge­bräuchlich waren. Lange Zeit bildete Schwedisch die Haupt­sprache, was sich in der Literatur des finnischen Volkes bemerkbar machte. Die ersten rein finnischen Werke entstanden erst im neunzehnten Jahrhundert und stellten auch heute noch mehr oder weniger Ausnahmen dar.

Einer verstand, was Tab Furlong wollte. »Mord!« antwortete er auf Englisch. Kathryn und Tab erreichten ihr Ziel. Irgendwie hatten die Leute Vertrauen zu ih­nen. Bereitwillig zeigten sie die Leiche. Außerdem stand ein Wagen mitten auf der Straße. Die Scheiben waren eingeschlagen. Als sich Kathryn und Tab dem Fahrzeug näherten, spürten sie die magische Ausstrahlung und begriffen, warum die Leute, nicht näher herantraten. Selbst ein völ­lig unbegabter Mensch konnte das Grauen spüren. Wer hatte darin gesessen? Der Teufel persönlich?

»Der Gesandte der Schwarzen Mafia«, murmelte Tab Furlong brüchig. Ja, der Zufall hatte ih­nen diese Begegnung verschafft. »Hat jemand gesehen, was hier vorging?« Die Leute blickten ihn mit bleichen und ängstlichen Gesichtern an. Natürlich wussten sie Bescheid. Sie waren nicht um­sonst hier versammelt. In den Häusern hatten sie es nicht mehr ausgehalten. Der Bote des Grauens war weitergefahren. Wahrscheinlich mit einem anderen Auto. Die Leute standen hier herum, weil sie sich gemein­sam stärker und geschützter fühlten. Eine Frau weinte leise vor sich hin. Ihr Mann legte den Arm um ihre Schultern und tröstete sie mit halblauter Stimme.

»Was ist hier vorgefallen?« frag­te Tab Furlong noch einmal.

Der vorhin schon einmal auf Englisch geantwortet hatte, sagte daraufhin: »Ich stand am Fenster. Sie haben mich nicht bemerkt. Eine Gruppe von jugendlichen Killern stoppte ein Auto und wollte den Fahrer umbringen. Sie hatten keine Chance gegen ihn.« Er ballte die Hände zu Fäusten und blickte sich mit flackerndem Blick um. »Ich - ich habe es deut­lich gespürt. Etwas unsagbar Bö­ses ging von dem Mann aus. Er brachte einen der Killer um und gab den anderen den Auftrag, noch grausamer zu werden, aus­zuschwärmen und das Chaos in der Stadt zu vergrößern.« Er schüttelte sich. »Deshalb sind wir hier. In unseren Wohnungen sind wir hilflos ausgeliefert. Hier draußen sind wir viele und stark.«

Jetzt begriff Tab auch, warum sie beide so bereitwillig aufge­nommen waren. Man stufte sie als gefahrlos ein und wollte durch sie die Einheit vergrößern. Die Angst der Menschen war so groß, dass sie nicht einmal von der Lei­che abgeschreckt wurden. Unbe­wusst hatten sie ausgerechnet diesen Ort ausgesucht.

»Wohin sind die Killer verschwunden?«

Der Mann deutete auf die Stra­ße hinunter. »Sie bringen jeden um, der ihnen begegnet. Davon bin ich überzeugt.«

»Und ich an eurer Stelle würde diese Stelle hier meiden. Wenn die zurückkommen, dann gewiss hierher!« riet Tab.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das glauben wir nicht. Die werden Helsinki durchkämmen, aber diese Straße hier meiden, denn hier haben sie eine Nie­derlage erlitten.«

Nichts sprach dafür und nichts sprach dagegen. Tab zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Wir werden weiterfahren, den Bur­schen hinterher.«

Der Mann schrak zusammen. »Das wollen Sie wirklich wagen? Aber wenn...«

»Keine Sorge. Einer muss sich doch um die Kerle kümmern.« Tab lief zum Auto zurück, dicht gefolgt von Kathryn. Sie stiegen ein. Bereitwillig machten die Leu­te Platz. Einige schüttelten un­gläubig die Köpfe und sahen ih­nen nach. Wahrscheinlich glaub­ten sie, das Ehepaar niemals mehr lebend wieder zu sehen.

Kathryn öffnete mal wieder das Fenster und richtete die Antenne hinaus. »Vögel rufen Nest.« Die Antwort erfolgte prompt: »Nest hört, Vögel kommen.« Kathryn berichtete mit knappen Worten, was sie erlebt hatten und schloss: »Die Kerle sind gefährlich und schrecken vor nichts zurück. Sie bringen alles um, was lebt und sich bewegt.« Der in der Zentrale knurrte: »Dann sind sie ein zu­sätzliches Problem. Es sind die ersten Fälle von Plünderung be­kannt. Diesmal ist es erheblich schlimmer als letztes Jahr. Ich begreife das nicht. Die Helsinkier sind normalerweise ein unge­wöhnlich friedliches Volk.« Tab und Kathryn sahen sich an. Gern hätte Kathryn entgegnet: »Es ist, weil das Böse in der Stadt zu re­gieren beginnt!«, aber sie verkniff sich diese Bemerkung. Der Mann in der Zentrale war nicht in­formiert. Nur Sibelius, der Polizei­chef, wusste Bescheid, dass zweifelsohne die Schwarze Mafia hinter der Aktion steckte. Kathryn sagte in das Mikrophon: »Ende - bis nachher!«

»In Ordnung. Wir werden uns darum kümmern. Danke und Ende vom Nest.«

Tab Furlong gab Gas. Plötzlich wurde er von einer eigenartigen Unruhe erfasst. Unwillkürlich tastete er nach seiner Brust und kratzte sich. Bis es ihm bewusst wurde. Der tätowierte Drudenfuß auf dem Brustbein! Das Zeichen hatte sich leicht erwärmt. Daher dieses unangenehme Kribbeln. Er warf einen Seitenblick auf Ka­thryn. Sie spielte mit ihrem Dru­denstein, hatte ihn vom Hals abgenommen und vor sich auf den Schoß gelegt. »Wir kommen der Sache langsam näher!« schnarrte Tab Furlong. »Vorhin hätten wir fragen sollen, in wel­che Richtung der Magier gefahren ist. Jetzt ist es zu spät, das Ver­säumte nachzuholen. Ob er dieselbe Richtung genommen hat?«

»Der Wagen stand jedenfalls in die andere Richtung«, antwortete Kathryn.

»Hat nicht viel zu sagen.«

»Wir werden sehen!« Sie nä­herten sich dem Vergnügungs­viertel der Stadt. Die ersten Wagen brausten ihnen entgegen. Sie waren teilweise beschädigt. Bei dem einen fehlte sogar die Tür. Sofort setzte sich Kathryn wieder mit der Zentrale in Ver­bindung.

»He, Vögel«, rief der Mann in der Sprechfunkzentrale, »wissen wir alles schon. Aber wir können nicht genügend Leute in das Viertel schicken. Die Straßen von Helsinki müssen alle kontrolliert werden. Wir haben sowieso zu wenig Leute.«

»Aber hier scheint das Zentrum zu sein.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Sonst würde ich es doch nicht sagen«, brummte Kathryn ärger­lich. Nun, die Reaktion des Mannes in der Zentrale war zu begreifen. Er verstand nicht, wieso zwei Engländer hier eine so wichtige Rolle spielen sollten. Zwar hatte Sibelius persönlich Anweisungen gegeben, aber das war an sich nicht Grund genug.

»Fordere Verstärkung an!« bat Tab Furlong keuchend. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Verdammt, hier scheint es tatsächlich zu sein. Kein Wunder, dass die Leute wie die Wahnsinnigen vorgehen. Ich glaube, die zerfleischen sich gegenseitig.« Er bog um eine Kur­ve und hatte mindestens fünfzig Leute vor sich. Sie stürzten sich gerade auf ein fahrendes Fahr­zeug. Von der Wucht des Zu­sammenpralles wurden einige der Angreifer durch die Luft geschleu­dert. Wo sie am Boden aufkamen, rührten sie sich nicht mehr. Der verzweifelte Fahrer des Wagens verlor die Kontrolle über das Steuer und kam von der Straße ab. Er prallte gegen eine Hauswand. Verputz bröckelte. In der Wand zeigte sich ein klaf­fender Riss. Die Angreifer waren heran und stürzten sich abermals auf den Wagen. Ihre Gesichter leuchteten bleich im Licht der Scheinwerfer von Tabs Fahrzeug.

»Bis später!« brüllte Kathryn in das Funkgerät. »Wir werden ange­griffen.« Das war nicht über­trieben. Noch während der verletzte Fahrer mit brutaler Ge­walt aus seinem Wagen geholt wurde, wandten sich die Wahnsinnigen gegen das Ehepaar Furlong. Tab sah ihnen entgegen und spürte, das nicht alle Angreifer Menschen waren. Da waren auch Untote dazwischen. Er spürte es ganz deutlich und unmissverständlich. Tab warf das Steuer herum. Die ersten erreichten den Wagen. Rückwärtsgang. Am Heck krachte und schepperte es. Keinerlei Schreie. Die Angreifer blieben stumm. Mit bloßen Fäusten zertrümmerten sie die Heckscheibe. Vorwärtsgang. Die Fahrertür wurde aufgerissen. Kathryn hielt ihre Tür verzweifelt fest. Mehrere Schläge hatten die Scheibe getroffen, sie jedoch nicht zu zerstören vermocht. Tab war weniger glücklich dran. Aber er konnte sich auch jetzt nicht darum kümmern, denn er musste schließlich lenken. Und er musste Gas geben! Die Räder radierten kreischend über den Asphalt. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Eine Hand wischte herein und verkrallte sich in Tabs Hemd. Aber dadurch kam die Hand auch mit dem tätowierten Drudenfuß in Berührung. Ein markerschütternder Schrei. Der Untote, der Tab vom Steuer hatte wegziehen wollen, brüllte wie am Spieß. Tab sah, dass sich das bisher menschlich wirkende Gesicht veränderte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen zerfiel es. Der blanke Totenschädel leuchtete hindurch. Die Hand glitt ab und löste sich gleichzeitig auf. Tab trat das Gas bis zum Bodenblech durch. Der Wagen kam frei. Die Angreifer jagten hinterher, ohne die Chance, die Flüchtenden einzuholen oder gar aufzuhalten. Das Ehepaar Furlong hatte mehr Glück gehabt, als der unglückliche Fahrer, der vor ihren Augen gestorben war.

»Wir sollten diesem Viertel den Rücken kehren«, murmelte Ka­thryn brüchig. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen ge­bildet. Sie verstand es, sich zu beherrschen, aber Tab wusste, dass Kathryn um ihn entsetzliche Angst gehabt hatte. Kathryn Furlong, geborene Warner, wurde nicht zum ersten Mal mit den Mächten des Bösen konfrontiert, aber sie konnte sich niemals dar­an gewöhnen. Wer denn schon?

»Das geht nicht!« entgegnete Tab Furlong. Das leichte Zittern in seiner Stimme konnte er nicht vermeiden. »Ich wollte, Mark Tate könnte hier sein. Seit er in der ge­heimnisvollen Dimension ORAN verschollen ist, wird die Schwarze Mafia wirklich üppiger. Sie hält sich wohl an uns schadlos.«

»Ja, wir sind in Gefahr, aber wir nicht allein, Tab. Denke an die Menschen von Helsinki, an Finnland, an die Welt... Wenn das Böse in dieser Stadt siegt, dann wird es sich von hier aus ausbrei­ten.«

»Ich habe den Verdacht, dass beim ersten Lichtausfall vor über einem Jahr ebenfalls die Schwarze Mafia daran gedreht hat. Nur wandte sie damals keine Magie an.«

»Laut den Presseberichten war es schlimm genug.«

»Diesmal wird es mit Sicherheit schlimmer. Wer weiß, wie viele Unschuldige in dieser Nacht ihr Leben gelassen haben.« Wütend hieb Furlong auf das Lenkrad. Ja, wir können diesem verfluchten Viertel nicht den Rücken kehren, sondern müssen weiterfahren, dachte er. Hier ist das Zentrum des Bösen. Wir spüren es beide recht deutlich. Wir müssen das Zentrum aufsuchen, um von dort aus die Macht zu brechen. Ob unsere bescheidenen Mittel über­haupt dazu ausreichen?

Noch während sie sich von der Stelle entfernten, wo sie beinahe das Opfer der Angreifer geworden wären, spürten sie, wie sich der Einfluss des Bösen allmählich verringerte. Das war der letzte Be­weis, dass sie zurückfahren mussten. Tab Furlong lenkte den Wagen in eine Seitenstraße. Auf anderem Weg kehrten sie in das Vergnügungsviertel zurück. Das Viertel war nicht so groß, vielleicht deshalb, weil die Helsin­kier nicht so vergnügungssüchtig waren wie andere Großstädter in aller Welt.

Wir werden das Zentrum des Grauens finden.

Kathryn funkte noch einmal mit der Zentrale und gab genauen Bericht. Ihr Gesprächspartner gab sich entsetzt und versprach, sofort Hilfe zu entsenden. Da vorn war ihr Ziel. Tab Furlong bremste ab. Kathryn hob den kleinen Handscheinwerfer und leuchtete nach dem Straßenschild. »Bist du sicher?« fragte sie.

»Ja und du?«

Statt einer Antwort gab Ka­thryn den Straßennamen durch und fügte hinzu: »Wir warten auf die Streifen.«

»In Ordnung und Ende vom Nest.«

Die Straße lag tot und verlassen da. Nichts zeigte sich, nichts rührte sich und alle Men­schen schienen ausgezogen zu sein. Tab und Kathryn kurbelten die Scheiben herunter. Von Ferne wehten Stimmen herüber. Ein Hund klagte in den Himmel. Ein Motor heulte kurz auf. Das war alles. Sonst kein Geräusch. Sonst kein Hinweis darauf, dass Kathryn und ihr Mann wirklich das Zentrum der bösen Macht gefunden hatten. Außer ihrem Gefühl.

Kathryn spielte mit ihrem Dru­denstein. Das war ein ringför­miger Kiesel mit einem kreis­runden Loch, natürlich ge­wachsen und nicht etwa von Menschenhand geschaffen. Der Drudenstein war ein wichtiges Kampfmittel gegen magische Kräfte. Kathryn, selbst mit He­xenkräften ausgestattet, konnte den Drudenstein auch als eine Art Verstärker einsetzen. Sie hob den Stein in Augenhöhe und spähte durch das runde Loch die Straße hinunter. Das Bild verschwomm etwas. Nur ein Teil der Straße wurde kontrastreicher. Obwohl das Scheinwerferlicht na­turgemäß nicht überallhin kam. »Schalte das Licht aus, Tab!« murmelte Kathryn. Tab Furlong gehorchte. Er beobachtete seine Frau. Der Drudenstein begann leicht zu glühen. Kathryns Gesicht spiegelte die Anspannung wider. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf die selbst gestellte Aufgabe. Besonders eines der Häuser war gestochen scharf zu sehen, obwohl die Scheinwerfer nicht mehr brannten und nur der Mond durch eine Wolkenöffnung schaute. Der Drudenstein erzeug­te im Innern des Wagens gespenstisches Leuchten, aber er nahm auch magische Felder auf, die sich drüben bei dem bewuss­ten Haus befanden. Die Öffnung im Stein verstärkte sie. Deshalb konnte Kathryn alles sehen. Sie wollte wissen, was darin vorging, doch der Blick ins Innere blieb ihr verwehrt. Das Haus glitt näher, als würde Kathryn durch ein Fernglas mit »Gummilinse« sehen. Die Hausnummer. Monoton sprach Kathryn sie aus.

Tab nickte dazu, obwohl seine Frau im Moment überhaupt nicht auf ihn achtete. Er blickte in die Düsterheit da draußen und spür­te einen Schauer über seinen Rücken rieseln. Tab Furlong konnte außer den dunklen Häuserschatten überhaupt nichts sehen - selbst jetzt, da sich seine Augen an das spärliche Licht ge­wöhnt hatten. Sein Herz pochte ein paar Takte schneller. Kathryn hatte er einmal mit May Harris, der Lebensgefährtin von Mark Ta­te, verglichen. May Harris war in den letzten Jahren zur fast perfekten Hexe gereift. Sie stand mit all ihren Kräften auf der Seite des Guten. Aber Kathryn war nicht so stark wie May Harris, ob­wohl der Drudenstein schon ein sehr wichtiges Hilfsmittel war. Sie hatte ihn von ihrem ersten Mann geerbt. Dieser war einen Pakt mit dem Satan eingegangen und hatte Kathryn mit Reichtum und ewiger Schönheit beschenkt. Sei­netwegen gab Kathryn einst ihre Karriere als Primaballerina auf. Aber dann hatte ihr erster Mann den Pakt einlösen müssen. Mit Selbstmord hatte er retten wollen, was zu retten war. Er machte es nur noch schlimmer, denn jetzt hielt sich der Satan an Kathryn schadlos. Bettelarm kehrte sie in ihre Heimatstadt London zurück. Dort wurde sie von den bösen Mächten bereits erwartet. Nur durch die Hilfe von Tab Furlong gelang es ihr damals, die ganze Sache heil zu überstehen. Die beiden kannten sich von früher schon, als Kathryn noch gar nicht verheiratet gewesen war. Jetzt entdeckten sie ihre gegenseitige Zuneigung erneut und heirateten später. Dinge, die Tab in diesen Sekunden durch den Kopf stiegen.

Kathryn ließ die Hand mit dem Drudenstein sinken. Sie wirkte erschöpft.

»Was hast du gesehen?« erkun­digte sich Tab brüchig.

»Das Haus Nr. 8 ist das Zentrum. Darum spielt sich hier auch nichts ab. Die Menschen meiden unbewusst diesen Ort. Wahrscheinlich sind sogar die umstehenden Häuser leer. Das Böse schirmt sich ab.«

»Du meinst, wir brauchen den Bann nur zu brechen und retten damit Helsinki vor dem Chaos?«

Kathryn zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht recht, was ich da­von halten soll, Darling. Indem wir das Böse beseitigen, wird es nicht plötzlich hell in der Stadt. Aber ich denke daran, dass die Schwarze Mafia diesen Schlag nicht ohne Grund gegen Helsinki gemacht hat. Das bereitet mir Kopfschmerzen. Wer weiß, was heute Nacht noch passieren soll?«

Tab Furlong zuckte die Achseln. Der Drudenstein war wieder etwas erkaltet. Das ma­gische Leuchten war erloschen. Die beiden saßen im Dunkeln. »Vielleicht ist es nur eine Falle? Ich überlege gerade, ob wir wirklich auf die Polizisten warten sollen. Was nutzen denn her­kömmliche Schusswaffen?«

Kathryn gab keine Antwort darauf. Statt dessen deutete sie nach hinten. Dort war Schein­werferlicht aufgetaucht. Im nächsten Augenblick bog ein Wagen um die Ecke. »Du wirst die Polizei nicht davon abhalten können, das Haus da vorn zu be­treten.«

Tab stieß die Tür auf. »Du hast recht, Kathryn. Beißen wir in den sauren Apfel. Vielleicht sind die Polizisten sogar eine große Hilfe?« Auch Kathryn wollte aussteigen. »Stop!« rief Tab Furlong und er­griff ihren Arm. »Bitte, Liebes, bleibe hier und gib mir Rückendeckung.«

»Rückendeckung, eh? Ich glau­be eher, dass du mich in Si­cherheit lassen willst. Mein Lieber, ich weiß schon, was ich zu tun und zu lassen habe, seit ich volljährig bin.«

Tab schüttelte ernst den Kopf. »Bitte, Kathryn, ich meine es wirklich ernst. Ich weiß nicht, was mich in dem Haus da vorn erwartet, aber falls es sich um eine Falle handeln sollte, kann mir in Helsinki außer dir kein Mensch mehr helfen!«

Kathryn zögerte. Da beugte sich Tab zu ihr hin und küsste sie.

Die Polizisten stoppten hinter ihrem Wagen und löschten das Licht. Dann stiegen sie aus und eilten herbei. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Tab Furlong zählte fünf Beamte. Also waren sie insgesamt zu sechst.

»Viel Glück«, murmelte Kathryn und drückte ihm etwas in die Hand: den Drudenstein. »Kannst du damit umgehen?«

»Nicht so gut wie du. Vielleicht wäre es besser, wenn du...?«

»Nein ich komme auch so zu­recht. Denke daran, dass ich einiges über Magie weiß. Vielleicht sogar mehr als du. Ich werde Sibelius eine wichtige Stütze sein, wenn es darum geht, dich wieder herauszuhauen. Aber noch ist es nicht soweit...« Sie küssten sich abermals. Dann musste Furlong aussteigen.

Kurz informierte er die Polizis­ten. Sie waren erstaunt, dass Tab sogar das Haus wusste. Aber er hielt sich nicht mit umständli­chen Erklärungen auf.

»Wir stürmen!« entschied der Truppführer.

Tab Furlong hatte nichts dagegen, sondern fragte nur: »Was ist mit den anderen?«

»Die kommen nach. Wir waren am nächsten. Kommt mit, ehe man auf uns aufmerksam wird. Dann ist alles zu spät. Haben Sie eigentlich eine Schusswaffe, Mr. Furlong?«

»Nein!«

Er drückte ihm eine Pistole in die Hand. »Auf ausdrücklichem Wunsch von Polizeipräsident Si­belius. Wenn in diesem Haus wirklich die Terroristen stecken, dürfen Sie nicht mit leeren Händen hineingehen.«

Tab Furlong brummte etwas Unverständliches und wog ab­schätzend die Pistole in der Rech­ten. Er war Chefinspektor bei Scotland Yard und der Yard war immerhin dafür berühmt, dass er Konflikte mit Kriminellen meis­tens ohne Waffengewalt löste. Dann zuckte er die Achseln. Er befand sich in einem anderen Land und würde sich an die hier gebräuchlichen Gepflogenheiten halt anpassen. Sie rannten los. Unterwegs zog Tab seine Ta­schenlampe. Die würde er wohl notwendig haben. Das Haus er­reichten sie in Rekordzeit. Tab Furlong war der dritte. Das war mit Absicht geschehen. Er hatte das Nest der Terroristen ausge­macht und sollte auch den Hauptpart übernehmen. Sie brauchten sich nicht extra abzu­sprechen. Auch Tab Furlong war schließlich ein routinierter Poli­zist. Die ersten beiden si­cherten rechts und links der Haustür. Tab entsicherte die geliehene Pistole und suchte mit dem Zeigefinger den Abzug. Die Waffe war klar. Mit dem linken Fuß angelte er nach der Türklin­ke und stieß die Tür auf. Blitz­schnell wich er zur Seite aus. Doch nichts geschah.

Tab Furlong wartete sekunden­lang. Dann sprang er in den stockdunklen Hausgang hinein. Die Taschenlampe in seiner Lin­ken flammte auf. Ihr Lichtkegel zuckte hin und her. Direkt vor ihm führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Wände wirkten schmutzig und hatten schon lange keine Farbe mehr gesehen. Die Hausbewohner hielten nicht viel von Sauberkeit und Renovierung. Tab Furlong blieb nicht allein. Andere Polizis­ten kamen nach ihm herein und verteilten sich. Nur einer blieb draußen, um den Rückzug zu si­chern und alle zu warnen, falls sich etwas Unvorhergesehenes er­eignete.

Tab Furlong wartete nicht mehr länger. Es war an der Zeit, dass er handelte. Die anderen erwarteten es von ihm. Er hastete zur Treppe. Den linken Arm streckte er aus. Der Lichtkegel richtete sich nach oben. Etwas bewegte sich dort blitzschnell. Tab reagierte gut, indem er sofort zur Seite sprang. Ein Schuss krachte. Es hörte sich in der Enge des Treppenhauses an wie ein Kanonenschlag. Obwohl Tab schnell gewesen war, wurde die Lampe von der Kugel gestreift und ihm beinahe aus der Hand geprellt. Tab Furlong unterdrück­te einen Fluch. Zwei andere Poli­zisten sprangen vor und eröffne­ten ohne Warnung das Feuer. Einer von ihnen war ange­griffen worden. Das hatten sie mit allen Polizisten auf der ganzen Welt gemeinsam: Sobald es gegen einen der ihren ging, kannten sie keine Gnade mehr. Der Schütze oben im ersten Stock war unvor­sichtig. Er wurde getroffen. Seine Waffe polterte die Treppe herun­ter. Doch damit war der Kampf längst nicht entschieden. Etwas flog herunter, zischte durch die Luft und hielt genau auf die beiden Polizisten zu. Unwillkür­lich wollten sie darauf schießen. Tab kam ihnen zuvor. Er hechtete vor und fing das Ding in der Luft. Ihm war als einzigem klar, um was es sich handelte: eine Hand­granate! Tab schickte das Ding postwendend zurück. Die oben sprangen nicht schnell genug in Deckung. Das Ei detonierte.

Obwohl alle in den toten Win­kel der Treppe gesprungen waren, einschließlich Tab Furlong, konn­ten sie sich der Druckwelle nicht ganz entziehen. Die Treppe be­kam einen gewaltigen Schlag ab und brach halb zusammen. Dreck ergoss sich über die Köpfe der Polizisten. Die Beamten be­gannen wie wild zu ballern. Falls jetzt oben noch jemand lebte, sollte er gezwungen werden, sei­nen Kopf einzuziehen und durfte vor allem keine Gelegenheit mehr bekommen, noch so ein Ei auf die Reise zu schicken.

Tab Furlong sprintete los. Er musste in diesen Kugelhagel hin­ein, koste es, was es wolle. Er jag­te die Treppe hinauf. Rechts und links schlugen Kugeln ein. Die stark in Mitleidenschaft gezogene Treppe knirschte bedenklich und sackte ein Stückchen ab. Tab durfte sich davon nicht abhalten lassen. Das Holz zerfetzte und ließ Splitter um seine Ohren fliegen. Tab Furlong stoppte keinen Sekundenbruchteil und erreichte sein Ziel. Das Obergeschoß lag in Finsternis. Von unten wurde nicht mehr geleuchtet, um Tab nicht zur Zielscheibe zu machen. Er ließ seine eigene Lampe aufflammen und leuchtete in einen langen Gang hinein. Die Mauern ringsum sahen sehr lädiert aus. Die letzte Treppenstufe war wegrasiert. Außerdem hing das Podest schief. Es schaukelte unter Tabs Fußtritten. Leichen gab es keine. Damit schien sich Tabs Verdacht zu bestätigen: Hier handelte es sich keineswegs um Terroristen, sondern um Gegner, denen man mit einer Handgranate nicht beikommen konnte.

Der Gang lag leer und verlassen vor Tab. Als würde sich niemand mehr im Haus befinden. Tab Furlong spürte die Gänsehaut auf seinem Rücken. Außerdem brannte der auf seiner Brust eintätowierte Drudenfuß. Das untrügliche Zeichen, dass er vorsichtig sein musste. Er er­innerte sich der Polizisten, die unten warteten und gab ihnen ein Zeichen. Zwei von ihnen kamen herauf. Tab machte ihnen Platz, indem er schon mal in den Gang hinein schlich. Dabei si­cherte er sorgfältig nach allen Sei­ten. Das Treppenpodest krachte mal wieder beängstigend. Die Treppe in den zweiten Stock konnte man nicht mehr benutzen. Sie war nur noch Kleinholz. Aber Tab Furlong hatte das Gefühl, dass sie den zweiten Stock überhaupt nicht brauch­ten. Wenn schon, dann fanden sie hier ihr Ziel.

Die Hand mit der Pistole wurde schweißnass. Er hatte auf einmal Angst, ganz erbärmliche Angst. Er wusste, dass mindestens hin­ter einer dieser Türen das Grauen auf ihn wartete. Und wie konnte er ihm entrinnen? Bestimmt nicht mit einer Schusswaffe. Nervös leuchtete er eine der Türen an. Wütend trat er dagegen. Die Tür sprang auf. Einer der Polizisten wirbelte an Tab Furlong vorbei ins Innere. Tab Furlong leuchtete ihm. Der Raum war leer. Es gab nicht einmal ein Möbelstück. Auch Tab riskierte einen Blick. Da sah er die Kreidestriche am Boden. Den Polizisten fielen sie nicht auf. Das waren auch keine in magischen Dinge geschulten Leute. Tab erkannte schwarzma­gische Zeichen, die jedoch nicht vollständig waren. In dieser An­ordnung bildeten sie noch keine Gefahr. Aber sie zeigten, dass hier Experten am Werk gewesen waren. Hatten die Polizisten eine größere Aktion gestört? Es sah danach aus und Tab Furlong glaubte schon gar nicht mehr an eine mögliche Falle für seine Per­son.

Er widmete sich der nächsten Tür. Aber zwei weitere Polizisten, die von unten heraufgekommen waren, kamen ihm zuvor und traten die Tür auf. Ein Schlaf­zimmer. Die Betten waren durch­wühlt. Einer der Polizisten leuch­tete im Zimmer umher. Da schwang langsam die Tür des Kleiderschrankes auf. Eine Hand kam zum Vorschein. Die Nerven der Polizisten waren zum Zer­reißen gespannt. Nur so war zu erklären, wieso der eine der beiden Polizisten sofort schoss. Die Kugel durchschlug ohne Schwierigkeiten die dünne Holztür. Sie schwang weiter auf. Ein Mann fiel aus dem Schrank, direkt vor die Füße des Polizisten. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht grausam verzerrt. Er musste etwas Schreckliches gesehen haben. Nicht die Kugel hatte ihn getötet, sondern das Grauen!

Tab wandte sich ab. Er spürte einen imaginären Kloß in seiner Kehle und war nicht in der Lage, ihn hinunterzuschlucken. Der To­te war der eigentliche Bewohner dieser Etage. War er der einzige, der sein Leben hatte lassen müssen? Tab Furlong begann, das Böse zu hassen, das Un­schuldige grausam heimsuchte und eine ganze Stadt, ja, ein ganzes Land, in Angst und Schre­cken versetzte, ohne dass ein klares Motiv erkennbar wurde. Aber brauchte das Böse über­haupt ein Motiv, um böse zu sein? Worte, die Tab Furlong immer wieder von seinem Freund Mark Tate gehört hatte. Sie trafen haargenau den Kern der Sache.

Zwei Polizisten folgten Tab Furlong mit knappem Abstand, als er weiterging. Auf die nächste Tür achtete er schon gar nicht mehr. Er überließ sie den Be­amten. Und das erwies sich als ein Fehler. Diese Tür öffnete sich selbständig. Zwei bewaffnete Kerle erschienen darin und schossen sofort auf die Polizisten. Die Helsinkier Polizei hatte keine Waschlappen geschickt, sondern Kämpfer. Ihre Reflexe konnten sich sehen lassen. Sie spritzten sofort auseinander und er­widerten das Feuer. Ihre Kugeln trafen ins Ziel, während sie selber verschont blieben. Zwei Gegner gegen ausgebildete Polizisten? Die konnten doch gar keine Chance haben. Die Kugeln steppten deutliche Löcher in die Jacken der beiden Bewaffneten. Aber die beiden kümmerten sich gar nicht darum. Tab erkannte mit einem Blick, woran das lag: Er hatte Untote vor sich! Jetzt waren die Polizisten irritiert. Sie kamen nicht einmal mehr auf die Idee, Deckung zu suchen. Die beiden Untoten richteten ihre wie aus Glas wirkenden Augen auf die Beamten und wollten abermals schießen. Diesmal würden die Polizisten wider Erwarten den Kürzeren ziehen. Tab Furlong wollte nicht tatenlos dem Blutbad zusehen. Seine eigene Pistole war völlig nutzlos. Damit konnte er die Untoten in keiner Weise beeindrucken. Das hatte er bereits gesehen. Jemand, der schon tot war, konnte nicht mehr getötet werden - mit keiner Waffe der Welt. Aber man konnte mit anderen Mitteln gegen ihn angehen: mit magischen Mitteln! Die Untoten wurden von den Kräften der Hölle beseelt. Also musste man eine Möglichkeit finden, diese Kräfte zu stören.

Tab Furlong steckte blitz­schnell seine Pistole ein und riss das Hemd vor der Brust ausein­ander. Der Drudenfuß wurde sichtbar. Das Brandzeichen gegen das Böse sprang den beiden Un­toten förmlich entgegen. Sie stießen ein dumpfes Röhren aus und rissen die Arme hoch, um ih­re Augen zu schützen. Tab Furlong blieb unerbittlich. Seine Hände schossen vor und packten die Untoten. Kaum berührte er sie, als ihre Körper schlaff wurden. Die weißmagische Kraft des Drudenfußes floss durch sei­ne Arme auf die Untoten über und zerstörte die Verbindung zur Hölle. Sie wurden wieder zu dem, was die vorher gewesen waren: modrige Leichen, die seit vielen Jahren unter die Erde gehörten. Mehr noch als das: Sie zerfielen zu Staub. Ein Luftzug ließ Wolken wie Rauch emporsteigen und trieb sie gegen die Polizisten.

Die Beamten waren wackere Kämpfer. Aber das, was sie so­eben erlebt hatten, war für ihre Nerven zuviel. Schreiend wandten sie sich ab und rannten zur Treppe. Tab Furlong wollte ihnen nachbrüllen: »So wartet doch!« Aber er kam nicht mehr dazu. Er hatte die Tür, vor der er die beiden Untoten vom Joch des Bö­sen befreit hatte, den Rücken zugekehrt und jetzt erscholl eine grollende Stimme aus dem Raum dahinter: »Stopp, Mr. Furlong!«

Tab Furlong erstarrte in der Bewegung. Er wollte sich herum­drehen. »Stopp, habe ich befoh­len!« grollte die Stimme. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle, Chefinspektor, oder ich blase Ih­nen ein ganzes Magazin in den Rücken. Sie haben keine Chance. Auch mit Ihrem verdammten Dä­monenbanner nicht.«

Tab erinnerte sich der Worte seines Vaters: »Durch die Täto­wierung bist du unangreifbar für die Mächte des Bösen, mein Sohn!« Ja, der Vater, ein Pfarrer und längst auf dem Zentralfried­hof von London, hatte dabei nur an magische Dinge gedacht und nicht etwa an Schusswaffen in den Händen von Untoten. Hätte sich Tab nur umdrehen können, hätten die Untoten keine Chance gegen ihn gehabt. So aber zwangen sie ihn mit ganz norma­len Waffen zum Gehorsam.

Tab wandte sich einem Ge­danken zu, der näher lag und zuerst interessant war: Wieso hatten sie ihn überhaupt am Leben gelassen? Also doch eine Falle für Kathryn und mich! be­antwortete er selbst diese Frage. Nur gut, dass Kathryn draußen blieb.

»Was habt ihr vor?«

Der Untote lachte und das klang wie direkt aus einem Grab. Schnarrend näherte er sich. »Du wirst es sehen, Chefinspektor Tab Furlong.«

»Sage nicht immer Chefinspek­tor zu mir. Ich bin hier in Helsin­ki nur ein Privatmann.«

»Obwohl du dich so gut mit Po­lizeipräsident Yrjö Sibelius ver­stehst? Gratuliere zu deiner Urlaubskarriere in einem fremden Land.«

Tab hätte sich am liebsten her­umgedreht und auf den Untoten eingeschlagen, obwohl das völlig unsinnig gewesen wäre. Er hörte unten Stimmen: Die Polizisten. Sie berieten sich. Offenbar hatten sie ihren anfänglichen Schrecken überwunden. Würden sie wieder einzugreifen versuchen? Tab Furlong wusste, wie sinnlos das sein würde. Die Polizisten würden sterben müssen. Das war auch das einzige, was dabei heraus­kam. »Bleibt, wo ihr seid!« rief er deshalb. »Sie haben mich als Gei­sel! Wenn ihr mich befreien wollt, dann riskiert ihr nur unnötig mein und euer Leben.« Es kam keine Antwort.

Der Untote hinter Tab Furlong kicherte. Es klang irre. Aber er hinderte Tab Furlong nicht am Verhandeln.

»Was wollen die Terroristen?« rief jemand von unten zurück. Anscheinend waren die Polizisten überein gekommen, dass es besser war, auch weiterhin von Terroristen zu reden. Im Grunde genommen waren die Untoten auch gar nichts anderes. Nur ver­übten sie ihren Terror aus anderen Motiven heraus.

»Ich weiß es noch nicht. Sie halten mich in Schach, hindern mich jedoch nicht am Reden.«

Abermals kicherte der Untote. Gern hätte ihn Tab Furlong gese­hen, aber das wäre dem Untoten nicht bekommen. Das tätowierte Zeichen hätte ihn vernichtet.

»Was wollt ihr wirklich?« stieß Tab hervor.

Der Untote antwortete mit sei­ner grollenden Stimme: »Ich sagte dir schon einmal, dass du dich überraschen lassen sollst.«

»Wer hat euch geweckt?«

»Die Schwarze Mafia. Genügt dir das? Sie schickte ihre Kraft und gab uns den Auftrag. Und wir handeln im Sinne der Schwarzen Mafia. - Wo ist deine Frau Kathryn?«

Tab Furlong erhob seine Stimme, aber er sprach nicht zu dem Untoten, sondern wieder zu den Polizisten: »Zieht euch besser zurück - und setzt meine Frau über die Vorgänge in Kenntnis. Sagt ihr, diese Leute wären von der Mafia.«

»Mafia?« echoten die Beamten.

»Ja, aber sie sind keine Mitglie­der, sondern wurden von der Ma­fia nur geschickt, um das Chaos in Helsinki zu beschwören. Wahr­scheinlich ist das nur der Auftakt für eine größere Sache. Die Hel­sinkier sollen zermürbt werden. Sie sollen wissen, wozu man in der Lage ist.«

Die Polizisten gaben keine Ant­wort mehr. Zogen sie sich tat­sächlich zurück? Tab Furlong lauschte, aber er hörte keinen Mucks. Die Polizisten verstanden es, sich so zu bewegen, dass man ihr Vorhandensein nicht bemerkte. »He, habt ihr gehört?« Auch diesmal keine Antwort.

Wieder mal kicherte der Unto­te. »Genug geplaudert, Furlong. Wir werden jetzt diesen ungastli­chen Ort verlassen, kapiert?«

»Wohin?«

»Keine so neugierigen Fragen. Es wurde alles besprochen, was wichtig ist. Nur noch eine kleine Anmerkung am Rande, Furlong: Falls du versuchen solltest, mich auszutricksen, wird dir das wenig nützen. Ich bin hier nicht allein. Es befinden sich andere Untote in Bereitschaft und - in Deckung. Sie werden sofort eingreifen, falls mir etwas passieren sollte.«

»Welcher Dämon spricht aus dir?«

Statt einer Antwort stieß ihm der Untote den Lauf seiner Pistole unsanft in den Rücken und trieb ihn somit den Gang entlang. Ziel des Untoten war das Fenster am Ende des Ganges. Aha, die Ent­führung sollte also über den Hin­terhof erfolgen. Kaum hatte Tab das gedacht, als er irgendwo eine Fensterscheibe klirren hörte. Im nächsten Augenblick breitete sich ein strenger Geruch aus. Wieder ein Grund für den Untoten, böse zu kichern. Es nagte an Tabs Nerven.

»Vorwärts!« befahl der Untote.

Tab erreichte das Fenster zum Hinterhof. Wieder dieses Klirren. Tab wurde schwindlig: Gas! Die Polizisten setzten Gasgranaten ein, um die Terroristen auszuräu­chern. Dass dabei auch Tab in Mitleidenschaft geriet, schien sie wenig zu kümmern. Ja, glaubten sie denn wirklich, dass sie damit einen Erfolg verbuchen könnten? Die Sinne schwanden ihm. Irgendeinem glücklichen Zufall war es zu verdanken, dass Tab nicht schon längst zusammengebrochen war. Den Untoten machte es natürlich überhaupt nichts aus. Das Gas kümmerte sie nicht.

Kümmerte sie nicht? Tabs Lebensgeister erwachten wieder. Ihm wurde schlagartig besser. Der Geruch war auch nicht mehr da. Hatten die Untoten das Gas zurückgedrängt? Besaßen sie so viel magische Macht, einen Schutzschirm zu erzeugen, der von dem Gas nicht durchdrungen werden konnte? Sie hatten einen gewichtigen Grund dafür: Tab Furlong! Wenn er das Bewusst­sein verlor, war für sie überhaupt nichts gewonnen. Ganz im Gegenteil. Ein bewusstloser Tab Furlong war für sie nicht zu transportieren. Sie durften ihn nicht einmal berühren.

Tab knirschte mit den Zähnen. Sie konnten ihn nur mit einem Pistolenlauf anstoßen, was jetzt wieder geschah.

»Fenster öffnen!« zischte der Untote. Tab blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Seine Nähe setzte dem Untoten gewiss zu, auch wenn er den tätowierten Drudenfuß nicht direkt zu seiner Verteidigung benutzen konnte. Aber der Untote nahm es mit Leichtigkeit in Kauf. Es ging ihm um andere Dinge, die ihm wichtiger erschienen. Wieso nimmt er mich gefangen und tötet mich nicht einfach? sinnierte Tab. Ich bin ein erklärter Feind der Schwarzen Mafia und be­kämpfe das Böse, wo immer ich es antreffe. Die haben tausend Motive, mich zu töten, aber nein, sie begnügen sich mit meiner Gefangennahme. Verdammt, dachte er weiter, soll das bedeuten, dass mich Schlimmeres erwartet? Dann ist es doch besser, wenn sie mich einfach erschießen!

Er sollte offensichtlich aus dem Fenster klettern, doch Tab Furlong tat etwas anderes: Er wandte sich entgegen aller Wei­sungen herum... und seine Augen weiteten sich, denn hinter ihm befand sich überhaupt niemand! Kein Untoter, kein Lebender, nichts und niemand, außer einer Pistole, die frei in der Luft schwebte, von magischer Kraft gehalten. Der Schuss bellte los. Doch die Berührung mit dem Strahlenfeld des Drudenfußes be­raubte die Pistole ihres Haltes. Sie fiel und drehte sich dabei halb um sich selbst. So fuhr die Kugel wirkungslos in die Decke.

»Du verdammtes Schwein!« knurrte jemand hinter Tab Furlong. Diesmal drehte er sich nicht um. »Ich habe dir gesagt, dass du dich nicht umdrehen sollst. Jetzt könnte ich dich abknallen wie einen räudigen Hund, aber das tu ich nicht. Die Schwarze Mafia will dich persön­lich kennen lernen, verstehst du? Persönlich! Du bist einer aus der Gruppe um Mark Tate und ihr habt den Schwarzen Mächten in den letzten Jahren sehr viel Schaden zugefügt. Das wird sich ändern. Wir wissen sehr genau, dass Mark Tate Gefangener einer jenseitigen Dimension ist. Leider haben wir mit diesem Fall nichts zu tun. Aber wir warten, bis er zurückkommt - falls er das jemals schaffen sollte.«

Das war eine relativ lange Rede gewesen. Tab Furlong hatte sie aufgenommen und atmete erleichtert auf. Über das Schick­sal von Mark Tate wusste die Schwarze Mafia nicht Bescheid. Die Gruppe um Mark Tate war aufgesplittert, doch nur gemein­sam waren sie stark genug, die schreckliche Gefahr durch die Schwarze Mafia zu überleben. Tab hatte geglaubt, sie hätten hier in Helsinki eine Chance. Im Moment sah es eher gegenteilig aus.

»So«, knurrte die Stimme in sei­nem Rücken, »und jetzt drehe dich langsam um und klettere über die Fensterbank.«

Tab Furlong gehorchte. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Der Hinterhof lag in Finsternis. Er konnte nichts sehen. Bis er mit seiner Lampe hinunter leuch­tete. Der Unsichtbare hatte nichts dagegen! Obwohl es sich nicht einmal um einen Unsichtbaren handelte, sondern nur um ein magisches Energiefeld, das in der Lage war, eine Pistole zu halten und auch abzufeuern. Außerdem gab es eine indirekte Verbindung zu demjenigen, der das magische Feld steuerte.

Tab runzelte die Stirn. Wer war für das Feld verantwortlich und wo befand er sich? Handelte es sich um eine Seance? Hatten sich mehrere zu einer Beschwö­rergruppe zusammengeschlossen, um dieses Kunststück zu voll­bringen? Handelte es sich um Untote? Das waren Fragen, die ihm niemand beantworten konn­te.

»Spring hinunter!« Tab Furlong ließ die Beine baumeln und pack­te die Taschenlampe fester. »Und knöpf endlich wieder dein Hemd zu, damit die optische Wirkung des Drudenfußes eingedämmt wird!« Das tat Tab Furlong nicht sofort. Er sprang auch nicht, denn in diesem Augenblick öffnete sich unten ein Zugang zum Hof. Polizisten! Inzwischen mussten längst auch andere Streifenwagen das Haus erreicht haben. Gewiss wurde es umstellt. Die Polizisten waren bewaffnet und trugen Handscheinwerfer. Sie leuchteten den Hof aus und entdeckten Tab oben im Fenster. Ihre Pistolen suchten Ziele, doch die gab es nicht.

»He!« rief einer herauf, »was haben sie mit Ihnen gemacht?«

»Verschwindet!« befahl die ma­gische Stimme hinter Tab Furlong. »Haut ab, oder ich er­schieße euren teuren Tab Furlong.« Es war gar nicht so si­cher, ob sich die Polizisten er­pressen ließen. Tab Furlong - das war nur ein einziges Menschen­leben, aber es ging um eine ganze Stadt!

Tab Furlong begriff es im glei­chen Augenblick. Da zersplitterte ein Nachbarfenster. Der Lauf eines Maschinengewehrs schob sich ins Freie. Sofort knatterte es los und schickte seine tödlichen Garben in den Hof hinunter. Die Polizisten waren schnell, sagen­haft schnell, aber sie konnten nicht verhindern, dass sie von ein paar herumsirrenden Kugeln ge­troffen wurden. Zwei von ihnen erwischte es. Sie waren nicht tot, aber doch verletzt. Nicht einmal zum Gegenfeuer kamen sie. Die Tür, durch die sie unten verschwanden, blieb offen.

Tab Furlong spähte zum Nach­barfenster. Dort war niemand zu sehen. Er konnte sich kaum vor­stellen, dass dort dasselbe Spiel stattfand wie in seinem Rücken.

Das Maschinengewehr wurde wieder ein Stückchen in die Dun­kelheit zurückgezogen.

»Jetzt aber: spring!« knurrte die magische Stimme.

Tab Furlong gehorchte. Das war ein Höhenunterschied von et­wa drei Metern. Für einen durch­trainierten Mann vom Scotland Yard keine Affäre.

Geistesgegenwärtig ließ sich Tab Furlong nach dem Aufprall umfallen und vollführte eine ge­konnte Rolle vorwärts. Aber jetzt konnte er nicht mehr im Schach gehalten werden! Im gleichen Moment durchzuckte ihn diese Erkenntnis. Er blieb auf dem Rücken liegen und blickte empor. Hatten die Schergen des Bösen einen Fehler begangen?

*

Längst hatte Per Brake, der Schwarze Mafioso, den Se­natsplatz erreicht. Er stellte den gestohlenen Wagen in der Nähe ab und bewältigte den Rest zu Fuß. Es erschien ihm, als wäre die Menschenmenge inzwischen noch angewachsen. Es gab sogar Unentwegte, die versuchten, das Denkmal Zar Alexanders zu er­klimmen, um von dort aus einen besseren Überblick über das Ge­schehen zu bekommen. Überall flackerten kleine Lagerfeuer auf, die rasch Nachschub bekamen. Die Fenster der Universität waren ebenfalls belagert. Die Menschen unterhielten sich lachend und fröhlich. Für sie war das alles ein großes Abenteuer. Sie wussten nichts von dem Grauen, das auch auf sie wartete.

Per Brake mied nicht ohne Grund die breiten Treppen, die zur Domkirche hinaufführten. Er warf einen Blick zum Senatsge­bäude hinüber. Dank seiner Ma­gie konnte er sehen wie am helllichten Tag. Die Schatten der Nacht beeinträchtigten ihn in keiner Weise. Ganz im Gegenteil. Brakes Ziel war die Universität. Dort wartete ein Teil seiner Unto­ten.

Als er die Universität betrat, wurde er auch schon empfangen: Einer der Untoten, der wie ein lässig gekleideter Student mit zotteligem Haar wirkte.

»Alles in Ordnung?« erkundigte sich Brake überflüssigerweise.

»Jawohl, Chef!« antwortete der Untote mit seiner grollenden Grabesstimme. »Und Tab Furlong ist in die Falle gegangen. Er ver­suchte erwartungsgemäß, sich zu wehren, aber das wird ihm nicht gelingen. Wir werden ihn weg­bringen und uns dann seiner Frau Kathryn widmen.«

»Gut so!« Per Brake lachte. Er hatte mit Tab Furlong und seiner Frau noch einige Pläne. Er würde der Schwarzen Mafia zeigen, wie man mit solchen Leuten umzuge­hen hat. Über die magischen Kampfmittel der beiden konnte er nur kichern. Wenn man es richtig anstellte, könnten einem diese Dinge nicht gefährlich werden.

Er schob die Gedanken daran beiseite. Zunächst galt es, noch andere Dinge zu erledigen.

Der Untote führte seinen Herrn zu den anderen. Sie lauerten im Keller. Eine schaurige Versamm­lung. Zwanzig Köpfe zählte Per Brake. Die anderen Untoten waren in der Stadt verteilt und schürten Angst und Verbrechen - außer der Gruppe, die sich mit Tab Furlong beschäftigte.

Wieder kehrten seine Ge­danken kurz zu diesem Problem­kreis zurück und der Höllen­diener lachte grausam.

»Ihr seid bereit!« sagte er hart. »Ein Trupp wird gemeinsam mit mir das Rundfunkgebäude stür­men. Das Gebäude wird bewacht - seit dem ähnlichen Fall vor rund einem Jahr. Das wisst ihr alles inzwischen. Aber ihr wisst auch, dass diese Bewachung uns gegenüber wirkungslos ist. Ihr könnt im Kugelhagel der Bewa­cher nicht sterben, weil ihr schon tot seid.« Die Schizophrenie seiner Worte amüsierte ihn. Er fuhr fort: »Der Rest hält sich gemäß dem Zeitplan zurück. Ihr werdet spä­ter das Senatsgebäude besetzen. Die Zeit ist günstig. Die Herren Senatoren und Politiker des Landes Finnland ziehen sich im Senatsgebäude zurück, weil sie sich dort sicher fühlen, denn auch dieses Gebäude wird seit der Terroraktion von damals besonders geschützt. Die werden noch Augen machen. Wir werden ein Exempel statuieren, das die ganze Welt aufhorchen lässt. Aber erwähnt niemals die Schwarze Mafia! Sie darf nicht zum offenen Geheimnis werden. Es reicht, wenn Mark Tate und seine Freunde davon wissen und inzwi­schen auch dieser Sibelius. Und jetzt los!«

Zehn sprangen vom Boden auf und drängten sich in seine Nähe. Per Brake blickte über sie hinweg und spürte den Triumph in seiner Brust. Das waren seine Soldaten - die besten, die man sich über­haupt denken konnte, weil sie nicht sterben konnten. Und die aufgezählten Objekte wurden nur mit herkömmlichen Mitteln verteidigt. Kein Mensch kam auf die Idee, auch Dämonenbanner zu verwenden - nicht in einem so fortschrittlichen Land wie Finn­land. Außerdem hatte man sich nur gegen »normale« Terroristen gewappnet und nicht gegen eine Terrorgruppe der Höllendiener.

Per Brake verließ mit seinen Untoten die Universität. Keiner der Menschen, die draußen ver­sammelt waren, schöpfte Ver­dacht, als sie sich einen Weg zum Rundfunkgebäude erkämpften. Alles erschien, als fände auf dem Senatsplatz ein irres Fest statt. Polizei gab es keine, die einschrei­ten konnte. Es gab auch keinen Grund dafür. Die Polizei konnte froh sein, dass es wenigstens hier keine Panik und keine Verbre­chen gab.

Per Brake erreichte mit seinen Untoten bald das Rundfunkge­bäude. Ohne Zögern drangen sie ein. Sie wurden so empfangen wie auch in den Elektrozentrale. Das machte ihnen nichts aus...

*

Der Nachrichtensprecher blick­te durch die Glasscheibe. Er wartete auf das gewohnte Zeichen des zuständigen Tontechnikers. Das Zeichen kam. Der Techniker hob kurz die Hand. Gleichzeitig blendete er die Musik aus. Das rote Warnlicht am Tischmi­krophon ging an.

»Weitere Meldungen!« sagte der Nachrichtensprecher geistes­gegenwärtig. Sein Blick heftete sich auf den kleinen Papierstapel auf dem Tisch. Die ganze Ange­legenheit erregte ihn in höchstem Maße. Doch seiner Stimme war nichts anzumerken. Er bewies, was er gelernt hatte.

»Der Zustand in Helsinki, der Hauptstadt Finnlands, ist unver­ändert. Es erinnert uns alle an die Vorgänge von über einem Jahr. Damals schon hatten wir es mit Terrorkommandos zu tun, die zunächst gar nicht zu den Vorgängen Stellung nahmen. Erinnern wir uns auch daran, dass es damals durch die Zusammenarbeit zwischen CIA und russischem KGB gelang, die Gefahr zu beseitigen. Heute sind wir nicht so glücklich dran, denn wir sind allein. Zwar wird auch dieses Rundfunkgebäude im Gegensatz zu damals von Miliz abgeschirmt, aber es hat sich bereits hinreichend erwiesen, dass dies keinerlei Garantien bringt. Die Elektrozentralen wurden seit ihrem Wiederaufbau ebenfalls lückenlos überwacht. Die Terroristen von heute scheinen wesentlich gefährlicher und auch schlagkräftiger zu sein als die Terroristen von damals. Überhaupt gewinnt die Polizei mehr und mehr den Eindruck, als wären diese Leute immun gegen Kugeln. Es fanden beispielsweise im hiesigen Vergnügungsviertel heftige Kämpfe zwischen Polizei und Terroristen statt. Ein sich in Helsinki im Urlaub befindlicher Beamter des Londoner Scotland Yard hatte zufällig das Nest ausfindig gemacht und die Beamten alarmiert. Das Gelände ist vollkommen abgeriegelt, aber die Terroristen haben den Yardmann, sein Name ist Tab Furlong, in ihre Gewalt gebracht. Überhaupt eskaliert allerorten die Gewalt. Deshalb müssen wir noch einmal dringend und auch auf ausdrücklichen Wunsch der Stadtpolizei raten, in Ihren Wohnungen zu bleiben und sich nicht auf die Straße zu begeben. Am besten, Sie schließen sich in Gruppen zusammen. Bangen Sie nicht um ihre Habseligkeiten, sondern konzentrieren Sie sich auf das Überleben. Wir wollen keine unnötige Panik erzeugen, aber es hat bereits schätzungsweise vierzig Tote gegeben! Und noch immer fragen wir uns nach dem Motiv für diese furchtbare Tat der Terroristen, die sich bis jetzt noch nicht zu Wort gemeldet...«

Weiter kam der Nachrichten­sprecher nicht mehr. Hinter ihm hatte sich die gepolsterte und so­mit schallisolierte Tür geöffnet. Er hatte es nur am Rande registriert, weil er sich auf das Ablesen kon­zentriert hatte. Vielleicht hatte er auch angenommen, dass man ihm einen Zettel mit weiteren In­formationen reichen wollte? Aber etwas stimmte nicht. Jemand rannte an ihm vorbei zur Ver­bindungstür der Technik. Der Techniker hatte einen Moment nicht aufgepasst und bemerkte die Eindringlinge gar nicht. Er war wie der Nachrichtensprecher auf seine Arbeit konzentriert. Zu spät blickte er auf. Die Tür wurde aufgestoßen und ein Bewaffneter schob sich herein. Die sofortige Unterbrechung der laufenden Sendung hätte der Techniker be­stimmt mit dem Leben bezahlt. Das wurde ihm klar, als er seine Hand dem Hauptschalter nä­herte.

»Stopp!« grollte der Ein­dringling. »Die Sendung muss weitergehen. Soeben habt ihr euch darüber beschwert, dass wir nichts von uns hören lassen. Jetzt sind wir da und das ist euch auch nicht recht, wie?«

Der Techniker schielte nach dem Telefon. Verdammt, warum hatte man ihn nicht per Draht über die Eindringlinge informiert? War es denn so schnell gegangen? Außerdem hatte er keine Schüsse gehört. Aber das mochte daran liegen, dass hier alles schallisoliert war. Er knirschte mit den Zähnen und schielte nach der Waffe des Eindringlings. Die Mündung zeig­te direkt auf seine Brust und der Zeigefinger des Terroristen befand sich am Abzug. Sein Blick kletterte höher und begegnete dem des Mannes. Mit dem Kerl stimmt was nicht! durchzuckte es den Tontechniker. Er hat Augen wie ein Toter. Sein Gesicht ist maskenstarr und unnatürlich blass.

Er besah sich die Hände des Mannes. Sie wirkten irgendwie aufgedunsen. Es war verrückt, aber der Tontechniker gewann mehr und mehr den Eindruck, einen Toten vor sich zu haben. Er schüttelte sich und versuchte, diese Gedanken loszuwerden, weil sie gegen jegliche Vernunft spra­chen. Dann widmete er sich wieder den Vorgängen im Stu­dioraum. Den Nachrichtenspre­cher hatte man unsanft vom Stuhl gerissen. Ein anderer nahm seinen Platz ein. Dieser Mann wirkte ganz und gar nicht wie ein Toter. Der Tontechniker ahnte nicht, dass es sich um Per Brake persönlich handelte. Der Schwarze Magier schaute herüber und sein Blick fraß sich in die Augen des Tontechnikers. Der Ar­me spürte eisige Schauer über seinen Rücken rieseln. Seine Hände griffen nach den Schaltern und Bedienungshebeln, ohne dass er es wollte. Der Magier hatte ihn völlig in seiner Gewalt. Erstaunt beobachtete sich der Tontechniker selbst. Er begriff nicht, was mit ihm geschehen war. Und dann wunderte er sich auch nicht mehr. Der Tontechniker war zum Sklaven der Schwarzen Magie geworden. Er würde die Sendung von Per Brake in keiner Weise beeinflussen.

Per Brake brauchte kein Pa­pier, um davon abzulesen. Die Worte kamen wie von selbst über die schmalen Lippen und jeder, der außerhalb von Helsinki oder auch innerhalb der Stadt über Batterieempfänger seine Worte hörte, spürte, dass Per Brake mehr war als nur ein mieser Ter­rorist, dessen wirren Ideen kein normaler Mensch begreifen konn­te. Per Brake war das Böse schlechthin. Und seine Worte be­gannen auf grausame Art und Weise zu leben und zu wirken. Niemand war in der Lage, sich ih­nen zu entziehen. Das war Per Brakes Trumpf: Der Rundfunk­sender. Jetzt hatte er ihn in Besitz. »Hier spricht die Schwarze Macht! Ich bin für die Vorgänge verantwortlich. Die Dunkelheit ist mein Geschäft und mein Geschäft ist es auch, Angst zu verbreiten. Haben Sie keine Angst? Dann ler­nen Sie sie kennen! Sie kommt mit dem, was ich Ihnen sage. Sie kommt aus dem Empfänger, vor dem Sie sitzen. Sie kommt zu Ih­nen und Sie haben keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen. Ich bin die Schwarze Macht und ängstige Sie und das ist erst der Beginn. Sie sollen vor Furcht er­zittern und an den Satan denken, der mein Herr und Auftraggeber ist. Die Schwarze Macht dient dem Bösen, wie diese Nacht der Nächte dem Bösen dient. Das Bö­se kehrt ein in jedes Haus, über­schwemmt Helsinki wie die grau­samen Fluten eines Schwarzen Meeres. Ihr sollt darin ertrinken und zu Sklaven des Bösen werden. Nehmt es in euch auf, ja, so ist es gut. Hier ist der Gesandte der Hölle, der euch allen eine Botschaft vermittelt: Wer diese Nacht überlebt, ist in meiner Hand. Er soll diese Nacht niemals wieder vergessen und sich stets daran erinnern, falls er auf die Idee kommen sollte, der Schwarzen Macht entgegen zu treten. Die Schwarze Macht wird Finnland beherrschen und von hier aus mit der Zeit die Welt. Hört die Schwarze Macht und fürchtet sie...« Per Brake brauchte dem Tontechniker kein Zeichen zu geben. Der Techniker reagierte auf einen Gedankenimpuls seines Meisters. Er blendete aus. Kein Zeichen verließ mehr das Rundfunkgebäude. Die Rund­funkempfänger blieben tot.

»Nein!« schrie der Nachrichten­sprecher. Mit einem verzweifelten Ruck riss er sich los und stürzte sich auf Per Brake, den Schwarzen Magier. Er hatte die Worte vernommen und ihre hyp­notische Negativwirkung ver­spürt. Jetzt gelang es ihm, die Nachwirkung abzuschütteln wie ein begossener Hund das Wasser. Und er wollte dem Magier Einhalt gebieten. Per Brake rührte sich nicht vom Fleck. Auch die Unto­ten machten keinerlei Anstalten, den Nachrichtensprecher von sei­nem Vorhaben abzubringen. Es war auch nicht notwendig. Der Nachrichtensprecher packte Per Brake an den Schultern und wollte ihn wegzerren. Genauso gut hätte er versuchen können, das Gebäude einen Meter weiter zu schieben. Per Brake saß da wie ein Felsbrocken. Seine Schultern fühlten sich stahlhart und - eiskalt an. Jetzt wandte er langsam den Kopf. Der Nach­richtensprecher erstarrte. Dieser Blick. Wie viel Macht und wie viel Böses lag darin? Der Nach­richtensprecher wollte das Ge­sicht wegdrehen, wollte dadurch dem Blick und auch dem magischen Bann entgehen, der von den Augen des Magiers ausging. Es blieb bei der Absicht. Diesem Blick konnte kein Mensch entrinnen, falls er nicht geeignete Mittel hatte, die ihn dabei unterstützten. Per Brake hatte den Nachrichtensprecher in seiner Gewalt, ehe der wusste, wie ihm geschah. Übergangslos brach der Mann zusammen und blieb als wimmerndes Bündel am Boden liegen.

Per Brake lachte verächtlich. Der Nachrichtensprecher würde den seelischen Schock bald über­winden - überwinden müssen! Dann würde auch er für immer ein Sklave von Per Brake sein. Wie ein vom Teufel Besessener. Er würde für den Magier töten und selber sterben, wenn es Bra­ke nur verlangte.

Der Magier war lange genug aufgehalten worden, wie er fand. Obwohl nur Sekunden seit seiner Rede vergangen waren. Qualvolle Sekunden für den Nachrichten­sprecher, triumphale Sekunden für den Magier. Brake verdrängte den kurzen und für ihn wenig be­deutsamen Zwischenfall und kon­zentrierte sich kurz auf den Ton­techniker. Der Mann spurte wie eine Marionette, die Brake an langen, unsichtbaren Fäden steuerte. Nach der Lautlosigkeit kam das Rauschen und nach dem atmosphärischen Rauschen folgte ein dumpfes Brummen. Für den Tontechniker eine Kleinigkeit, diese Effekte zu verursachen. Er rundete das Ganze ab. Mit einem schrillen Kreischen, das all­mählich in ein Wummern über ging. Verschiedene Empfänger wurden bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gefordert. Aber sie hielten stand. Damit man das Nachfolgende aus dem schmal­lippigen Mund von Per Brake hören konnte: »Die Angst! Vergesst sie nicht. Die Angst, die grausame Angst, denn um euch ist das Dunkel und im Dunkeln hockt das Grauen!«

Damit wurde die Sendung un­terbrochen. Es wurde nichts mehr ausgestrahlt. Weder Musik noch sonst etwas. Die Menschen sollten wie gebannt an ihren Empfängern hocken und auf ein Lebenszeichen harren. Aber es würde nicht kommen. Per Brake hatte beschlossen, sie allein zu lassen mit ihrer Angst. Nur so würde er stark genug werden, um nach Ablauf dieser Nacht die Macht an sich zu reißen. Dabei würde er stets im Hintergrund bleiben. Er hatte es nicht notwen­dig, offen aufzutreten. Das mach­te kein Magier dieser Welt. Es war besser, wenn man andere für sich agieren ließ. Denn die Schwarzen Magier und auch die Dämonen waren allesamt feige und von Na­tur aus hinterhältig. Den offenen Kampf vermieden sie wo sie nur konnten, es sei denn, sie fühlten sich so sicher wie Per Brake. Und Per Brake erinnerte sich jetzt wieder an Tab Furlong. Der Chef­inspektor musste noch warten. Nicht mehr lange. Aber zuvor wollte Per Brake das Senatsge­bäude in Besitz nehmen. Seine Untoten hatten bereits entspre­chende Vorbereitungen getroffen. Zweifelsohne hatten die anwe­senden Senatoren, Politiker und hohen Beamten die letzte Radio­sendung mitbekommen. Das musste sie zermürbt haben. Per Brake bedauerte es, dass nicht jeder Helsinkier die Sendung empfangen hatte, denn nicht jeder hatte zur Zeit Muse, Radio zu hören. Einige hatten anderes im Sinn. Beispielsweise die Räuber, Mörder und Plünderer, die mancherorts am Werk waren und damit haargenau im Sinne von Per Brake handelten.

Der Gesandte der Schwarzen Mafia verließ seinen Platz. Er gönnte dem Nachrichtensprecher und dem Tonmeister nicht einmal mehr einen Blick, als er hinaus schritt und das Studio verließ. Er wusste nicht, ob er noch einmal hierher zurückkehren würde. Sei­ne Untoten würden während sei­ner Abwesenheit jedenfalls dafür sorgen, dass der gegenwärtige Zu­stand, also die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse im Sender, erhalten blieben. Jeder wurde unerbittlich getötet, der sich ihnen widersetzte. Die wenigen, die ihren freien Willen behalten hatten, fügten sich dar­in. Es blieb ihnen nichts anderes übrig: es sei denn, sie waren lebensmüde.

*

Tab Furlong lag im Hof. Seine Taschenlampe brannte. Er richte­te den Lichtstrahl auf die Fenster über ihm. Tab lag auf dem Rücken. Die Tätowierung auf sei­ner Brust war deutlich sichtbar. Das war der Fehler, den die Unto­ten begangen hatten. So lange er auf dem Rücken lag, konnten sie sich ihm nicht nähern.

Niemand ließ sich an den Fenstern blicken. »Na, kommt doch!« brüllte Tab Furlong. »Habt ihr keine Lust mehr? Was hält euch ab?« Er kostete seinen Tri­umph aus. Dann überlegte er, wie er sich aus der unmöglichen Si­tuation befreien konnte. Sollte er sich zur Tür hin bewegen? Sollte er warten, bis die Polizisten kamen und ihn aus der missli­chen Lage befreiten? Er musste beide Fragen verneinen. So gut sah es überhaupt nicht aus für ihn. Er konnte doch nicht bis zum Tagesanbruch hier liegen bleiben. Etwas anderes blieb ihm nicht zu tun. Und wenn die Poli­zisten kamen, würden sie die Sa­che höchstens verschlimmern. Es brauchte nur einer nach Tab Furlong zu sehen und damit den Sichtkontakt zum Drudenfuß zu unterbrechen. Dann war Tab verloren. Gewiss würden die Un­toten diesmal nicht mehr zögern. Ja, Tab Furlong befand sich in einem furchtbaren Konflikt. Aber die Untoten ließen ihn nicht lange ungeschoren. Sie hatten bereits eine Lösung parat - eine allerdings, die Tab Furlong wenig nutzte. Ganz im Gegenteil: Die Untoten hatten einen solchen Fall mit in ihre Rechnung einbezogen und konterten. Eines der Fenster öffnete sich knarrend. Die Scheibe klirrte leise. Sofort blickte Tab Furlong hinüber. Am liebsten hätte er seine Pistole gezogen und hinauf geschossen, doch das hät­te nichts gebracht.

»Mein lieber Chefinspektor«, das war die Stimme von vorhin. Sie klang spöttisch. »Das haben Sie sich ja fein ausgedacht, aber es gibt keine Chance. Höchstens, wenn Ihre Frau endlich auftaucht und Sie zu befreien versucht.«

Kathryn? dachte Tab Furlong. Ja, was tat sie im Moment? Wieso höre ich eigentlich nichts mehr? Hat sich die Polizei denn zurück­gezogen? Die Untoten schienen einen gewichtigen Trumpf zu besitzen. Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natür­lich, es war doch so einfach für sie. Die wilde Hoffnung hatte Tab Furlongs Denken beherrscht. Aller Optimismus schwand dahin. Nein, er hatte nicht die geringste Chance, den Untoten zu entkom­men.

»Sind Sie schon von allein dar­auf gekommen, Furlong? Ich habe eine hübsche Handgranate in meiner Hand. Die Zündschnur baumelt herab. Mein Zeigefinger fängt den kleinen roten Ring. Soll ich daran ziehen? Nur so zum Spaß? Soll ich das kleine, nette Geschenk durch das offene Fens­ter werfen? Ich glaube kaum, dass Sie der Drudenfuß dagegen schützt. Oder sind Sie anderer Meinung?«

Tab Furlong knirschte mit den Zähnen. Die Ohnmacht erzeugte Zorn und er musste an sich hal­ten, um nicht unvernünftig zu reagieren. Nein, die Rolle des Heißsporns stand ihm schlecht zu Gesicht. Es war besser, wenn er sich beherrschte. Außerdem würde er so länger leben. Doch was nutzte es ihm? Vielleicht erwartete ihn viel Schlimmeres als der Tod? Die Untoten hatten etwas Besonderes mit ihm vor, sonst hätten sie sich nicht solche Mühe gegeben. Wollten sie vor ih­ren Auftraggebern, der Schwarzen Mafia, zeigen, wie man mit Gegner umzugehen hat? Abermals knirschte Tab Furlong mit den Zähnen. Dann begann er, sein Hemd zuzuknöpfen. Die Tä­towierung glühte wie Feuer. Es kribbelte und juckte unter der Haut. Tab widerstand dem Be­dürfnis, sich an der Tätowierung zu kratzen.

»Es gibt auch noch eine andere Lösung«, sagte die grollende Stimme des Untoten, »indem Sie diesen Drudenfuß endlich verde­cken und somit dem sicheren Tod entgehen. Was halten Sie denn davon, Chefinspektor?«

»Ich bin schon dabei.«

»Sehr vernünftig von Ihnen.«

»Falls Sie mir nicht glauben, Mister Untot, dürfen Sie sich gern überzeugen. Aber verbrennen Sie sich nicht die Finger daran, denn das Ding ist heiß.«

Der Untote lachte schaurig. Und dann erschien er im Fenster. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein normaler Mensch. Nur die ge­brochenen Augen und die Lei­chenblässe im Gesicht passten nicht dazu. Sie entlarvten ihn als Horrorgeschöpf, als ein Diener der Hölle. Der Untote flankte über die Fensterbrüstung und kam be­hände im Hof auf. Die Schwarze Macht hatte ihn vollkommen in der Gewalt, durchdrang jede Fa­ser seines nichtswürdigen Da­seins und verlieh ihm unnatürli­ches Leben.

»Sehr vernünftig von Ihnen!« wiederholte er grollend. Das Gesicht blieb maskenstarr und unbewegt. Tab Furlong konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken rieselte, als er den Untoten be­trachtete. Es war unvorstellbar, dass dies ein Leichnam sein sollte und doch war es so.

»Wohin bringst du mich?« zischte Tab.

»Du wirst es sehen.«

»Etwas anderes kannst du wohl nicht antworten? Hat man dich schlecht programmiert, oder was?«

»Nicht doch, Chefinspektor, werden Sie doch nicht ausfallend. Denken Sie an das gute englische Benehmen und enttäuschen Sie keinen finnischen Untoten. Wir sind hier bessere Manieren ge­wohnt.« Tab Furlong war über diese Worte so verblüfft, dass er nicht sofort darauf reagieren konnte. Der Untote winkte mit der Pistole. »Geh voraus, Furlong. Ich hoffe nur im Interesse der Po­lizei, dass sie uns freien Abzug gewährt. Was meinst du?«

»Ich habe da so meine Beden­ken«, murmelte Tab Furlong brü­chig. Von seinem Bewacher ge­trieben ging er zur Hoftür. Sie stand nur noch einen Spalt breit offen. Der Wind hatte sie zu ge­trieben. Tab Furlong schielte über die Schulter zurück. Der zweite Untote stieg aus dem Fenster und sprang herab. In diesem Augen­blick krachten am Eingang des Hauses Schüsse.

Der Untote in Tabs Rücken lachte schadenfroh. »Diese Narren von Polizisten glaubten doch tat­sächlich, dass sie mit ihren Gas­granaten alle betäubt haben. Das war gewiss ein heißer Empfang, für sie völlig unerwartet.«

Tabs Magen krampfte sich un­willkürlich zusammen. Gewiss hatte es wieder Tote, zumindest Verletzte gegeben. Er hasste das Böse. Tab Furlong würde es be­kämpfen bis an sein Lebensende. Obwohl es jetzt so erschien, als gäbe es kein Entrinnen mehr für ihn. Ich darf mich noch nicht opfern, dachte er. Vielleicht gibt es doch noch eine winzige Chan­ce. Ich muss sie dann nur er­kennen und rechtzeitig wahr­nehmen. Mein Gott, Ka­thryn, bitte halte dich zurück. Du hast in diesem grausamen Spiel keine Chance und kannst mir nicht helfen.

Sie betraten den Gang, der di­rekt zur Haustür führte. Wollte der Untote wirklich einfach so mit ihm ins Freie spazieren? Es sah ganz danach aus. Wie würden die Polizisten reagieren, die draußen auf sie warteten? Abermals dach­te Tab an seine Frau. Hoffentlich hatte sie sich zurückgezogen. Die Chance! hämmerten seine Ge­danken. Es muss noch eine Chance geben. Verdammt, es kann doch nicht alles so einfach aus sein. Hat mich denn alles Glück verlassen? Das Böse darf nicht triumphieren, nein, das darf nicht sein.

Er wurde angewiesen, die Haustür zu öffnen. Sofort grellten Scheinwerfer auf und blendeten ihn. Das Licht seiner Taschen­lampe wurde überflüssig. Er schaltete die Lampe aus und blin­zelte in die Helligkeit hinein.

»Weiter!« zischte der Untote. »Nur keine Angst. Die werden doch nicht einen Londoner Kollegen erschießen...«

»Hoffentlich nicht!« knurrte Tab Furlong halblaut. »Sie könnten glatt übersehen, wer ich bin und mir eine Kugel verpassen. Dann bin ich für euch verloren.«

»Kommst dir ziemlich wichtig vor, was?«

»Bei dem Aufwand, den ihr meinetwegen betreibt: ja! Aber Mark Tate wäre für euch noch wichtiger. Nur ist er leider nicht greifbar. Ihr müsst mit meiner Wenigkeit Vorlieb nehmen.« Tab Furlong schritt über die Türschwelle. Der Bürgersteig lag eine Stufe tiefer. Die Scheinwerfer waren so grell, dass er nichts sah außer der grausamen Lichtflut. Tabs Arme baumelten herab. Die Pistole beulte seine Tasche aus. Der Untote hatte sie ihm nicht abgenommen. Hoffentlich ver­stan­den das die Polizisten nicht falsch und glaubten gar, er habe sich auf die Seite der »Terroristen« geschlagen. Tab ging weiter. Der Untote blieb dicht hin­ter ihm. Tab hörte keinen Atem. Der Untote bewegte sich lautlos wie eine Katze. Aber Tab spürte seine Anwesenheit. Dieses Hor­rorwesen strahlte das Böse aus. Es war eine Aura, die Grauen hervorrief. Und Todesangst! Tab Furlong schluckte schwer. »In welche Richtung soll ich mich wenden?« erkundigte er sich leise. Es gab keine Antwort. Wenigstens keine mündliche. Dafür bellten mehrere Pistolenschüsse. Polizis­ten hatten sich dicht an die Hauswand gedrückt und die ganze Zeit darauf gewartet, bis je­mand das Haus verließ. Dies war jetzt geschehen. Tab Furlong ließen sie passieren, ohne dass ihm etwas geschah. Aber dann tauchte sein Bewacher auf. Auf den hatten sie es abgesehen und sie schossen, ohne zu zögern, um Tab eine Chance zu geben. Dach­ten sie wenigstens. Die Polizei von Helsinki bewies damit, dass sie zu handeln verstand. Eine vor­bildliche Polizei. Werde es mir merken und meinen Kollegen im Yard erzählen - falls ich dies hier überleben sollte, dachte Tab sar­kastisch. Denn die Polizisten hatten einen winzigen Fehler ge­macht: Sie hatten den grausigen Gegner unterschätzt. Ihre wohl gezielten Schüsse trafen ins Ziel. Keiner der Kugeln verfehlte den Untoten. Das Horrorwesen wurde durchgeschüttelt und beinahe von den Beinen geworfen. Und dann lachte es grollend. Es lachte den entsetzten Polizisten ins Gesicht und verhöhnte sie. Einer verlor vollends die Nerven und ballerte sein ganzes Magazin leer. Auch diesmal ging kein Schuss daneben. Das waren geschulte Spezialisten, die normalerweise keinen Fehler machten und genauso agierten, wie man es ihnen beigebracht hatte. Nur hatte man etwas vergessen: Sie auf Untote vorzubereiten, denn das war bei der Ausbildung in keiner Weise vorauszusehen. Der Untote überstand alles un­beschadet. Das Blei machte ihm nichts aus. Es gab für die Polizisten keine vernünftige Erklärung, deshalb warfen sie sich schreiend herum und suchten ihr Heil in der Flucht. Der Untote unterließ es ausnahmsweise, hinter ihnen herzuballern, denn dafür hätte er die Waffe von Tab Furlong wegnehmen müssen. Das wollte er nicht riskieren. Tab sollte nicht die geringste Chance erhalten. Auch jetzt nicht.

»Hoffentlich war euch das eine Lehre!« kreischte das Höllenge­schöpf. »Räumt das Feld, löscht die Scheinwerfer und lasst mich mit meinem Gefangenen abzie­hen. Und keinen Schuss mehr. Ihr habt gesehen, dass es nichts nützt. Wir wollen keine unnötige Munition verschwenden. Außerdem gefährdet ihr euren Freund Tab Furlong.« Abermals lachte er grollend. Gewiss standen den Polizisten die Haare senkrecht zu Berge. Das hier würden sie niemals vergessen. Sie würden es gewiss auch nicht wei­tererzählen, um nicht als elende Lügner beschimpft zu werden. Wer mochte ihnen schon glauben, dass die Terroristen in dieser Nacht unverwundbar waren? Die ersten Scheinwerfer erloschen. Schnelle Schritte zeigten an, dass ein Großteil der wackeren Beamten die Flucht ergriff. Das war auch das Vernünftigste, was sie tun konnten.

Tab Furlong dachte wieder an seine Frau Kathryn. Wo war sie? Hinter der Batterie von Schein­werfern? Oder hatte sie sich ver­nünftigerweise zurückgezogen? Er kannte Kathryn besser als jeder andere Mensch und doch hatte er keine Ahnung, was im Moment in ihrem hübschen Kopf vorging. Gewiss versuchte sie, etwas zu seiner Rettung zu tun, aber wer ahnte schon, wie sie das an­stellen wollte? Tab Furlong ließ sich von dem Untoten weiter­treiben. Sie entfernten sich mehr und mehr von dem Haus und gingen die Straße hinunter. Ande­re Untote lösten sich vom Haus und folgten im gebührenden Ab­stand. Es schien, als hätten sie einen Heidenrespekt vor Tabs Tä­towierung. Das Haus leerte sich allmählich. Sämtliche Untoten zo­gen sich zurück. Bald würde die Polizei eindringen und nach Spuren suchen. Sie würden sich wundern, dass die Untoten keine Fingerabdrücke hinterlassen hatten. Das Böse hinterließ ande­re Spuren und die waren für nor­male und in magischen Dingen unbewanderte Menschen nicht lesbar.

Tab Furlong knirschte mal wieder mit den Zähnen. Es wurde ihm in letzter Zeit zur Gewohn­heit. Niemand hielt sie mehr auf. Keiner der Polizisten wagte einen Schuss. Ob der Frieden nicht trügerisch war? Aus der Dunkelheit tauchte ein Licht auf und raste schnell heran. Ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Jetzt wurde abgeblendet. Das Auto hielt genau auf sie zu und bremste im letzten Augenblick. Der Untote machte keine Anstalten zum Ausweichen. Ruhig wartete er. »Damit geht es weiter!« grollte er dumpf. »Ich hoffe, Chefinspektor, dass Sie vernünftig sind.«

»Allmählich müsstest du dich entscheiden, Höllensohn, ob du mich siezen oder duzen willst.«

»Lass mir doch meine kleine Marotte. Schließlich war ich eine ganze Weile tot, bis ich diesen Auftrag bekam.«

»Ach, wie lange denn?«

»Was weiß ich? Als ich das Zeitliche segnete, war ich schon recht betagt. Wer hätte geglaubt, dass ich noch einmal so fit sein könnte?«

Tab Furlong kam zu einem Schluss: Der die Untoten führte, besaß einen recht eigenartigen Humor, denn das, was der Bur­sche sagte, war natürlich nicht auf eigenem Mist gewachsen. Es gab einen Macher im Hin­tergrund, einen Führer der Unto­ten. Wer war es? Einer der Schwarzen Mafia? Kannte ihn Tab Furlong? Ganz gewiss nicht! dachte er. Es ist auch egal. Je­denfalls kennt er mich und will mir ans Leder. Das allein zählt. Und dass er seine Untoten so schnodderich reden lässt, beweist seine ungeheure Selbstsicherheit. Aber manch einer hat sich schon übernommen, weil er seine eigenen Möglichkeiten und Fähig­keiten falsch einschätzte. Auch diesmal hätte Tab Furlong mit den Zähnen geknirscht, aber jetzt ging es ihm schon selber auf die Nerven. Deshalb unterließ er es und stieg in den Wagen. »Bin echt gespannt.«

»Keine Angst mehr?«

»O doch, Höllensohn, oder glaubst du, meine Zähne klappern, weil ich friere?«

Der Wagen fuhr an. Tab Furlong saß allein im Fond. Der Untote hatte auf dem Beifahrer­sitz Platz genommen und bedroh­te ihn nach wie vor mit der Pisto­le. Der Fahrer drehte sich nicht ein einziges Mal um. War es eben­falls ein Untoter? Tab Furlong zweifelte nicht daran. Der Bewaff­nete deutete durch die Heck­scheibe hinaus. »Damit du nicht übermütig wirst, Furlong: Wirf doch mal einen Blick nach hin­ten.« Da stand noch ein Wagen - direkt in einer Einfahrt. Tab sah ihn, weil er gerade die Schein­werfer einschaltete. »Die folgen uns auf dem Fuße. Wenn du also versuchen solltest, uns beide zu überrumpeln, ist damit nichts ge­wonnen. Ständig ist ein Ma­schinengewehr auf dieses Fahr­zeug gerichtet. Es wird losrattern, sobald etwas Unvorhergesehenes geschieht und...«

»... und wird das hübsche Fahrzeug in Brüche schießen. Geht man so mit fremdem Eigen­tum um?«

Der Untote zuckte die Achseln. »Nur, wenn man es gestohlen hat.«

»Nett von euch. Wenn ich Zeit habe, lache ich über deine blöden Witze.«

Als der Abstand zu groß zu werden drohte, fuhr der andere Wagen ebenfalls an. Es war, wie es der Untote versprochen hatte. Der andere folgte in einigem Ab­stand. Tab Furlong konnte beim besten Willen nichts unter­nehmen. Selbst sein Drudenfuß würde nicht bis zum anderen Wagen wirken.

Der Untote streckte ihm die leere Linke hin. »Gib mir deine Pistole, Furlong und auch die Ta­schenlampe. Diese Sachen brauchst du jetzt nicht mehr.«

Die Pistole? dachte Tab Furlong überrascht. Wieso gerade die? Der braucht doch überhaupt keine Angst davor zu haben. Das ließ nur einen einzigen Schluss zu: Es waren auch noch Men­schen im Spiel! Besessene? Ja, die würden nicht immun sein gegen Kugeln. »Darf ich jetzt end­lich erfahren, wo unser nächstes Ziel liegt? Oder ist das noch immer ein großes Geheimnis?«

»Es gibt eine Nobelbar mit Namen Troubadour«, sagte der Untote bereitwillig. »Sie hat schon vor einem Jahr bei der Terrorakti­on eine Rolle gespielt. Es bereitet uns besonderes Vergnügen, dass wir ähnliche Schauplätze bevor­zugen. Was hältst du davon? Wir wiederholen die Vorgänge in der Geschichte mit anderen Vorzei­chen. Hast du damals die Zeitungen auch richtig studiert? Ist dir der Name >Troubadour< ein Begriff?«

»Nein, denn dieser Name hat damals gefehlt. In der ganzen Presse wurde davon nichts be­richtet.«

»Na, dann weißt du es jetzt. Denn der Besitzer dieser Bar hat einmal mit dem russischen KGB gemeinsame Sache gemacht. Eigentlich war er schon immer gegen die Terroristen.«

»Lebt er denn überhaupt noch?«

»Natürlich. Wenn dir Gegentei­liges zu Ohren gekom­men sein sollte, dann vergiss es wieder, denn es stimmt nicht.«

»Es ist wirklich nett, wie wir hier plaudern. Habe mir schon immer gewünscht, dass Tote ein­mal so gesprächig sind. Zeigt es doch, wie unwahr die Be­hauptung ist: Tote Zeugen bleiben stumm. Ein Krimititel nicht wahr? Manch ein Mörder wäre schockiert, wenn es mehr Untote gäbe. Aber vielleicht würde es dann auch keine Morde mehr geben?« Tab Furlong betrachtete den Untoten und plötzlich kam er sich albern vor. »Meine Witze werden auch immer schlechter.« Er zuckte mit den Schultern. »Kein Wunder, denn ich bin nicht jeden Tag in einer solchen Situa­tion.« Endlich zog er die Taschen­lampe, die er in die Jackentasche gesteckt hatte und übergab sie. Der Untote übernahm sie sehr vorsichtig. Er vermied die direkte Berührung mit Tab. Gewiss tat er das nicht ohne Grund. Tab fisch­te auch die Pistole aus der Tasche und reichte sie dem Untoten. Dabei richtete er es so ein, dass ihn trotz aller Vorsicht der Untote doch berührte. Es zischte leise. Rauch kringelte auf. Der Untote zuckte zurück. Die Berührungs­stelle war schwarz verkohlt. Noch während Tab die Stelle betrachte­te, verschwand die grässliche Wunde. Aha, dachte Tab Furlong schadenfroh, Vater hat doch nicht so ganz Unrecht gehabt: Das Böse kann mir nichts anhaben. Ganz im Gegenteil, es muss sich sogar sehr in acht nehmen, damit ihm nicht selber was passiert. Er hätte nur das Hemd zu öffnen brauchen, um sowohl seinen Bewacher als auch den Fahrer zu vernichten. So einfach und gleichzeitig so schwer war es.

Der Untote schien Tabs Ge­danken zu erraten, denn er deu­tete wieder einmal zur Heck­scheibe hinaus. Tab wandte kurz den Blick und sah den ver­folgenden Wagen. »Auf zur Bar >Troubadour<. Ja, ich bin wirklich gespannt darauf«, murmelte Tab Furlong und verschränkte die Arme vor der Brust. Irrte er sich oder gab sich der Untote plötzlich erleichtert. Ja, es musste ein Irrtum sein, denn erfahrungsgemäß kannten Untote keine Furcht vor der Ver­nichtung. Für sie war es nämlich nur eine Befreiung von einem furchtbaren Los, das sie sich nicht selbst ausgesucht hatten. Sie waren nichts anderes als leere Hüllen, in denen das Böse so lange nistete, bis man es vertrieben hatte.

*

Eigentlich war es in der Nobelbar >Troubadour< selten so hell. Höchstens wenn morgens um sieben die Putzfrau kam, um die Spuren der Nacht zu entfer­nen. Das hielt man gewiss deshalb so, damit die Gäste die Preise auf der Getränkekarte nicht so gut lesen konnten. Auf jeden Fall bekam man vom allge­meinen Stromausfall nicht viel mit. Die Finsternis dauerte nur Sekunden und die Gäste nahmen zunächst an, es handele sich um einen der zahlreichen Gags, mit denen der Besitzer gern die Leute überraschte. Dann flammte das Licht wieder auf. Falls man die spärliche Beleuchtung überhaupt so umschreiben durfte. Im Grunde genommen war nur auf der Bühne zu sehen, was in der Bar geschah. Da wurde nicht an Helligkeit gespart, damit den Gästen auch ja keine Kleinigkeit entging. Das Stromaggregat befand sich in einem abgeschirmten Kellerraum. Das Geräusch war hier oben nicht zu hören. Ein voluminöses Dieselaggregat, dessen Abgase über das Dach weggeleitet wurden.

Der Besitzer, Kari Nummi, fand es trotzdem für notwenig, die Leute darauf aufmerksam zu ma­chen, was wirklich passiert war und wie es in der Stadt aussah. Er griff nach seinem Mikrophon und verkündete mit sonorer Stimme: »Es besteht keinerlei Grund zur Besorgnis, meine Damen und Herren, obwohl der Lichtausfall keineswegs als besonderer Gag gedacht war. Der Stromausfall betrifft die ganze Stadt Helsinki. Erinnern Sie sich an die Vorgänge vor über einem Jahr? Tja, dies hier ist also eine Neuauflage. Nicht sehr erhei­ternd, nicht wahr? Aber keine Sorge, bei uns geht jedenfalls das Programm weiter - wenn Sie wollen bis zur Dämmerung. Es ist kaum anzunehmen, dass in dieser Nacht die Polizei strenge Maßstäbe anlegt. Bleiben Sie hier und vergessen Sie, was draußen geschieht. Wir haben eine gut sortierte Bar, flotte Bedienungen und ein Programm, das mehr ist als nur kurzweilig. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Auf­enthalt im >Troubadour<.«

Die Leute klatschten Beifall und pfiffen fröhlich. Gerade fand auf der kleinen Bühne eine Vor­führung statt, die mit »Die drei Grazien« umschrieben wurde. Besser wäre es gewesen, man hätte die Show: »Die drei Splitternackten« genannt, denn die Mädchen trugen nichts als blanke Haut. Ein Grund mehr für die Herren der Schöpfung, der allgemeinen Dunkelheit in Helsinki keinen Gedanken mehr zu widmen. Man ergötzte sich an den sauber gewachsenen Girls und sah ihnen beim raffinierten Tanz zu.

Kari Nummi schaltete die Sprechanlage aus und lehnte sich zurück. Er befand sich im Regie­raum, eine winzige Kammer, von der aus die Scheinwerfer, die Hebebühne und andere diverse technische Tricks bedient wurden. Der Mann, der dafür verantwortlich war, hatte seinen Platz nicht verlassen. Das Ton­bandgerät lief wieder und sorgte für den nötigen Background für die Show. Nummi war ein schlan­ker, öliger Typ um die Vierzig. Sein dunkles Haar war glatt zu­rückgekämmt. Der schmale Ober­lippenbart machte ihn nicht schö­ner, sondern gab seinem Gesicht eher etwas Verschlagenes. Er sah seinem Untergebenen bei der Arbeit zu. Der Mann arbeitete routiniert. Er verstand sein Hand­werk. »Was hältst du von der Sa­che, Veiko?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Chef.«

»Wir haben letztes Jahr bei der schlimmen Aktion eine nicht un­beachtliche Rolle gespielt. Beina­he ließ ich mein Leben. Das KGB wollte mir das Lebenslicht aus­blasen. Ich wundere mich, wieso die Agenten des russischen Ge­heimdienstes inzwischen das In­teresse so nachhaltig an mir verloren haben.«

»Das mag daran liegen, dass sie nicht mehr interessant sind für sie, Chef. Außerdem wissen Sie nichts über das KGB. Sie können also auch nichts ver­raten. Warum sollte man Ihnen denn zu nahe treten? Man lässt Sie links liegen. Damit hat es sich.«

»Gut gesagt, Veiko, aber ich denke mir, dass es eine gewisse Parallelität zwischen damals und heute gibt. Ich war auch vor einem Jahr gegen die ganze Akti­on. Mit Recht, wie sich später herausstellte. Glaubst du, dass mich der amerikanische CIA noch immer unter Beobachtung hält?«

»Das ist nicht auszuschließen, obwohl der CIA hier in Finnland nicht viel zu bestellen hat. Die Finnen sind auf der ganzen Welt für ihre Politik der eigenen Wege bekannt. Denken Sie nur an den Pakt mit den Russen, in dem man sich gegenseitige militä­rische Hilfe verspricht, falls es einen Angriff von deutscher oder von anderer Seite gibt. Dies ist nur ein Punkt. Ein weiterer ist, dass es inzwischen auch einen ähnlichen Pakt mit der Nato gibt. Für die Russen sind wir Finnen Kapitalisten und für den Westen sind wir Kommunisten. In Wirklichkeit bewegen wir uns wohl irgendwo in der Mitte.«

Kari Nummi seufzte. »So genau wollte ich eigentlich nicht aufge­klärt werden, Veiko. Weißt du, in dem vergangenen Jahr hat sich alles geändert - für mich wenigs­tens. Ich habe mit diesen miesen Spionagegeschäften nichts mehr zu tun, habe meine Arbeit als In­formant völlig an den Nagel ge­hängt. Und jetzt passiert solches. Sieht so aus, als wäre mal wieder eine Terrorgruppe am Werk, die vor nichts zurückschreckt. Ir­gendwelche Wahnsinnige, die das Chaos über unsere schöne Stadt und vielleicht sogar über das ganze Land bringen wollen. Zum zweiten Mal innerhalb von relativ kurzer Zeit gerät die Stadt in Misskredit.«

»Was haben Sie denn damit zu tun, Chef?« Während Veiko sprach, hantierte er an den Schaltern und Knöpfen herum und verfolgte mit den Schein­werfern jede Bewegung auf der Bühne. Das Spiel eines Vir­tuosen. Kein Wunder, dass Kari Nummi zu Veiko ein solches Ver­trauen hatte. Fast konnte man meinen, sie wären Freunde ge­worden, obwohl Veiko erst seit einem halben Jahr bei ihm arbei­tete. Veiko wurde von ihm gut be­zahlt und hatte sich als Mitarbei­ter bestens bewährt. Ein Mann, auf den sich Kari Nummi hundertprozentig verlassen konn­te. Das brauchte jemand in seiner Situation.

Jetzt schüttelte Nummi den Kopf. »Du willst mich an­scheinend nicht verstehen, Veiko. Es ist nicht mehr als nur eine dumpfe Vorahnung, weißt du? Ich ahne, dass ich auch diesmal gezwungen sein werde - völlig gegen meinen Willen natürlich -, in dem makabren Spiel eine Rolle zu spielen.«

Veiko zuckte die Achseln. Ein Zeichen dafür, dass er diese Mei­nung seines Chefs nicht teilen konnte. »Tut mir leid, Chef, aber das kann ich nicht erkennen. Glauben Sie denn wirklich, es handelt sich um dieselben Leute wie damals?«

Kari Nummi stand auf. »Das nicht gerade. Deshalb sage ich ja: Es ist nur eine dunkle Vorahnung.«

»Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ich halte nichts von Ahnungen.«

Kari Nummi klopfte ihm auf die Schulter. »Danke, Veiko, das be­ruhigt mich ein wenig.« Er warf einen Blick auf die Bühne. »Die drei Grazien« waren längst abge­löst worden. Gerade trat eine Dame im Westerndress auf. Sie verblüffte die Zuschauer zu­nächst damit, wie schnell sie die Colts ziehen konnte. Und wäh­rend sie Platzpatronen ver­ballerte, entledigte sie sich ihrer Kleidung. Kaum war sie nur noch in Slip und BH, als ein Mann hin­zutrat. Ein finster aussehender Typ, ebenfalls bewaffnet. Und da zeigte sich, dass die Lady zuviel herumgeballert hatte: Sie besaß keine Munition mehr. Also muss­te sie mit anderen Waffen wei­terkämpfen: Mit weiblichen! Das tat sie denn auch zur Genüge und zur Freude des finsteren Westernburschen. Ja, die Gäste der Nobelbar »Troubadour« amü­sierten sich köstlich. Nur Kari Nummi konnte die Freude seiner Gäste nicht teilen. Außer Veiko ahnte niemand etwas von seinen düsteren Gedanken und seinen Sorgen.

Abrupt wandte er sich ab, klopfte Veiko noch einmal auf die Schulter, der alle Hände voll zu tun hatte und verließ den Regie­raum. Kari Nummi lenkte seine Schritte zur Eingangstür. Dort war ein bulliger Typ aufgestellt, der nicht nur dafür sorgte, dass es immer genügend Gäste gab, sondern auch dafür, dass die falschen Gäste sehr schnell wieder hinausbefördert wurden. Kari Nummi hielt seine Bar sau­ber. Das schlug sich empfindlich auf die Preise nieder, hatte sich in den letzten Jahren jedoch be­währt. Bei Nummi gab es keine Schlägereien und auch keine Messerstechereien. Er verkehrte mehr oder weniger freundschaft­lich mit der hiesigen Polizei, ob­wohl diese Freundschaft seit einem Jahr etwas getrübt schien, doch in der Nobelbar verlief alles korrekt und es gab keinen Grund zur Klage. Die Behörde hatte keinerlei Handhabe gegen Kari Nummi.

Der Barbesitzer grüßte den Bulligen und öffnete die Tür.

»Sieht trostlos aus da draußen, Chef!« brummte der Vierschrötige.

Kari Nummi achtete nicht dar­auf. Tief sog er die Nachtluft in seine Lunge. Das einzige Licht weit und breit war die Beleuch­tung der Bar. Das gefiel Kari Nummi ganz und gar nicht. Man konnte das »Troubadour« einen Kilometer weit sehen. »Sind schon Leute gekommen, die bei uns Un­terschlupf finden wollten?« fragte er seinen Türsteher.

Der Vierschrötige nickte. »Ja, aber sie hatten hier wenig Glück. Ich schickte sie weg.«

»Am besten, du löscht das Transparent draußen. Sonst be­kommst du heute Nacht keine Ruhe.« Noch einmal blickte Kari Nummi hinaus. Und da sah er die beiden Männer, die gerade die Straße überquerten und genau auf ihn zusteuerten. Für Se­kundenbruchteile vergaß sein Herz zu schlagen. Von den beiden Fremden ging etwas aus, was er nicht zu definieren vermochte. Sie wirkten irgendwie düster, drohend und unheimlich, Obwohl sie nicht einmal Waffen in den Fäusten hatten. Das Leuchttrans­parent mit der grünen Aufschrift »Troubadour« ließ ihre Gesichter noch bleicher und unwirklicher erscheinen als sie ohnedies schon waren. Kari Nummi stand stocksteif da. Doch da kam Bewegung in ihn. Er zog sich zurück. »Halte mir die Kerle vom Leib!« befahl er keuchend und deutete hinaus.

Der Türsteher nickte grimmig. »Keine Bange, Chef, das werden wir gleich haben.«

»Schieß Sie, wenn notwendig, über den Haufen, hörst du? Nimm keine Rücksicht.«

Der Bulle zupfte die linke Augenbraue hoch. Die Angst sei­nes Chefs erschien ihm reichlich übertrieben.

»Hörst du?« fragte Kari Nummi eindringlich. »Ich bin sicher, dass die zu der Terrorbande gehören.« Weiter kam er nicht mehr, denn die beiden hatten die Eingangstür erreicht.

Der Rausschmeißer schob sein breites Kreuz vor Kari Nummi und knurrte: »Kein Eintritt mehr. Unser Lokal ist leider schon über­füllt.«

»Für uns wirst du noch ein Plätzchen finden«, gab der eine zurück und der andere fügte hin­zu: »Wollen wir wetten, Sonnyboy?«

Die beiden gingen ungerührt weiter. Der Rausschmeißer hatte keine andere Wahl, als kräftig zu­zulangen. Seine mächtigen Fäus­te wirbelten. Sie trafen auch ins Ziel, weil die Kerle keinerlei An­stalten machten, seinen Schlägen auszuweichen. Und er hatte das Gefühl, auf Granit zu treffen. Die beiden wackelten nicht einmal. Der erste schlug jetzt ebenfalls zu. Sein Schwinger landete in der Magengegend. Der andere setzte mit einem Uppercut nach und fegte den vierschrötigen Türsteher von den Beinen.

Geistesgegenwärtig sprang Kari Nummi zur Seite, um von dem mächtigen Körper nicht er­schlagen zu werden. Der Tür­steher landete unsanft am Boden, doch er war nicht völlig ausge­schaltet. Stöhnend zog er seine Pistole und richtete sie auf die beiden Angreifer.

»Halt, stehen bleiben, keinen Schritt weiter!« brüllte Kari Num­mi. Gottlob war die Tür zum In­nern des Lokals dicht gepolstert. Man würde also nichts hören. Nicht auszudenken, was das sonst für Folgen hätte haben können. Vielleicht eine Panik? Die beiden Eindringlinge lachten nur. Einer beugte sich über den Raus­schmeißer und packte ihn an Rockaufschlag. Mühelos wuchtete er den schweren Körper empor. Auf die Waffe achtete er über­haupt nicht. Kari Nummi traute seinen Augen nicht. Sein Tür­steher hatte die ganze Zeit über gezögert, die Waffe einzusetzen. Schließlich war er als Raus­schmeißer und nicht als Mörder engagiert worden. Jetzt zögerte er nicht mehr länger. Er bangte nicht ohne Grund um sein Leben. So kampfstarke Gegner hatte er noch nie erlebt. Wo er sonst hin­schlug, pflegte kein Gras mehr zu wachsen. Er krümmte den Zeige­finger um den Abzug. Der Gegner hatte fast direkt Berührung mit der Pistolenmündung. Das de­gradierte das Krachen des Schusses zu einem dumpfen Laut. Die Kugel drang in die Brust des Angreifers. Der lachte nur auf und stellte den Bulligen auf die Beine. Dabei zeigte er Kräfte wie ein Mister Universum, obwohl er die Figur eines Fliegengewichtlers hatte. Der zweite Schuss ging los. »Na, na!« machte der Eindringling tadelnd. »Du sollst deine Munition nicht unnötig verschwenden. Vielleicht brauchst du sie noch für dich selbst? Manchmal ist der Tod eine wahre Erlösung für einen, der sich echt und ausweglos in der Klemme befindet.«

Der Vierschrötige stierte ihn fassungslos an und hatte offen­bar alle Mühe, nicht laut loszu­brüllen. »Nein!« murmelte Kari Nummi entsetzt und schüttelte den Kopf. »Nein!« wiederholte er, weil er hier etwas erlebte, was entgegen jeglicher Vernunft sprach.

Der zweite Eindringling wandte sich an ihn. »Sei friedlich, Nummi und dir passiert nichts. Vielleicht sollten wir deinen Bullen hier am Leben lassen. Wenn er ordentlich spurt, bleibt er verschont.«

»Was - was wollen Sie von mir?«

»Der Zufall führt uns hierher, mein lieber Nummi. Wir brauchen deine elende Hütte, um ein kleines Spielchen zu spielen. Deine Gäste werden dabei kaum belästigt. Es sei denn, sie werden zu neugierig.«

»Was - was für ein Spielchen?«

»Lass dich einfach über­raschen, Nummi. Wir werden jetzt gehen und du wirst so tun, als wäre überhaupt nichts passiert. Bald wird ein Wagen vorfahren und dir einen Gast bringen. Nicht lange danach kommt der zweite Gast. Kapiert?«

Wahrheitsgemäß antwortete Kari Nummi: »Kein einziges Wort.«

Sein vierschrötiger Raus­schmeißer wurde nicht mehr in Schach gehalten. Er stand gegen die Wand gelehnt und warf ab­wechselnd Blicke auf seine Pistole und auf den Mann, auf den er ge­schossen hatte, ohne dabei eine Wirkung zu erzielen. Und dann tat er etwas völlig Unerwartetes. Blitzschnell hob er die Waffe und hielt sich die Mündung in den Mund. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Der Tür­steher von Kari Nummis Nobelbar »Troubadour« verkraftete das Erlebnis nicht und wollte seinem Leben ein Ende machen.

Doch sein Gegner war schneller. Er ergriff das Handge­lenk des Bullen und bog den Arm mit Leichtigkeit herunter. Der Türsteher hatte ein taubes Gefühl in der Hand und konnte plötzlich nicht mehr den Abzug seiner Pis­tole betätigen. »Nicht doch«, sagte sein Gegner und nahm ihm die Pistole ab. »Das solltest du nicht tun, so lange du noch von uns gebraucht wirst!« Er öffnete die Jacke des Rausschmeißers und placierte die Pistole wieder an ih­ren Platz. Grinsend tätschelte er die Stelle, wo sie verborgen war. »So, das hätten wir wieder. Und du bist ganz brav und vergisst nicht, zu was wir fähig sind. Diese Nacht gehört uns allein - und dem, was wir durchführen. Niemand braucht sich über das zu wundern, was er sieht und erlebt. Wir sind die Schwarze Macht.«

Kari Nummi konnte nicht mehr anders. Er schlug ansatzlos zu. Seine Faust traf den Mann vor ihm direkt an der Kinnspitze. Kari Nummi interessierte sich nicht für die Wirkung seines Schlages, sondern drehte sich blitzschnell um und wollte fliehen. Er wollte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Jawohl, er war nicht ganz sauber. Seine Vergangenheit war reichlich befleckt. Aber seit einem Jahr versuchte er, ein friedlicher Bürger zu werden. Nie­mand durfte ihn zwingen, wieder kriminell zu handeln.

Weit kam er nicht. Die Hand seines Gegners schoss vor und packte ihn im Genick. Ein Ruck und Kari Nummi landete an der Wand. Eine Sekunde lang hatte er das Gefühl, sämtliche Knochen im Leib gebrochen zu haben. Sei­ne Jacke verrutschte, desgleichen die Seidenfliege. Etwas schob sich aus dem Hemd: Ein silbernes Kreuz. Kari Nummi trug es schon seit Jahren als eine Art Talisman, obwohl er keineswegs religiös ver­anlagt war. Für ihn hatte es bis vor einem Jahr nur einen einzigen Gott gegeben und der hatte Geld geheißen.

Die beiden Eindringlinge stierten auf das silberne Kreuz und begannen zu bibbern. »Mach das Ding wieder weg!« keuchte der eine. Er streckte seine Hand aus und wollte nach dem Kreuz greifen. Auf halbem Weg stoppte die Hand. Irrte sich Kari Nummi oder begann das Kreuz zu glü­hen? Die Hand des Eindringlings fiel schlaff herunter. Die beiden Typen schwankten wie Schilfhal­me im Wind. Kari Nummi und sein Türsteher hatten beide gese­hen, zu was die beiden Kerle fähig waren und jetzt reagierten sie so auf ein simples Silberkreuz? Das war mehr als unfassbar. Die Schwarze Macht? dachte Kari Nummi bestürzt. Sollte es doch so etwas wie Magie und dergleichen geben? Waren die beiden mit dem Teufel im Bunde und konnten sich deshalb so überlegen geben? Alles sprach dafür - auch diese unerklärliche Scheu, ja Angst vor dem Kreuz. Einer der Eindringlinge stieß ein Knurren aus - wie von einem Raubtier. Er überwand sich soweit, dass er in die Jackentasche greifen und eine geladene Waffe hervorkramen konnte. Per Brake hatte seine Untoten mit allem versorgt, was sie benötigten. Die Mündung der tödlichen Waffe richtete sich auf Kari Nummi. »Weg mit dem Ding, habe ich gesagt!« zischte der Untote. »Sonst ist es aus mit dir!« Das war ein Argument, dem gegenüber sich Kari Nummi nicht verschließen konnte. Er schob das Silberkreuz wieder auf den Platz zurück, auf den es gehörte: Unter das Hemd. Die beiden Untoten entspannten sich. Jetzt waren sie wieder so überlegen wie vordem. »So ist das richtig«, sagte der Bewaffnete zynisch. »Ich rate dir, das Kreuz verschwinden zu lassen. So etwas hätten wir bei dir überhaupt nicht vermutet.«

»Das ist der Unterschied zwi­schen uns«, brummt Kari Nummi anzüglich. »Ich war niemals ein Heiliger und habe gewiss viel Un­recht getan in meinem Leben, aber ein Kreuz wie dieses kann mir keinen Schaden zufügen. Vielleicht, weil ich trotz allem ein Mensch geblieben bin und nie­mals völlig dem Bösen verfiel?«

»Du hast meine Warnung ge­hört«, knurrte der Untote mit grabestiefer Stimme. »Glaube mir, Nummi, du hast keine Chance. Du musst gehorchen. Oder soll ich dir noch ein paar Beweise da­für liefern, zu was wir in der Lage sind? Wenn wir wollen, verwandelt sich deine Räu­berhöhle in eine Gluthölle, aus der keiner entrinnt. Lass dir das einmal durch den Kopf gehen, be­vor die angekündigten Leute hier erscheinen.«

Kari Nummi hatte für Se­kunden geglaubt, doch noch eine Chance zu haben - durch das Kreuz. Jetzt wusste er wieder, wie trügerisch diese Hoffnung war. Ein Kreuz allein genügte nicht, diese Art von Terroristen in Schach zu halten. Wenn man sie damit bekämpfen wollte, schossen sie mit Pistolen zurück. Kari Nummi hatte keinerlei magische Kenntnisse. Das machte ihn hilflos und lieferte ihn den Untoten aus. »Ich - ich werde das Kreuz verschwinden lassen«, versprach er brüchig. »Was - was muss ich tun, wenn die Angekündigten kommen?«

»Es wird sich alles zeigen«, sag­te der Untote. Die beiden wandten sich ab und liefen davon. Kari Nummi und sein Rausschmeißer sahen ihnen nach, bis sie von der Dunkelheit verschlungen wurden. Dann schaltete Kari Nummi end­lich das Transparent aus. Das hatten ihm die beiden nicht ver­boten.

»Boss, ich habe Angst«, gestand der Rausschmeißer. Er zitterte wie Espenlaub.

Kari Nummi tippte auf seine Jacke an die Stelle, wo er die Pis­tole wusste. »Ich auch, Junge, aber dass du mir nicht wieder Dummheiten machst, hörst du?«

»Ich - ich habe total versagt«, murmelte der Bullige.

»Das hast du ganz und gar nicht, denn gegen die beiden ist kein Kraut gewachsen. Ich hab's gewusst, dass ich heute Nacht keine Ruhe haben werde. Ja, ich hab's gewusst, aber mir will ja keiner glauben. Gibt es tat­sächlich so etwas wie eine Vorse­hung?«

»Nun, schließlich gibt es neu­erdings auch Leute, die einen auslachen, wenn man sie zu er­schießen versucht«, brummte der Rausschmeißer.

Es bewies Kari Nummi, dass sich der Mann wieder einigerma­ßen gefangen hatte. »Ich verkrü­mele mich in mein Büro. Rufe mich, sobald irgend etwas ge­schieht. Hörst du?«

»Sollen - sollen wir nicht die Polizei...?«

»Witzbold! Die haben auch nur Schusswaffen, oder? Was können die denn schon helfen? Nein, et­was anderes wird geschehen, falls wir die einschalten: Die beiden Typen werden wieder aufkreuzen und uns das Lebenslicht ausbla­sen. Oder glaubst du, die kriegen das nicht spitz, wenn wir versu­chen, mit ihnen falsches Spiel zu treiben? Wir wissen nicht, was sie vorhaben und dürfen nichts anderes tun, als abzuwarten und die Dinge auf uns zukommen zu lassen.«

*

Per Brake und seine Untoten sichteten die Lage auf dem Se­natsplatz. Es fiel ihnen auf, dass die Menschen den direkten Be­reich um das Senatsgebäude her­um mieden. Das war kein Wunder, denn das Senatsgebäu­de wurde seiner Wichtigkeit ge­mäß abgeschirmt. Alle Türen waren mit Wachposten besetzt. Im Gebäude befanden sich mindestens einhundert Bewaffne­te. Mit denen wollte keiner etwas zu tun haben. Doch! korrigierte sich Per Brake hämisch grinsend: Ich! Die Gruppe bewegte sich un­erkannt durch die Menschen­menge und erreichte den abge­sperrten Bereich. Per Brake brauchte keine Befehle zu geben. Seine Untoten standen mit ihm in magischer Verbindung. Er diri­gierte sie wie Marionetten.

Brake blieb in der Nähe des Haupteingangs. Er sah die breite Treppe. Das Senatsgebäude ge­hörte zu den ältesten in Helsinki: rund einhundertsechzig Jahre alt und durch dauernde Restau­rierungen instand gehalten. Per Brake betrachtete die Fassade, doch er hatte keinen Sinn für ar­chitektonische Schönheit, son­dern suchte die Bewacher. Dank seiner besonderen Sinne machte er sie überall aus. Sie waren auf der Hut. Außerdem wurde das Senatsgebäude mit Scheinwerfern beleuchtet, gespeist von Not­stromaggregaten im Keller des Gebäudes. Sie konnten alles sehr gut überschauen.

Die ersten Untoten rannten los. Dreißig Meter bis zum Gebäude.

»Halt, stehen bleiben!« brüllte jemand. Eine Tür flog auf. Zwei Wächter sprangen ins Freie und drohten mit ihren Waffen. Die Untoten kümmerten sich nicht darum. Sie zogen ihre eigenen Waffen und zielten aus vollem Lauf auf die beiden. Den Wäch­tern blieb nichts anderes übrig, als zu schießen. Die ersten Schüsse jagten sie in den dunklen Himmel über Helsinki. Die Untoten blieben unbeein­druckt. Und jetzt schossen sie selber. Einer der Wächter wurde getroffen und sank stöhnend zu Boden. Der andere sprang geis­tesgegenwärtig zur Seite und schoss diesmal gezielt auf die Angreifer. Eine Kugel sirrte am Ziel vorbei und jagte über die Köpfe der Menschen auf dem Se­natsplatz hinweg. Sie schreckten zusammen. Auf einmal wurde es auf dem Platz recht ungemütlich. Man wurde aufmerksam auf die Vorgänge. Die auf der Kir­chentreppe hatten eine gute Übersicht, aber sie waren auch am meisten gefährdet. Es ging alles zu schnell. Kein Mensch konnte erkennen, was nun wirklich passierte und Per Brake stand da und dirigierte die Akti­on.

Der Wächter hatte insgesamt zwei gezielte Schüsse abgegeben. Der zweite Schuss traf zwar, aber dem Untoten machte es nicht viel aus. Er schüttelte sich nur kurz und lief dann weiter. Da wusste der Wächter, was die Stunde ge­schlagen hatte. Er war kein todesmutiger Held, sondern schätzte seine Chancen gold­richtig ein. Im wilden Zickzack jagte er davon. Das rettete ihm das Leben. Die Untoten stiegen über seinen schwer verletzten Kollegen hinweg und betraten das Gebäude. Das hatten sie wenigs­tens vor, aber so einfach machte es ihnen die Wachmannschaft nicht.

Der geflohene Wächter drehte sich herum und warf sich zu Boden. Auf dem Bauch liegend zielte er zur Tür, in der die Unto­ten standen. Von drinnen wurde geschossen. Von den Treffern wurden die Untoten ein Stück­chen zurückgetrieben. Bis sie das Feuer erwiderten. Der Wächter sorgte dafür, dass sie sich in der Zange befanden und ballerte sein ganzes Magazin leer. Es hatte sich erwiesen, dass er nicht etwa ein Feigling war, sondern nur das Beste aus seiner Situation ge­macht hatte.

Die Untoten waren unverletz­bar und ignorierten seine Schüsse. Bis er keine Munition mehr hatte. Er blieb liegen und versuchte zu begreifen, was er so­eben erlabt hatte. Die Untoten achteten nicht auf ihn. Er war eine unwichtige Randfigur und in keiner Weise für sie gefährlich.

Im Innern des Senatsgebäudes wurde weiter gekämpft. Per Brake wusste, dass es eine Menge Tote geben würde, doch das rührte ihn nicht. In seinen Augen loderte höllisches Feuer. Er warf einen Blick über die Schulter. Auf der Treppe zur Domkirche war eine Panik ausgebrochen. Man hatte begriffen, dass das Senatsgebäu­de von Unbekannten angegriffen wurde und fühlte sich selber ge­fährdet. Einer behinderte den anderen bei der Flucht. Schreie wehten herüber. Die sich unten auf dem Senatsplatz befanden, hatten sich hin geworfen, um nicht von verirrten Kugeln getrof­fen zu werden. Nur Per Brake stand noch aufrecht. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung. Und dann griffen die restlichen Untoten an. Sie kamen aus zwei verschiedenen Richtungen. Sofort wurde auf sie das Feuer eröffnet. Sie schluckten die Kugeln und rannten weiter. Jetzt ratterten im Innern des Senatsgebäudes Ma­schinengewehrsalven, erschollen laute Befehle, Schmerzensschreie und Pistolenschüsse.

Per Brake fand es an der Zeit, persönlich einzugreifen. Er stieg die Treppe hinauf zu den wuchtigen Säulen. Das Haupt­portal wurde soeben geöffnet. Einer seiner Untoten! Per Brake erreichte das Portal und trat ein. In der Halle brannte Licht. Auch das Senatsgebäude wurde von Notstromaggregaten versorgt, die irgendwo im Keller des Gebäudes tuckerten. Die Halle war beson­ders gesichert worden. Es gab eine Art Portierloge. Per Brake fand einen Leichnam darin. Dann hatte man zwei Maschinen­ge­wehrstellungen eingerichtet. Die toten Soldaten lagen hinter Pfeilern, direkt neben ihren Maschinengewehren. Das große Hauptportal war innen von einigen Kugeln getroffen worden. An verschiedenen Stellen war an Decke und Wänden der Verputz abgebröckelt. Die Maschinen­gewehre waren noch warm. Das war der Beweis, dass sich die beiden Unglücklichen wacker verteidigt hatten. Nur hatten sie gegen Untote mit Maschinen­gewehren keine Chance.

Gemeinsam mit einem Beglei­ter lief Per Brake zur Freitreppe, die in die oberen Stockwerke führte. Der Magier wusste, dass die Senatoren im ersten Stock waren. Dort befand sich ein großer Sitzungssaal. Von oben drangen aufgeregte Stimmen zu ihm herunter. Brake nahm immer drei Stufen auf einmal. So jagte er hinauf.

Die Untoten hatten den ersten Stock nur zum Teil erobert. Per Brake achtete nicht auf die Toten. Gefangene hatten seine Untoten keine gemacht. Die wenigen Wächter, die dem Massaker ent­gangen waren, hatten sich ir­gendwo versteckt. Der eine oder andere verließ im Moment wahr­scheinlich das Senatsgebäude und hetzte voller Panik davon. Es würde sich rasch herumspre­chen, was hier geschah. Per Bra­ke hatte nichts dagegen. Es gab nur noch einen kleinen Wach­trupp beim großen Sitzungssaal. Die Untoten hatten hohe Verwaltungsbeamte in allen Etagen aufgespürt und in einem kleinen Konferenzsaal zu­sammengetrieben. Von ihnen wollte Per Brake keinen töten lassen. Vielleicht brauchte er sie noch. Auf jeden Fall wollte er mit seiner Magie auf sie einwirken. Es war alles besser gekommen, als er es sich erhofft hatte. Die Ausbeute seiner Aktion war enorm. Er würde sich den Senatsmitgliedern zuwenden, die sich zu einer Krisensitzung zusammengefunden hatten. Wenn er sie verließ, waren sie seine Sklaven.

Der Magier schickte fünf Unto­te voraus. Sie öffneten die Tür zu dem Gang im ersten Stockwerk. Sofort wurde auf sie geschossen. Die Wächter auf der anderen Sei­te, verantwortlich für das Wohl der hohen Politiker des finnischen Staates, reagierten schnell. Auch diesmal war es für die Untoten überhaupt kein Pro­blem. Sie ließen sich von dem Kugelhagel nicht einschüchtern und betraten den Gang. Ihre eigenen Waffen spuckten Tod und Verderben.

Die idealen Kämpfer! dachte Per Brake euphorisch. Ich kann mir keine besseren Soldaten für einen solchen Kampf denken. Sie haben nur einen einzigen Nach­teil: Es wird eine Menge magische Energie verbraucht, um sie zum Leben zu erwecken und es kostet auch viel Energie, ihr Leben zu erhalten. Sobald morgen früh die Sonne aufgeht, müssen die Unto­ten wieder in ihren Gräbern sein. Oder sie zerfallen zu Staub. Das zu verhindern, würde zuviel Kraft kosten.

Doch das waren Gedanken, die ihm nur am Rande kamen und ihn im Moment nicht zu inter­essieren hatten. Die Untoten standen ihm eine ganze Nacht lang zur Verfügung und er würde diese Nacht voll nutzen. Sie waren seine Werkzeuge und er war der große Dirigent bei diesem teuflischen Blutkonzert.

Die Soldaten erkannten, dass sie gegen die Untoten nicht ankamen und streckten die Waffen. Die schlauesten von ih­nen ergriffen eiligst die Flucht. Ein paar rissen die Fenster auf und sprangen hinaus. Lieber ein Bein brechen, als erschossen zu werden! Leider kamen auch Se­natsmitglieder auf diese Idee, als sie merkten, dass die Bewacher keinen Erfolg hatten. Per Brake rannte in den Gang im ersten Stock, als er es merkte. Einer sei­ner Untoten hatte die Tür zum Sitzungssaal geöffnet und die dort befindlichen Wächter ausge­schaltet - vor den Augen der Her­ren Politiker. Der Saal war sehr groß. Die Politiker, die es bis jetzt auf ihren Plätzen ausgehalten hatten, in der wilden Hoffnung, alles würde sich doch noch zum Guten wenden, sprangen entsetzt auf. Einige liefen zum Fenster. Andere stellten sich sofort gegen den Untoten, obwohl sie unbe­waffnet waren. Per Brake fand, dass die finnischen Politiker sehr großen Mut bewiesen, nur nutzte das niemandem. Er stürmte jetzt ebenfalls in den Saal und brüllte: »Halt!«

Unwillkürlich sahen sie dem Eindringling entgegen. Per Brake stand an der Tür. Er schien alle gleichzeitig anzusehen. Seine glü­henden Augen waren überall. Die wenigen, die willensstark genug waren, wandten ihren Blick ab und entzogen sich somit dem lähmenden Bann. Sie wollten doch noch aus dem Fenster in die Freiheit.

Per Brake brauchte sich nicht um sie zu kümmern. Seine Unto­ten hatten das gesamte Senatsge­bäude unter Kontrolle. Die­jenigen, die er abziehen konnte, rannten herbei und drängten hin­ter ihm in den Sitzungssaal. Ohne zu zögern, nahmen sie sich der Politiker an, die es geschafft hatten, sich Per Brakes Bann­blick zu entziehen. Mit brutaler Gewalt wurden sie gezwungen, wieder in die Richtung des Ma­giers zu schauen. Diesmal gab es für sie kein Entrinnen. Die lo­dernde Glut in diesen grausamen Augen beherrschte bald aller Denken. Die eigenen Gedanken wurden ausgeschaltet. Ihre Geis­ter schwangen gewissermaßen im Gleichtakt.

»Ich bin Per Brake, der Magier!« erscholl die Stimme des Unheim­lichen. »Ich repräsentiere hier in Finnland die Schwarze Macht. Ihr alle werdet mir gehorchen müssen. Ich werde mich jedem einzeln zuwenden und ihn zu meinem Sklaven machen.« Sie hörten es und hatten keinen Ein­wand. Per Brakes Einfluss war bereits groß genug, um sie zu lähmen. Wie Wachsfiguren standen die ehrwürdigen Politiker herum. Auch der Präsident von Finnland war anwesend. Ihm er­ging es nicht besser als all den anderen. Der Magier Per Brake hatte das Zepter in der Hand. Für eine Nacht war er der mächtigste Mann im Staate Finnland. Er wollte es in Zukunft auch noch sein. Dafür musste er jetzt die schwarzmagische Saat aus­werfen.

Er nahm sich genügend Zeit dafür. Beim Präsidenten begann Per Brake. Er trat vor ihn hin und fixierte ihn. Da bemerkte er, dass der Präsident etwas am Körper hatte, was sich zur Wehr setzte. Es befand sich auf der Brust des Präsidenten.

»Was haben Sie für ein Amu­lett?«

»Ein Medaillon«, antwortete der Präsident monoton. Per Brake lachte grausam. Der Präsident hatte überhaupt keine Ahnung von magischen Dingen. Er hätte sich vorhin nur an sein Medaillon zu erinnern brauchen, um damit dem Bann zu entgehen. Aber das waren halt Politiker und keine Teufelsjäger wie Mark Tate und seine Freunde.

Flüchtig dachte Brake an Tab Furlong und dessen Frau. Er durfte es hier nicht zu lange werden lassen, denn als nächstes kam das Ehepaar an die Reihe. Tab Furlong war bereits in seiner Gewalt. Seine Frau Kathryn würde als nächste folgen. Vor allem wollte Per Brake auch Si­belius ausschalten, ehe der Poli­zeipräsident ein ernstzunehmender Gegner der Schwarzen Mafia wurde.

Zukunftsmusik! Er befahl dem Präsidenten von Finnland hier und jetzt, das Amulett abzulegen. Das tat der Mann ohne Aufmu­cken. Weil er nicht wusste, wel­chen Fehler er damit beging. Nicht einmal sein Unterbewusst­sein wehrte sich dagegen und das hätte bereits genügt. Als er das Medaillon in der Hand hatte, musste Per Brake mit seinen schwarzmagischen Kräften stär­ker zugreifen. Das Medaillon machte sich trotz allem bemerk­bar. Das erzeugte Wut in ihm. Er streckte seine Linke gebieterisch vor. Seine Hand begann zu glü­hen und diese Glut löste sich von ihr und griff auf das Medaillon über. Der Präsident ließ es fallen und noch in der Luft zerschmolz es zu einem harmlosen Klümpchen Metall. Eine kleine Kraftprobe, die Per Brake zu seinen Gunsten entschieden hatte. Er gebot dem Präsidenten, sich zu setzen. Dann senkte sich der grausame und teuflische Geist des Schwarzen Magiers in das Gehirn des finnischen Präsidenten. Es war seine größte Stunde. Der Präsident würde danach ganz normal weiterleben und sich an nichts erinnern. Doch der Name Per Brake genügte, um ihn zum Sklaven zu machen. Über den Präsidenten wurde Per Brake zum Beherrscher Finnlands. Doch das genügte ihm nicht einmal. Per Brake wandte sich nach getaner Arbeit von dem Präsidenten ab und widmete sich den anderen Senatsmitgliedern. Fast die ganze finnische Regierung war anwesend - kein Wunder, bei einer solchen Krise. Der Magier bedauerte es zutiefst, dass er nicht alle Politiker in seine Macht zwingen konnte. Aber dafür gab es die hohen Beamten im anderen Konferenzzimmer. Auch denen würde er sich widmen. Seine Macht war groß genug.

Innerhalb von Minuten hatte er alle Männer und Frauen pro­grammiert. Damit war er prak­tisch der Herrscher über Finn­land und sämtliche politischen Kräfte waren seine Marionetten.

Per Brake verließ den Sitzungs­saal. Alle saßen herum und wirkten wie Strohpuppen. Sobald Per Brake den Saal verließ, kam in die Politiker wieder Leben. Ver­ständnislos schauten sie sich um. Sie bildeten sich ein, verschont worden zu sein. Es gab auch keine Untoten mehr bei ihnen. Das nahe liegendste wäre jetzt gewesen, sofort nach dem Rechten zu sehen und vor allem das Polizeipräsidium in Kenntnis zu setzen. Keiner von ihnen kam auf diese Idee. Sie blieben sitzen und unterhielten sich über den Energieausfall von Helsinki, als wäre das noch für sie interessant.

Plötzlich klingelte das Telefon. Der Präsident hob ab und melde­te sich. Am anderen Ende der Leitung war Yrjö Sibelius persön­lich. Der Polizeichef von Helsinki wollte wissen, ob man etwas gegen die Regierungsmitglieder unternommen hatte. Der Prä­sident von Finnland verneinte es. »Es finden noch immer Kämpfe statt«, sagte er aufgeregt. »Man hat die Wächter an den Türen zum Sitzungssaal getötet, sich dann aber wieder zurückgezogen. Meine Güte, Sibelius, Sie müssen uns hier heraushauen.«

»Die haben sich nicht weiter um Sie gekümmert?« erkundigte sich Sibelius ungläubig. »Ja, warum haben die dann über­haupt das Senatsgebäude ange­griffen?«

»Was weiß denn ich, Sibelius? Wer vermag denn den wirren Ge­dankengängen dieser Terroristen zu folgen? Sie haben die Wächter ermordet und haben die Türen wieder zugemacht und jetzt wagt es keiner von uns, nach draußen zu gehen und nachzusehen.«

»Warum haben Sie nicht sofort telefonisch Verstärkung ange­fordert?«

Eine berechtigte Frage. Aber auch darauf fand der Präsident ohne zu überlegen eine plausible Antwort. Per Brake hatte ganze Arbeit geleistete. Der Präsident sagte: »Weil es eben erst passiert ist, verstehen Sie? Wir hatten ge­glaubt, der Angriff könnte zu­rückgeschlagen werden. Herr­schaft, Herr Sibelius, was sollen denn diese Fragen? Ich wollte Sie gerade verständigen, als Sie schon von selber anriefen. Wann schicken Sie endlich ihre Polizis­ten?«

»Sie sind schon unterwegs«, versprach Sibelius.

»Und Sie können jetzt nichts für uns tun? Begreifen Sie, in welcher Lage wir uns befinden? Über hundert Soldaten, ausge­suchte Leute, die uns bewachen und beschützen sollten, wurden von einer Handvoll Terroristen ausgeschaltet. Das Senatsgebäu­de steckt voller Toten und da haben Sie nichts Besseres zu tun, als mit mir telefonisch zu plau­dern. Jeden Augenblick kann sich die Tür öffnen und die Terro­risten hereinlassen. Sie können mit uns machen, was sie wollen, denn wir sind nicht bewaffnet und Wächter gibt es keine mehr.«

»Die Polizei ist unterwegs. Wir wissen bereits von den Vorgängen durch geflohene Wächter.«

»Geflohene Wächter?« echote der Präsident entrüstet. »Soll das heißen, sie haben uns einfach im Stich gelassen?«

»Es gab keine andere Möglich­keit für sie, angesichts dieser Übermacht. Ich habe mich inzwi­schen auch mit dem Militär in Verbindung gesetzt. Es sind einige Kampfhubschrauber unter­wegs, um das Senatsgebäude wieder aus den Händen der Ter­roristen zu befreien.«

»Na, endlich einmal etwas Kon­kretes, Herr Sibelius. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung für uns?«

»Ich will und kann es nicht ver­sprechen, Herr Präsident.«

Damit war das Gespräch be­endet. Aber keiner der Herren leg­te auf. Sibelius versprach noch, die Verbindung ständig aufrecht zu erhalten und den Politikern zu berichten, wie weit die Befrei­ungsaktion bereits gediehen war. Der Präsident knirschte mit den Zähnen und sah sich in der Runde um. Sie blickten ihn erwartungsvoll an. Widerstrebend erklärte er ihnen die Lage. Auch diesmal konnte sich keiner an die Beeinflussung durch Per Brake erinnern. Er hatte perfekt ge­arbeitet. Die Schwarze Mafia würde mehr als zufrieden mit ihm sein. Per Brake war einer ihrer er­folgreichsten Mitglieder.

In diesen Minuten war Per Bra­ke überzeugt davon, dass es ihm gelingen könnte, gemeinsam mit der Schwarzen Mafia die ganze Welt unter seine Knute zu zwingen. Man sollte die Erde in einzelne Regionen aufteilen und sie den stärksten Mitgliedern der Schwarzen Mafia überlassen. Es ist zwar unmöglich, dass ein einziger Dämon die Welt be­herrscht, ohne von den anderen Magiern und Dämonen angefeindet zu werden, aber das wäre eine gute Möglichkeit. Nie­mand brauchte mehr auf die anderen eifersüchtig zu sein und... An dieser Stelle endeten seine Gedankengänge. Er hatte das Konferenzzimmer mit den ho­hen Beamten erreicht. Aber das war nicht der einzige Grund. Vor allem war ihm bewusst geworden, dass er zu träumen begann. Ja, die Schwarze Mafia würde eines Tages die Welt beherrschen. Da­von war er überzeugt, aber sie würde es nicht offen machen, sondern versteckt aus dem Hin­terhalt. So wie er. Ein offener An­griff, dem ein Rückzug folgte - wenigstens nach außen hin. Am Morgen würde es Per Brake offizi­ell nicht mehr geben. Auch die Untoten würden zu Staub zerfallen. Man würde diese Nacht vergessen, zumindest würde die Wahrheit niemals ans Tageslicht kommen. Untersuchungskom­missionen würden eine vernünf­tige Erklärung für alles finden. An Per Brake würde niemand den­ken. Aus dem Hinterhalt heraus würde er künftig seine Fäden zie­hen. Das war, wie es einem Schwarzen Magier gebührte. Nie­mals selbst in Gefahr begeben, sondern andere die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Diese eine Nacht war für Per Bra­ke eine Ausnahme. So offen hatte er sich garantiert noch nie für seine Machtgier eingesetzt. Es war notwendig, um innerhalb der Schwarzen Mafia den nötigen Re­spekt zu erhalten. Er musste alle davon überzeugen, dass dies der einzig richtige Weg war, um end­gültig das Böse über die Welt tri­umphieren zu lassen. Finnland musste zu einer wichtigen Basti­on der schwarzmagischen Kräfte werden. Nur wenn sein Name Ge­wicht besaß, hörten die anderen Schwarzen Dons auf Per Brake. Das wusste er. Bei allen Träume­reien von der Zukunft blieb die nüchterne Erkenntnis, dass nach dieser Nacht die Situation eine ganz andere sein würde. Die Schwarze Mafia musste sich den nichtorganisierten Magiern und Dämonen zuwenden, sie auszu­schalten versuchen oder zu­mindest anwerben, damit sie ebenfalls Mitglieder wurden.

Per Brake hatte seine Pläne und er wusste, dass er sie durch­setzen würde. Vor allem, wenn er den Mafiosi zeigte, wie man mit seinem Gegner umzugehen hatte: am Beispiel des Ehepaars Furlong. Für ihn waren das kleine Lichter, die zu beseitigen eine Kleinigkeit darstellte. Das wollte er beweisen, denn er war der Meinung, dass die Schwarze Mafia ihre eigene Macht erheblich unterschätzte und sich von den so genannten Teufels- und Geisterjägern in aller Welt viel zuviel gefallen ließ. Einige der Geisterjäger hatten sich bereits einen großen Namen gemacht. Es wurden Serien über sie geschrieben. Das alles war keineswegs positiv für die bösen Mächte. Per Brake hatte sich vorgenommen, einer der wichtigsten Kämpfer im Zeichen des Satans zu werden.

Als er das Konferenzzimmer mit den hohen Beamten des finnischen Staates verließ, hatte er einen wichtigen Schritt in Richtung seines Ziels hinter sich. Furlong, jetzt bist du dran! dach­te er. Ich freue mich auf die Be­gegnung!

*

Das Gesicht von Yrjö Sibelius war unnatürlich bleich, als er Ka­thryn ansah und auch Kathryn Furlong sah irgendwie krank aus.

»Was halten Sie davon, Frau Furlong?«

Kathryn war nervös und hatte es schwer, sich auf das Thema zu konzentrieren. Immer wieder irr­ten ihre Gedanken ab zu ihrem Mann. Sie hatte die Stellung vor dem Gebäude aufgegeben, in dem Tab zum Gefangenen geworden war. Das hatte sie nicht freiwillig getan. Die Polizisten hatten sie gezwungen, weil sie glaubten, eine gute Chance zu haben, Tab Furlong mit Waffengewalt zu befreien. Kathryn war geblieben, bis die Polizei Betäubungsgas einsetzte. Dann hatte man sie zu Sibelius gefahren. Inzwischen wusste Yrjö Sibelius, welches Schicksal Tab Furlong hatte erleiden müssen. Er war ein Gefangener der Untoten. Gemeinsam mit Kathryn hatte er erörtern wollen, welche Möglichkeiten sie jetzt noch hatten, die grausame Gefahr zu besiegen. Sie waren auf keinen grünen Zweig gekommen, wie es so schön hieß. Und dann war auch noch der Angriff auf das Senatsgebäude erfolgt.

Kathryn runzelte die Stirn. »Mit den Politikern stimmt was nicht. Die Untoten greifen doch nicht einfach an und sperren die Leute ein. Das Ganze muss doch einen Grund haben.«

Sibelius knirschte mit den Zähnen. »Die Kampfhubschrau­ber des Militärs sind unterwegs. Sie werden vielleicht für neue Er­kenntnisse sorgen.«

»Und für neue Tote - allerdings in den eigenen Reihen«, mahnte Kathryn. »Herr Sibelius, über­legen Sie doch mal. Wie viele Menschen haben in dieser Nacht schon ihr Leben lassen müssen? Gäbe es eine gute Möglichkeit, alle Beteiligten davon zu über­zeugen, dass diese angeblichen Terroristen nicht mit normalen Waffen bekämpft werden können, wäre der Kampf so gut wie ge­wonnen. Wir könnten Weih­wasser, Kreuze, Priester und der­gleichen einsetzen und binnen einer halben Stunde das Problem lösen. So aber wird es weiterhin sinnloses Blutvergießen geben.«

Sibelius stützte sich mit beiden Armen auf den Tisch und schrie: »Was soll ich denn dagegen tun, Frau Furlong? Die hören doch nicht auf uns!« Es wurde ihm be­wusst, wie sehr er sich im Ton vergriffen hatte und richtete sich wieder auf. »Entschuldigen Sie, Frau Furlong, ich - ich... meine Nerven...«

Kathryn nickte ihm zu. »Wenn man bedenkt, Herr Sibelius, dass Sie noch vor wenigen Tagen zu den Ungläubigen gehört haben, die Untote und Schwarze Mafia als baren Unsinn abtun, so muss ich sagen, dass Sie...«

Er winkte ab. »Aber, das nutzt uns doch gar nichts. Ihr Mann befindet sich in tödlicher Gefahr. Die Politiker hocken im Senatsge­bäude wie Opfertiere auf der Schlachtbank. Was hat man mit ihnen angestellt?«

»Ich glaube, dass sie magisch beeinflusst wurden.«

»Von den Untoten?«

»Es gibt jemanden im Hin­tergrund, der die Untoten steuert. Solche Horrorgeschöpfe sind im Grunde nur Marionetten. Ohne Führer sind sie wertlos. Es sind magisch belebte Tote, denen die Mächte des Bösen ihre ewige Ru­he rauben. Befreit man sie davon, zerfallen sie zu Staub und sind damit für alle Zeiten erlöst. Aus Staub kann man keinen Untoten mehr machen. Normalerweise je­denfalls nicht.«

Abermals winkte Sibelius ab. »Also, ich bin bereit, alles in Erwägung zu ziehen. Aber jetzt weiß ich noch immer nicht, was im Senatsgebäude vorgefallen ist. Vielleicht irren Sie sich und man hat mit den Herren Senatoren noch etwas vor? Vielleicht hat man die Türen nur abge­schlossen, weil man Vorbe­reitungen treffen will? Vielleicht werden sie alle getötet?«

»Das ist doch gar nicht denk­bar. Was hätte die Schwarze Macht, wie sich der Magier im Hintergrund selber nennt, damit gewonnen? Politiker sind aus­tauschbar. Sie nutzen ihm viel mehr, wenn er sie auf seine Seite gezogen hat. Er bewies doch zur Genüge, zu was er fähig ist. Er hat Tod und Verderben über Hel­sinki gebracht und kämpft sehr offen, indem er sich nicht einmal davor scheut, über Rundfunk an die Öffentlichkeit zu gehen. Das hinterlässt seine Spuren. Dieser Magier wird zum mächtigsten Ma­gier von Europa. Die Schwarze Mafia erkämpft sich mit ihm eine ungeheuer starke Bastion.«

»Herrgott, Frau Furlong, das sind alles einleuchtende Be­hauptungen, aber was sollen wir denn dagegen tun? Sind Sie sich auch im klaren darüber, dass wir beide die einzigen sind in dieser Stadt, die die wahre Gefahr er­kennen? Außer Ihrem Mann und der kann ja wohl nicht mehr viel tun.«

Kathryn zuckte zusammen. Er sah es und entschuldigte sich nun schon zum zweiten mal in­nerhalb von Minuten. »Bitte, Frau Furlong, verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist keineswegs so, dass ich Ihren Mann aufgegeben habe, aber wir müssen die Dinge nüch­tern betrachten. Außerdem bin ich am Ende meiner Weisheit und verzweifelt. Wissen Sie, was ich glaube? Nach Ihrem Mann kom­men wir an die Reihe. Gerade, weil wir die einzigen sind, die die Wahrheit erkennen. Wenn die Schwarze Mafia tatsächlich die Politiker Finnlands in ihre Gewalt gebracht hat und sie als ihre Sklaven einsetzt, muss man uns töten, ehe wir andere warnen können, die diese Warnung auch verstehen.«

Kathryn Furlong schlug die Augen nieder. »Ich glaube, Ihren Senatoren wird nichts mehr ge­schehen. Die Untoten werden sich wieder zurückziehen. Dazu werden sie den nächsten Kampf abwarten. Es soll so aussehen, als würden sie der starken Über­macht weichen. Das wirkt zwar reichlich konstruiert, aber die Behörde wird großzügig darüber hinwegsehen, denn immerhin wä­re das der einzige Sieg in dieser Nacht auf der Seite von Militär und Polizei. Herr Sibelius, Sie haben recht, dass wir die einzigen sind, die um die wahren Hin­tergründe wissen und wir sind auch die einzigen, die für eine winzige Chance sorgen können. Zwei Leute gegen die Übermacht von vielleicht hundert Untoten und einem mächtigen Magier, der das Zepter schwingt und das Grauen dirigiert.«

»Sie haben eine seltsame Art, einem die letzten Hoffnungen zu rauben, Frau Furlong. Wie gering meine Einflussmöglichkeiten sind, haben Sie ja schon bemerkt. Anstatt mit Ihnen zusammenzu­arbeiten und auf Ihren Rat zu hö­ren, haben meine Polizisten Sie gezwungen, hierher zurückzukeh­ren. Ich hätte natürlich nach­träglich ein Machtwort sprechen können, aber das wäre nutzlos gewesen. Vor Ort gab es keine Chance. Sie konnten nichts für Ihren Mann tun, weil es meine Polizisten verhindert haben. Hin­zu kam der Umstand, dass die Verantwortlichen sich sagten: Ein Gefangener in den Händen des Gegners genügt. Was kann schon eine Frau dagegen tun?«

Schwer ließ er sich auf seinen Sessel hinter dem Schreibtisch nieder. Er griff nach dem Telefon und nahm den Hörer ab. Er hatte seine Versprechen gehalten und ließ die Verbindung zum großen Sitzungssaal im Senatsgebäude bestehen. Die Leitung wurde ständig besetzt. Ein Polizeioffizier sorgte dafür, dass die Senatoren ständig darüber informiert wurden, wie weit die »Befrei­ungsaktion« gediehen war. Sibelius hatte sich mit Kathryn zurückgezogen, um mit ihr allein reden zu können. Im Grunde hatte das nichts eingebracht. Sie drehten sich im Kreis. Jetzt ließ er sich ebenfalls über die jüngs­ten Ereignisse berichten. Er lauschte in den Hörer, nachdem sich die Gegenstelle gemeldet hatte. Dann gab er das Gehörte an Kathryn weiter.

»Die Kampfhubschrauber sind angelangt. Sie greifen aus ver­schiedenen Richtungen an. Vielleicht hätten wir zum Se­natsplatz gehen müssen, um persönlich dem Kampf beizu­wohnen?«

Kathryn schüttelte den Kopf. »Wir sind hier zwar nicht ge­schützter als am Senatsplatz, aber das halte ich nicht für not­wendig. Ich glaube, ich weiß jetzt, was uns und Ihrer Stadt Rettung bringen könnte. Mehr noch als das: Rettung sogar für das ganze finnische Volk. Die Schwarze Macht, die hinter allem steckt, ist im Begriff, einen Fehler zuma­chen.«

Yrjö Sibelius sah sie an wie das achte Weltwunder. Er begriff überhaupt nichts. Man konnte nicht behaupten, dass er auf den Kopf gefallen war. Nicht umsonst hatte er sich bis zum Polizeichef einer so großen Stadt aufge­schwungen. Das wurde man ge­wiss nicht seiner schönen Nase wegen. Yrjö Sibelius verstand zu kombinieren. Er rief sich die letz­ten Minuten ins Gedächtnis zu­rück. Wie hatte Kathryn die Lö­sung gefunden? Was hatte sich in den letzten Minuten ereignet, um sie in dieser Richtung endlich klar sehen zu lassen.

»Was ist das für ein Fehler?« sagte Sibelius, weil er nicht selbst dahinter kam.

Kathryns Miene wurde verschlossen. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Herr Sibelius. Es tut mir leid. Aber ist Ihnen nicht schon aufgefallen, dass uns diese Untoten völlig links liegen lassen? Warum haben die nicht versucht, auch mich gefangen zu nehmen? Es hätte einen größeren Einsatz gefordert, zugegeben, aber damit wäre doch der Effekt viel größer gewesen. Außerdem hätten sie sich längst Ihrer annehmen müssen.«

»Gut, ich weiß, dass dieses ma­gische Zentrum nur eine Falle für Sie und Ihren Mann war. Aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinaus wollen.«

»Wir kommen später an die Reihe, Herr Sibelius. Die Schwarze Macht weiß, dass wir nicht viel tun können und lässt uns zappeln. Damit will sie sich profilieren - vor der Schwarzen Mafia. Das ist der Gipfel der Stär­ke. Der Magier, der hinter allem steckt, ist sich seines Erfolges hundertprozentig bewusst und spielt mit uns Katz und Maus.«

»Vielleicht hat er sich deshalb noch nicht unser angenommen, weil wir uns mit Dämonen­bannern bewaffnet haben? Das schützt uns doch«, wandte Sibelius lahm ein.

Kathryn lachte humorlos. »Glauben Sie wirklich daran?«

»Ich sehe keinen Fehler darin, Frau Furlong. Gut, dieser Magier hält uns hin. Aber wir können doch tatsächlich überhaupt nichts gegen ihn unternehmen. Da hat er doch recht. Er braucht seine Kräfte nicht zu verschwenden, um uns auszu­schalten, sondern kann sich in aller Ruhe anderen Dingen zu­wenden. Wir kommen am Schluss dran, wenn er alles erledigt hat. Ist es nicht das Hauptmotiv des Bösen, einfach nur böse zu sein? Ich finde, er hält uns nur deshalb hin, um uns zusätzlich zu quä­len.«

Kathryn sah ihn nur aus­druckslos an und sagte wirklich nichts mehr. Das Schweigen wurde unterbrochen durch das Telefon. Neue Meldungen von den Kämpfen auf dem Senatsplatz. Und dann kam noch ein Anruf. Von einem Streifenwagen, der auf Weisung von Polizeichef Sibelius das Auto verfolgt hatte, mit dem man Tab Furlong ab trans­portierte. Dieser Anruf er­folgte reichlich verspätet. Eigent­lich hatte Sibelius überhaupt nicht mehr damit gerechnet. Der Polizist am anderen Ende der Leitung sagte: »Sie sind in der Nobelbar >Troubadour<! Wir haben sie verfolgt und waren dabei sehr auf der Hut. Es waren zwei Fahrzeuge. Eines diente wohl der zusätzlichen Bewachung des Transportes. Nur deshalb rufe ich so spät an, Herr Sibelius. Es geschah aus Vorsicht. Wir ließen unseren Streifenwagen stehen und liefen den Rest des Weges zu Fuß, als für uns fest­stand, dass die Bar das Ziel ist.«

»Und wenn Sie sich geirrt hät­ten, Mann?«

»Es war ein Risiko, zugegeben, Herr Sibelius, aber wir gingen es ein und wurden nicht enttäuscht. Wir näherten uns der Bar so weit wie möglich und bezogen zu­nächst Beobachtungsposten. Meine Kollegen sind noch dort. Ich habe mich zurückgezogen, um Sie zu informieren.«

»Moment!« sagte Sibelius und bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand. Sein Blick suchte Ka­thryn. Er klärte sie über den neu­en Sachverhalt auf.

»Sie sollen auf ihrem Posten bleiben«, empfahl Kathryn Furlong. »Und wir machen uns ebenfalls auf den Weg. Machen Sie einen Treffpunkt aus.«

»Wir sollen dorthin...? Aber wieso?«

»Mein Mann ist noch am Leben. Die Untoten töten wahllos jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. Tab haben sie verschont. Warum?«

»Ich verstehe«, murmelte Sibeli­us und hob den Hörer wieder an sein Ohr. »Ich werde persönlich kommen - gemeinsam mit Ka­thryn Furlong. Halten Sie sich be­reit. Wo können wir uns treffen? Wir müssen unter allen Um­ständen vermeiden, dass die Ver­dacht schöpfen.«

»Es ist nicht einfach. Lachen Sie bitte nicht, Herr Sibelius, aber es sieht so aus, als hätten die un­natürliche Kräfte und... Na ja, wenn man bedenkt, was wir alles unternommen haben, um sie auszuschalten... Sie sind nicht nur immun gegen Kugeln, son­dern haben gewiss auch noch andere Fähigkeiten und wenn man sich der Nobelbar nähert, kriegt man es mit der Angst. Als würde es dort eine besondere Aura geben...«

*

Tab Furlong sah aus dem Fenster, als der Wagen bremste. Sah aus, als würde sich hier eine Bar befinden. Die Leuchtreklame war ausgeschaltet. Im dürftigen indirekten Licht der Scheinwerfer konnte Tab Furlong dennoch den Namen »Troubadour« entziffern. Aha, wir sind also am Ziel, dachte er.

»Aussteigen!« befahl der Untote auf dem Beifahrersitz und winkte mit seiner Waffe. Tab Furlong ge­horchte. Er stieß den Wagen­schlag auf. Der zweite Wagen brauste heran. Maschinenpisto­len schoben sich aus den Fens­tern. Tab sah hinüber, aber konnte beim besten Willen keine Gesichter erkennen. Trotzdem, das waren gewiss ebenfalls Unto­te. Tab Furlong sah keine Möglichkeit, jetzt und hier etwas zu seiner Befreiung zu tun. Die Untoten funktionierten in perfek­ter Weise und beraubten ihn von vornherein jeglicher Chance zur Flucht.

»Wir gehen in die Bar!« knurrte der Untote. Er hielt sich hinter Tab, als hätte er Angst davor, dass Tab doch noch seinen Dru­denfuß gegen ihn einsetzte. Sie gingen über den schmalen Bürgersteig. Da verdunkelte ein großer Schatten den Eingang. Es war der Rausschmeißer.

»Das ist unser Gast!« Der Unto­te zeigte mit der Waffe auf Tab Furlong. »Zeig uns den Keller!«

»Mein Chef Kari Nummi...«

»Den kannst du später noch darüber informieren. Erst einmal muss der Mann hier eingesperrt werden. Es folgen in Kürze noch weitere Gefangene. Oder hast du etwas dagegen?«

Der Rausschmeißer erinnerte sich noch recht gut an das, was er mit den anderen Untoten be­reits erlebt hatte. Er nickte eifrig und machte bereitwillig Platz. »Wenn Sie mir bitte folgen würden? Ich führe Sie hinunter.«

Es ging zunächst durch eine Tür, an der das Schildchen »PRIVAT« hing. Dahinter öffnete sich ein schmaler Gang. Eine andere Tür wurde aufgestoßen. Kari Nummi erschien. Er hatte sich in seinem Büro aufgehalten und war durch die Stimmen auf­merksam geworden. »Es ist also soweit?«

Der Untote nickte. »Ja, Nummi.«

»Warum habt ihr ausgerechnet mich ausgesucht?«

»Weil wir uns sicherlich auf dich verlassen können. Du hast es schon immer verstanden, für den jeweils Stärkeren oder auch für den jeweils Zahlungskräftige­ren zu arbeiten. Es ist außerdem wichtig, dass Tab Furlong und auch die anderen, die wir an­schließend bringen werden, von unbeeinflussten Menschen be­wacht werden.«

In den Augen des Barbesitzers irrlichterte es. Tab betrachtete ihn. Karin Nummi war ihm auf Anhieb unsympathisch. Es moch­te sein, dass er sich von seinen krummen Geschäften zurückge­zogen hatte, aber es war gewiss nicht falsch gedacht von der Schwarzen Mafia, dass sie in ihm künftig einen wichtigen Mitarbei­ter haben würden.

Der Untote hatte die Wahrheit über Kari Nummi gesagt. Nie­mand wusste es besser als Kari Nummi selber. Er hatte sich wirklich bemüht, endlich einen geraden Weg zu gehen. Jetzt war alles zunichte gemacht. Die Um­stände zwangen ihn, zu den alten Praktiken zurückzukehren. Nur arbeitete er jetzt nicht mehr in eigener Regie, sondern nach Anweisungen von Stärkeren.

»Wie ich merke, hast du auch dein Silberkreuz abgelegt. Das ist gut so. Es beweist, dass wir nicht auf das falsche Pferd gesetzt haben.«

Kari Nummi schlug die Augen nieder. Er konnte den Blick von Tab Furlong nicht ertragen. Da war etwas Hilfesuchendes in diesem Blick. Und Kari Nummi wusste, dass er Tab Furlong nie­mals helfen würde. Die Untoten hatten hinlänglich bewiesen, zu was sie fähig waren. Kari Nummi sah wenig Sinn darin, den Helden zu spielen. Außerdem versprach seine Mitarbeit, rentabel zu werden. Das Kriminelle in Kari Nummi brach durch. Sein innerer Kampf, den er in den letzten Mi­nuten geführt hatte, einsam im Büro, war entschieden. Er deute­te auf seinen Rausschmeißer. »Er wird euch den Weg zeigen. Ich habe unten Zellen, aus denen noch nie jemand ausgebrochen ist.« Damit sprach er nicht die volle Wahrheit. Schon einmal ge­lang einem Mann vom CIA der Ausbruch, aber das war unter anderen Umständen. Damals hatte es keine Untoten und auch keine Schwarze Magie im Spiel gegeben.

Der Rausschmeißer führte die Gruppe nach unten. Im zweiten Untergeschoß befanden sich die Zellen. Sie zeigten, dass Kari Nummi mehr als nur ein harm­loser Barbesitzer war - zumindest was seine bewegte Vergangenheit betraf. Dieses zweite Unterge­schoß konnte man so tarnen, dass niemand den Zugang fand. Es sei denn, er wusste davon. In den Zellen konnte man eine ganze Kompanie Soldaten verstecken. Für Nummi war das notwendig gewesen, so lange er als In­formant für den KGB gearbeitet hatte. Es war seiner besonderen Intelligenz zu verdanken, dass er seine dunkle Vergangenheit über­haupt überlebt hatte und heute noch frei herumlaufen konnte.

Tab Furlong wurde in eine der Zellen gesperrt. Es war ein kahler Raum mit zwei Stühlen und einer schmalen Pritsche. Der winzige Tisch war so wackelig, dass Tab Scheu hatte, das Ding zu berüh­ren. Irgendwo hier unten gab es das Stromaggregat. Tab hörte es. An der Decke hing eine nackte Birne. Man ließ das Licht brennen. Ein besonderer Service, wie Tab Furlong fand. Er konnte sich nicht darüber freuen. Er setzte sich auf einen der Stühle, legte die Beine übereinander und dachte an seine Frau Kathryn. Was sie wohl im Moment tat? Er machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst.

*

Per Brake tat genau das, was Kathryn schon vorausgesagt hatte. Er zog seine Untoten zu­sammen und wartete auf den An­griff der Kampfhubschrauber. Und da waren sie auch schon heran. Sie waren mit Bordma­schinengewehren bestückt. Mit starken Scheinwerfern tauchten sie das Senatsgebäude in blendende Helligkeit. Der Senatsplatz hatte sich inzwischen rasch geleert. Die versammelten Menschen wollten nichts mit der Sache zu tun haben. Zumal sie ein paar flüchtende Wächter abgefangen und ausgefragt hatten. Sie wussten, dass Gewalt und Grauen auch hier im Senatsgebäude eskalierte.

Der Senatsplatz war wie leergefegt. Es war auch nicht er­kennbar, ob sich noch jemand in der Universität aufhielt. Auf jeden Fall waren sämtliche Fenster ver­rammelt.

Per Brake lachte böse. Viele hatten sich in der alten Domkir­che verschanzt. An sie würden seine Untoten nicht herankom­men. Aber das wollten sie auch gar nicht.

Die ersten Untoten zeigten sich auf dem Dach des Senatsgebäu­des und ballerten auf die ge­panzerten Kampfhubschrauber. Der Effekt war gleich Null. Dann wurde das Feuer von Bord der Hubschrauber erwidert. Abermals lachte Per Brake. Ein Gedanken­impuls genügte. Seine »Soldaten« zogen sich blitzschnell vom Dach zurück und kamen herunter in die Eingangshalle. Es dauerte nur eine halbe Minute. Die Kampf­hubschrauber machten mehrere Angriffsflüge, aber jetzt zeigte sich niemand mehr. Einer machte An­stalten, auf dem Senatsplatz zu landen. Darauf hatte Per Brake nur gewartet. Seine Untoten rannten allesamt hinaus und hielten genau auf den Hub­schrauber zu. Die Besatzung ließ sich wenig beeindrucken. Die Kufen ihres Helikopters be­rührten den Platz und schon ratterte ihr Maschinengewehr los. Die Untoten wurden niederge­mäht. Sie ließen sich allesamt zu Boden sinken. Die Besatzung sprang aus dem Heli­kopter und spritzte sofort ausein­ander, um eventuellen Gegnern im Senatsgebäude nicht als Ziel­scheibe zu dienen. Kaum war das geschehen, als die Untoten wieder aufsprangen und auf die Soldaten schossen. Die Uniformierten war­fen sich zu Boden. In der großen Einstiegsluke zeigten sich zwei Bewaffnete, die wieder das Ma­schinengewehr bedienten. Dies­mal ließen sich die Untoten nicht mehr zu Boden fallen. Eine solche Finte brauchten sie nicht mehr anzuwenden. Sie hatten den Hubschrauber nur zur Landung und die Besatzung zum Aus­steigen bringen wollen. Das war ihnen gelungen. Sie erreichten ihr Ziel und schalteten den Rest der Besatzung aus.

Jetzt griffen die anderen Kampfhubschrauber endlich ein. Sie hatten begriffen, was die Stunde schlug. Das Ma­schinengewehr richtete sich gegen sie. Die Untoten ließen die Rotoren schneller kreisen. Der Hubschrauber hob ab. Die anderen rasten heran und wollten den Start verhindern. Zu spät. Die Untoten erwiesen sich als ge­schickte Flieger. Obwohl der Hub­schrauber fast zuviel Gewicht an Bord genommen hatte, kam er vom Boden ab und fand eine Lücke zwischen den Angreifern.

Per Brake sah dem Pulk nach. In der Luft wurde weiter ge­kämpft. Um ihn kümmerte sich kein Mensch. Lange würde das allerdings nicht dauern, denn jetzt näherte sich auch Militär auf dem Landwege. Per Brake spürte, dass es an der Zeit war, die Flucht anzutreten. Er sprintete aus dem Gebäude und jagte über den Platz - in die Richtung, in der er den gestohlenen Wagen stehengelassen hatte. Er war sicher, dass er inzwischen keinen neuen Besitzer bekommen hatte, denn Per Brake hatte das Fahrzeug magisch gesichert. Kein normaler Mensch war in der Lage, den Wagen auch nur zu berühren, ohne eine Menge Angstschweiß zu riskieren, geschweige denn einzusteigen und damit wegzufahren. Brake erreichte sein Ziel gerade in dem Moment, als der Helikopter mit den Untoten unterlag und abstürzte. Er fiel auf den Senatsplatz hinunter und brach entzwei. Eine mächtige Stichflamme schoss in den Himmel. Der Magier sah es und er wusste, dass Feuer neben weißer Magie ein sicheres Mittel gegen Untote war. Keiner seiner Untoten würde die Sache »überstehen«. Sie würden zu Asche verbrennen.

Der Magier und Gesandte der Schwarzen Mafia spürte kein Be­dauern darüber. Er hatte eine Reihe von Kämpfern verloren, aber die brauchte er ohnedies nicht mehr.

Mit dem Wagen brauste er da­von.

*

Kathryn und Sibelius erreich­ten ihr Ziel in Rekordzeit. Sie waren allein unterwegs. Zwi­schendurch bekamen sie einen Funkspruch herein, betreffend den Kampf auf dem Senatsplatz. Die Terroristen versuchten, mit einem Hubschrauber zu fliehen. Als der Streifenwagen stoppte, war der Kampf längst entschie­den: Es gab die Untoten nicht mehr. Die Soldaten stö­berten in der Asche herum und wunderten sich, weil sie keine verkohlten Leichen fanden. Die angeblichen Terroristen schienen sich tatsächlich in Nichts aufge­löst zu haben.

»Wenn man die Asche genauer untersucht, wird man diese Mei­nung korrigieren müssen«, knurr­te Sibelius und schaltete das Funkgerät aus. Er öffnete die Tür.

Kathryn hatte sich aufmerk­sam umgesehen. Die letzten Me­ter waren sie ohne Licht gefahren. Hier kannte sie sich nicht aus, aber Sibelius war schließlich in Helsinki geboren und auf­gewachsen. Er hatte den Treff­punkt ohne Schwierigkeiten ge­funden. Und wo war jetzt der Poli­zist, mit dem er telefoniert hatte? Kathryns Herz pochte bis zum Hals. Sie hatte plötzlich erbärmli­che Angst.

Sibelius wollte aussteigen. »Nein!« schrie sie plötzlich. »Nichts wie weg von hier!«

Sibelius zeigte, zu was er in der Lage war, wenn er gefordert wurde. Er reagierte mit Bravour. Sofort startete er den Motor und ließ den Scheinwerfer auf­flammen. Und da waren sie auch schon: die Untoten! Sie hatten sich dem Wagen lautlos genähert. Die Dunkelheit hatte sie ver­schlungen und unsichtbar ge­macht. Sibelius fuhr an und hielt direkt auf die Reihen der Untoten zu. Kathryn öffnete das Fenster. Eine Reihe von Bannsprüche, wirksam gegen Untote, fielen ihr ein. Sie brüllte sie den Angreifern entgegen. Die Wirkung blieb nicht aus. Die Untoten prallten erschrocken zurück und verga­ßen für Sekundenbruchteile, ihre Pistolen einzusetzen. Genügend Zeit für Sibelius und seine Begleiterin, ihnen zu entfliehen. Mit schreienden Pneus bog Sibelius um die nächste Kurve.

»Geben Sie Gas!« empfahl Ka­thryn.

Er tat es nur zu gern. Sibelius brauchte nur an die unmenschli­chen Gesichter dieser Horrorge­schöpfe zu denken. »Aus der Traum«, murmelte er brüchig. »Die haben eine hübsche Falle ge­bastelt - für uns.«

Kathryn nickte. »Ja, das war alles berechnet. Man hat den Streifenwagen so lange unbehel­ligt gelassen, bis wir informiert waren. Man rechnete damit, dass wir kamen. Wir sollten ebenfalls gefangen genommen werden.«

»Und warum erst jetzt?«

»Sie sehen noch immer keinen Sinn darin? Herr Sibelius, das ist doch ganz einfach: Sie sind ein normaler Mensch und ohne ma­gische Kenntnisse. In meinem Beisein können Sie sich zur Wehr setzen, weil ich Ihnen im Falle einer Gefahr sage, was zu tun ist. Ansonsten sind Sie gegenüber dieser Schwarzen Macht sehr hilf­los.«

»Danke für die Blumen, Frau Furlong.«

»Werden Sie nicht zynisch, Herr Sibelius. Ich sage Ihnen nur die Wahrheit. Der einzige Grund, warum man mich noch nicht gefangen genommen hat und warum man so lange wartete, waren Sie!«

»Wie bitte?«

»Ich bin überzeugt davon, dass der Magier in der Lage ist, Ihre Gedanken zu lesen. Das dürfte für ihn eine Kleinigkeit sein. Und er hat damit gerechnet, dass wir beide Kriegsrat halten. Er wollte wissen, ob wir einen Trumpf gegen ihn in der Hand haben. Zur Zeit muss er annehmen, dass wir nichts gegen ihn unternehmen können und völlig hilflos sind. Sein Zeitplan sah vor, uns unter den eben erlebten Umständen gefangen zu nehmen. Es ist ihm nicht geglückt, aber wir sind jetzt uninteressant für ihn.«

»Er wird meine Gedanken nicht mehr lesen?« fragte Sibelius un­schuldig.

»Nein, Herr Sibelius, weil er sich zu sicher fühlt und seine Kraft für etwas anderes braucht. Ich sprach im Präsidium von einer Chance. Jetzt ist es soweit. Unsere Chance heißt Tab Furlong. Ja, Herr Sibelius, wir haben noch einen Trumpf in den Händen. Ich konnte Ihnen bisher nichts sagen, sonst hätte es auch der Magier erfahren. Er treibt mit uns und vor allem mit Tab sein makabres Spielchen und merkt dabei nicht, dass er sich dabei das Genick bricht.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Ver­dammt, Frau Furlong, wie soll es denn Ihr Mann schaffen? Er steckt doch noch mehr in der Klemme als wir!«

»Warten Sie ab, Herr Sibelius und fahren Sie nicht so weit weg, denn wir werden Tab bald abholen können - nach Beendi­gung des Falles. Wir werden die Auswirkungen spüren...«

Sibelius sah Kathryn an wie eine Wahnsinnige. Ja, es klang tatsächlich so, als wäre Kathryn größenwahnsinnig geworden. Denn Sibelius hatte in einem recht: Tab Furlong saß in der Falle, in einer gesicherten Zelle, ohne Fluchtmöglichkeit. Wie sollte er denn da gegen eine sol­che Übermacht den Kampf ent­scheiden können?

*

Per Brake wusste, dass Sibeli­us und Kathryn Furlong entwi­chen waren. Das war nicht tra­gisch. Er würde die beiden später aufspüren und einkassieren lassen. Das war überhaupt kein Problem für ihn. Sein Ziel war die Nobelbar »Troubadour«. Er hielt direkt vor der Bar und stieg aus. Der Rausschmeißer stand an sei­nem gewohnten Platz. Er verließ das Haus und katzbuckelte vor dem Magier, wie es ihm Kari Nummi angewiesen hatte. Der Magier lächelte verächtlich.

»Ich werde Sie führen«, bot sich der Rausschmeißer an. »Wollen Sie zu meinem Chef oder zu Ih­rem Gefangenen?«

»Ich finde den Weg schon allein.« Der Magier schob sich an dem vierschrötigen Raus­schmeißer vorbei. Eine kurze Be­rührung war nicht zu vermeiden. Der Rausschmeißer hatte das Ge­fühl, mit einer Starkstromleitung in Berührung gekommen zu sein. Es durchzuckte seine Glieder und warf ihn zurück. Keuchend und zitternd vor Furcht und Entsetzen landete er am Boden. Er hatte in dieser Nacht schon eine Menge erlebt, aber der Unheimliche, der offenbar über alles herrschte und das Grauen in Helsinki dirigierte, war der absolute Gipfel. Der Tür­steher und Rausschmeißer barg sein Gesicht in den mächtigen Händen. Nein, dachte er, eine Steigerung gibt es da nicht mehr. Kari Nummi hat ungeheuren Weitblick bewiesen, als er um­schwenkte und sich auf die Seite der Unheimlichen schlug. Nur das gibt uns eine Chance, dieses Desaster zu überleben.

*

Tab Furlong schreckte auf, als er Schritte hörte. Jemand näherte sich seiner Zelle und dann klim­perten Schlüssel. Die Zellentür öffnete sich. Sie schwang weit auf. Ein Mann trat ein. Tab wuss­te sofort, dass er den Initiator von allem vor sich hatte. Er spürte die ungeheure Ausstrahlung des Ma­giers. Der Gesandte der Schwarzen Magie vereinigte auf sich ungeheure Macht.

»Mein Name ist Per Brake!« stellte er sich zynisch lächelnd vor. »Und Sie sind also Chefin­spektor Tab Furlong. Sie kamen hierher nach Helsinki, um der Schwarzen Mafia eine Lehre zu erteilen, mein Lieber und jetzt se­hen Sie sich selbst belehrt.«

Tab Furlong wich vor Per Bra­ke zurück bis zur Wand. Per Bra­ke kam allein. Seine Untoten blieben draußen. Und Per Brake war nicht einmal bewaffnet.

Der Magier lachte gehässig. »Ich habe Sie hierher bringen lassen, um ein Exempel zu statu­ieren. Damit Sie meine Über­legenheit erkennen. Ich werde Sie jetzt töten, Tab Furlong. Mehr noch als das. Meine Macht reicht aus, Ihren Geist einzufangen und sich mir einzuverleiben. Damit werde ich May Harris und auch Lord Frank Burgess täuschen.«

»Sie leben?«

»Ja, sie haben ebenfalls der Schwarzen Mafia einen großen Schaden zugefügt. Doch erneut sind sie auf dem Weg in ihr Verderben. Falls sie das wider Erwarten auch wieder überleben sollten, bin ich wieder an der Rei­he. Ich trete ihnen als Tab Furlong entgegen. Wie gefällt Ihnen das? Da ich bis dahin Ihren Geist in meinem Besitz habe, wird es nicht schwer sein. Und vertrauen Sie nicht auf Ihren lächerlichen Drudenfuß. Damit können Sie mir nicht imponieren. Ich habe mich auf diese Stunden gut vorbereitet, Chefinspektor Furlong. Ich bin gegen Ihren Drudenfuß immun, weil ich ihn zu neutralisieren gelernt habe. Es blieb mir genügend zeit dafür!«

Tab Furlong riss trotzdem sein Hemd auseinander. Der Druden­fuß glühte kräftig und begann zu pulsieren.

Per Brake kam auf Tab Furlong zu. Er ließ sich von dem täto­wierten Zeichen tatsächlich nicht abschrecken. Dicht vor Tab Furlong blieb er stehen und hob die linke Hand. Sofort hörte das Glühen des Drudenfußes auf. Das Zeichen neutralisierte sich. »Das ist mein großer Sieg«, sagte Per Brake zynisch. »Damit hätten Sie nicht gerechnet, Chefinspek­tor.« Er sprach das Chefinspektor voller Abscheu aus. »Zugegeben, ich kann Sie mit magischen Mit­teln nicht töten, aber es geht auch mit herkömmlichen Mitteln. Wenn ich Ihnen den Drudenfuß aus der Brust schneide, werden Sie qualvoll verenden wie ein Stück Dreck.« Per Brake zückte ein Messer, um seine Drohung auf der Stelle wahr zu machen.

Tab Furlong wusste, dass er verloren hatte, wenn er jetzt nicht handelte. Denn Kathryn hatte nicht Unrecht: Tab besaß einen Trumpf, von dem Per Brake nicht das Geringste ahnte. Niemand konnte das besser wissen als Ka­thryn, denn schließlich hatte sie ihrem Mann selbst ihren Druden­stein überlassen. Tab Furlong hatte ihn in der schweißnassen Hand. Ununterbrochen dachte er an den Drudenstein und brachte ihn mit seinem Willen dazu, ebenfalls neutral zu bleiben, damit Per Brake nichts davon merkte. Der Magier hatte so nahe kommen müssen. Das war notwendig. Tab Furlong hatte sich gefangen nehmen lassen und hatte nur scheinbar alles getan, um zu entfliehen. Denn seine Absicht war es von Anfang an gewesen, dem Hauptinitiator zu begegnen und ihn mit dem Drudenstein auszuschalten. Wenn es ihm gelang, wurde alles wirkungslos: Die Untoten waren befreit und zerfielen augenblicklich zu Staub und die Politiker und hohen Beamten würden niemals mehr als Marionetten der Schwarzen Mafia dienen müssen, denn ohne Per Brake waren auch sie frei. Sie würden sich an die Geschehnisse erinnern und wahrscheinlich in Zukunft dafür sorgen, dass Finnland genau das Gegenteil von einer Bastion für die Schwarze Mafia sein würde. Finnland würde sich zu einem Land entwickeln, in dem das Böse kaum auch nur die geringsten Chancen hatte, jemals wieder wirklich Fuß zu fassen.

Tab Furlong erkannte diese Chance. Jetzt hing alles an ihm.

Tab wurde auf einmal ganz ru­hig. Jede Bewegung musste sitzen.

Per Brake hob das Messer und wollte zustoßen. In diesem Augenblick riss Tab Furlong die Arme hoch. Der Lederriemen, an dem der Drudenstein hing, lande­te in der linken Hand. Tab warf ihn Per Brake über den Kopf.

Der Magier machte eine Abwehrbewegung, war aber zu langsam. Tab Furlong sprang bei­seite. Das Messer zischte ins Lee­re. Der Drudenstein hing jetzt Per Brake genau vor der Brust und entfaltete im gleichen Augenblick seine weißmagischen Kräfte. Sonnenheiß glühte er auf. Per Brake kam nicht einmal mehr zu einem Schrei. Das Messer fiel zu Boden. Geblendet wandte sich Tab Furlong ab. Die magische Hitze war so stark, dass er be­fürchten musste, davon ver­brannt zu werden. Nur der Dru­denfuß auf seiner Brust, jetzt nicht mehr neutralisiert, schützte ihn davor.

Als er es wieder wagen konnte, sich umzudrehen, war von Per Brake nur noch ein Häufchen Asche übrig. Und ein Messer, das wie achtlos weggeworfen am Boden lag.

Tab Furlong ging hinaus. Die Untoten auf dem Gang waren ebenfalls vernichtet.

Da kam jemand die Treppe herunter: Kari Nummi. Er richtete eine Pistole auf Tab Furlong. Tab winkte ab. »Es ist vorbei. Haben Sie das nicht gemerkt? Ich habe den Bann gebrochen. Per Brake ist vernichtet und mit ihm alle seine Kämpfer.«

Kari Nummi ließ die Pistole verdattert sinken und betrachtete Tab Furlong wie einen Über­menschen. Und dann bewies Kari Nummi seine außerordentliche Flexibilität, denn von einer Se­kunde zur anderen war er wieder in die Rolle eines friedlichen Bürgers geschlüpft. »Mein Gott, Herr Furlong, glauben Sie mir, ich habe mich denen nicht frei­willig angeschlossen. Sie haben mich gezwungen und...«

Tab schob sich an ihm vorbei. Es war ihm egal, was Nummi zu sagen hatte. Er wollte zu seiner Frau und sie endlich wieder in die Arme schließen. Das würde ihm endgültig beweisen, dass das Grauen besiegt war. Und auch das grausame Dunkel über der Stadt würde weichen - spätestens am Morgen, wenn die Sonne auf­ging...

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137866
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Urban Fantasy Horror Fantastik Fantasy Mystery Teufelsjäger Mark Tate Roman Abenteuer Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Wilfried A. Hary (Autor:in)

Nähere Angaben zum Autor siehe auf Wikipedia unter dem Suchbegriff Wilfried A. Hary!
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Titel: TEUFELSJÄGER: Die 9. Kompilation