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Lenara: Die Blutsklavin

von Dominique Heidenreich (Autor:in)
300 Seiten
Reihe: Lenara, Band 2

Zusammenfassung

Drei Monate sind vergangen, seit Lenara ihren Namen, ihre Vergangenheit und nicht zuletzt die Gargoyles hinter sich gelassen hat, um bei den Wölfen Zuflucht zu finden. Doch ihr Frieden ist nur von kurzer Dauer, denn ihre Flashbacks werden immer häufiger und beunruhigender. Len weiß, dass sie sich nicht ewig vor den Gargoyles verstecken kann und es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese sie wiederfinden. Wenn es so weit ist, wird sie jede Hilfe brauchen, die sie kriegen kann. Selbst wenn diese Hilfe von jemandem kommt, auf den sie gern verzichtet hätte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright © 2016 Dominique Heidenreich. Alle Rechte vorbehalten

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Charaktere, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen entstammen der Vorstellungskraft der Autorin, oder sind fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden, oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. Auflage

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com

Korrektorat: Pia Euteneuer und Lillith Korn

Selbstverlag: Isabel Heidenreich, BA
Kampfstraße 4, 1140 Wien

Heidenreich, Dominique

Die Blutsklavin

Band 2 der Reihe - Lenara

Mehr Informationen finden sie auf www.dominiqueheidenreich.at

Besucht mich auf Facebook und Instagram: @DominiqueHeidenreich

 

 

In einem anderen Leben hätten wir sein können,
wozu wir geboren wurden,
aber nicht bestimmt waren.

Prolog

 

„Lilly?“

Sie sah von ihrem Malbuch zu ihrer Mutter auf. Es war ihr allerdings nicht erlaubt, sie so zu nennen. Lilly verstand immer noch nicht wieso, aber sie sollte ihre Mutter nur bei ihrem Namen nennen. Es hatte etwas mit dem Alter zu tun, sagte ihre Mutter zumindest. Dass sie es verstehen würde, sobald sie ihre eigenen Kinder hätte.

Lilly wollte keine eigenen Kinder. Sie spielte auch nie mit den Puppen, die sie geschenkt bekam. Es schien ihr immer eine Zeitverschwendung, sich Geschichten für besagte Puppen auszudenken. Das war es, was sie mit ihren Puppen tun sollte, jedenfalls wenn es nach ihrer Mutter ging. Vortäuschen. So tun, als ob Leben in ihnen steckte. So tun, als gäbe es noch eine andere Welt. Lilly sah keinen Nutzen darin.

„Ja?“, antwortete sie, während ihre Mutter in den Raum kam.

„Ich bin für eine Weile weg. Sei ein braves Mädchen und bleib zu Hause, ja?“

Lilly ließ ihren Blick zur Tür schweifen, um nach der Person zu suchen. Und da stand er, jede ihrer Bewegungen beobachtend, mit kalten, seelenlosen Augen.

Er war einer von Mutters Untertanen. Aber Lilly fand niemanden so angsteinflößend wie ihn. Er beobachtete sie immer, wenn sie im selben Raum waren, und das war ihr mehr als unheimlich. Nicht weil er sie ansah, so wie Männer ihre Mutter ansahen. Unter Mutters Untertanen gab es die allerdings auch. Er nicht. Aber sein Blick war zu intensiv, und wenn er nicht völlig kalt ihr gegenüber war, dann lag Verachtung in seinem Blick. Verachtung, die sie nicht verstand, weil sie ihm nie etwas getan hatte. Nicht einmal einen Streich hatte sie ihm gespielt, und sie liebte es, Streiche zu spielen.

Er war ihre Wache, wenn ihre Mutter nicht da war. Was auch immer sie tat, wenn sie weg war. Sie erzählte es Lilly nie, aber Lilly vermutete, es war nichts Legales, sonst hätte sie mit anderen Kindern in ihrem Alter spielen können.

„Lilly?“, forderte ihre Mutter sie auf, weil sie zu lange nicht geantwortet hatte.

„Ja, M-“, sie fing sich gerade noch rechtzeitig. „Lillu. Ich bleibe zu Hause.“

„Zwing mich nicht wieder, dich zu bestrafen. Du weißt, ich hasse das mehr als du.“

Lilly fiel es schwer, das zu glauben. Sie konnte immer noch die Schmerzen in ihren Rippen von ihrer letzten Tracht Prügel spüren. Aber sie hatte es verdient. Sie war nach draußen gelaufen, mitten in der Nacht, und hatte mit niemand Speziellem Verstecken gespielt. Die Schmerzen waren eine Erinnerung daran, sich nicht gegen die Wünsche ihrer Mutter zu stellen.

Warum sie es trotzdem tat, konnte Lilly nicht sagen.

„Das werde ich nicht“, versprach sie.

„Braves Mädchen“, antwortete ihre Mutter und beugte sich zu ihr, um sie auf die Stirn zu küssen. Dann verschwand sie auch schon zur Tür raus.

Und er stand immer noch im Raum, sah groß und furchterregend aus. Schweigend. Beobachtend.

Lilly hatte ihre Mutter einmal gefragt, warum er da war. Warum er ihre Wache war. Aber ihre Mutter zu befragen, zerstörte immer ihre gute Laune, also hatte sie irgendwann aufgehört, Fragen zu stellen.

Sie hatten allerdings keinen Sex. Und ihre Mutter hatte dauernd Sex mit jemandem. Es war manchmal wirklich nervig. Außerdem waren sie laut. Aber er kam nie aus dem Zimmer ihrer Mutter. Das ließ sie denken, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Vielleicht war er schwul.

„Bist du schwul?“, schoss es aus ihr heraus. Was seltsam für sie war. Nicht dass sie nicht aussprach, was ihr durch den Sinn ging, sondern dass sie überhaupt mit ihm sprach.

Er sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen – direkt in seine Weichteile.

„Was?“, brüllte er und wurde dabei ein paar Nuancen röter.

„Ich frage, ob du schwul bist“, wiederholte sie, nur um ihn weiter aufzuregen.

„Ich bin nicht schwul, du Göre“, knurrte er. Er rückte weder von der Tür weg noch änderte sich seine Körperhaltung. Seine Arme waren vor seiner Brust verschränkt und er sah böse drein.

Er wirkte jedoch nicht so einschüchternd, wenn er sich verwandelte. Das kleine Hündchen. Lilly kannte nicht einmal seinen Namen. Jeder nannte ihn einfach nur Hund oder Köter.

Es gab andere in Lillus Reihen, die wesentlich gruseliger aussahen, wenn sie sich verwandelten. Die niedrigere Kaste der Dämonen zum Beispiel. Sie erschauerte automatisch.

Plötzlich änderte sich seine Haltung doch. Er ließ die Arme zu seinen Seiten fallen und seine Haltung verlor etwas an Konfrontationsfreudigkeit.

„Warum glaubst du, dass ich schwul bin?“, fragte er. Weder knurrend noch wütend.

„Du schläfst nie mit meiner Mutter. Und jeder schläft mit meiner Mutter.“

Er knirschte mit den Zähnen bei ihrer Bemerkung.

„Niemand, der sein Leben liebt, schläft mit Lilith“, sagte er ihr. „Sie ficken sie. Aber sie bleiben nicht und schlafen nie im selben Raum.“

„Wenn du schlecht über sie redest, verpetz ich dich bei ihr“, drohte sie. Aber anstatt verängstigt dreinzusehen, lachte er laut auf. Es war ein harscher Ton und er erweichte seine Züge kein bisschen.

„Tu, was du nicht lassen kannst, Göre“, sagte er mit einem gemeinen Grinsen im Gesicht.

„Solltest du dich nicht fürchten oder so was?“, platzte es aus ihr heraus.

„Oder so was“, brummte er zurückhaltend.

Seine Antwort machte sie wütend. Jeder andere lief wie auf rohen Eiern um sie herum und sagte nichts, dass sie möglicherweise verärgern könnte. Die anderen hatten Angst, sie würde sie verpetzen.

„Warum nicht?“, wollte sie wissen.

„Verwandle dich zum ersten Mal. Dann können wir darüber reden, ob ich mich vor dir fürchte. Zum jetzigen Zeitpunkt bist du verwundbarer als ein Mensch.“

„Ich hasse Menschen“, murmelte sie mürrisch.

„Du weißt gar nichts über Menschen.“

„Doch, tue ich! Ich weiß, dass sie schwach sind und dumm und blind. Aber sie glauben, sie beherrschen die Welt, obwohl sie nur Futter für uns sind.“

„Wenn du nur wiederholst, was andere sagen, ohne dir eine eigene Meinung zu bilden, bist du schwächer als Menschen“, spottete er.

Lilly konnte die Hitze in ihrem Gesicht spüren, die ihre Haut in ein fleckiges Rot verwandelte.

„Wie heißt du überhaupt?“, fragte sie und versuchte, nicht auf seine Bemerkung zu reagieren.

„Das geht dich nicht das Geringste an, kleines Mädchen.“

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Grace

Heute

 

Grace stand auf der Waage und warf böse Blicke auf die Anzeige.

Sie hatte schon wieder zugenommen.

Nicht wirklich verwunderlich, bei den Mengen an Essen, die sie dank Marie in sich hineinstopfte. Oder wenn man bedachte, dass sie seit drei Monaten fast täglich mit Rack trainierte.

Als sie ihre Gargoyle das erste Mal in einem Spiegel erblickt hatte, war sie erschrocken gewesen, wie mager sie ausgesehen hatte. Ihre Rippen hatten herausgestanden, ihre Arme waren zwar muskulös, aber jämmerlich dünn gewesen. Im Vergleich zu dem, was sie an den anderen Gargoyles gesehen hatte, hatte sie gewirkt, als hätte ein Windstoß sie entzweibrechen können.

Davon war ihr jetzt nichts mehr anzumerken. Weder als Mensch, Gargoyle oder Wolf.

So vieles hatte sich in den letzten Monaten verändert, seit sie von Daniel MacClaine und seinem Clan hatte fliehen können.

Ohne ihr Rudel, ihre Familie, wäre sie jetzt nicht hier.

Dank Rack, Malcolm, Marie und den anderen hatte sie jetzt ein Zuhause.

Einen Namen statt einer Nummer.

73N gab es nicht mehr.

Sie war nicht mehr Lenara Blair.

Sie war einfach nur Grace. Tochter von Marie und Malcolm. Die kleine Schwester, die Rack nie hatte haben wollen, wie er sie immer wieder grinsend erinnerte.

Grace drehte den Kopf und sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Mit einer Hand griff sie an ihre kurzen, jetzt schwarzen Haare. Pixie Cut kurz.

Sie hatte Abschied genommen. Von ihren Haaren, von Dan, von ihrem alten Leben. Grace hatte einen Neuanfang bekommen.

Trotzdem vermisste sie ihre langen Haare etwas. Es war seltsam, keine Bürste mehr zu brauchen. Und obwohl sich die Haarfarbe als Mensch auf die des Wolfes nicht auswirkte, schien es umgekehrt der Fall zu sein. Sie hatten das Fell ihrer Wölfin eingefärbt, um sie weniger auffällig zu machen. Als sie sich zurückverwandelt hatte, waren ihre Haare schwarz gewesen.

Vieles hatte sich geändert, aber vieles war immer noch gleich und immer noch schwierig für sie.

In den ersten Wochen wäre sie in den unterirdischen Höhlen fast völlig durchgedreht. Alles war ihr zu eng und zu erdrückend. Der regelmäßige Blick über die Schulter legte sich erst im zweiten Monat, in dem sie von den Gargoyles unentdeckt blieb.

Aber im ersten Monat? Da war einfach alles überwältigend gewesen. Zu viele Leute um sie herum, zu viel Nähe, zu viele neue Regeln. Einfach zu viel.

Doch jetzt waren ihre Panikattacken so selten, dass sie sich manchmal dabei ertappte, wie sie darauf wartete, in Panik auszubrechen. Nur, um dann festzustellen, dass sie keine Angst hatte, und sich wiederum still zu freuen, weil sie es so weit geschafft hatte.

Wenn sie doch mal aus der Haut zu fahren drohte, machte sie Ordnung.

In einer Höhle mit dreiundzwanzig Wölfen gab es immer etwas zu tun. Vor allem auch deswegen, weil sie ihr gesamtes Rudel schon dabei ertappt hatte, Unordnung zu machen. Für sie.

Damit sie es aufräumen konnte. Damit sie ihre Unruhe allein bewältigen konnte.

Und sie liebte jeden einzelnen Wolf ihres Rudels für diese Gesten.

Abgesehen davon, waren die Hundehaare, die dreiundzwanzig Wölfe hinterließen, mehr als ausreichend, um ihren Ordnungswahn ruhigzustellen.

Sie war immer noch neurotisch. Aber sie hatte einen Bewältigungsmechanismus gefunden, der nicht darin endete, sich zu verbarrikadieren.

Einsam hatte sie sich kein bisschen mehr gefühlt. Überwältigt, ja. Aber es war wirklich schwer, sich in einem Rudel voller aufmerksamer, liebevoller Wölfe und Menschen einsam zu fühlen.

Allerdings war deren fehlendes Schamgefühl gewöhnungsbedürftig. Sie hatte jeden einzelnen ihres Rudels bereits unfreiwillig nackt gesehen. Inklusive Malcolm, Marie und Rack. Und nicht nur das, ihr Rudel hatte Sex. Und wenn es dabei laut wurde, dann zuckte niemand auch nur mit einer Wimper. Außer Grace. Grace wurde krebsrot und ignorierte das Stöhnen und die Geräusche. Schallschutz war in den Höhlen nicht vorhanden, egal, wie sehr sie es sich wünschte.

Erfreulicherweise hatte sie gelernt, ihre Augen zu kontrollieren. Wie einen Muskel konnte sie ‚steuern’, welche Farbe sie hatten. Es war seltsam, sich selbst dabei im Spiegel zu beobachten, aber ohne es zu sehen, hätte sie es wahrscheinlich nicht gelernt.

Zur Zeit waren ihre Augen eine Mischung aus Malcolms und Racks. Wenn sie nun in den Spiegel sah, blickte ihr ein Paar stahlgraue Augen entgegen.

Es hatte viel Übung und Konzentration gekostet, aber jetzt funktionierte es fast automatisch.

Andere Haare, andere Augen, etwas mehr Fleisch auf den Rippen und sie war kaum wiederzuerkennen.

Grace sah nicht mehr aus wie sie selbst. Fühlte sich nicht mehr wie sie selbst.

Gleichzeitig fühlte sie sich mehr wie sie selbst als je zuvor.

So normal wie zurzeit hatte sie sich nicht gefühlt, solange sie zurückdenken konnte.

Sie hatte eine Familie. In allen Belangen, die zählten. Hatte ihr erstes Weihnachten nicht allein verbracht, hatte das erste Mal Geschenke bekommen, vor Freude und Rührung geweint, beim Kochen geholfen.

So viele Erinnerungen.

So vieles, das es festzuhalten galt.

So vieles, das sie jetzt zu verlieren hatte.

Es machte ihr eine Heidenangst.

„Hey, Große, was tust du?“

Grace blickte über die Schulter und lächelte. Ihr Lächeln kam so viel leichter als früher. Drei Monate und sie hatten es geschafft, dass sie sich wie ein völlig neuer Mensch fühlte.

„Ich versuche, die Waage dazu zu überreden, mich leichter zu machen.“

Rack lachte leise, als er zu ihr kam und über ihre Schulter hinweg zur Waage sah.

„Hast du Erfolg?“

„Nein.“ Grace streckte der Waage die Zunge raus.

Rack kniff sie in die Seite und Grace streckte ihm ebenfalls die Zunge raus, nachdem sie seine Hand lachend weggeschlagen hatte.

„Ich weiß nicht“, sagte er und kniff sie in die andere Seite, bevor sie sich wehren konnte. „Vielleicht trainieren wir nicht genug.“

„Blödmann“, lachte sie und boxte ihn gegen die Schulter.

Dann nahm er sie plötzlich in den Schwitzkasten und rubbelte seine Faust gegen ihre Haare, bis sie ihn halb knurrend, halb lachend wegschubste.

Als er ihr den Rücken zukehrte, sprang sie an ihm hoch und schlang die Arme um seinen Hals, würgte ihn ein bisschen. Er hielt schnaufend ihre Beine fest.

„Hühott, Pferdchen!“

„Werd ja nicht frech, sonst lass ich dich fallen.“

Sie lachte, als er loslief und mit ihr durch die Tunnel joggte, bis sie im Trainingscenter ankamen.

Kaum hatte er sie auf der Matte abgesetzt, wich sie seinem Ellbogen aus.

Rack fasste sie während des Trainings nie mit Samthandschuhen an.

Er versuchte immer noch, ihr etwas mehr Aggressivität zu entlocken. Denn wenn es um ihren Fight-or-flight-Reflex ging, wählte sie immer die Flucht.

Aber die Reaktion war so instinktiv, es dauerte stets mehrere Sekunden, bevor sie sich stoppen konnte.

Ihr fehlendes ‚Wolfbewusstsein‘ half nicht. Diese Momente, die die anderen Wölfe hatten, bei denen man ihnen förmlich ansah, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste, dass gerade eine interne Kommunikation stattfand, fehlten ihr völlig. Ihre Wolfinstinkte blieben aus.

Ob das daran lag, dass sie aus einer Petrischale kam oder ein Hybrid war, konnte keiner sagen.

Sie konnte knurren, auch als Mensch, aber sonst blieb ihre Wölfin eine unbemerkte Begleiterscheinung. Das warf allerdings die Frage auf, ob ihrer Gargoyle ebenfalls etwas fehlte. Als sie gegen die Dämonen gekämpft hatte, hatte Grace durchaus den Eindruck gehabt, auf ihre ‚Urinstinkte‘ zurückgreifen zu können. Sonst hätte sie auch ohne jegliche Kampferfahrung keine Chance gegen sie gehabt.

Vielleicht wusste ihre Wölfin aber auch, dass ihr keine echte Gefahr von Rack drohte, und schlug deshalb nicht aus.

Sie konnte es wirklich nicht sagen.

Das Wissen, dass sie trotz allem immer zuerst an Flucht dachte, hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund.

Es erforderte eine bewusste Anstrengung, stehen zu bleiben, zu blocken, sich zu verteidigen und die Stellung zu halten.

Aber aktiv anzugreifen war noch schwieriger. Viel, viel schwieriger.

Rack hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu reizen, sie zur Weißglut zu treiben, zu verspotten, sie auf jede erdenkliche Art aus der Reserve zu locken.

Sie waren beide frustriert, dass es keine nachhaltige Wirkung zeigte, selbst wenn er sie doch dazu brachte, anzugreifen.

Ihre einzige Lösung für das Problem war, sich zu verwandeln. Als Wolf brauchte es nicht viel, um sie aktiv zum Angriff zu bewegen. Also fielen ihre Hemmungen vielleicht doch und ihre Wölfin hatte, zumindest unterschwellig, Einfluss auf sie.

Ihre Gargoyle-Form hatte wiederum ganz andere Probleme mit sich gebracht. Denn es hatte Wochen gedauert, bis sie sich überhaupt wieder in ihre Gargoyle verwandeln konnte.

Was auch immer Franklin MacClaine für Magie in seinem Keller gewirkt hatte, es hatte ihre Verbindung zu ihrer Gargoyle-Form beschädigt. Oder vielleicht war es auch nur das psychologische Trauma, das sie bremste. Sie schaffte es zwar wieder, sich zu verwandeln, aber sie fühlte sich unwohl. Jede Minute, die sie als Gargoyle verbrachte, war Schwerstarbeit für sie. Schweißtreibend. Und obwohl sie immer noch eine innere Ruhe überkam, wenn sie eine Gargoyle war, war sie manchmal wie gelähmt. Eine gefährliche Situation, ganz besonders mitten im Kampf.

Ihr Haupttraining bestand also darin, die Verwandlung zu üben, auszuhalten, zu wechseln und aktiv anzugreifen, egal, in welcher Form sie sich befand.

Als Rack sich nach seinem Ellbogencheck zu ihr umdrehte, fing sie an sich zu dehnen und aufzuwärmen.

Ihre erste Verwandlung zur Gargoyle funktionierte noch reibungslos. Aber ihr wurde fast augenblicklich schlecht und sie musste sich zwingen, nicht an den Kerker zu denken. Was sich einfacher anhörte, als es tatsächlich war.

Erst als sie glaubte, sich unter Kontrolle zu haben, begann sie, sich auch als Gargoyle noch einmal zu dehnen und zu strecken.

Nachdem sie sich zum ersten Mal in einen Wolf verwandelt hatte, hatte sich ihr Geruchssinn verbessert. Sie hatte vorher nie einen Unterschied am Geruch ihrer Haut bemerkt. Aber seither hatte ihr Geruch eine ganz eigene Note, und auch wenn ihre Nase nicht die beste im Rudel war, konnte sie die Veränderung riechen.

Das Spannende daran war die Subtilität des Duftes. Denn eigentlich roch sie nach weniger als zuvor. Zumindest solange sie als Gargoyle herumlief. Als würde sich ihr Geruch zurücknehmen, um schwerer auffindbar zu sein.

Aber wie roch man etwas, das nach nichts roch? Es fiel ihr schwer, mit dem Finger darauf zu zeigen, oder den Duft zuzuordnen. Er war neutral, unscheinbar.

Sie hatte noch nie an einem Stein gerochen, war aber in den letzten Monaten schon ein paar Mal in Versuchung gewesen. Nur um einen Vergleich zu haben.

Holz hatte einen Geruch, besonders, wenn man es hackte. Oder verbrannte. Vielleicht war das mit Gestein ähnlich, aber eben nicht so aufdringlich.

„Du weißt, was du zu tun hast“, riss Rack sie aus ihren Gedanken.

Grace atmete einmal tief durch und begann mit einem Flickflack. Etwas, das wirkliche Koordination erforderte, damit ihre Flügel ihr nicht im Weg waren oder sie gar bremsten.

Danach sprang sie in die Luft und hielt sich an einer Stange in der Decke fest. Sie setzte ihre Flügel ein, um so lange wie möglich in der Luft zu bleiben, ihre Hände, die die Stange hielten, waren nur zur Rückversicherung.

Sie konnte nicht nach draußen, um ihre Flügel zu trainieren, also war das die beste Idee, auf die Rack und sie bisher gekommen waren.

Je länger sie sich in der Luft hielt, desto unruhiger wurde sie. Schweiß lief ihr herunter und fiel zu Boden.

„Ich kann nicht mehr“, presste sie hervor und festigte ihren Griff um die Stange.

„Doch, du kannst“, widersprach Rack von seiner Position am Boden. Er hielt eine Stechuhr in der Hand und schrieb ihre Zeiten methodisch auf. Nein, Rack fasste sie wirklich nicht mit Samthandschuhen an, wenn es um ihr Training ging.

„Meine Muskeln fangen an zu zittern“, erklärte sie ihm schnaufend.

„Sag Bescheid, wenn sie zu krampfen beginnen“, erwiderte er gelassen.

„Rack“, mahnte sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen.

„Das passiert alles nur in deinem Kopf, also diskutier nicht mit mir. Du hast noch nicht mal die Hälfte deiner Bestzeit.“

„Wir trainieren auch nicht mehr täglich“, erinnerte sie ihn und erhöhte das Tempo ihrer Flügelschläge, um nicht weiter an Höhe zu verlieren.

„Solange du Luft hast, um dich zu beschweren, kann es nicht so schlimm sein.“

Grace knirschte mit den Zähnen und schwieg, sodass nur noch ihr lauter werdendes Keuchen im Raum zu hören war. Sekunden verstrichen wie Minuten, bis Grace nicht mehr konnte.

„Ich kann nicht mehr“, wiederholte sie sich, atemloser als zuvor.

„Du kannst.“

Sie hätte ihn angeknurrt oder gebrüllt, aber dazu hätte sie kostbare Luft verschwenden müssen. Ihre Arme hielten sie jetzt Sekundenweise hoch und nicht mehr nur noch ihre Flügel.

Als ihre Finger abzurutschen drohten, rief sie verzweifelt seinen Namen.

„Okay, lass langsam los. Und wehe dir, du krachst zu Boden. Ich will einen sanften Abstieg sehen“, verlangte er.

Grace ließ los und sackte ein Stück nach unten, bevor sie sich mit ihren Flügeln wieder fing. Sanft war ihre Landung nicht. Auch nicht grazil. Aber sie brach sich nicht das Bein, was sie als Erfolg verbuchte. Das war ihr nämlich schon passiert.

„Sklaventreiber“, keuchte Grace, als sie zitternd dastand und nach Luft rang.

„Dafür hast du deine Bestzeit um satte zehn Sekunden getoppt“, kommentierte er trocken und grinste von einem Ohr zum anderen.

Grace ersparte sich einen bissigen Kommentar und verdrehte nur die Augen. Rack freute sich über ihre Steigerung mehr, als sie es selbst konnte.

Ihr Bruder warf ihr eine Flasche Wasser zu, und als sich ihr Puls einigermaßen normalisiert hatte, führten sie ihr Training fort.

Rack half ihr, Technik in ihre erbärmlichen Angriffsversuche zu bringen. Als Mensch, Wolf und Gargoyle. Wobei letzteres in ihren Augen vernachlässigbar gewesen wäre, schließlich unterschied sich der Kampf als Mensch oder Gargoyle kaum. Wenn man mal die Flügel und den Schwanz außer Acht ließ.

Selbstverständlich sah Rack das anders.

Als sie endlich fertig waren, schleppte sich Grace unter die Dusche und zog sich um.

Heute war ein Filmmarathon angesagt. Was bedeutete, einmal im Monat verscheuchten die Frauen alle Männer von der Fernbedienung und sahen sich all die Filme an, die sie wollten.

Es gab Popcorn, Chips, Schokolade und alles, was dick und glücklich machte.

Als sie ins Wohnzimmer kam, das fast doppelt so groß war wie ihre alte Wohnung, waren die meisten Wölfinnen aus ihrem Rudel bereits da.

Soweit sie es bisher mitbekommen hatte, war ihr Rudel nicht nur wegen der Größe ungewöhnlich. Sondern auch, weil es fast eine Fünfzig-zu-fünfzig-Teilung zwischen männlichen und weiblichen Wölfen gab.

Mit Grace waren elf Wölfe aus ihrem Rudel weiblich. Sieben davon saßen bereits auf der Couch. Marie konnte sie in der Küche hören, weswegen sie in die Runde winkte und einen Abstecher zu ihrer Mutter machte.

„Kann ich dir helfen?“

Marie drehte sich zu ihr um und strahlte sie an. Sie hatte dieses Tausend-Watt-Lächeln, bei dem es Grace immer warm ums Herz wurde.

„Hilfst du mir, die Sachen hinauszutragen?“

Sie küsste ihre Mutter kurz auf die Wange und nahm ihr die Schüsseln mit Chips und Popcorn ab. Marie hatte ihr nie das Gefühl gegeben, unzulänglich zu sein. Eher das Gegenteil.

Das erste Mal, als Marie ihr gesagt hatte, dass sie sie liebte, hatte sie vor Schreck einen Stapel Teller fallen lassen. Sie hatte ihren Ohren nicht getraut. Geschockt war sie sofort ein paar Schritte zurückgewichen. Marie hatte direkt vor ihr gestanden.

Nie würde sie ihren Blick vergessen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie Grace bat, nicht wegzulaufen. Also war sie stehen geblieben. Niemand hatte diese drei Worte je zu ihr gesagt.

Grace hatte drei weitere Wochen gebraucht, bis sie es geschafft hatte, die Worte zu erwidern, aber Marie blieb stets geduldig.

Die Erinnerung wärmte ihr Herz. Nie hätte sie sich zu träumen gewagt, dass sie eines Tages eine Familie haben würde.

Grace stellte die Schüsseln auf dem Couchtisch ab und quetschte sich dann zwischen Sira und Mac.

Sira hatte wasserstoffblonde lange Haare, eine leicht schiefe Nase, die ihr erstaunlich gut zu Gesicht stand, und neigte gerne mal zur Gewalt. Manchmal übernahm Sira auch ihr Training, und auch wenn sie nicht fand, dass Rack zimperlich mit ihr umging, Sira war noch einmal ein ganz anderes Kaliber. Sie machte ihre Gewaltbereitschaft aber mit ihrer liebevollen Art, zumindest in Grace’ Augen, wieder wett.

„Hey“, begrüßte Sira sie und schlang einen Arm um ihren Hals. Ein lauter Schmatzer auf die Wange folgte, der Grace lachen ließ.

„Du musst öfter heimkommen. Niemand räumt so methodisch auf wie du“, erklärte Sira ihr grinsend und beugte sich nach vorne zum Popcorn, sodass ihre Haare über ihre Schultern fielen.

„Wie wahr“, stimmte Mac zu, den Mund voller Chips. Mac und Sira hätten unterschiedlicher nicht sein können. Mac hatte kastanienbraune Haare, die zu einer hübschen Bob-Frisur geschnitten waren, und ihr rechtes fehlendes Ohr verdeckten. Sie hatte einen Teil ihrer Kindheit in Gefangenschaft der Menschen verbracht und war gezwungen worden, an illegalen Hundekämpfen teilzunehmen. Als sie einen Kampf absichtlich verlor, hatte man ihr als Strafe dafür ein Ohr abgeschnitten.
Während Sira also ihre Probleme gerne mal mit einer Faust ins Gesicht löste, war Mac seit damals erklärte Pazifistin und ihre Wölfin schien dem nichts entgegenzusetzen.

„Hast du deinen Boss schon genagelt?“, rief Ivera von der anderen Seite der Couch.

„Was? Nein!“

Grace hatte seit einem Monat einen Job als Kellnerin im nächsten Dorf. Jedoch hatte sie die Stelle nur bekommen, weil Rack und ihr Boss, Nathan, befreundet waren. Oder Nathan ihm etwas schuldete. Irgendetwas in der Art. Ihr Bruder war sparsam mit Details geblieben, woher sich die beiden überhaupt kannten.

Grace hatte nie damit gerechnet, überhaupt so lange unentdeckt zu bleiben.

Sie hatte von Anfang an klargemacht, dass sie sich nicht darauf verlassen wollte, dass Daniel sie nicht fand. Also hatten sie gemeinsam nach einer Möglichkeit gesucht, sie untertauchen zu lassen. Sie hatte auch wieder einen Notfallrucksack, inklusive gefälschtem Ausweis, der fertig gepackt war. Wie in alten Zeiten.

Grace hielt es nur für eine Frage der Zeit, bis sie Racks Rudel aufspürten, und sie wollte nicht hier sein und ihre Familie in Gefahr bringen. Schon gar nicht, wenn es sich vermeiden ließ.

Solange die Gargoyles sie hier nicht fanden, war niemand in Gefahr.

Ein Job verschaffte ihr ein Alibi und eine Einnahmequelle. Letzteres war zwar kein Grund, der ihrer Familie gefiel, aber Grace wollte ihnen nicht für immer auf der Tasche liegen. Völlig unabhängig davon, ob die Gargoyles hier jemals auftauchten oder nicht.

Es war nicht die beste Lösung, denn ihr Alibi würde nicht weit genug zurückreichen, um einer Überprüfung standzuhalten. Aber es war besser als nichts und würde ihr im Ernstfall vielleicht etwas mehr Zeit verschaffen.

Grace hatte allerdings angemerkt, dass sie durch einen Job nur noch mehr Leute in die Sache hineinzog. Ihr Einwand war geflissentlich ignoriert worden.

Rack war davon überzeugt, dass Nathan damit klarkommen würde, selbst für den Fall, dass tatsächlich Gargoyles auftauchten. Grace würde jedenfalls das Weite suchen, sobald Gargoyles in Sicht kamen, so viel stand für sie fest.

Sie würde nicht nach Hause laufen, sondern sich irgendwo verkriechen. Spätestens, wenn niemand aus ihrer Familie sie erreichen konnte, würden sie Bescheid wissen. Es gab einen Treffpunkt, der vom Himmel aus nicht einsehbar war, an dem sich Grace und Rack drei Tage nach der letzten Kontaktaufnahme sehen würden.

Das war zumindest der Plan. Und Nathan sollte sie notfalls so lange bei sich unterkommen lassen und sicher zum Treffpunkt bringen.

Grace konnte sich nur schwer vorstellen, dass Nathan ihr helfen würde, sollte es hart auf hart kommen.

Rack bestand allerdings darauf, und wer war sie, ihrem Bruder zu widersprechen?

Jeder im Rudel schien Nathan zu kennen, Grace wollte lieber nicht wissen, woher. Und alle fanden es unglaublich wichtig, sie endlich zu verkuppeln. Oder zumindest ‚genagelt‘ zu wissen. Nur Marie wusste, dass sie noch Jungfrau war, und irgendwie schien es jeder in ihrem Rudel abnormal zu finden, dass Grace keinen Sex hatte.

„Warum nicht?“, wollte Fiona von ihr wissen.

„Er ist ihr wahrscheinlich zu arrogant“, antwortete Sira seufzend.

„Er ist nicht arrogant. Er ist einfach nur selbstbewusst“, widersprach Ivera und flocht ihre nussbraunen Haare zu einem Zopf.

„Er ist scharf und leicht zu haben. Du weißt ja, was man sagt, Grace: Wenn man vom Pferd gefallen ist, soll man gleich wieder aufspringen“, meinte Mac und wackelte mit den Augenbrauen.

„Nicht jeder ist so sexbesessen wie du“, konterte Grace grinsend und schubste sie sanft mit dem Ellbogen.

„Nicht jeder hat einen Hengst wie meinen Graeme im Bett“, lachte sie und die ganze Runde verdrehte die Augen.

„Ja, wir können euch hören. Jedes einzelne Mal“, betonte Alison schnaubend, sah aber nicht auf, während sie sich ihre Nägel lackierte.

„Neid steht dir nicht, Al“, kommentierte Fiona und sah den Stapel DVDs durch, der heute auf dem Plan stand.

„Vielleicht sollten wir mal wieder zusammen ausgehen“, schlug Bonnie vor und rutschte zur Seite, damit sich Marie wieder zu ihnen setzen konnte.

„Lässt Chad dich überhaupt noch allein nach draußen?“, fragte Cailin lachend, als sie in dem Moment den Raum betrat. Weil kein Platz mehr auf der Couch war, setzte sie sich in einer fließenden Bewegung auf den Boden, den Rücken an Siras Beine gelehnt.

Grace gab ihrem Impuls nach und strich Cailin durch ihr rostrotes Haar. Es fiel in dicken Locken über ihren Rücken und ließ sie ihre eigene lange Mähne umso mehr vermissen. Aber ihre Haare waren nie so dicht oder schön gewesen.

Irgendjemand schniefte, Cailin lächelte sie über die Schulter an und lehnte ihren Kopf dann an Grace’ Knie. Es waren diese hunderttausend Kleinigkeiten, die ihr Leben im Rudel so vollkommen machten.

„Manchmal“, antwortete Bonnie grinsend. Diesmal war sie es, die mit den Augenbrauen wackelte und die Gruppe zum Lachen brachte. Sex im Freien. Grace fühlte sich definitiv zu unerfahren, um den Reiz daran verstehen zu können. Es war kalt, nass und egal, welche Oberfläche man benutzte, sie war alles andere als bequem. Zumindest waren das Grace’ Gedanken zu dem Thema.

„Was ist mit Lisa?“, fragte Grace schließlich, weil sie sie den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte.

„Sie hatte Streit mit Jamie und kommt nicht aus ihrem Zimmer“, gab Marie ihr Antwort. Jamie war der große Bruder von Lisa und ihr einziger lebender Verwandter.

„Soll ich zu ihr gehen und mit ihr reden?“, fragte Grace und sah zu ihrer Mutter.

„Es kann jedenfalls nicht schaden.“

„Bin gleich wieder da“, sagte sie beim Aufstehen. „Fangt nicht ohne mich an“, rief Grace über die Schulter und lief durch die Tunnel.

Lisa saß gerade konzentriert über einem Puzzle, als Grace hereinkam.

In ihrer ersten Nacht hier, war Grace schreiend aus einem Albtraum aufgewacht und saß schweißgebadet im Bett, als dieser rothaarige Engel in ihr Zimmer kam.

Lisa erklärte ihr, dass sie jetzt keine Angst mehr zu haben bräuchte, weil sie jetzt da wäre und auf sie aufpassen würde.

Dann war sie zu Grace ins Bett geklettert, war wenige Sekunden später eingeschlafen und hatte sich damit für immer in Grace‘ Herz gegraben.

Lisa hatte keine Angst vor ihr, und wann immer Grace schreiend wach wurde, kroch sie wie selbstverständlich zu ihr ins Bett.

„Hallo, Engel“, begrüßte sie Lisa und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Ich hab gehört, du hattest Streit mit deinem Bruder?“

„Jamie will nicht, dass ich mit dir trainiere“, fing sie ohne Umschweife an, ohne von ihrem Disney-Prinzessinnen-Puzzle aufzusehen.

„Er will nur nicht, dass du dich verletzt“, widersprach Grace ihr diplomatisch und griff nach einem der Puzzleteile.

„Aber er hat es mir versprochen“, begehrte sie auf.

„Nun, dann solltest du ihn an dieses Versprechen erinnern“, sagte sie vorsichtig und wusste, sie hatte sich soeben auf sehr dünnes Eis begeben.

„Das habe ich! Aber er lässt mich trotzdem nicht!“

„Hat er es auf dein Alter geschoben?“

Lisa machte nur ein ‚Hmpf‘.

„Sieh mal, du gehst nächstes Jahr schon zur Schule. Sag ihm einfach, du hast Angst, dass dich die anderen Kinder herumschubsen“, schlug Grace vor.

„Du glaubst, die anderen Kinder werden mich nicht mögen?“, fragte Lisa geschockt und ihre Augen wurden augenblicklich feucht.

„Nein, natürlich nicht, Engel. Wer könnte dich nicht mögen?“ Vorsichtig legte sie einen Arm um ihre Schultern und küsste ihr Haar. „Willst du, dass ich mit ihm rede?“, fragte sie vorsichtig.

Lisa schob ihre Unterlippe vor, schüttelte dann aber den Kopf. Grace hätte fast erleichtert aufgeatmet.

„Erwachsene lösen ihre Probleme selbst“, sagte sie mit Überzeugung und Grace verkniff sich ein Lächeln.

„Erwachsene sollten aber auch wissen, wann sie um Hilfe bitten sollten. Erwachsensein heißt nicht, alles alleine zu regeln.“

„Warum gehst du dann alleine weg?“, fragte Lisa und richtete ihre Augen mit ernstem Blick auf sie.

Grace klappte einen Moment lang sprachlos der Mund auf.

„Magst du mich nicht mehr?“

Jetzt war es Grace, deren Augen feucht wurden.

„Ach, Engel, natürlich mag ich dich. Es ist nur sicherer für euch, wenn ich meine Zeit nicht zu oft hier verbringe.“

„Jamie hat gesagt, es ist gefährlich, alleine nach draußen zu gehen.“

„Da hat er völlig recht“, stimmte sie zu. „Aber ich gehe nur ins nächste Dorf und dort bin ich nicht allein.“

„Du bist hier auch nicht allein“, widersprach Lisa.

O Gott, wie kam sie da nur wieder raus? Sie brauchte eine Ablenkung.

„Das ist richtig, aber ich brauche einen Job, so wie alle anderen Erwachsenen auch. Wie sonst soll ich dir zum Geburtstag etwas Hübsches kaufen?“

Lisas blaue Augen wurden riesig. „Ich kriege ein Geschenk?“

„Natürlich. Jeder kriegt zu seinem Geburtstag ein Geschenk. Aber dafür muss ich in das andere Dorf, verstehst du?“

Lisa überlegte angestrengt. „Kann ich das Barbie-Traumschloss haben?“

Grace Mundwinkel zuckten. „Vielleicht“, sagte sie und tat, als würde sie überlegen. „Wenn du brav bist und auf deinen großen Bruder aufpasst, während ich nicht da bin.“

Lisa nickte so eifrig, dass Haare in ihrem Mund landeten.

Grinsend zog Grace die Strähnen aus Lisas Mund.

„Kommst du mit? Heute ist Filmtag“, erinnerte Grace sie.

„Oh! Das hab ich vergessen!“

Kaum hatte Lisa zu Ende gesprochen, war sie bereits aufgestanden und flitzte davon.

Zufrieden ging Grace zurück und setzte sich neben Cailin auf den Boden. Sie genoss die kurze Zeit, die ihr blieb.

Lisa kletterte auf ihren Schoß und war beim dritten Film bereits eingeschlafen, als Grace’ Handy vibrierte.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, kramte Grace das Handy aus der Hosentasche. Sie hatte eine Textnachricht von ihrem Boss. Heute war ihr freier Tag, aber die SMS, die sie von Nathan bekommen hatte, machte deutlich, dass er sie im Club brauchte. Luca, Nathans rechte Hand, war ausgefallen und sie sollte einspringen.

Grace war kein Fan von ihrem Boss. Irgendetwas an ihm machte sie impulsiv und geradezu aggressiv. Keine Wesenszüge, die sie an sich mochte. Die Zusammenarbeit mit ihm war nervenaufreibend, selbst wenn sie kein Wort miteinander wechselten.

Auch mit Luca verstand sie sich nicht besonders gut. Oder besser, Luca verstand sich nicht mit ihr. Aber sie war froh, einen Job zu haben.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Grace

Fünf Wochen zuvor

 

Obwohl es noch früh am Abend war, brach die Dämmerung bereits herein. Es hatte den ganzen Tag geschneit. Selbst im Dickicht des Waldes leuchtete der Boden hell. Die Luft war eisig, brannte fast beim Atmen und war auf den ersten Metern trotzdem angenehm erfrischend. Als sie einen Blick über die Schulter warf, bemerkte sie unzufrieden die Abdrücke, die ihre Pfoten im Schnee hinterließen. Sie hatte keine Zeit, um etwas dagegen zu unternehmen, hoffte aber, der Wind würde ihre Spuren verwischen.

Statt sich übermäßig verrückt zu machen, beschleunigte sie ihr Tempo.

Da sie nur noch selten Gelegenheit hatte, ausgiebig zu laufen, genoss sie jede Sekunde, die es ihr ermöglichte, ihre Glieder auf diese Art zu strecken. Der kalte Wind fuhr ihr durchs Fell und am liebsten hätte sie vor Freude aufgeheult, aber auch wenn es sie reizte, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen, war dies immer noch zu riskant.

Als sie schließlich im Dorf ankam, hing ihre Zunge aus dem Maul und sorgte dafür, dass ihr Atem kleine weiße Wolken bildete.

Die Dächer der Backsteinhäuser waren schneebedeckt, die Straßen fast leer und schlecht beleuchtet. Pflastersteine bildeten die Wege, weit und breit kein Gramm Beton. An manchen Häusern hing noch die Weihnachtsbeleuchtung.

Als sie den kleinen Lebensmittelladen erreicht hatte, blieb sie stehen und kratzte sanft an der Glastür. Eine junge, dunkelhaarige Frau kam hinter zwei Regalen hervor und hielt Grace die Tür auf.

„Du musst Grace sein. Wow, und so hübsche Augen hast du.”

Sie hatte ihre Augen im Griff, solange sie als Mensch unterwegs war, aber als Gargoyle und Wolf blieb ihr die Heterochromie erhalten, wodurch ihre Augen jetzt silbern und blau waren. Es war okay, auch wenn sie immer noch nicht glücklich darüber war, sobald man sie darauf ansprach.

„Komm ruhig einen Augenblick rein, ich hol nur eben deine Schlüssel“, sagte die Frau und Grace blieb artig auf der Eingangsmatte sitzen, um den Laden nicht nass zu machen.

Kurz darauf kam die Frau zurück und ging mit Grace einmal um das Gebäude herum. An der Rückseite des Ladens befand sich eine metallene Fluchttreppe, die nach oben führte.

Die Frau sperrte die Tür für sie auf und half ihr den Rucksack, den sie am Rücken ihrer Wölfin trug, abzunehmen. Penibel streifte Grace ihre nassen Pfoten ab, ehe sie sich die kleine Wohnung ansah. Es gab nicht viel zu sehen. Ein Zimmer, eine Küchennische und ein winziges Bad. Die Farbe an den Wänden war ein ausgeblichenes Hellrosa und blätterte stellenweise ab.

„Das Badezimmer ist sauber und mit dem Notwendigsten ausgestattet. Solltest du etwas brauchen, findest du mich oder Berta unten im Laden.“ Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber noch mal stehen. „Oh, und ich bin Nadja.“ Nadja hängte den Schlüssel an einen Haken an der Wand und zog die Tür leise hinter sich zu.

Kaum war sie allein, verwandelte sich Grace zurück und sprang unter die Dusche.

Als sie die Kälte von sich abgeschüttelt hatte und ihre Haare wieder trocken waren, zog sie sich ein langärmliges schwarzes Shirt an, das ihre Narbe verbarg, aber tief genug ausgeschnitten war, um nicht prüde zu wirken. Ihr Kleidungsstil hatte sich drastisch verändert, seit sie bei ihrem Rudel lebte. Das lag unter anderem auch daran, dass die meisten ihrer Kleidungsstücke Geschenke waren. Aber sie war kein bisschen unglücklich über die Veränderung. Sie gefiel ihr.

Grace zwängte sich in eine blaue Skinny-Jeans und zog hochhackige schwarze Lederstiefel an. Mandy hätte für diese Art von Schuhen gemordet, dachte sie melancholisch. Marie hatte ihr, als Erinnerung an Mandy, Jessie und die anderen Mädels aus ihrem alten Club, einen Lipgloss mit Erdbeergeschmack geschenkt, den sie jetzt auftrug.

Zum Schluss mühte sie sich mit dem Kajalstrich ab, trug Wimperntusche auf und schob etwas Bargeld in ihren BH, damit sie auf die Handtasche verzichten konnte.

Bevor sie ging, zog sie eines ihrer Wurfmesser, die sie von Rack bekommen hatte, aus dem Rucksack und steckte es sich in den Stiefel. Im Hinausgehen griff sie nach dem Schlüssel an der Wand, zog sich ihren grauen Kurzmantel mit Kapuze an und schloss nur einmal ab.

Es waren diese kleinen Dinge, die sich verändert hatten, die sie so glücklich und stolz machten.

 

***

 

Fünf Minuten später stand sie vor dem Club, über dem in großen, grün leuchtenden Buchstaben ‚Howling‘ zu lesen war. Grace zog eine Augenbraue hoch, als sie es las, schüttelte den Kopf und ging hinein. Es waren noch keine Gäste da, aber die Musik lief bereits. Fall Out Boy’s „Centuries“ klang lautstark aus den Lautsprechern. An der rechten Wand befand sich die Bar, in der Mitte des Raumes lag die Tanzfläche mit einer kleinen Bühne dahinter. Links von der Bühne zeigte ein Leuchtschild zu den Toiletten. Den Rest des Clubs nahmen Sitzgelegenheiten und Stehtischen ein.

„Hi“, rief Grace über die Musik hinweg und bewegte sich zur Bar.

Eine Frau stand dahinter und trocknete Gläser ab. Ihre Haut war leicht von der Sonne gebräunt, die Haare fielen in langen, schwarzen Wellen bis zu ihrer Taille und ihre beiden Arme waren von ihren Schultern bis zu den Handgelenken tätowiert.

Ihre rechte Augenbraue war gepierct und ihr linkes Ohr zierten sage und schreibe sechs Ringe und Stecker in diversen Farben. Bernsteinfarbene Augen bohrten sich in ihre grauen.

„Du bist Grace“, stellte die Frau fest und dabei blitzte ein Zungenpiercing auf.

„Ja, ich bin hier –“

„Ich weiß schon“, unterbrach sie sie etwas unwirsch. „Ich bin Luca. Nate ist oben. Zweite Tür links“, sagte sie und zeigte mit dem Daumen auf die schmale Treppe, die neben der Bühne nach oben führte.

„Okay, danke.“ Grace konnte Lucas Blick zwischen den Schultern spüren, als sie langsam nach oben ging.

Die Treppe führte in einen schmalen Gang. Die Wände waren hier oben genauso schwarz wie unten im Club und schluckten das bisschen Licht, das aus den Neonröhren kam. Am Ende des Gangs leuchtete ein grünes Notausgangsschild.

Grace holte noch mal tief Luft und klopfte dann an der Tür, die zu Nathan führte.

„Komm rein“, erklang es dumpf und Grace trat ein. „Mach die Tür zu.“

Sie tat wie ihr geheißen und blieb einen Moment lang im Türrahmen stehen. Das Erste, das ihr auffiel, war der Geruch im Raum. Nicht weil es stank. Aber weil ihr der Geruch seltsam vertraut vorkam. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war, oder woran es lag. Aber es machte sie unruhig.

Nathan saß an seinem Schreibtisch, über Ordner und Papiere gebeugt, sodass sie nur seinen schwarzen Haarschopf sehen konnte.

Die Wände waren hier dunkelrot, der Raum kaum besser beleuchtet als der Rest des Clubs, wodurch die Wände fast schwarz wirkten. Sie fragte sich, ob es nicht deprimierend war, in so einer Umgebung mehrere Stunden lang am Schreibtisch zu sitzen. Oder ob es den Augen schadete.

Nathan trug ein schwarzes Green-Day-T-Shirt, das an seinen Oberarmen spannte. Er war nicht tätowiert. Zumindest nicht, soweit sie es sehen konnte.

Aber eine Narbe verlief von seinem rechten T-Shirt-Ärmel fast bis zu seinem Ellbogen. Es war keine saubere Narbe, nicht glatt, nicht gerade. Sie war gezackt und wulstig, als wäre die Haut an unterschiedlichen Stellen gerissen und nie richtig verheilt. Was brauchte es, damit die Wunde eines Wolfs derart vernarbte?

Grace zwang ihren Blick zurück zu seinem Kopf. Eine schwarze Haarsträhne hing ihm ins Gesicht

„Hi, ich bin –“

„Ich weiß, wer du bist“, unterbrach er sie ebenso unwirsch, wie Luca es vorhin getan hatte, und sie biss sich auf die Zunge.

Dann sah er endlich auf und Grace hätte fast einen Schritt zurück gemacht.

Seine Augen waren ein tiefes Dunkelblau und leuchteten geradezu in dem künstlichen Licht. Sein Bart war ungebändigt, wenn auch eher kurz, und sein Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Er schien alles andere als glücklich, sie hier zu haben.

„Ich wusste nicht, dass Rack eine Schwester hat“, sagte er dann geradeheraus. Grace zuckte die Schultern.

Schweigend bohrte er mit seinem Blick Löcher durch sie hindurch. Sie blickte so ruhig und gelassen zurück, wie sie es vermochte, und hängte ihre Daumen in die Hosentaschen ihrer Jeans. Noch hatte sie kein Bedürfnis, ihre eigene Narbe zu kratzen, aber das konnte sich ändern und sie wollte sich diese Blöße vor ihm lieber nicht geben. Als er sie weiterhin nur stumm anstarrte, stieß sie einen Seufzer aus.

„Jamie hat gesagt, ihr braucht eine Kellnerin.“ Er und Luca schienen wohl eine gemeinsame Vergangenheit zu haben.

„Und du meinst, nur weil du Racks Schwester bist, stell ich dich ein?“, fragte er sarkastisch.

„Nein, aber ich habe ein halbes Jahr in einem Strip-Club gekellnert und auch den einen oder anderen Abend hinter der Bar verbracht. Ich –“

Nathan schnaubte. „Weiß dein Bruder, dass du dich für Geld ausgezogen hast?“

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, bevor sie sich zwang, ihre Gesichtszüge zu entspannen und ein Lächeln aufzusetzen, das Zähne zeigte.

„Ich glaube, Rack würde sich eher eine Hand abhacken, als zuzulassen, dass irgendjemand in seiner Familie als Stripperin arbeitet. Aber ich wiederhole mich gerne, wenn du etwas an den Ohren hast, alter Mann“, sagte sie gespielt freundlich.

Wie sie es schaffte, stehen zu bleiben, als er aufstand und um den Tisch herumkam, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatte offensichtlich etwas von ihrem Verstand eingebüßt, während des Trainings mit Rack. War sie verrückt, ihn zu provozieren? Sie wollte, dass er sie einstellte, nicht dass er ihr den Hals umdrehte.

Scheinbar gelassen, lehnte Nathan sich mit der Hüfte an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hast du mich gerade alter Mann genannt?“, fragte er sanft, obwohl der Blick in seinen Augen stahlhart war.

Grace hatte keine Ahnung, was über sie gekommen war, aber alles, was sie darauf zu erwidern wusste, war: „Soll ich es dir aufschreiben, alter Mann? Langsamer sprechen? Oder einfach nur lauter?“

Als er sich aufrichtete, hätte sie fast Reißaus genommen. Doch dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte los.

Überrascht starrte sie ihn an, blinzelte und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

Nachdem er sich von seinem Lachanfall erholt hatte, grinste er sie von einem Ohr zum anderen an.

„Du bist eingestellt“, erklärte er dann plötzlich und Grace wäre fast der Mund aufgeklappt.

Wurde auch Zeit, dass ich endlich jemanden treffe, der noch verrückter ist als ich, dachte sie perplex. Nathan griff hinter sich auf den Schreibtisch, zog ein Blatt Papier hervor und reichte es ihr.

„Setz dich, lies es, unterschreib es und fang an zu arbeiten“, verlangte er und zog mit dem Fuß einen Stuhl in ihre Nähe.

Sie wusste immer noch nicht, wie ihr geschah, als sie sich in den Sessel fallen ließ und den Vertrag überflog. Sechs Abende die Woche, je neun Stunden lang, beginnend um sechs oder sieben am Abend. Er zahlte weniger, als sie im Paddys Nox verdient hatte, entschädigte allerdings etwaige Überstunden besser. Außerdem war die Miete ihrer Wohnung nicht einmal halb so hoch wie damals, also blieb ihr am Ende des Tages auch mehr übrig. Und sie würde nicht halb nackt herumlaufen müssen.

Grace wagte nicht, ihn anzusehen, als sie sich an ihm vorbei zum Tisch beugte und nach einem Kugelschreiber griff. Sie unterschrieb, händigte ihm Papier und Stift aus und stand auf.

„Halt dich an Luca, mach keinen Ärger und wir werden prima miteinander auskommen“, behauptete er, der Blick wieder ernst.

Weil sie immer noch nicht wusste, was sie sagen sollte, nickte sie nur und ging zur Tür.

„Ach und noch was“, hielt seine Stimme sie zurück, als sie gerade die Tür aufgezogen hatte. „Bring nie wieder Waffen in meinen Club.“

„Was?“ Geschockt sah sie ihn an.

„Das Messer in deinem Stiefel“, sagte er mit einer Kopfbewegung zu ihr. „Gib es Luca, nimm es mit nach Hause, wenn du gehst, und bring es nicht wieder mit.“

Sie hatte keine Ahnung, woher er von dem Messer wusste. Schweigend starrte sie zu ihrem Stiefel, weil sie dachte, es würde vielleicht herausstehen. Nichts dergleichen, stellte sie gleichermaßen erleichtert und irritiert fest. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf seine und setzte an, etwas zu sagen, doch er würgte sie vorher ab.

„Du hast fünf Minuten vom Laden hierher. Wenn du läufst, dauert es nicht mal zwei“, erklärte er ihr ungerührt. „Du brauchst es unterwegs nicht und du brauchst es nicht in meinem Club. Luca kann dir die Panikknöpfe zeigen, die verständigen die Security vor der Tür.“ Damit drehte er sich von ihr weg und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Grace ging und tat, wie ihr geheißen, überreichte Luca ihr Messer, die es kommentarlos entgegennahm und in die Küche brachte. Dann zeigte sie ihr die Preisliste, die sie auswendig zu lernen hatte, sowie die Cocktails, die sie mixen können musste.

Es gab insgesamt vier Panikknöpfe. Zwei in der Küche, zwei hinter der Bar. Sie waren so positioniert, dass wenigstens einer von ihnen beiden immer in der Lage sein sollte, den Knopf zu erreichen.

Sollte eine Schlägerei ausbrechen, hatte sie den Panikknopf zu drücken.

Sollte ein Gast handgreiflich werden, hatte sie den Panikknopf zu drücken.

Wollte jemand seine Zeche nicht zahlen, hatte sie den Panikknopf zu drücken.

Die restlichen Regeln waren nichts Neues für Grace. Kein Alkohol während ihrer Schicht. Sie hatte drei Pausen á zehn Minuten. Der Club schloss pünktlich um zwei in der Früh, außer am Wochenende, da erst um drei. Danach wurde saubergemacht und der Mist rausgebracht.

Ihren ersten Abend im Howling verbrachte sie mit Bierzapfen, Gläser in und aus dem Geschirrspüler zu räumen und die hundertste Frage nach ihrem Namen ebenso lächelnd zu beantworten wie die erste.

Es war Donnerstagabend, der Club war voll, die Musik laut, das Trinkgeld reichlich, und da Luca sich keine Pause nahm, nahm sie ebenfalls keine.

Etwas, das sie Stunden später bereute, als sie sich nach Hause schleppte. Ihre Füße brachten sie um. Am liebsten wäre sie barfuß durch den Schnee gelaufen, um ihre brennenden Zehen abzukühlen. Luca war ihr gegenüber den ganzen Abend lang kurz angebunden geblieben, hatte ihr aber das Messer ungefragt zurückgereicht, bevor sie gegangen war.

Grace war es eindeutig nicht mehr gewohnt, stundenlang auf hohen Absätzen herumzulaufen. Kaum hatte sie die Tür zu ihrer kleinen Wohnung hinter sich zugesperrt, zog sie sich die Stiefel von den Füßen und fiel mit dem Gesicht voran ins Bett.

 

***

 

Zwölf Stunden später erwachte sie mit verklebten Augen, als es an der Tür klopfte.

Immer noch in der Kleidung vom Vorabend, schleppte sie sich zur Tür, strich sich provisorisch über den Kopf, um die Haare zu glätten, und sah durch den Spion.

Nadja stand vor ihrer Wohnung. Verlegen über ihre Aufmachung öffnete sie die Tür.

Noch bevor sie eine Begrüßung hervorbrachte, lachte Nadja los.

„Ich sehe, du hast deine erste Nacht gut überstanden“, erklärte sie grinsend und schob eine dunkle Haarsträhne hinter ihr Ohr.

„Möchtest du reinkommen?“, fragte Grace, als sie sich ihrer Manieren erinnerte.

„Schon gut. Ich wollte nur nach dir sehen. Wissen, ob du etwas brauchst.“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Außer einer Generalüberholung.“

Grace rieb sich den Schlaf aus den Augen und zog sie schwarz vom Kajal von gestern Nacht wieder weg. Gequält verzog sie das Gesicht, als Nadja loslachte.

„Komm auf einen Sprung im Laden vorbei, wenn du wach bist“, bat Nadja fröhlich und tapste davon.

Stöhnend schloss Grace die Tür hinter ihr.

Eine Stunde später ging sie geduscht, mit frischer Kleidung und ihrem Handy in der Hosentasche nach unten. Ihr Magen knurrte lautstark, aber ihre Küche hatte keinen Strom und vereitelte ihre Versuche, Maries Essen, das sie ihr mitgegeben hatte, aufzuwärmen.

Grace betrat den kleinen Laden und eine Glocke erklang über der Tür. In der linken Ecke des Geschäfts befand sich eine uralte Kasse, dahinter stand Nadja und lud gerade einer älteren Dame den Einkauf in einen Papiersack.

Nadja winkte ihr fröhlich zu.

„Nadja, Liebes, wer ist das?“, fragte die alte Dame, als Grace näherkam.

„Mrs. Joe, das ist Grace. Grace ist Racks Schwester“, erklärte Nadja ihr, während sie weiter Tomaten, Zucchini und Mais in die Einkaufstasche räumte.

„Rack hat eine Schwester?“ Die fragenden Augen der alten Dame richteten sich auf sie. Sie wurde von oben bis unten genau gemustert.

„Es ist kompliziert“, bot sie anstatt einer Erklärung an.

Mrs. Joe nickte zustimmend. „Du hast Malcolms schöne Augen“, kommentierte sie.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Danke, Mrs. Joe.“

„Ich sage nur die Wahrheit, Liebes“, versicherte sie ihr und griff nach ihren Einkäufen.

„Darf ich Ihnen helfen, Mrs. Joe?“

„Aber nein, Liebes, ich habe es ja nicht weit. So höflich“, sagte sie mit einem Blick zu Nadja. „Ganz klar Maries gute Erziehung.“

Nadja lächelte, nickte freundlich und sie verabschiedeten sich von der alten Dame.

„Also, erzähl mal“, sagte Nadja dann und lehnte sich auf die Unterarme. „Wie war deine erste Nacht in unserem bescheidenen kleinen Dorf?“

Sie wurde einer Antwort enthoben, als ihr Magen entschied, den Hunger nicht mehr schweigend hinzunehmen.

„Entschuldigung“, murmelte Grace verlegen. „Die Küche hat keinen Strom.“

„Oh, stimmt. Das hatte ich völlig vergessen. Das wollten wir schon vor Jahren mal reparieren. Irgendwie sind wir noch nie dazu gekommen. Mama!“

Eine Frau kam aus dem Hinterzimmer heraus. Unverwechselbar Nadjas Mutter. Sie war etwas kleiner als ihre Tochter, fülliger, aber die Gesichtszüge waren dieselben.

Genauso wie die lachenden, freundlichen, rehbraunen Augen.

„Mama, das ist Grace. Grace, meine Mutter Berta.“

Ein fester Händedruck und ein paar freundliche Worte später, saß Grace zusammen mit Berta und Nadja im Hinterzimmer und verschlang den besten Teller Rumbledethumps, den sie je gegessen hatte.

„Und jetzt erzähl mir alles“, verlangte Nadja, als Grace ihren leeren Teller wegschob.

„Es gibt nicht viel zu erzählen. Nathan hat mich eingestellt, Luca hat mir alles gezeigt.“

„Ich war schon ewig nicht mehr im Howling. Vielleicht sollte ich dich dort besuchen kommen. Gibt es hübsche Jungs dort?“

Grinsend schüttelte Grace den Kopf. „Du lebst hier und fragst mich das?“

„Ich bin nicht so die große Partymaus“, sagte sie schulterzuckend und zwinkerte ihrer Mutter zu, als diese ungläubig schnaubte.

„Hör nicht auf sie, vor ein paar Jahren noch war sie jedes Wochenende im Howling und kam erst nach Hause, wenn Luca sie rausschmiss und keine Minute früher.“

„Wie geht es Lisa?“, wechselte Nadja plötzlich das Thema und fragte sie für die nächsten zwei Stunden über jedes einzelne Rudelmitglied aus.

Ihnen allen wurde schnell klar, dass Nadja und Berta mehr über ihre Familie wussten als sie selbst. Aber weder Nadja noch ihre Mutter stellten ihr dazu unangenehme Fragen, sondern erzählten ihr stattdessen bereitwillig jede Geschichte, die ihnen einfiel. Als die Türglocke läutete, verschwand Nadja in den Laden.

„Rack hat nicht erzählt, wie er plötzlich zu einer so alten Schwester gekommen ist“, sagte Berta, als Nadja außer Hörweite war. „Und irgendwie bezweifle ich, dass Malcolm seiner Marie je fremdgehen würde.“

Als Grace dazu nichts sagte, wurde Bertas Blick scharf.

„Nicht jeder im Dorf kennt deine Familie so gut wie wir. Aber wir hier oben im Norden sind ein enggestricktes Völkchen. Die Leute werden früher oder später anfangen, Fragen zu stellen.“

„Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ich lange hier sein werde“, sagte Grace vorsichtig und ließ Berta dabei nicht aus den Augen.

„Und woran liegt das?“, fragte Berta und legte den Kopf nachdenklich zur Seite.

Ihr Handy klingelte, bevor sie sich eine Antwort zurechtgelegt hatte.

Dankbar für die Unterbrechung zog Grace es hervor und grinste, als sie abhob.

„Hey, Große“, begrüßte Rack sie.

„Hey, Rack.“

„Sei so gut und gib mir mal Tante Berta.“

Grace zog die Augenbrauen zusammen, sah sich um, ob er ihr ins Dorf gefolgt war und deswegen wusste, dass sie gerade mit Berta zusammensaß. „Tante?“

„Wir sind um fünfzehn Ecken herum verwandt“, erklärte Rack.

Verwirrt reichte sie ihr Handy an Berta weiter.

Berta wechselte zu fließendem Gälisch, von dem Grace kein Wort verstand und es nur erkannte, weil Malcolm manchmal auf Gälisch vor sich hin murmelte, wenn er tief in Gedanken war. Plötzlich verstummte Berta und sah zu Grace herüber. Dann stand sie auf, küsste sie auf beide Wangen und reichte ihr das Handy zurück.

„Komm vor deiner Schicht im Howling noch mal vorbei“, verlangte Berta und ließ sie allein.

„Was hast du ihr erzählt?“, fragte Grace sofort, als sie ihr Handy ans Ohr legte.

„Dass ich nur dank dir überhaupt wieder zu Hause bin und sie wissen sollte, dass Familie weit über Blutsverwandtschaft hinausgeht. Und mir besser nicht zu Ohren kommt, dass sie meiner kleinen Schwester Schwierigkeiten macht.“

„Hmpf.“

„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, du hättest Nathan einen alten Mann genannt“, sagte er und lachte durch die Leitung.

„Der alte Mann ist eine Petze“, murmelte Grace und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

„Nachdem du dich nicht dazu herablassen konntest, uns anzurufen, musste ich sichergehen, dass es dir gut geht. Dad war schon kurz davor, dir nachzulaufen.“

Sie verzog das Gesicht. „Entschuldige. Sind Mum und Dad sehr böse?“

„Warte, ich reich dich weiter. Mum! Dad!“

Grace hielt gerade noch rechtzeitig das Handy von ihrem Ohr weg, bevor er losschrie.

„Hallo, mein Mädchen.“

„Hallo, Dad“, sagte sie und lächelte bei seiner Begrüßung. „Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab.“

„Schon gut, wir haben uns einfach Sorgen gemacht.“

„Ich weiß, es kommt nicht mehr vor. Versprochen.“

„Wie geht es dir, mein Mädchen?“

„Gut. Ich hab den Job und … alles ist gut“, schloss sie lahm.

Malcolm lachte. „Ich gebe dir deine Mutter. Pass auf dich auf und vergiss nicht, wieder anzurufen. Das nächste Mal hält mich Rack nämlich nicht zurück“, versprach er und gab den Hörer weiter.

„Gracie. Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“

„Tut mir leid, Mum. Ich verspreche, es kommt nicht mehr vor“, versprach Grace auch ihr.

„Isst du auch genug? Ist Berta nett zu dir? Hast du schon Nadja kennengelernt? Wie ist deine Wohnung? Wie gefällt dir dein Job?“

Lächelnd und unfassbar glücklich, erzählte sie ihrer Mutter alles, was es zu erzählen gab. Zugegeben, es war nicht viel, aber sie genoss jede Minute.

„Mum, ich muss jetzt los. Luca hat mir Hausaufgaben mitgegeben, für die ich lernen muss.“

„Pass auf dich auf. Und ruf an!“

Als Grace aufgelegt hatte, ging sie zurück in den Laden.

„Du hättest mir sagen sollen, was du für Rack getan hast. Wenn dir jemand im Dorf Schwierigkeiten macht, kommst du zu mir. Verstanden?“, stellte Berta klar.

Blinzelnd nickte Grace und verschwand zurück in ihre Wohnung, bevor Berta ihre Meinung ändern konnte.

 

***

Heute

 

„Ich muss los“, murmelte sie in die Runde, während sie Nathan zurückschrieb.

„Du hast alles, was du brauchst?“, fragte Cailin sie.

„Du klingst schon wie Rack“, meinte sie spöttisch und hob Lisa vorsichtig von ihrem Schoß zu Marie. „Mein Handy ist aufgeladen, meine Wurfmesser gewetzt“, versicherte sie in die Runde.

„Pass auf dich auf“, bat Marie.

„Und vergiss nicht, wieder anzurufen“, fügte Sira hinzu.

„Aye, aye, Captain“, antwortete sie grinsend und ignorierte den Stich in ihrem Herzen, weil sie gehen musste. Sie wollte Lisa nicht wecken, aber verabschiedete sich sonst von jedem einzelnen Wolf und jeder einzelnen Wölfin.

Der Abschied fiel ihr jedes Mal schwerer. Immer mit dem Gedanken, dass sie diesmal vielleicht nicht mehr die Möglichkeit hatte, zurückzukommen.

Wie sie es schaffte, nicht zu weinen, war ihr ein Rätsel. Vielleicht, weil sie die Hoffnung behielt, tatsächlich zurückzukommen.

Vielleicht, weil es reichte, zu wissen, dass sie einen Ort hatte, an den sie zurückkehren konnte.

Marie hatte ihr wieder einmal so viel Essen eingepackt, dass die Hälfte davon wahrscheinlich schimmeln würde, bevor sie dazu kam, alles zu essen.

Malcolm hatte sie in eine seiner Bärenumarmungen gezogen und sie minutenlang nicht mehr losgelassen.

Mit einem letzten Blick über die Schulter, zu ihrer Familie, die am Höhleneingang stand, lief sie wieder ins Dorf zurück.

Das Howling hatte noch nicht geöffnet, als sie sich umgezogen hatte und dort ankam. Heute war eine Art Themenabend und ein Song aus den 90ern lief bereits leise im Hintergrund.

Nathan hatte begonnen, die Stühle auf den Boden zu stellen.

„Tut mir leid, wenn ich dein Date unterbrochen habe“, war seine Begrüßung. Sein Tonfall machte deutlich, dass es ihm keineswegs leidtat. Grace hatte das Bedürfnis zu knurren, unterdrückte es aber. Sie nahm ihren Mantel ab und half, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Sie hatte keinen Grund, sich vor ihm zu rechtfertigen. Was sollte die Frage überhaupt?

„Ich hatte kein Date“, stellte sie trotzdem richtig, während sie half, die Stühle zu richten.

„Sieht dein Verehrer das auch so?“, fragte er, als er an ihr zum nächsten Tisch vorbeiging und sein Arm sie streifte.

Diesmal entwich ihr das Knurren doch.

Seine Reaktion? Er lachte.

Ihre Reaktion? Sie fletschte die Zähne.

Abwesend rieb sie über ihren Arm und warf ihm einen giftigen Blick zu.

„Ich war zu Hause“, sagte sie und ihr Ärger verflog. Sagen zu können, dass sie ein Zuhause hatte, war wie Balsam auf ihrer Seele.

Er machte ein grunzendes Geräusch und sie wechselten für die restlichen Vorbereitungen kein Wort mehr miteinander. Grace störte sich nicht daran, ihre Gedanken hingen den Gargoyles nach.

Der Andrang, als der Club öffnete, blieb für die ersten zwei Stunden mäßig, weswegen Grace allein hinter der Bar stand und Nathan in seinem Büro verschwand. Sie fragte sich immer noch, wie sie drei Monate lang unentdeckt geblieben war. Dan war nicht dumm und sie wusste, dass er Mittel und Wege hatte, sie ausfindig zu machen. Außerdem würde sein Vater, Franklin, auch nicht ruhen, bis er sie wieder in seinen Klauen hatte. Wortwörtlich. Würde Rack es ihr verschweigen, wenn Gargoyles gesichtet worden wären? Nein, beschloss sie. Auch die Sicherheit des restlichen Rudels stand damit auf dem Spiel. Außerdem war er es, der ihr immer predigte, dass Vorbereitung alles war.

Warum also hatten sie sie noch nicht gefunden? Oder Malcolms Rudel, um genau zu sein. Ja, klar, sie waren so abgeschieden von der restlichen Welt, wie es nur ging. Aber trotzdem. Grace seufzte und versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

Sie behielt alles im Griff und das, obwohl sie die Hälfte der Zeit nicht voll bei der Sache war. Ihre Gedankenverlorenheit begann sich erst zu rächen, als der Club voller wurde und sie mehr zu tun bekam. Zweimal wäre ihr fast ein Glas aus der Hand gerutscht, sie konnte es aber beide Male im letzten Moment retten.

„Mach deine Pause“, verlangte Nathan, der plötzlich neben ihr stand und sie halb zu Tode erschreckte.

Er stand zu nah, aber alles in ihr weigerte sich, vor ihm zurückzuweichen.

„Nicht notwendig“, versicherte sie ihm, ihr Ton abweisend, aber so nonchalant sie es vermochte. Innerlich wies sie sich zurecht, weil sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentriert hatte. Als er jedoch keine Anstalten machte, ihr aus dem Weg zu gehen, wollte sie ihn mit der Schulter zur Seite schieben. Ein Versuch, der von außen jämmerlich aussehen musste, denn Nathan gab keinen Zentimeter nach. Als würde sie versuchen, einen Berg Granit zur Seite zu schieben. Irgendwie machte die Situation sie unruhig, aber sie wollte partout keine Schwäche vor ihm zeigen. Stattdessen warf sie ihm einen weiteren frostigen Blick zu, der ihm bedeuten sollte, aus dem Weg zu gehen.

Diesmal war es Nathan, der über die laute Musik hinweg knurrte und die umstehenden Gäste damit zum Verstummen brachte.

Grace verstummte nicht. Bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte, knurrte sie ebenso laut zurück.

Sie standen fast Nase an Nase, weil keiner von ihnen beiden bereit schien, einen Schritt zurückzumachen. Ihre Blicke trafen sich in einem stummen Duell.

Jemand an der Bar lachte und machte eine Bemerkung darüber, dass man einen schlafenden Hund nicht wecken sollte. Ein anderer stimmte ein und fügte hinzu, dass man ihn auch nicht herausfordern sollte.

Er war größer und muskulöser als sie, hätte er es also darauf angelegt, hätte er sie wahrscheinlich einfach umschubsen können. Trotzdem weigerte sie sich nachzugeben.

Sie starrten sich immer noch ungerührt an, bis Mike, der Türsteher, hinter die Bar kam, sich dazwischen drängte und sie auseinanderschob.

Als ihr Blickkontakt für wenige Sekunden unterbrochen wurde, entspannte sich Grace fast augenblicklich. Und dann wurde sie rot.

Zum Teufel, was war das gerade gewesen? Warum legte sie sich mit ihrem Boss an? Was sollte dieser Showdown zwischen ihnen? Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren?

Verlegen über das Spektakel senkte sie schließlich den Blick, drückte sich an den beiden Männern vorbei und verschwand in die Küche. Sie nahm ihre Pause.

Als sie zurückkam, tat sie, als sei nichts gewesen, und beachtete die Kommentare der Gäste nicht weiter. Nathan ignorierte sie und sie ignorierte Nathan.

Warum sie sich dann dabei ertappte, ihm immer wieder Blicke zuzuwerfen, konnte sie nicht sagen.

 

Lilly

 

„Wir können nicht ewig so weitermachen, mon cher.”

Seufzend rieb Lilly sich übers Gesicht. „Ich habe es einmal gesagt. Nur ein einziges Mal“, wich sie vom eigentlichen Thema ab, das er ansprach.

„Und es war unglaublich niedlich, mir vorzuschlagen, dir einen Kosenamen für einen Mann zu geben“, konterte er, der Ton war leicht, aber der Zug um seinen Mund blieb ernst.

Sie verdrehte die Augen. „Geh einfach schlafen, Francois, ich übernehme die Wache.“

„Der Grund, warum wir so lange unter dem Radar bleiben konnten, ist, weil wir uns nicht eingemischt haben. Ich verstehe, warum du Lenara beschützen willst, aber wir sind nur zu zweit und müssen nicht nur die Gargoyles abwehren, sondern auch außerhalb der Reichweite deiner Mutter bleiben.“

„Ich weiß das alles, Francois.“ Sie warf ihm einen müden Blick über die Schulter zu.

„Eh oui, warum sind wir dann noch immer hier?“, fragte er ungeduldig. „Sie ist bei den Wölfen und damit so sicher, wie es in ihrer Situation möglich ist.“

„Ich weiß, die letzten Monate waren schwer und Nahrung für dich knapp, Francois. Aber ich kann sie nicht einfach in die Hände der Gargoyles fallen lassen und tatenlos dabei zusehen, wie sie abgeschlachtet wird.“

„Wenn Lilith uns findet, wirst du keine Möglichkeit mehr haben, irgendetwas zu sehen. Die Gargoyles werden ungeduldig und haben Verstärkung aus den anderen Clans angefordert, unsere eigenen Verbündeten sind noch immer in den Staaten. Deine Mutter ist uns dicht auf den Fersen und –“

„Ich weiß“, unterbrach sie ihn unwirsch mit einer wegwerfenden Handbewegung, als sie sich zu ihm umdrehte. „Ich habe es verstanden. Gib mir noch zwei Tage und dann lass uns von hier verschwinden.“

Francois verengte misstrauisch die Augen. „Zwei Tage? Und dann brechen wir auf, ohne Wenn und Aber?“

„Versprochen.“

Seufzend kam er zu ihr herüber und strich ihr über die Wange. „Ich meine es nicht böse, mon cher.“

„Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen”, erwiderte sie und ihre Mundwinkel zuckten. „Ich weiß, Francois. Hast du von X gehört?“

„Nein, er wird sich melden, sobald er kann. In der Zwischenzeit habe ich Mimi darauf angesetzt, die Aktivitäten der anderen Clans im Auge zu behalten. Nur weil die MacClaines ihre Suche auf Lenara beschränken, heißt das nicht, dass die anderen das auch tun.“

„Alles steht und fällt mit den MacClaines“, gab Lilly zu bedenken. „Daniel hat ein klares Zeichen gesetzt, auf welcher Seite er wirklich steht, und das schlägt seine Wellen auch zu den restlichen Clans.“

„Es ist nicht so einfach, seine Familie zu hintergehen, mon cher. Du solltest das von allen am besten wissen.“

„Verteidigst du ihn gerade vor mir?“, fragte sie überrascht und auch verärgert.

„Non, ich halte es nur für möglich, dass Daniel MacClaine selbst nicht weiß, auf welcher Seite er wirklich steht.“

Lilly machte ein ungläubiges Geräusch, sagte aber nichts dazu. In ihren Augen hatte MacClaine bewiesen, dass er aus demselben Holz geschnitzt war wie sein Vater.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Grace

 

Am nächsten Tag gab es im ganzen Dorf nur ein Gesprächsthema.

Den gestrigen Vorfall im Club.

Grace hielt die nicht enden wollende Inquisition nach zwei Stunden nicht mehr aus und verschanzte sich wieder in ihrer kleinen Wohnung.

Sollte sie sich entschuldigen? Wahrscheinlich. Aber der bloße Gedanke daran ließ alles in ihr rebellieren.

Warum hat Nathan mich überhaupt eingestellt? Mal ehrlich, sie hatten sich vom ersten Augenblick an nicht riechen können. Luca mag mich auch nicht. Warum also? Alles nur Rack zuliebe? Das fiel ihr von Tag zu Tag schwerer zu glauben. Nathan war nicht der Typ Mann, der, Gefallen hin oder her, etwas tat, das er nicht wollte.

Als es an ihrer Tür klopfte, ließ sich Grace stöhnend nach hinten aufs Bett fallen.

„Geh weg, Nadja“, rief sie, bevor sie sich ihren Polster aufs Gesicht drückte.

Nadja ging natürlich nicht. Sie kam herein und brachte einen kalten Windstoß mit sich.

Das Bett senkte sich unter ihrem Gewicht, als sie sich zu Grace setzte.

Als Grace keine Anstalten machte, den Polster vom Gesicht zu nehmen, entstand eine kurze Rangelei darum, bis Nadja ihn ihr endgültig aus der Hand riss.

„Willst du einen Rat von mir? Natürlich willst du einen“, beantwortete sie sich ihre Frage sofort und ließ Grace gar nicht erst zu Wort kommen. „Du solltest mal ein ernsthaftes Gespräch mit deiner inneren Wölfin führen.“

Grace warf die Hände vors Gesicht und knirschte mit den Zähnen. Sie konnte Nadja schlecht sagen, dass es keine innere Wölfin gab. Nicht für sie zumindest.

„Ich rede nicht mit ihr“, murmelte sie und ließ die Hände wieder fallen, um Nadja anzusehen.

„Ach ja? Sie redet aber mit dir. Und das lautstark, wenn ich auch nur die Hälfte der Geschichten von gestern Nacht glauben kann.“

Perplex starrte Grace sie an. „Was?“

„Na, dein Ausbruch. Wir wissen beide, dass dein gestriges Verhalten so weit außerhalb deines Charakters liegt, wie der Nordpol vom Südpol entfernt ist. Deine Wölfin hat es auf Nate abgesehen.“

Ruckartig setzte sie sich auf. „Meine Wölfin will Nathan umbringen?“

Nadja warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus, sodass sie fast vom Bett fiel. Grace presste die Lippen aufeinander und sah sie finster an, bis Nadja sich endlich wieder beruhigt hatte.

„Nein, du Dummerchen. Deine Wölfin steht auf Nate.“

Grace schnaubte ungläubig und tat es mit einer Handbewegung ab. Der Gedanke war so abwegig, dass sie die Augen verdrehte. „Wir können uns nicht mal leiden.“

„Oh, aber deine Wölfin kann ihn sehr gut leiden. Sie fordert ihn heraus, damit er Gelegenheit hat, ihr zu beweisen, wer von euch beiden dominanter ist.“

„O mein Gott, willst du mir ernsthaft weismachen, dass meine Wölfin Sex mit meinem Boss haben will?“

Nadja grinste von einem Ohr zum anderen. „Nicht nur das. Sie will ihn als Partner.“

„Nein!“

„Doch“, prustete Nadja und ließ sich dann lachend neben ihr aufs Bett fallen. „Du solltest dein Gesicht sehen.“

„Ich glaube, du interpretierst in das gestrige Geschehen etwas zu viel hinein“, versuchte Grace sich zu retten. Das kann doch unmöglich sein.

„Sieh mal, ich habe schon verstanden, dass deine Wölfin sonst eher den Rücksitz nimmt. Sie lässt dich dein Ding machen und das lässt sie unterwürfig wirken. Aber, Grace, sie hat dir, nach allem, was ich sonst so zu hören gekriegt habe, jetzt nicht zum ersten Mal das Ruder aus der Hand gerissen, wenn es um Nathan ging.“

Grace dachte an ihr Vorstellungsgespräch und verzog das Gesicht. Nadja könnte recht haben.

„Also gebe ich dir ernsthaft den Rat, rede mit deiner Wölfin und kläre, was auch immer es da zu klären gibt“, schlug Nadja vor.

„Was meinst du mit ‚Was auch immer es da zu klären gibt‘? Da gibt es nichts zu klären. Ich schlafe doch nicht mit Nathan, nur damit sie Frieden gibt“, begehrte Grace auf.

„Warum nicht?“

Grace klappte geschockt der Mund auf.

„Ernsthaft, was ist schon dabei? Nate ist heiß. Zieh nicht dieses Gesicht! Wir wissen beide, dass es so ist, und es zu leugnen, bringt dir überhaupt nichts.“

„Na und? Es gibt viele heiße Typen“, murmelte Grace schmollend und hasste sich für den Sekundenbruchteil, in dem sie an Dan dachte.

„Ach, komm schon. Nate ist eine Klasse für sich und du weißt es. Das halbe Dorf lechzt ihm hinterher.“

„Er hat vermutlich auch schon das halbe Dorf genagelt“, brummte Grace unzufrieden und wiederholte damit Iveras Worte vom gestrigen Tag.

Nadja zuckte die Schultern. „Nicht unbedingt das halbe Dorf, aber ein paar One-Night-Stands waren schon dabei.“

Grace verengte die Augen zu Schlitzen und sah ihre Freundin an. „Warst du etwa auch eine davon?“ Warum zum Teufel interessiert mich das? Wieso frage ich überhaupt?

Nadja seufzte übertrieben schwer. „Ich wünschte.“ Doch als sie Grace Blick sah, lachte sie nur wieder. „Ich nehm dich nur auf den Arm. Nathan ist heiß, aber nicht mein Kaliber.“

„Ist er nicht gut genug für dich?“ Grace zuckte innerlich bei ihrem beleidigten Ton zusammen, während Nadja wieder losprustete und sich die Seite hielt vor Lachen.

„Du bist einfach zum Schießen. Also reden wir Klartext. Du stehst auf Nate. Ah-ah-ah“, machte sie und hob einen wackelnden Zeigefinger, um Grace zum Schweigen zu bringen. „Leugnen bringt nichts. Du willst ihn, deine Wölfin will ihn auch. Also mach was draus.“

Grace machte ein unzufriedenes Geräusch. Hat Nadja recht? Sie würde darüber nachdenken müssen. Später. Wenn sie Ruhe hatte und wieder alleine war.

„Ich wüsste nicht einmal, wie ich das anstellen soll“, entwich es ihr plötzlich und Grace schlug sich geschockt die Hand vor den Mund.

Als sie Nadjas Gesichtsausdruck sah, wusste sie, sie hätte den Rat von gestern beherzigen sollen. Man weckte keine schlafenden Hunde.

„An deinem nächsten freien Tag gehörst du mir“, erklärte Nadja und rieb sich die Hände.

Es klang wie eine Drohung.

 

Nathan

 

„Was?“

„Nate, wir haben ein Problem”, meldete sich Luca.

„Was für ein Problem?“

„Ich glaube, wir haben eine läufige Wölfin auf der Tanzfläche. Die Männer fangen an, durchzudrehen.“

Nate fluchte lautstark. „Ich bin gleich unten.“

Er legte auf und starrte wütend auf den Bildschirm vor sich. Eine läufige Wölfin, das hatte ihm heute gerade noch gefehlt. Er hatte Mike schon tausendmal gesagt, er dürfe läufige Wölfinnen nicht reinlassen.

Genervt verließ er sein Büro und kämpfte sich bis zur Bar durch, wo Luca in Richtung der Tanzfläche zeigte. Er sog die Luft durch die Nase ein. O ja, jetzt konnte er sie riechen. Er hielt einen Moment lang inne. Sie roch ungewöhnlich für eine läufige Hündin. Der Duft war zu frisch, zu leicht. Aber die Wirkung war unverwechselbar.

Nate folgte seiner Nase und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die ihm nicht so schnell Platz machte, wie er es sich gewünscht hätte. Männer hatten sich, zu fast einem Dutzend, um die Wölfin geschart, angezogen von dem Duft, der jeden potenten Wolf zur Paarung einlud. Läufige Wölfinnen in Clubs führten fast immer zu ausgewachsenen Schlägereien und damit zu kaputter Einrichtung, die Nate dann ersetzen musste.

Grob schob er die Männer beiseite, bis er endlich in Griffweite war. Er packte sie mit beiden Händen um die Taille, die, wie ihm nicht entging, ausgesprochen schmal war, und hob sie aus der Gruppe.

„Hey!“

Scheiße, die Kleine riecht gut. Jetzt, wo er ihr so nah war, bombardierte ihr Duft seine Sinne wie ein Presslufthammer. Sein Puls schoss nach oben und er spürte, wie ihm die Hose eng wurde. Scheiße. Das war ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert. Mühsam zwang er sich zur Beherrschung, als er sie von der Tanzfläche ziehen wollte.

Die Kleine stemmte ihre Füße in den Boden und begann, sich zu wehren. Um ihn herum wurde Knurren laut. Das wird ja immer besser. Gereizt blieb er stehen, drehte sie zu sich um und erstarrte. Warum zum Teufel war ihm das nicht gleich aufgefallen? Scheiße, fluchte er tonlos, bevor er sich näher an sie heranschob. Nur damit sie ihn besser hören konnte, versicherte er sich stumm.

„Grace, du hast hier nichts zu suchen, solange du läufig bist“, sagte er nahe an ihrem Ohr. Ihr Duft war dort noch stärker. Nate biss die Zähne zusammen, um nicht an der Stelle hinter ihrem Ohr zu lecken. Scheiße.

„Wenn ich was bin? Wovon redest du?“, fragte sie ihn und beugte sich dabei näher zu seinem Ohr. Ihre Brüste streiften seinen Oberkörper. Seine Hände entwickelten ein Eigenleben und legten sich auf ihre Hüften. Ihr Top war nach oben gerutscht und entblößte einen schmalen Streifen Haut, direkt über ihrem Lederrock. Ich sitze so was von tief in der Scheiße.

„Komm mit“, verlangte er und zu seinem Erstaunen folgte sie ihm, sobald er sie von der Tanzfläche führte. Als er bemerkte, dass ihnen ein paar Wölfe folgten, blieb er stehen, knurrte, sah zu, wie sie zurückwichen, und zog sie dann weiter zu seinem Büro.

Dort angekommen, warf er die Tür zu und drückte Grace mit seinem Körper dagegen. Nur um sie einzuschüchtern, sagte er sich. Ihr Duft wurde stärker, umschmeichelte seine Sinne, bezirzte ihn. Sie roch wie ein Morgen, nach dem es die ganze Nacht geregnet hatte.

„Ist dir auch so heiß?“, fragte sie ihn etwas zu laut, weil sich ihr Gehör auf die plötzliche Stille noch nicht eingestellt hatte. Und wie, Kleines.

„Nein. Du bist läufig“, setzte er erneut an, bewegte sich aber keinen Zentimeter von ihr weg. Ihre Augen bohrten sich stahlgrau in seine dunkelblauen, ihr Atem kam viel zu schnell und ließ ihn an Sex denken.

„Ich bin doch kein Hund“, lachte sie und Schalk blitzte in ihren Augen.

„Nahe genug dran.“

Sie rieb ihre Nase an seinem Hals. „Du riechst wirklich gut“, murmelte sie in seine Halsbeuge.

„Sieh mal, du bist nicht ganz bei dir und ich versuche wirklich, die Situation nicht auszunutzen.“ Ja, das klingt gut. Sein Daumen strich über die weiche Stelle neben ihren Hüftknochen. Warum genau versuche ich, die Situation nicht auszunutzen? Ach ja, Rack. Racks kleine Schwester. Scheiße.

„Welche Situation?“, fragte sie und presste ihre Lippen an seinen Puls.

Habe ich schon Scheiße gesagt?

„Stell dir einfach vor, du wärst ein Mann und hättest aus Versehen eine Viagra geschluckt.“ Das klang nach einer ausgezeichneten Erklärung.

„Warum sollte ich dann nicht wollen, dass du die Situation ausnutzt?“

Ja, warum eigentlich?

„Eine ausgezeichnete Frage.“ Auf die er keine Antwort hatte.

„Küss mich“, verlangte sie heiser. Er war auch kein Heiliger.

Also küsste er sie. Sie schmeckte genauso gut, wie sie roch. Ihre Lippen waren weich und nachgiebig unter seinen.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, rieb sich geradezu an ihm. Er schob seine Hände unter ihren Lederrock an ihren Oberschenkeln entlang, ertastete ein Messer, ließ es klirrend zu Boden fallen und hob sie hoch. Ihre Hände vergruben sich in seinen Haaren, ihre Beine schlangen sich um seine Hüften, er presste sie gegen die Tür. Sie stöhnte gegen seinen Mund.

Nate schob seine Hände unter ihr Top, während er an ihrer Unterlippe knabberte.

Dann klingelte sein Telefon.

Sie hörte nicht auf, ihn zu küssen, also hörte er auch nicht auf.

Sein Telefon klingelte weiter.

In Gedanken fluchend, legte er seine Hände stützend auf ihren Hintern und ging mit ihr zusammen zu seinem Telefon.

Sie beschäftigte sich gerade überaus gekonnt mit seinem Ohr, als er es schaffte abzuheben und den Hörer auf der anderen Seite anlegte.

„Was ist?“, knurrte er ins Telefon und setzte sie auf seinem Schreibtisch ab.

„Nate, Gargoyles sind gerade in den Club gekommen.“

Grace erstarrte in seinen Armen zur Salzsäure.

„Schmeiß sie raus“, verlangte er gereizt.

„Du weißt, dass der Waffenstillstand das nicht erlaubt. Sie sind bereits auf dem Weg zu dir nach oben.“

„Halt sie so lange auf, wies geht! Scheiße“, fluchte er laut und knallte den Hörer auf die Gabel.

Er wollte sich von Grace lösen, doch sie packte ihn mit festem Griff am Kragen. Ihr Gesicht war erstaunlich neutral, wenn man bedachte, was gerade zwischen ihnen passiert war. Irgendwie gefiel ihm das gar nicht. Nur ihre Augen verrieten sie, schreckgeweitet, geschockt.

Nathan?!“

Er war sich nicht sicher, ob ihr Ausruf eine Frage beinhaltete. Vorsichtig löste er ihre Finger von seinem Kragen.

„Der einzig Wahre“, kommentierte er trocken.

„Gargoyles sind auf dem Weg hierher.“ Sie schien offensichtlich nicht ganz klar zu denken, beschloss er. Dann fiel ihm etwas anderes auf und er zog die Luft durch die Nase ein. Grace hatte Angst.

„Sieht ganz so aus“, sagte er langsam.

Sie sprang vom Tisch, griff nach dem Messer an ihrem Oberschenkel, blickte sich hektisch danach um. Als sie es bei der Tür am Boden liegen sah, hielt er sie zurück.

„Ich muss hier weg.“ Sie riss an ihrem Arm. „Sofort.“

„Kein Grund zur Panik“, versuchte er, sie zu beruhigen.

„Du verstehst das nicht“, begehrte sie auf und wollte sich ihm erneut entziehen. „Sie suchen nach mir.“

Überrascht hoben sich seine Augenbrauen, bevor er sie wieder näher zu sich zog. „Weswegen?“

Grace hatte keine Zeit mehr für Erklärungen, denn plötzlich wurde die Tür aufgestoßen.

 

 

***

 

Grace stand wieder vor Nathans Büro und versuchte, sich zu beruhigen, bevor sie reinging.

Sie war jetzt ihre sechste Woche hier. Sie vermisste ihr Zuhause, ihre Familie. Die Telefonate machten es ihr nicht leichter. Luca war so abweisend und mürrisch wie am ersten Tag. Das zehrte zusätzlich an ihren Nerven und Nadjas Gerede hatte sie die letzten Tage zu einem Nervenbündel gemacht.

Trotzdem war bisher alles relativ reibungslos verlaufen. Nathan hatte keinen Ton über ihren Zwischenfall verloren, also hatte sie es auch nicht.

Luca musste davon gehört haben, denn ihre Augen schossen regelmäßig Blitze in ihre Richtung. Trotzdem waren die nächsten Tage gut verlaufen. Obwohl sie nervös war, hatte sie weder etwas fallen lassen noch sonstige Fehler gemacht.

Bis gestern Nacht.

Sie stand hinter der Bar wie jeden Samstagabend, machte gerade einen Gin Tonic fertig, als sich ihre Nackenhaare aufrichteten.

Grace wusste nicht, woran es lag, doch alle ihre Alarmsirenen gingen los. Sie schaffte es, den Gin Tonic zu kassieren und die Luft durch die Nase einzuatmen. Alles wirkte normal. Kein sonderbarer Geruch oder sonst etwas, das erklärt hätte, was los war. Sie hatte sich umgesehen, aber niemanden Auffälligen entdeckt.

Obwohl sie ab diesem Zeitpunkt das Gefühl nicht loswurde, beobachtet zu werden. Die Angst kroch langsam, aber stetig in ihr hoch, bis sie kaum noch in der Lage war, ihren Job zu machen.

Als Luca dann plötzlich ihren Namen rief, hatte sie vor Schreck ein Glas und die Flasche Wodka in ihrer Hand fallen lassen.

Sie hatte die Scherben weggekehrt, den Wodka weggewischt, Lucas mörderischen Blick ertragen, sich entschuldigt und weitergemacht.

Trotzdem hatte sie sich wie ein aufgeschrecktes Reh verhalten, das hatte die Gäste nervös gemacht, das wiederum hatte Luca wütend gemacht und Grace war an dem Abend so schnell nach Hause gelaufen, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.

Jetzt, am nächsten Tag, stand sie vor Nathans Büro und würde gleich die Predigt des Jahrhunderts erhalten. Und irgendwie musste sie es schaffen, weder in Panik auszubrechen noch alles hinzuschmeißen und zu fliehen. Ihre Wölfin war ihr keine Hilfe. Ein ‚klärendes Gespräch’ zwischen ihnen hatte nicht stattgefunden. Grace hätte auch nicht gewusst, wie sie es hätte bewerkstelligen sollen.

Also stand sie jetzt immer noch vor Nathans Büro und versuchte, eine glaubwürdige Begründung für ihr Verhalten zu finden.

Die Tatsache, dass sie zwei ihrer Wurfmesser in ihren Stiefeln versteckt hatte, machte die Sache auch nicht besser. Diese waren zwar der einzige Grund, warum sie sich heute überhaupt wieder aus der Wohnung rausgetraut hatte, aber Nathan würde es merken.

Sie wusste nicht, wie er es machte, aber wenn er sie damit konfrontierte, bräuchte sie auch dafür einen guten Grund.

Einen Grund, der sie nicht paranoid und verrückt klingen ließ.

Nicht dass sie schon einen gefunden hätte.

Plötzlich ging die Tür auf und Grace zuckte zusammen.

„Wie lange willst du noch hier rumstehen und Löcher in die Tür starren?“, fragte Nathan gereizt und wartete darauf, dass sie hereinkam.

Sie hatte hier wohl länger gestanden, als sie gedacht hatte. Stumm sah sie ihn einen Moment lang an.

Nathan hat diese Sorte von langen Haaren, wie Heath Ledger sie in ‚10 Dinge, die ich an dir hasse’ trägt. Obwohl Nathans Haare nicht so lockig sind und auch nicht so lang. Sein Gesicht ist auch nicht so jungenhaft. Also eigentlich sieht er überhaupt nicht aus wie Heath. Aber seine Haare waren zottelig, viel länger als ihre eigenen jetzt waren. Es verlieh ihm diesen extra Bad-Boy-Look. Männer mit langen Haaren sollten nicht so männlich und sexy aussehen wie er.

Und dann war da noch diese verdammte Narbe auf seinem rechten Arm. Sie hätte ihr Mitleid erregen oder dafür sorgen sollen, dass sie ihn abstoßend fand. Aber nein, Miss Irrational in spe fand es sexy.

Selbstverständlich machte er ihr keinen Platz, während sie sich an ihm vorbeizwängte. Als er die Tür hinter ihr zuzog, schaffte sie es gerade noch, ihr Zucken zu unterdrücken.

Schweigend ging er an ihr vorbei und bedeutete ihr, sich hinzusetzen.

Bring es einfach hinter dich, beschwor sie sich stumm, holte einmal tief Luft und sah ihn an.

„Es tut mir leid –“, begann sie, aber ihre Stimme versagte, sobald sich seine dunkelblauen Augen in ihre bohrten.

„Willst du mir erklären, was gestern Abend los war, dass der ganze verdammte Club nach Angst gestunken hat, selbst nachdem du nicht mehr da warst? Oder warum du, trotz meines ausdrücklichen Verbots, heute schon wieder Messer in meinen Club gebracht hast?“

Grace schluckte schwer. „Es tut –“

„Mich interessieren deine Entschuldigungen nicht“, unterbrach er sie harsch. „Ich will eine Erklärung.“

Sie ertappte sich dabei, wie sie an ihrer Narbe kratzte, und ließ ihre Hand sinken.

„Ich dachte, ich –“, sie brach wieder ab, rieb ihren Arm, damit die Gänsehaut verschwand. „Ich hatte das Gefühl, mich beobachtet jemand“, sagte sie dann. „Aber ich habe mich geirrt. Da war niemand.“

Nathan lehnte sich über den Tisch. „Verfolgt dich einer deiner Fans aus deinen Stripper-Zeiten?“

„Ich habe dort gekellnert“, fuhr sie ihn lautstark an und vergaß für einen kurzen Moment ihr schlechtes Gewissen.

Nathans Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Witzig“, murmelte sie und verdrehte die Augen. Der Mann trieb sie zur Weißglut.

„Gib mir die Messer“, verlangte er dann, sein Gesicht augenblicklich wieder ernst.

Seufzend zog sie die beiden Messer aus den Stiefeln und reichte sie ihm. Sie bildete sich das Kribbeln auf der Haut sicher nur ein, als sich ihre Finger berührten.

„Das nächste Mal drück den verdammten Panikknopf und verpeste nicht die Luft“, verlangte er und verstaute die Messer in einer seiner Schubladen.

„Aber da war –“

„Ist mir egal“, unterbrach er sie wieder und Grace biss genervt die Zähne zusammen. „Drück den verdammten Knopf, wenn so was noch mal vorkommt.“

„Ja, Sir“, sagte sie sarkastisch und stand auf.

Als sie wieder nach unten ging, lief gerade das Lied „Bones“ von Young Guns und Luca winkte sie zu sich herüber.

Es war Sonntagabend, und obwohl es erst kurz nach acht Uhr war, war der Club bereits brechend voll.

Grace überstand die restliche Nacht ohne weitere Zwischenfälle. Keine Gänsehaut, keine Beklemmungszustände. Aber sie sah trotzdem, öfter als sonst, über die Menge hinweg.

Nachdem der letzte Gast den Club verlassen hatte, kam Mike in die Bar und lehnte sich zu ihr an den Tresen. Luca verschwand in der Küche.

Mike zog sich seine dicke Winterjacke aus und legte sie auf einen der Barstühle.

„Hallo, Mike“, begrüßte sie ihn freundlich und zapfte ihm ein Bier, bevor sie sich einen Lappen schnappte und anfing, den Tresen abzuwischen.

„Hey, Grace, danke.“ Er prostete ihr zu und trank einen großen Schluck.

„Du weißt, ich könnte dir auch einen Tee machen, um dich aufzuwärmen“, bot sie ihm an.

„Tee ist für alte Frauen und Kranke“, wandte er lachend ein und sah ihr ein paar Minuten lang stumm zu, während er sein Bier trank. „Ich habe gehört, gestern Abend kam dir jemand zu nahe.“

Überrascht hielt sie in ihrer Bewegung inne und sah ihn an. „Das stimmt nicht“, widersprach sie leise.

„Was war dann los?“

Grace zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Eine Fehlzündung meiner Instinkte“, schlug sie halbherzig vor.

„So etwas gibt es nicht“, erklärte Luca hinter ihr, als sie aus der Küche zurückkam.

„Ich hab niemanden gesehen. Niemanden gerochen, der mir bekannt vorkam. Ich weiß nicht, was los war, okay? Können wir das Ganze nicht einfach vergessen?“

Mike seufzte, Luca zuckte mit den Schultern und begann, Stühle auf die Tische zu stellen.

„Wenn deine Instinkte noch mal fehlzünden, sag mir einfach Bescheid“, bat er und trank sein Bier aus.

Grace nickte nur und half Luca dann aufzukehren. Ist meine Paranoia in vollem Schwung zurück?, fragte sie sich nervös, als sie später nach ihrem Mantel griff und nach draußen trat.

Es schneite riesige Flocken vom Himmel und einen Moment lang stand sie einfach nur da, um die klare Winterluft einzuatmen.

Schweigend setzte sie sich in Bewegung, bevor sie blinzelnd wieder stehen blieb und einen Blick nach oben riskierte. Rack hätte sie gewarnt, wenn Gargoyles gesichtet worden wären. Es gab also keinen Grund für ihre Angst.

Und selbst wenn sie hier auftauchen, sagte sie sich, ich bin nicht mehr Len. So wie sie neuerdings aussah, war es schon schwer, sie überhaupt wiederzuerkennen. Außerdem wusste sie sich jetzt viel besser zu wehren als noch vor ein paar Monaten.

Beim nächsten Mal würden sie kein so leichtes Spiel mit ihr haben. Sie würde sich nicht einfach wegsperren lassen.

Ihr Blick wanderte zurück zu den Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hatte. Vielleicht hatte Nadja eine Schaufel, mit der sie ihren Weg zur Wohnung und die Treppen freiräumen konnte, um ihre Fußspuren zu verbergen. Vielleicht fühlte sie sich dann etwas sicherer.

Mike friert sich hier draußen wahrscheinlich den Hintern ab, dachte sie, und beobachtete, wie ihr Atem weiße Wolken bildete.

Mit einem letzten Blick über die Schulter ging sie zurück zu ihrer Wohnung.

Sie sperrte zweimal zu.

 

 

Jinx

 

Stumm wartete Jinx darauf, dass Lilith sie bemerkte. Es war nie eine gute Idee, ihre Herrin zu unterbrechen, wenn sie gerade ‚aß’.

Als Sukkubus war Liliths Nahrung wahrscheinlich die unpraktischste im Vergleich zu allen anderen Dämonenrassen, weil sie verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch nahm. Jinx beneidete sie nicht darum, auch wenn es praktisch zu sein schien, sich wie eine Batterie aufladen zu können.

Geduldig stand Jinx, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, im Raum und bemerkte die abblätternde Farbe ihrer Fingernägel, ein Souvenir ihres letzten Auftrags.

„Jinx, was willst du?“, erklang Liliths Stimme von dem riesigen Bett aus, auf dem sich ein Vampir gerade stöhnend abmühte, Lilith zu Willen zu sein.

„Wie gewünscht, habe ich Euren Auftrag ausgeführt, meine Königin“, antwortete sie und verneigte sich in ihre Richtung.

„Bist du noch immer nicht fertig?“, fragte Lilith plötzlich genervt über die Schulter, an den Vampir gerichtet, der sie von hinten nahm. Zwei Stöße später machte der Vampir ein gurgelndes Geräusch, als er kam, und wurde Sekunden später von Lilith brutal vom Bett gestoßen. Jinx würdigte ihn keines Blickes, als er an ihr vorbei aus der Tür rauschte.

„So sprich doch endlich“, verlangte Lilith ungeduldig von ihr.

„Eure Tochter scheint die Versuche der Gargoyles, Lenara zu finden, mit allen Mitteln verhindern zu wollen. In den Staaten ist uns MacClaine zuvorgekommen, aber es scheint, als wäre auch Liliane an ihr interessiert. Also habe ich Nachforschungen angestellt.“

„Und?“, forderte Lilith, als Jinx nicht weitersprach.

„Erinnert Ihr Euch noch an Eric?“

„Nein“, antwortete ihre Königin mit einer wegwerfenden Handbewegung. Jinx hatte nichts anderes erwartet.

„Er hat eine Basis der Gargoyles übernommen und Geschäfte mit ihnen gemacht“, fügte Jinx hinzu.

Liliths Augen flackerten auf. „Ach, der Eric. Ich dachte, es gab keine Überlebenden.“

„Genau wie ich, meine Königin.“

„Nun gut, da meine Tochter hinter ihr her ist, wollen wir unsere Bemühungen verstärken?“

„Selbstverständlich, ich werde alles Nötige einleiten.“

„Bring sie mir lebend.“

„Jawohl, meine Königin.“

 

 

Grace

 

Grace hasste ihre freien Tage, wenn sie sich nicht zu Hause bei ihrem Rudel aufhielt. Den heutigen hatte sie bisher in ihrem Flanellpyjama, den sie von Jamie und Lisa zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, verbracht.

Irgendein langweiliger alter Wild-West-Streifen lief in dem winzigen Fernseher gegenüber ihres Bettes. Sie hatte keinen Computer, keinen Internetzugriff und ihr fiel die Decke auf den Kopf.

Sie wagte es nicht, nach Hause zu laufen oder als Wolf durch den Wald zu streifen. Nicht nach ihrem kürzlichen Rückfall und ihrer Fast-Panikattacke. Also blieb sie in ihren eigenen vier Wänden. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen, aber es zehrte an ihren Nerven.

Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie nicht anfing, etwas auszubrüten. Sie hatte kein Fieber, aber ihr war viel zu heiß. Es verschwand alle paar Stunden und kam dann irgendwann noch heftiger zurück. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, sie käme in die Wechseljahre.

Ihre Tür wurde aufgerissen und Nadja trat mit einem strahlenden Lächeln ein.

„Grace! Komm schon, raus aus den Federn! Es ist dein freier Tag und dein freier Tag gehört mir!“

Selbstbewusst ging Nadja zu Grace’ Kommode und fing an, Sachen herauszuziehen und ihr zuzuwerfen.

„Los, geh duschen, zieh dich an und komm runter. Wir lassen uns heute mal verwöhnen. Lassen uns die Nägel machen, gehen shoppen und später tanzen wir, bis der Morgen anbricht.“

Grace hatte nicht mal genug Zeit, zu verarbeiten, was Nadja da von sich gab, bevor diese bereits wieder aus ihrer Tür rauschte.

Seufzend tat sie also, wie ihr geheißen, und zog sich, nach einer ausgiebigen Dusche, an. Blue Jeans, ein warmer hellblauer Pullover mit Ärmeln, die ihr weit bis über die Fingerspitzen reichten. Noch ein Weihnachtsgeschenk. Dieses kam von Sira, nachdem sie ihr die Haare geschnitten hatte.

Grace seufzte schwer. Sie vermisste ihre Familie.

Eine Hitzewelle später stand sie vor dem Lebensmittelladen und machte sich mit Nadja auf den Weg durch das Dorf.

Sie ließen sich in dem kleinen Studio ein paar Straßen weiter ihre Nägel machen. Nadja mit einem dunklen Violett und verschnörkelten Blumen auf ihren Ringfingern und Grace mit einem silbernen Glitzerlack, der im Licht schön funkelte.

Danach wurde sie durch ein Geschäft nach dem anderen gezerrt, bis Nadja sie dazu überredet hatte, einen schwarzen Lederrock zu kaufen, der gerade so noch über ihren Hintern reichte, und ein schwarzes Shirt dazu, das sie seufzen ließ, als sie sich damit im Spiegel sah. Es war im Grunde nur ein einfaches langärmliges Top, nur dass die Ärmel und die Schultern aus schwarzem Spitzenstoff gemacht waren. Als zusätzlichen Bonus verdeckte es auch noch auf sehr elegante Weise ihre Narbe.

Nadja kaufte sich ein sündhaft kurzes Kleid in Rot, das mit Strass-Steinen verziert war, die bei jeder Bewegung aufblitzten.

Sie bummelten noch eine Weile durch das Dorf, während Nadja ihr die wildesten Geschichten zu den Einwohnern erzählte, und machten sich dann auf den Weg zurück.

Irgendwann in den Morgenstunden hatte es aufgehört, zu schneien, und jemand hatte die Straßen und Wege freigeschaufelt. Inklusive der Treppe zu ihrer Wohnung.

Berta machte ihnen etwas zu essen, bevor sie sich zu Grace in die Wohnung zurückzogen.

„Ich weiß nicht, Nadja.“

„Was gibt es da nicht zu wissen? Es ist der einzige ordentliche Club in der Umgebung, in dem auch Typen unter hundert herumlaufen. Nur weil du dort arbeitest, heißt das nicht, dass du dort nicht feiern darfst.“

Grace seufzte. „Ich fühl mich einfach nicht wohl dabei.“

„Du musst dich ja nicht betrinken. Wir tanzen einfach nur ein bisschen, flirten, was das Zeug hält, hoffen, Nate kriegt dich zu sehen, und dann gehen wir wieder heim.“

„Habe ich denn überhaupt eine Wahl?“, fragte sie schmunzelnd und erntete ein kopfschüttelndes Lachen.

„Und jetzt setz dich aufs Bett, damit ich deine Haare stylen kann“, verlangte sie.

„Meine Haare sind gut so, wie sie sind“, murmelte Grace beleidigt, setzte sich aber.

„Natürlich sind sie das. Das heißt aber nicht, dass wir sie nicht noch besser machen können.“ Nadja zwinkerte ihr zu und machte sich ans Werk.

Eine Stunde später gingen sie die wenigen Minuten zum Howling. Nadja hatte darauf bestanden, dass sie ihre Mäntel zu Hause ließen, weil sie sie nicht brauchen würden.

Warum sie sich dazu hatte überreden lassen? Weil sie zu dem Zeitpunkt, als sie nach draußen traten, wieder einen kurzen Hitzeanfall hatte und für die kalte Luft dankbar war.

Beide trugen sie ihre neuen Outfits und Nadja hatte sich untergehakt, als sie die Warteschlange ignorierten und nach vorne zu Mike gingen.

Grace hatte ihm einen Thermobecher mit Kaffee mitgebracht, einen Umstand, den Nadja auszunutzen gedachte, damit sie nicht warten mussten.

„Hallo, Mike.“

„Hey, Grace, hallo, Nadja.“

Sie reichte den Kaffee weiter, sah, wie seine Augen groß wurden, ehe er ihr strahlend die Tür aufhielt. „Du bist ein Engel, weißt du das?“, rief er ihr hinterher, als Nadja sie nach drinnen zog.

Es war Freitagabend und wie üblich brechend voll. Langsam machten sie sich auf den Weg zur Bar, wo Nadja einen freien Platz ergatterte und ihnen zwei Cosmopolitan bestellte.

Luca zog nur die Augenbrauen hoch, als sie Nadja und Grace ihre Cocktails hinstellte.

Irgendein Lied von David Guetta lief im Hintergrund und Nadja war kaum in der Lage, still zu sitzen, wippte mit dem Fuß zum Takt und drehte sich auf ihrem Barhocker zur Tanzfläche. Weswegen Nadja, nachdem sie ihre dritte Runde Cocktails ausgetrunken hatten, sie sofort auf die Tanzfläche zog.

Sie musste zugeben, es hatte Spaß gemacht, den Tag mit Nadja zu verbringen. Shoppen zu gehen, anstatt ihre Zeit eingeigelt zu Hause zu vertrödeln. Also versprach sie sich, den Abend zu genießen, zu tanzen, zu flirten und einfach Spaß zu haben. Völlig unabhängig von Nathan, fügte sie stumm für sich hinzu.

Körperkontakt wurde in einem Nachtclub voller Wölfe großgeschrieben. Es war unglaublich heiß, die Stimmung sexgeladen, und es dauerte nicht lange, bis sie Nadja aus den Augen verlor, mit zwei Typen am Arm. Sie rief ihr noch irgendetwas über die laute Musik hinweg zu, zwinkerte und dann war sie schon aus dem Sichtfeld verschwunden.

Grace fühlte sich leicht benebelt von den dutzenden unterschiedlichen Gerüchen, die auf sie einprasselten. Es war fast unerträglich heiß und sie genoss jede Minute davon.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Grace

 

Grace war schockstarr, als die zwei Gargoyles in ihrer Menschenform durch die Tür kamen.

Einen von ihnen erkannte sie sofort, obwohl sie ihn noch nie als Mensch gesehen hatte, und der Anblick allein ließ ihr Blut zu Eis gefrieren.

Jake stand in Fleisch und Blut in der Tür.

„Schon mal was von anklopfen gehört?“, fragte Nathan nonchalant. Seine Finger lagen immer noch um ihren Arm und sein Daumen strich beruhigend über ihre Haut. Aus irgendeinem Grund beruhigte diese kleine Geste sie mehr, als sie rational erklären konnte.

„Je eher du unsere Fragen beantwortest, Wolf, desto eher sind wir wieder weg“, erklärte der fremde Gargoyle süffisant.

„Selbstverständlich bin ich nur hier, um euch fliegenden Ratten zu Diensten zu stehen.“ Nathans Stimme klang übertrieben heiter und troff nur so vor Sarkasmus.

Grace konnte ihre eigene aufsteigende Angst riechen und sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass die Gargoyles es nicht riechen konnten und Nathan nicht darauf reagierte.

Der Fremde hatte unauffällige Gesichtszüge, braune Haare, braune Augen. Er kramte etwas aus der Hosentasche und trat näher, um es Nathan zu geben.

Sie hatte zu viel Angst, um nachzusehen, was Jake tat. Was wenn er sie erkannte?

„Die schon mal gesehen? Name ist Lenara Blair.“

Ihr wurde schlecht.

Nate sah sich das Foto an, zeigte aber keinerlei Reaktion, ob er sie erkannte.

„Ist euch eine Gargoyle davongelaufen?“, fragte er und zog die Augenbrauen dabei hoch.

„Witzig. Ein Wolf mit Humor.“

Nathan fletschte die Zähne. „Noch nie gesehen. In unser Dorf kommen nicht viele fremde Gesichter und die wenigsten bleiben lange“, sagte er dann und zuckte mit den Schultern.

„Was ist mit dir?“, sprach der Gargoyle sie an, und Grace konnte spüren, wie sich Jakes Blick auf sie richtete.

Nathan reichte das Foto kommentarlos an sie weiter. Sie war stolz, dass ihre Finger nicht zitterten, als sie es entgegennahm.

Grace kämpfte darum, ruhig und gelassen zu bleiben. Mehr als die Hälfte ihrer Konzentration lag darauf, ihre Augenfarbe gleichmäßig zu halten. Panik war ihr größter Feind. Nathan ließ seine Hand sinken und schlang einen Arm wie selbstverständlich um ihre Taille, bevor er sie gegen seine Hüften zog. Sie zwang sich, das Foto anzusehen und ihren neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Ihr altes Passfoto lächelte ihr entgegen. Steif schüttelte sie den Kopf und schlang dann einen ihrer Arme um Nathans Hals.

„Wars das?“, wollte Nate wissen, während seine Finger beruhigend über ihren Rücken strichen. Grace reichte das Foto zurück.

„Wir werden die anderen Gäste befragen müssen“, sagte der Gargoyle und zuckte mit den Schultern.

„An eurer Stelle würde ich meine Gastfreundschaft nicht überreizen.“

„Ich will mir die da ansehen“, ergriff Jake zum ersten Mal das Wort, mit einer Kopfbewegung in ihre Richtung.

Grace erstarrte.

„Ich steh nicht so auf Dreier mit Gargoyles.“ Nathan schob sich direkt vor sie. Er war größer als Jake, aber der ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken.

Sie hörte Jake lachen und bekam eine Gänsehaut davon. Bilder von seinem Übergriff prasselten auf sie ein, während sie die Übelkeit niederkämpfte.

„Niemand hat etwas von einem Dreier gesagt.“ Er versuchte, Nathan beiseitezuschieben, und griff nach Grace’ Arm. Nathans Hand schoss vor, legte sich um Jakes Hals und drückte zu. Doch Jake sah ihn nicht einmal an, sein Blick war auf Grace fixiert, die sich verzweifelt darum bemühte, ihr Gesicht nicht zu zeigen, und es deswegen zwischen Nathans Schulterblättern vergrub. Jake hielt immer noch ihren Arm fest und drückte immer fester zu.

„Lass sie los.“

Jakes Griff festigte sich weiter, bis Grace dachte, er würde ihr den Arm brechen. Es fühlt sich auf jeden Fall so an. Kann er seine Gargoyle-Kraft auch als Mensch einsetzen? Kann ich das auch?

Nathan zog eine Pistole zwischen seiner Jeans und seinem Rücken hervor. Sie erkannte die SIG Sauer nur weil Rack fast die gleiche zu Hause hatte. Nicht dass er ihr gezeigt hätte, wie man schießt. Grace wich so weit zurück, dass Nathan die Waffe freibekam. Das Klicken, als er die Pistole entsicherte, wirkte unnatürlich laut im Raum. Er hatte die SIG direkt auf Jakes Auge gerichtet.

„Ich werde mich nicht wiederholen.“ Nathans Stimme hatte sich verändert. Er klang nicht mehr wie ein Mensch, sondern als wäre sein Wolf so nah an der Oberfläche, dass seine Stimme eher ein Knurren als Worte bildete.

Der Druck erhöhte sich kurz, blendende Schmerzen bohrten sich durch ihren Unterarm, dann war Jakes Hand endlich weg.

Sie hatte keine Ahnung, was um sie herum geschah, während sie versuchte, durch den Schmerz zu atmen. Nathan trat von ihr weg und schließlich schaffte sie es, sich wieder auf etwas anderes zu konzentrieren als ihren gebrochenen Arm. Erleichtert stellte sie fest, dass die Gargoyles verschwunden waren.

„Verwandle dich“, befahl Nathan ihr dann.

Grace zögerte nur weil sie ihre neuen Klamotten nicht gleich wieder zerstören wollte. Sie gab ihr Geld mit Bedacht aus und verschwendete es nicht gern.

„Worauf wartest du?“ Seine Stimme klang gereizt. Er sicherte gerade seine Waffe und steckte sie zurück an ihren Platz in seiner Jeans.

„Dreh dich um“, verlangte sie und machte mit ihrem Zeigefinger eine drehende Bewegung.

Zu ihrem Ärger hörte sie ihn lauthals lachen.

„Hast du dir auch schon überlegt, wie du mit einem gebrochenen Arm aus dem Fummel rauskommen willst?“

Grace seufzte und starrte auf ihr enganliegendes Oberteil. Sie hasste es, dass er recht hatte.

„Die Sachen sind brandneu“, murmelte sie beleidigt und erntete ein Schnauben von Nathan. Schweigend schlüpfte sie aus ihren Stiefeln, wartete, bis er sich umgedreht hatte, zog sich den Rock aus und verwandelte sich dann. Erleichtert, dass der Schmerz nachließ, ließ sie sich als Wölfin zu Boden gleiten.

Ihren Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, sah sie zu ihm nach oben, während er zum Telefonhörer griff.

Sich noch einmal zu verwandeln stand nicht zur Debatte, halbnackt vor Nathan zu paradieren auch nicht. Jetzt, wo die Angst abebbte, wurde sie aus einem ganz anderen Grund unruhig. Ihr wurde wieder heiß.

„Sag Mike, dass die Gargoyles ab jetzt Hausverbot haben.“ Eine Pause. „Zum Teufel mit dem gottverdammten Waffenstillstand! Wenn sie das nächste Mal einen Fuß in meinen Club setzen, ist Mike gefeuert.“ Eine Pause. „Dann soll er mich verdammt noch mal vorher anrufen!“

 

Nathan

 

Nate legte auf und sah auf die schwarze Wölfin zu seinen Füßen.

„Was zum Teufel hast du mir da eingebrockt?“ Er hörte sie leise winseln, bevor sie sich auf die Hinterpfoten setzte und ihn stumm ansah. Genervt verdrehte er die Augen, zog sich sein T-Shirt über den Kopf und warf es ihr zu. Sie schnüffelte daran, leckte sich das Maul und wartete.

Er verdrehte ein weiteres Mal die Augen und wandte sich ab.

„Als ob da irgendetwas wäre, das ich nicht schon mal gesehen hätte”, kommentierte er gereizt.

Er zählte bis dreißig, drehte sich wieder zu ihr um, griff nach ihrem Arm und betastete die Stelle, die der Gargoyle gebrochen hatte. Sie wehrte sich nicht und wartete stumm darauf, bis er sie losließ. Frauen und zu große T-Shirts. Was war daran nur so verdammt heiß? Die Tatsache, dass ihr Duft ihm bereits heftig in die Nase stieg, half ihm auch nicht dabei, konzentriert zu bleiben.

„Also reden wir Klartext, Lenara. Weiß Rack davon?“

Sie knetete den Saum seines T-Shirts und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

„Natürlich weiß Rack davon“, murmelte sie dann und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er war es, der mich hierhergeschickt hat.“ Sie holte tief Luft und richtete ihre schönen grauen Augen auf ihn. „Und nenn mich nicht so.“

„Lenara?“ Er wiederholte es nur, um sie zu reizen. „Wieso?“

Sie fletschte die Zähne. „Es ist nicht mein Name. Es ist meine Nummer“, presste sie schließlich hervor.

Seine Augenbrauen verengten sich, als er darüber nachdachte, was das bedeutete. Stumm verarbeitete er die Information, bevor er sich gespielt gelassen mit der Hüfte an seinen Schreibtisch lehnte. Sein mentales Bild von Grace alias Lenara änderte sich von Minute zu Minute.

„Warum sind die Gargoyles hinter dir her?“

Einen Moment lang konnte er sehen, wie sie darüber nachdachte, wie viel sie ihm sagen sollte. Wie viel sie ihm anvertrauen konnte. Sie war nervös, läufig und im Gegensatz zu vorhin, wo ihre Panik den ganzen Raum verpestet hatte, hatte sie keine Angst. Zumindest nicht vor ihm. Der Gedanke beruhigte seinen Wolf.

„Wie viel weißt du über die Prophezeiung der Gargoyles?“

Hellhörig richtete er sich etwas auf. „Welche? Es gibt mehr als nur eine.“

„Die, die dazu geführt hat, dass Liliane von den Gargoyles verstoßen wurde.“

„Die wichtigsten Fakten.“ Er tat es mit einem Schulterzucken ab.

Unruhig fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare, bis sie kreuz und quer standen. Aus irgendeinem Grund fand er die Geste süß. Genervt über seine eigene Reaktion auf sie, runzelte er die Stirn.

„Sie halten mich für die Auserwählte.“

Nathan lachte auf, bis ihm ihr Geruch in die Nase stieg, der ihm bewies, dass sie die Wahrheit sagte. Scheiße.

„Wieso gerade du?“

Sie lachte bitter. „Du weißt ja nicht, wie oft ich mir dieselbe Frage bereits gestellt habe“, hörte er sie murmeln. Sie sah sich im Raum um, schien etwas zu erwägen, seufzte und sah ihn dann wieder an.

„Weil ich eine Gargoyle bin.“

„Bullshit“, schoss er sofort zurück. Doch auch diesmal roch er die Wahrheit.

Sie zuckte mit den Schultern, zupfte an seinem T-Shirt herum.

Schweigend trat er näher zu ihr und roch wieder an ihrem Hals. Jetzt, wo sie es gesagt hatte, konnte er den subtilen Duft riechen, den er vorher nicht bewusst wahrgenommen hatte. Fluchend trat er von ihr zurück. Er war über die Jahre wohl unvorsichtig geworden, stellte er bitter fest.

„Warum bist du hier?“, fragte er dann.

„Ich wollte meine Familie, mein Rudel, nicht in Gefahr bringen. Für den Fall, dass sie mich doch noch finden.“ Ein gequälter Zug legte sich um ihren Mund.

„Rack hat dich hergeschickt“, wiederholte er und verstand plötzlich. „Wegen der Sache, dem Gefallen, den ich ihm schulde.“

„Ich war nur wegen des Jobs hier“, widersprach sie ihm. „Jetzt …“ Sie unterbrach sich, fuhr sich durch die Haare, kratzte an ihrer Schulter und holte tief Luft. „Jetzt, wo sie mich gefunden haben, muss ich hier weg.“

Der Geruch von Regen stieg ihm in die Nase. Er warf den Kopf zurück und lachte lauthals. „Sicher. Tu das, wenn du ein Leuchtfeuer zünden willst.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Wovon redest du?“

„Du bist läufig.“

„Was zum Teufel soll mir das sagen?“

Ungläubig starrte er sie an. Entweder spielten seine Sinne ihm einen Streich oder sie hatte wirklich keine Ahnung.

„Wie alt, sagtest du, bist du?“, hörte er sich selbst fragen.

„Zweiundzwanzig.“

Alt genug, um Dutzende von Hitzewellen kennengelernt zu haben. Dann hatte er eine Eingebung.

„Wann hast du dich zum ersten Mal in einen Wolf verwandelt?“

Ihre Wangen waren gerötet, ihre Finger rieben über ihre Lippen, während sie anfing, auf und ab zu gehen. In ein paar Stunden würde es so schlimm werden, dass sie echte körperliche Schmerzen haben würde. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung.

„Vor ungefähr drei Monaten.“

Er fluchte. Laut. Starrte sie an und fluchte erneut.

„Hitze, Läufigkeit, das sind Namen für die Brunstphase von Hündinnen.“

Sie blieb stehen und er sah zu, wie es ihr langsam dämmerte.

„Nein!“

Er lachte über ihre Reaktion. „Doch. Du ziehst jeden männlichen Wolf in einem Umkreis von ein paar hundert Metern oder mehr an. Wie die Motten das Licht.“

„Dann muss ich sofort hier weg, meine Sachen holen und verschwinden“, hörte er sie murmeln, während sie sich wieder durch die Haare fuhr.

Scheiße, ich sollte mich so was von raushalten. Aber sie war Racks Schwester und er konnte sie nicht sich selbst überlassen. Schon gar nicht in Hitze und ohne den blassesten Schimmer, was das bedeutete.

„Ich lass deine Sachen holen.“ Ihr Blick wurde finster, Nathan griff ungerührt nach dem Telefonhörer. „Du kommst mit zu mir.“ Er begann zu wählen. „Bist du alleine hier?

„Was? Nein. Ich bin mit Nadja hergekommen, aber –“

„Du kannst nicht hierbleiben.“ Ungerührt sah er auf, während er darauf wartete, dass Luca abnahm.

„Das weiß ich, aber –“

Er unterbrach sie mit einer Handbewegung, als Luca endlich abhob. Er bat sie, Nadja Bescheid zu geben, dass Grace nicht nach Hause kommen würde und sie ihm morgen Grace’ Sachen in sein Büro bringen sollte. Luca stellte keine Fragen, obwohl er förmlich durchs Telefon spüren konnte, wie sehr sie ihn am liebsten gelöchert hätte. Und das nicht auf die metaphorische Art und Weise.

„Sie werden dir wortwörtlich die Türen einrennen, wenn du sie in ein paar Stunden nicht freiwillig reinlässt.“

Sie blinzelte verwirrt. „Warum sollte ich das tun?“

„Du bist eine wandelnde Hormonschleuder. Dein Körper bereitet dich auf Sex vor, wenn er ihn nicht bekommt, wird er noch mehr Hormone ausschütten, bis du glaubst, deine Haut löst sich von den Knochen.“

„Reizend.“ Ihre Augen bekamen einen harten Glanz, als sie ihn ansah. „Und du rennst mir nicht die Tür ein?“

Er grinste. „Das habe ich nie behauptet. Aber ich plane, nicht dabei zu sein.“

„Wie lange wird es dauern?“ Sie kratzte wieder an einer Stelle bei ihrem Schlüsselbein.

„Mit Sex? Ein paar Tage. Ohne? Vielleicht eine Woche, vielleicht mehr. Keine Ahnung.“

„Ich hab keine Woche, um schnaufend auf dem Rücken zu liegen und zu warten, bis das hier nachlässt.“ Sie deutete mit den Fingern an ihrem Körper hinunter.

„Du hast nicht wirklich eine Wahl.“

Ihr Blick wurde scharf, taxierte ihn. „Wärst du bereit, Sex mit mir zu haben?“

Seine Augenbrauen wanderten nach oben, er konnte gerade noch verhindern, dass ihm der Mund aufklappte.

„Nachdem das kein Nein war, fasse ich es als ein Ja auf. Wann brechen wir auf?“

Diesmal war er es, der sie perplex ansah. Sie meinte es wirklich ernst. „Dein Bruder bringt mich um, wenn er davon erfährt.“

„Rack? Warum? So wie ich das verstanden habe, wird es eine äußerst unangenehme Sache ohne Sex. Warum sollte er das für mich wollen?“

„Weniger das warum, sondern das mit wem.“

„Ich dachte, ihr seid Freunde?“

„Sicher, das ist ja das Problem. Man vögelt nicht die kleinen Schwestern seiner Freunde.“

„Du siehst mir nicht wie jemand aus, der sich von so etwas abhalten lässt.“

Das brachte ihn wieder zum Lachen. „Da hast du vollkommen recht.“

„Abgemacht?“, fragte sie und hielt ihm die Hand hin.

„Ich fasse es nicht, dass ich dieses Gespräch führe“, murmelte er vor sich hin, bevor er ihre Hand ergriff. Sie starrte auf seinen nackten Oberkörper, der Geruch von Regen und Sonne wurde stärker, sein Grinsen breiter.

Er konnte sehen, wie sie die Schenkel zusammenpresste, und fragte sich, wie lange ihre Selbstbeherrschung halten würde.

„Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen.“

 

Grace

 

Nathan und sie hatten sich verwandelt, bevor er sie aus dem Dorf herausgeführt und in den Wald gebracht hatte.

Sein Wolf war schwarz, mit grauen Pfoten und grauem Bauchfell. Von Narben übersät, genauso wie sein menschlicher Oberkörper, sodass sie sich unweigerlich fragte, woher er sie hatte. Hat man ihn daran gehindert, sich zu verwandeln? Oder gibt es Verletzungen, die eine Verwandlung einfach nicht heilen können?

Sie war froh, an der frischen Luft zu sein, es machte die Hitze erträglicher, auch wenn sie das Bedürfnis hatte, sich am Boden zu wälzen. Vorzugsweise hätte sie sich auch gerne so fortbewegt.

Aber Nathan knurrte jedes Mal, wenn sie sich an den Bäumen rieb, wahrscheinlich weil es aussah, als würde sie sein Revier markieren.

Sie konnte ihren Puls zwischen den Beinen spüren wie einen Schlaghammer.

Und Nathan roch einfach unwiderstehlich. Sie war immer noch überrascht, dass sie sich ihm vorhin so an den Hals geworfen hatte, ohne wirklich zu registrieren, wen sie da vor sich hatte. Aber sein Geruch … O Gott, sein Geruch brachte sie um den Verstand. In ihrem benebelten Zustand interessierte es sie nicht, dass sie noch immer Jungfrau war. Alles, was sie wollte, war Sex. Mit ihm. Jetzt gleich.

Aber aus irgendeinem Grund brachte der Gedanke an Sex ihre Erinnerungen an Dan zurück. An die Grübchen in seinen Wangen, wenn er lächelte. An den Orgasmus mit ihm. An die Abfuhr, die er ihr danach erteilt hatte. An seinen Verrat, als er sie an der Flucht hatte hindern wollen.

Sie hörte sich knurren, bevor sie es verhindern konnte, knallte in Nathans Flanke, als dieser unerwartet stehen blieb, und hätte am liebsten zu sabbern begonnen. Verdammt noch mal, warum roch er so gut? Ihre Wölfin wollte ihre Schnauze in seinem Fell vergraben. Nathan warf ihr einen Blick über die Schulter zu, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.

Nachdem sie ein paar Minuten durch den Wald gelaufen waren und Nathan Zweige an ihre Hinterbeine gebunden hatte, um die Spuren im Schnee zu verwischen, jagte er sie eine Anhöhe hinauf. Er nahm es mit dem ‚keine Spuren hinterlassen’ sehr genau. Auf Grace wirkte er ein bisschen paranoid. In ihren Augen machte ihn das um einiges sympathischer.

Sie quetschten sich zwischen Felsen hindurch und dann in eine kleine Höhle, die mehr einem Fuchsbau glich. Es war stockdunkel, und Grace vergaß für einen Moment die Hitze, die durch ihren Körper brannte, als sie mit ihren Erinnerungen kämpfte. Nathan schob sie vorwärts, selbst als jede Zelle in ihrem Körper rebellierte, durch die enge Höhle zu kriechen. Alles, worauf sie sich konzentrieren konnte, war ruhig zu atmen und so schnell wie möglich weiterzukommen. Schließlich wurde der Gang breiter, bis sie wieder normal laufen konnten und Grace’ Panik erneut abebbte. Als sie das dritte Mal an einer Kreuzung abbogen, verlor Grace die Orientierung. Es ging ein bisschen bergab und dann wieder bergauf. Nach der gefühlt fünfhundertsten Abzweigung kamen sie zurück an die Oberfläche. Über die Maßen gereizt, warf sie sich in den Schnee und wälzte sich auf dem Rücken. Die Hitze war wie ein Juckreiz an einer Stelle, die sie nicht erreichen konnte.

„Es ist nicht mehr weit“, beruhigte Nathan sie, nachdem er sich verwandelt hatte. Er kraulte sie hinter dem Ohr und sie hätte sich am liebsten auf ihn geworfen, als ihr klar wurde, dass er nackt war. Wenn sie sich verwandelte, wäre sie auch nackt. Das schien ihr plötzlich eine ausgesprochen kluge Idee. Doch er zog seine Hand weg und ging wieder los. Alles in ihr schrie frustriert auf.

Nach ein paar Metern an der frischen Luft ging es in eine weitere Höhle, die Grace erst sah, als sie praktisch schon in ihr stand.

Der Wind fuhr ihr ein letztes Mal durchs Fell, bevor Nathan sie durch die Dunkelheit führte. Ein Geräusch hallte durch die Höhle, das sich anhörte, als wäre eine Tür ins Schloss gefallen, dann begann sich der Boden unter ihren Pfoten zu bewegen. Überrascht winselte sie, bevor ihr auffiel, dass die Höhle, in der sie jetzt standen, ein gut getarnter Lift war.

Jetzt, wo sie nicht mehr im Freien waren, wurde die Hitze in ihrem Körper wieder schmerzhaft drückend. Es machte sie plötzlich auf eine ganz andere Art nervös. Hatte sie wirklich vor, mit ihrem Boss zu schlafen? Einem Halbfremden noch dazu. Marie hatte ihr kurz nach ihrem Eintreffen eine Art Pille besorgt, die man nur einmal pro Woche nahm, damit sie verhüten konnte, sollte es notwendig werden. Ihr Rudel hatte ein aktiveres Sexleben von ihr erwartet, als das bisher der Fall gewesen war. Grace hatte damals nur mit den Augen gerollt, weil sie es für überaus unwahrscheinlich gehalten hatte, es zu brauchen.

Jetzt war sie froh darüber und fühlte sich andererseits schrecklich unvorbereitet. Wenn sie Nathan ihre Nervosität zeigte, dann würde er sicher dahinterkommen, dass sie noch Jungfrau war, und wahrscheinlich Reißaus nehmen. Warum war sie bei Dan nicht so nervös gewesen? Sie wusste nur unerheblich mehr über ihn als über Nathan. Vielleicht weil in ihrem Hinterkopf weitaus schlimmere Dinge gesessen hatten, ihr bevorstehender Tod zum Beispiel. Vielleicht, weil er ein Wolf war und kein Gargoyle.

Dann verwandelte sich die Hitze plötzlich in ein Ziehen und Stechen. Nicht besonders angenehm, aber es tat auch nicht wirklich weh.

„Sag Bescheid, wenn du so weit bist“, sagte Nathan plötzlich über ihr und spazierte gelassen und völlig nackt an ihr vorbei.

Blinzelnd erkannte sie, dass sie in seinem Wohnzimmer stand. Der Raum wurde von Tageslicht-Lampen erhellt, um die fehlenden Fenster auszugleichen. Eine schwarze Ledercouch und ein Regal voller DVDs, Blu-Rays und CDs dahinter. Davor war ein gläserner Couchtisch, wie der, den sie selbst einmal besessen hatte. Sein Fernseher war gut dreimal so groß wie ihr eigener und die Surround-Anlage sah aus, als könnte sie die Wände zum Beben bringen. Der Raum wurde durch eine offene Küche, mit gut bestückter Bar, geteilt. Unsicher ging sie Nathan hinterher, durch die Tür zwischen Küche und Wohnzimmer.

Sie hörte, wie die Dusche anging, und folgte dem Geräusch, bis sie in seinem Schlafzimmer stand. Ihr Blick blieb an dem großen Bett an der Wand hängen und an der schwarzen Satin-Bettwäsche. Grace war vorsichtig darauf bedacht, den weißen, weichen Teppich unter ihren Pfoten nicht dreckig zu machen, als sie den Raum betrat. Der schwarze Schrank nahm die gesamte rechte Wand bis zur Badezimmertür ein und hatte verspiegelte Türen. Sein Faible für Schwarz war unverkennbar. Grace verwandelte sich und zog ein T-Shirt an, das am Boden lag. Hmmm, es roch nach Nathan. Das Stechen wurde stärker.

Sie zog die Decke auf dem Bett zurecht, glättete die Falten und schloss eine der Kastentüren, die nur angelehnt war. Was wenn ich etwas falsch mache?

„Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?“, hörte sie ihn von der angrenzenden Badezimmertür her fragen. Dort stand er, die Arme auf den Türrahmen über sich gelehnt, ein Handtuch um die Hüften. Ihr Mund wurde trocken. Er stand in der gleichen Pose wie Dan vor vielen Monaten. Sie verdrängte den Gedanken sofort wieder. O Mann, seine Narben sind sexy. Eine Narbe verlief diagonal über seine Brust, eine quer über seine Bauchmuskeln, mehrere, die nach Stichwunden aussahen, an den Oberarmen. Und dann war da noch die schlimmste von allen, an seinem rechten Oberarm. Der nächste Stich ließ sie leicht zusammenzucken.

„Ja, ich bin sicher.“

„Meine Nase sagt mir etwas anderes.“

„Ich hatte noch nie einen One-Night-Stand“, gestand sie ihm. Oder überhaupt Sex, fügte sie stumm für sich hinzu.

Er grinste verführerisch und sie presste ganz automatisch die Schenkel zusammen. Das Ziehen, das folgte, spürte sie bis in die Zehenspitzen.

„Du hast Schmerzen.“

Sie leckte sich über die trockenen Lippen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137842
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Urban Fantasy Liebesroman Fantasy Romance Werwölfe Gargoyles Romantasy Liebe

Autor

  • Dominique Heidenreich (Autor:in)

Meine Bücher, genau wie ich, haben einen Hang zu Sarkasmus und schwarzem Humor. Trotzdem: Ohne Liebe und Romantik komme ich persönlich genauso wenig aus, wie ohne Happy-End. Ich mag meine Geschichten fernab von Kitsch und tue mein Bestes meinen Protagonistinnen ein Rückgrat zu verpassen, das sie nicht beim ersten Anblick eines Mannes vergessen. Egal ob sie in dieser Welt spielen, einer fantastischen Umgebung oder auf fremden Planeten.
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Titel: Lenara: Die Blutsklavin