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TEUFELSJÄGER: Die 8. Kompilation

„Diese Kompilation beinhaltet die Bände 36 bis 40 der laufenden Serie!“

von Wilfried A. Hary (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: TEUFELSJÄGER Kompilation, Band 8

Zusammenfassung

TEUFELSJÄGER: Die 8. Kompilation W. A. Hary: „Diese Kompilation beinhaltet die Bände 36 bis 40 der laufenden Serie!“ Kompilationen sind Sammlungen mehrerer Romane in einem Buch. Das gibt es auch für die Serie TEUFELSJÄGER Mark Tate. Enthalten in der 7. Kompilation: 36 »Böse Geister spuken besser« 37 »Roboter gegen das Böse« 38 »Die Schwarze Mafia« 39 »Monsterparty im Jenseits« 40 »Ein Dämon rechnet ab« Alle von W. A. Hary!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Titel

Wichtiger Hinweis

Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Seit Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band (siehe Druckausgaben hier: http://www.hary.li) ist jederzeit nachbestellbar.

TEUFELSJÄGER

Die 8. Kompilation

W. A. Hary: „Diese Kompilation beinhaltet die Bände 36 bis 40 der laufenden Serie!“

Enthalten in der 8. Kompilation:

36 »Böse Geister spuken besser«

37 »Roboter gegen das Böse«

38 »Die Schwarze Mafia«

39 »Monsterparty im Jenseits«

40 »Ein Dämon rechnet ab«

Impressum

Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de

ISSN 1614-3329

Copyright dieser Fassung 2018 by www.HARY-PRODUCTION.de

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

www.HaryPro.de

eMail: wah@HaryPro.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.

Covergestaltung: Anistasius

TEUFELSJÄGER 036

Böse Geister spuken besser

von W. A. Hary

Mark Tate ist ein tausendfach Wiedergebo­rener. Also gibt es hier und heute mehr als nur einen direkten Nachfahr von ihm. Einen ganz besonders: Dr. Toy Fong! Weil Mark Ta­te zur Zeit in der jenseitigen Sphäre ORAN verschollen ist, erfuhr er von seiner beson­deren Bestimmung, Mark Tate vorüberge­hend auf Erden zu vertreten. Das tut er im vorliegenden Roman erneut. Macht euch auf einiges gefasst!

Euer W. A. Hary

1

»Guten Tag!« sagte der freund­liche Herr und lüftete seinen Hut.

Toy Fong blinzelte verwirrt. Unter dem Hut zeigte sich kein Haarschopf, sondern ein großes, dunkel gähnendes Loch!

Ehe Toy Fong den Anblick ver­arbeiten konnte, wurde das Loch wieder bedeckt.

»Sie sind doch Dr. Fong, nicht wahr?«

Toy Fong vermochte nur zu ni­cken.

Er blickte in das Gesicht des freundlichen Herrn. Es kam ihm unbekannt vor und doch er­schienen ihm die Züge vertraut. Als würde er jemandem ähneln, den er sehr gut kannte.

Im nächsten Moment verschwand dieser Eindruck.

Alles in Toy Fong begehrte auf.

»Wer sind Sie denn?« fragte er grob.

Der Herr verlor nicht seine Freundlichkeit.

»Nur ein Bote. Ich soll Sie zu einem Mann begleiten, der gern Ihre Bekanntschaft machen möchte.«

»Und wer soll das sein?«

Toy Fong kam die eigene Frage albern vor.

Der Fremde lächelte unver­bindlich.

»Ihre Schwarze Eminenz!«

Toy Fong gewann seine Selbst­beherrschung zurück.

»Keinen Namen?«

»Nein, Ihre Schwarze Eminenz hat keinen.« Der Fremde lachte leise.

In Toy Fongs Ohren klang es hämisch.

»Dann richten Sie ihm aus, ich sei bereit. Ich warte hier im Hotel auf ihn.«

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht. Er besteht darauf, Sie sofort zu se­hen. Und Sie müssen sich zu ihm bemühen. Er selbst ist leider verhindert.«

Toy Fong überlegte kurz. Er blickte zum Fenster der Hotel­halle. Strahlender Sonnen­schein. Mittagszeit. Die ganze Sache kam ihm reichlich merkwürdig vor.

»Also gut!« entschied er.

Der Fremde wandte sich ab. Gemeinsam traten sie auf die hitzeflimmernde Straße hinaus.

Für diese Jahreszeit war es wirklich ungewöhnlich warm. Am Abend zuvor war er erst in Pensing eingetroffen. Viel hatte er von dem kleinen Ort noch nicht gesehen, doch das wenige hatte genügt, in ihm eine eigenartige Atmosphäre zu erzeugen.

Er war fremd hier, hatte Pensing noch nie zuvor besucht. Außer ihm gab es keine Touristen hier. Trotzdem achtete niemand auf das fremde Gesicht. Man ignorierte ihn und die Leute im Hotel befleißigten sich einer Un­verbindlichkeit, die schon fast an Unhöflichkeit grenzte.

Ich bin gespannt auf die Schwarze Eminenz, dachte Toy Fong. Dabei war ihm einen Moment lang, als besäße sein Führer statt Hände Fischflossen.

*

Auf der Straße herrschte kaum Betrieb. Die alten Häuser waren mit roten Ziegelsteinen erbaut. Ein klappriges Auto passierte Toy Fong. Er wandte den Kopf.

Kein Fahrer!

Aber dann musste er sich be­richtigen. Das vom Seitenfenster reflektierte Sonnen­licht hatte ihn wohl geblendet.

Das Hotel blieb hinter ihnen zurück.

Kein einziges Mal blickte sich der Fremde um. Er vergewisserte sich nicht, ob ihm Toy folgte. Of­fenbar war er seiner Sache sicher.

Toy musste seine Schritte beschleunigen, damit sich der Abstand nicht vergrößerte.

Ärger stieg in ihm empor, Ärger über den Fremden, über die seltsame Kleinstadt mit ihren noch seltsameren Bürgern, über sich selbst... Was war nur mit ihm los?

Die Straße vollführte eine Bie­gung nach rechts. Die Häuser wi­chen noch weiter von der Fahr­bahn zurück. Die Vorgärten ge­wannen an Raum, wurden schmucker, bunter.

In der Kurve verließ der Fremde den Bürgersteig. Toy Fong blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen. So sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, an die Seite des Fremden zu kommen.

Sie traten auf die Fahrbahn­mitte.

Die Hitze wurde unerträglich, schnürte Toy Fong die Luft ab. Er griff sich an den Kragen, hakte die Finger ein. Es nutzte nichts. Sein Schritt wurde taumelnd. Er öffnete den obersten Kragenknopf und zerrte den Schlips auf.

Der Rücken des Fremden war ein dunkles Viereck, das rhyth­misch auf und ab ging.

Für nichts anderes hatte Toy Fong mehr Augen.

Motorgeräusch, das sich rasch näherte. Ein durchdringendes Hupen.

Toy Fong reagierte in keiner Weise. Er stierte mit brennenden Augen auf diesen Rücken, der immer größer zu werden schien.

Gellendes Lachen peinigte sei­ne Ohren, quietschende Reifen. Ein Schatten raste auf ihn zu.

Toy Fong taumelte weiter. Sein Atem ging keuchend. Schweiß perlte heiß auf seiner Stirn.

Staub geriet in seine Kehle. Er hustete, fasste sich an den Hals, verhielt den Schritt.

Der Rücken tanzte immer noch auf und ab, ohne sich je­doch von ihm zu entfernen.

Abermals das gellende Lachen, das Toy durch und durch ging. Wie eine Sturmflut überrollte es ihn.

Toy Fong verlor den Halt. Er schaffte es einfach nicht mehr, aufrecht stehen zu bleiben.

Erst sank er auf die Knie. Dumpfer Schmerz.

Rufende Stimmen erreichten ihn. Er achtete nicht darauf.

Ohne sich mit den Händen abzufangen, kippte er vornüber. Etwas schnürte ihm die Kehle zu.

Staub wirbelte auf, vernebelte ihm die Sicht.

Sein Verstand wurde wieder etwas klarer, befreite sich ein wenig von dem Druck, der auf ihm lastete.

Da war keine Straße mehr. Glühender Wind strich über ihn hinweg, trieb nadelfeine Staub­körner vor sich her, die ihm in Augen, Mund und Nase drangen, ihn erneut husten ließen.

Der Rücken war noch da. Keine Beine.

Kein Kopf, nur ein dunkles Viereck, das sich nun hin und her bog, dabei anscheinend jenes furchtbare Lachen produzierend.

Plötzlich das Gesicht des Fremden, vor ihm. Jetzt wusste Toy Fong, warum es ihm so be­kannt vorgekommen war.

Es war eine Karikatur seiner selbst!

Der Fremde lüftete freundlich seinen Hut und das dadurch ent­stehende pechschwarze Loch verschlang Toy Fong wie ein hungriges Monster.

Toy Fong wollte schreien. Doch es war zu spät. Die Sinne schwanden ihm. Er wurde eins mit dem Nichts.

2

Ein Flüstern. Ganz leise ein Name.

Etwas lauter wurde die Stimme, deutlicher: »Toy Fong!«

Er wollte antworten, merkte jetzt erst, dass er über keinen Körper mehr verfügte!

Panik nahm von ihm Besitz, doch vermochte er nicht einmal mehr zu schreien.

»Toy Fong!«

Es war jetzt genau hinter ihm, schwebte um ihn herum.

Eine diffuse Gestalt. Die Kon­turen schälten sich langsam aus der Schwärze.

»Habe keine Furcht, Toy, es ist alles gut!«

Alles gut? Er wollte auf begeh­ren.

»Gib dir keine Mühe, Toy, ich verstehe dich, auch wenn du die Worte nur denkst.«

»Was ist geschehen?« fragte Toy Fong.

»Ich weiß es nicht, aber der Kontakt kam zustande. Was hast du erlebt? Wo befindest du dich?«

»Ich - ich weiß es nicht!« Vergeblich marterte Toy sein Ge­hirn.

»Bist du nach Pensing ge­reist?«

»Ja - ich glaube, ja!«

»Du weißt nicht, warum ich dieses Ansinnen hatte?«

»Nein, du erschienst mir nur ganz kurz.«

Aufatmen.

»Es ist gut, dass du mich er­kennst!«

»Ja, du bist mein Urvorfahr, den man damals schon Toy Fong nannte. Er heiratete. Seine Frau wurde schwanger und starb spä­ter..., um inzwischen viele Male wiedergeboren zu werden. Ihr Geist wanderte von Körper zu Körper - weibliche und männliche -, was er vorher auch schon getan hatte, Jahrtausende lang. Und hier und heute ist es... der Geist von TEUFELSJÄGER MARK TA­TE! Aber auch du: Ein ruheloser Geist, der nur mit mir Kontakt aufzunehmen vermag und auch das nicht immer, weil es Gesetzen unterworfen ist, die ein Mensch nie begreift. Was willst du von mir?«

»Mark Tate ist nach wie vor verschollen im jenseitigen Land ORAN und ich... spüre die Anwesenheit einer bösen Macht. Im Augenblick kommt sie nicht an dich heran, doch vermag ich sie nicht sehr lange zurück zu drängen. Du musst dich selber dagegen wehren. Setze deine ma­gischen Kräfte ein, die ich dir vererbte - und handele als wahrer Erbe von Mark Tate in seinem Namen und während seiner Abwesenheit!«

»Ich will es versuchen. Aber warum hast du mich nach Pensing gehen lassen?«

»Ein Verdacht. Dort, wo ich mich befinde, gelingt mir oftmals der einseitige Kontakt mit dem Diesseits. Das weißt du. Ich emp­fing Bilder, Stimmen, Geräusche. Szenen des Grauens. Es gelang mir nicht, sie zeitlich und räum­lich einzuordnen. Aber von Pensing geht etwas aus. Es könnte damit zu tun haben.«

»Sage mir mehr!« forderte Toy Fong.

»Dann sehe, was ich sah!«

Toy Fong befand sich plötzlich an einem anderen Ort. Die Nach­mittagssonne strahlte hell, aber nicht so heiß. Eine junge Frau mit einem Kind, einem kleinen Mädchen. Sie gingen Hand in Hand spazieren, kamen an ein weites Blumenfeld...

*

»Sieh mal, Tante Martha, die herrlichen Blumen!« rief Katy Reynolds mit ihrer hellen Stimme.

Martha Hendrix nickte lä­chelnd. »Ja, Katy, sie sind herr­lich.«

»Sollen wir einen schönen Strauß pflücken für Onkel Tom?«

Martha Hendrix betrachtete die achtjährige Tochter ihrer Schwester. Dann blickte sie stirn­runzelnd zum Himmel. Am Hori­zont ballten sich Wolken zu­sammen. Zog ein Unwetter auf? Laut Wetterbericht müsste es eigentlich schön bleiben. Aber konnte man sich darauf immer verlassen?

Sie zuckte die Achseln. »In Ordnung, warum nicht? Aber wir beeilen uns lieber.«

Ein Blick zum nahen Wald­rand. Die Bäume standen dicht und dunkel, bedeckten eine weite Fläche, bis über den Hügel hin­aus, dessen relativ steilen Hänge zu einer Höhe von dreihundert Yards stiegen. »Und bleibe stets in meiner Nähe, hörst du?« fügte Martha Hendrix hinzu.

Katy folgte der Richtung ihres Blicks und fragte ungezwungen: »Was ist mit dem Hügel?«

Martha schüttelte heftig den Kopf. »Nichts, Kleines, überhaupt nichts!«

Katy beobachtete sie misstraui­sch. Sie war mit der aus­weichenden Antwort nicht zu­frieden, sagte aber nichts mehr.

»Hey!« rief sie aus und sprang mit zwei Füßen auf die Wiese.

»Vorsicht!« rief Martha la­chend. »Du zertrampelst mehr als du pflücken kannst.«

Sie ging ebenfalls auf das bun­te Feld und bückte sich.

Nur die schönsten Blumen pflückte sie.

Anfangs behielt sie Katy stän­dig im Auge. Dann wurde sie sorgloser. Katy wich nicht von ih­rer Seite.

Und dann kam der Zeitpunkt, an dem Martha Hendrix einen schönen Strauß gepflückt hatte.

Sie richtete sich ächzend auf. Ihr Rücken schmerzte leicht.

Martha blickte zur Seite.

Ein paar abgepflückte Blumen lagen verstreut umher. Niederge­tretene Pflanzen deuteten eine Spur an, die schnurstracks zum Waldrand führte.

Und Katy Reynolds war nicht mehr da!

Gleichzeitig mit dieser Er­kenntnis zuckte ein Blitz nieder.

Martha warf den Kopf in den Nacken. Eine dunkle Wolke hatte sich über den Hügel geschoben. Ja, sie hing genau über dem Hügel. Ringsum war der Himmel strahlend blau.

»Katy!« schrie Martha entsetzt.

Wie hatte sie übersehen können, dass sich die Kleine von ihr entfernte? Wie viel Zeit war eigentlich inzwischen vergangen?

Sie schaute auf die Uhr. Aber die stand schon seit zwei Stunden.

»Katy!« schrie Martha Hendrix erneut. Ihr Herz pochte wie ra­send.

Sie war ganz sicher, dass der Kleinen etwas Furchtbares zuge­stoßen war.

Sie ballte ihre zierlichen Hände zu Fäusten, drückte sie gegen ihren bebenden Busen.

»Katy!« Diesmal war es nur noch ein ohnmächtiges Stöhnen.

Ein paar Tränen schwammen in ihren Augen, lösten sich, kullerten über die schreckensblei­chen Wangen.

Sie hatte Angst vor dem Wald­rand. Und dennoch folgte sie der Spur des Kindes.

»Katy!« Noch immer blieb die Antwort aus.

Martha erreichte den Wald, zögerte einen Moment. Die Bäu­me wirkten irgendwie drohend.

Eine Windböe erfasste ihre Wipfel, schüttelte sie.

Ein verdorrtes Blatt schwebte zur Erde - langsam, fast zögernd, als würde es von Geisterhand ge­tragen.

Martha schluchzte verzweifelt und warf sich der Mauer aus Bäumen entgegen. Sie kämpfte sich durch zähes Dickicht, das an ihren Kleidern zerrte, sie zu zer­reißen drohte.

Düsterheit umgab sie. Nur wenige verirrte Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch das dichte Blätterdach.

Ein zweiter Blitz, dem ein ur­weltliches Donnergrollen folgte.

Erschrocken zuckte Martha Hendrix zusammen. Die Erde erbebte.

Martha lief weiter.

Eine Waldlichtung. Brenn­nesseln, Ginsterbüsche, bi­zarre Hecken, mit dünnen Ver­ästelungen wie ein Gespinst aus mageren Fingerknochen.

Hier wäre das Licht stärker, aber die drohende Wolke verhinderte es.

Im Irrlichtern weiterer Blitze erkannte Martha eine schmale Gestalt inmitten der Lichtung, ein kleines, weißes Gesicht mit großen, runden Augen.

»Katy!« Martha stand stock­steif, wagte es gar nicht, sich zu nähern.

»Katy!«

Noch immer keine Reaktion. Die Augen schauten sie bewe­gungslos an.

Langsam taumelte Martha Hendrix näher.

»Mein Gott, was ist mit dir?«

Der Himmel verdunkelte sich noch mehr. Die Schatten der Bäume verschlangen die schmale Gestalt.

Martha Hendrix war heran. Ih­re Hände griffen vor.

Dornen drangen in ihr Fleisch. Sie schrie auf, zog die Hände zu­rück.

Blau zuckte das Licht des Himmelsfeuers auf sie herab.

Nur ein Dornenbusch und kein achtjähriges Mädchen!

Martha Hendrix heulte. Sie fühlte sich wie in einem schreckli­chen, nicht mehr enden wollenden Alptraum.

»Tante Martha!«

Eine helle Stimme in ihrem Rücken.

Sie wirbelte herum.

Jemand lief auf sie zu.

»Katy!«

Und diesmal wurde der Ruf er­widert!

»Oh, Tante Martha, wie ist es hier so unheimlich!«

Die Kleine flog in ihre Arme. Martha drückte sie ganz fest. Der Körper des Mädchens fühlte sich eiskalt an.

»Frierst du denn nicht?«

»Doch!«

»Aber warum hast du dich von mir entfernt? Ich habe es gar nicht bemerkt.«

»Ach, ich musste mal, Tante Martha.«

»Ich rief die ganze Zeit nach dir!« sagte Martha Hendrix vor­wurfsvoll.

Die Kleine drückte sie von sich. Ihre Wangen waren vor Eifer gerötet.

»Ich - ich habe nichts gehört. Wirklich, Tante Martha.« Sie schöpfte tief Atem. »Tante Martha, ich habe etwas entdeckt. Es ist nicht weit von hier.«

Mit dem ausgestreckten Arm deutete sie in eine Richtung. »Das muss ich dir zeigen!«

Und schon riss sie sich los und rannte davon.

»Bleib hier!« Martha erschrak zutiefst. »Sofort kommst du zu­rück!«

Die Achtjährige hörte nicht, verließ die Lichtung.

Martha Hendrix blieb nichts anderes übrig, als hinterher zu ei­len, wollte sie die Kleine nicht ganz aus den Augen verlieren.

Deutlich hörte sie das Knacken im Unterholz. Die Acht­jährige selber war bald nicht mehr zu sehen, so sehr sich Mar­tha Hendrix auch bemühte.

Immer wieder rief sie den Namen des Mädchens. Aber Katy Reynolds ließ sich nicht beirren.

Und dann stellte Martha fest, dass es hügelan ging.

Wohin wollte sie Katy Reynolds führen?

Etwas schimmerte durch Äste und Blätter hindurch. Es war rund, ballgroß.

Martha Hendrix verhielt im Schritt. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie.

Plötzlich zuckten Blitze nieder. Mehrere gleichzeitig, alles taghell erleuchtend.

Wind packte die Bäume, rüttelte sie.

Ein ballartiges Ding fiel vom Ast.

Ein gellender Schrei entrang sich der Kehle der jungen Frau. Der Wind blies ihr kalt ins Gesicht, wie der Atem eines To­ten, spielte mit den langen, dun­kelblonden Haaren, ließ sie flattern.

Das ballartige Ding entpuppte sich als Gesicht, ein wahres Voll­mondgesicht.

Schrecklich daran war, dass der Körper fehlte. Als hätte je­mand eine Maske an den Baum gehängt.

Doch die Augen lebten. Sie blickten hin und her, blieben schließlich an Martha Hendrix hängen. Der Mund öffnete sich, aus dem glucksendes Lachen drang.

Das Gesicht hing nicht an dem Baum. Es schwebte frei in der Luft, sank jetzt langsam tiefer, als wollte es Martha Hendrix näher betrachten.

Der Schrei von ihren Lippen hallte schaurig wider, riss ab.

Martha war unfähig, sich von der Stelle zu rühren.

Wie aus weiter Ferne hörte sie das Knacken im Unterholz: Katy Reynolds, die sich immer weiter von ihr entfernte.

Zu keinem Laut war Martha mehr in der Lage.

Das Gesicht blieb in der Luft hängen, rührte sich nicht.

Dann begann es zu wackeln, flatterte davon wie ein Geistervo­gel, gewann an Höhe, bahnte sich geschickt einen Weg durch Äste und Zweige hindurch, folgte dem Knacken im Unterholz.

Martha überwand ihre Erstar­rung. »Katy!« brüllte sie aus Leibeskräften. Sie hatte schreckli­che Angst vor dem unheimlichen Gesicht. Aber noch mehr sorgte sie sich um die Achtjährige.

Das Gesicht zeigte ihr als heller Fleck im dunklen Dickicht den Weg.

Martha Hendrix achtete nicht darauf, dass sie sich an Dornen Gesicht und Hände zerkratzte. Sie hetzte weiter vorwärts, immer höher den Hügel hinauf, nur von dem einen Gedanken beseelt, Ka­ty aus dieser entsetzlichen Umge­bung zu befreien.

Plötzlich war das Knacken im Unterholz wie abgeschnitten. Nichts war mehr zu hören.

Keuchend blieb Martha Hendrix stehen, um sich neu zu orientieren.

Etwas Großes, Nasses klatsch­te ihr ins Antlitz und zersprang.

Abermals schrie Martha Hendrix.

Schon wieder fiel ein Etwas vom Himmel, verfehlte sie diesmal allerdings.

Das war Wasser. Unglaublich dicke Tropfen, wie Tennisbälle, die am Boden mit einem Ton zer­platzen, das wie Lachen klang.

Donnergrollen erschütterte die Erde. Ein Unwetter bahnte sich an, wie es Martha Hendrix noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.

Und sie steckte mittendrin!

»Katy!« schluchzte sie.

Auf einmal wurde ihr bewusst, wie unsinnig sie sich verhielt. Was war mit der Achtjährigen los? Hatte sie eine unheimliche Macht bereits in den Klauen und wollte jetzt auch sie, Martha, in die Falle locken?

Sie versuchte, sich zu orientieren.

Aussichtslos. Nur das Himmelsfeuer spendete ein wenig Licht. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Selbst den Weg, den sie gekommen war, konnte sie nicht mehr erkennen.

Sie schritt weiter, diesmal langsamer.

Dichter fielen die Tropfen.

Das flatternde Gesicht war wieder da. Und dann schwebte es wie festgenagelt vor ihr, als würde es auf etwas warten.

Martha biss die Zähne zu­sammen. Sie ging mutig auf das Gesicht zu, das sie ruhig beob­achtete.

Es veränderte seine Stellung, driftete auf einen bestimmten Punkt zu.

Nacktes Grauen packte Mar­tha, als sie das Ziel des Gesichtes erkannte.

An einem besonders dicken Ast hing ein Mann. Ein alter Strick war um den Hals ge­schlungen. Ein Mann, erhängt.

Es war Martha unmöglich, den Blick von dem grausigen Bild zu lösen.

Bläuliches Irrlichtern, von Blitzen gespeist, zuckte gespens­tisch über die Szene.

Das unheimliche Gesicht verzerrte sich.

Ein Knarren klang auf, fuhr Martha durch Mark und Bein.

Der unheimliche Mund formte sich zu einem runden Loch, aus dem ein abgrundtiefes Stöhnen drang.

Der Erhängte starrte Martha aus gebrochenen Augen an. Dann hob er langsam die Rechte und winkte ihr zu.

»Tante!« rief eine helle Stimme.

»Katy!« murmelte Martha ersterbend.

Sie erwachte wie aus einem bösen Traum. Der Erhängte löste sich einfach auf.

Martha rannte los.

Der Wald war zu Ende. Sie trat im strömenden Regen auf eine Lichtung. Inmitten eine windschiefe Hütte.

Hatte die Achtjährige von dort­her gerufen?

Keine Spur von der Kleinen!

Zögernd schritt Martha näher. Die Hütte flößte ihr Furcht ein. Dennoch blieb sie nicht stehen.

Sie erreichte das roh zu­sammengezimmerte Gebäude.

Eine Tür schwang knarrend auf und zu. Vom Wind bewegt?

War es das Knarren, das sie vorhin vernommen hatte?

Dumpf schlug die Tür abermals zu, dass Martha be­fürchten musste, die Hütte bre­che im nächsten Augenblick in sich zusammen. Doch die Bohlen und Balken hielten der Bean­spruchung stand.

Martha musste dreimal schlu­cken, ehe sie einen Ton heraus­brachte.

»Ist - ist da jemand?«

Als wäre dies ein verabredetes Zeichen gewesen, verstärkte sich der Regen noch. Aber die Tropfen waren ganz normal. Und sie waren warm wie im Hochsommer, wenn die Natur nach Feuchtigkeit lechzte.

Martha leckte sich die spröden Lippen. Ihr Gesicht war unnatür­lich bleich. Ihre Hände zitterten, als sie die Arme nach der Tür ausstreckte.

Die Tür schwang auf, schlug wieder krachend zu. Es ächzte in allen Fugen.

»Katy?«

Keine Antwort.

»Bist du hier, Katy?«

Wieder nichts.

Entschlossen machte Martha einen Schritt nach vorn, drückte das Türblatt in das Innere des finsteren Raumes.

Es gab keinen Widerstand.

Das Holz fühlte sich rau an, aber nicht hart.

Wie die Körperoberfläche eines Tieres! durchzuckte es Martha Hendrix.

Sie brauchte große Über­windung, weiterzugehen, die Hütte zu betreten.

Kaum war sie im Innern, schlug die Tür hinter ihr zu.

Erschrocken wirbelte sie her­um. Sie wollte wieder hinaus.

Vergeblich suchte sie nach einer Türklinke.

Etwas wie Atem streifte ihren Nacken.

Sie warf sich mit dem Rücken gegen die Wand, hob abwehrend beide Arme.

In der Dunkelheit entstand ein flackerndes Licht.

Langsam ließ Martha ihre Ar­me wieder sinken.

Eine Lichtinsel. Katy Reynolds!

Die Achtjährige hatte völlig trockene Kleider. Sie trug in beiden Händen einen Kerzen­ständer. Die Kerze brannte. Kon­zentriert blickte Katy darauf. Wie eine Nachtwandlerin durchquerte sie den Raum.

Gegenstände konnte Martha keine erblicken. Das flackernde Licht vermochte nicht einmal die Wände zu beleuchten.

Katy blieb stehen und wandte sich Martha voll zu.

Sie hob den Kopf. Martha schaute direkt in ihre Augen.

Da erst bemerkte sie, dass die Pupillen fehlten. An ihre Stelle waren kleine Löcher getreten, hinter denen sich etwas bewegte.

Verwirrt schüttelte Martha den Kopf.

Jetzt erschien alles normal.

Was war nur mit ihr los? Bildete sie sich denn alles nur ein? Erlebte sie einen einzigen Alptraum?

Sie vermisste das Trommeln des Regens auf das Dach der Hütte.

Aber ihre Kleidung war noch immer völlig durchnässt. Wenigs­tens das war echt gewesen.

»Vielleicht hättest du nicht kommen sollen, Tante Martha«, sagte Katy tonlos.

»Nicht - nicht kommen sollen?« wiederholte Martha.

Katy nickte ernst.

»Du weißt doch, dass man dies im Volksmund den Hügel des Schreckens nennt!«

»Katy!« sagte Martha mit be­bender Stimme. »Wo... woher weißt du das? Ich habe doch nie...«

»Das war eben dein erster Feh­ler, Tante Martha. Der zweite war, so nahe hierher zu spazieren. Aber vielleicht hast du den Lock­ruf des Bösen gespürt und folg­test ihm?«

Martha schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie fürchtete sich vor der Achtjährigen, die ihr so fremd vorkam. Nein, das war nicht die Katy, die sie kannte.

»Sirenen der Verderbnis lo­cken die Menschen zu nicht fest­gelegten Zeiten. Das Böse braucht neue Energien und schafft sich Diener des Grauens.«

»Was redest du da?«

»Tante Martha, du kennst doch die Geschichten, die man sich erzählt. Es heißt, der Hügel frisst Kinder und spuckt sie wieder aus und sie sind danach wie vorher und können sich an nichts erinnern. Aber für jedes Kind kommt ein Erwachsener in die Klauen der Hölle.«

»Ja, ich weiß es, habe das alles schon oft gehört. Es ist eine böse Legende, mehr nicht!«

»Warum hattest du dann stets Angst vor dem Hügel, wenn es nur eine Legende ist?«

»Katy, bitte, wir gehen jetzt weg von hier. Der Regen hat auf­gehört. Wir verlassen diesen grausigen Ort, gehen nach Hause.«

»Nach Hause?« echote Katy Reynolds. »Dann weißt du also nicht, dass es für dich das alte Zuhause nicht mehr gibt?«

»Hör auf!« Martha presste beide Hände gegen die Ohren. »Ich kann den Unsinn nicht mehr hören.«

Das Mädchen schaute sie an und die Augen wirkten unendlich traurig.

»Es tut mir leid um dich, Tante Martha. Du warst sehr gut zu mir. Ich würde dir gern helfen, aber es steht nicht in meiner Macht. Ich wollte das alles nicht. Aber die Kräfte, die hier herr­schen, sind stärker als mein Wollen.«

Die Kerze erlosch.

Es war still in der Dunkelheit, unbarmherzig still.

Martha wusste genau, wo das Mädchen gestanden hatte. Sie sprang in diese Richtung, stieß sich aber nur den Kopf an der gegenüberliegenden Wand.

Katy Reynolds war nicht da!

Sie tastete umher, erfühlte et­was im Dunklen.

Kleidung, die einen Körper verhüllte. Ihre Finger tasteten sich höher. Ein rundes, grinsendes Vollmondgesicht, ein zernarbter Hals.

»Nein!« kreischte Martha Hendrix.

3

Irgendwie fand sie die Tür. Diesmal gab es eine Klinke. Mar­tha Hendrix entwischte nach draußen.

Kein Regen. Im Licht der un­tergehenden Sonne glitzerten Wasserlachen, als wären sie mit Diamanten gefüllt.

Martha Hendrix stürmte hügelabwärts.

Da war eine deutliche Schneise. Gebrochene Äste und Zweige. Eine Spur, die sie beim Kommen gelegt hatte und die ihr jetzt den Abstieg erleichterte.

Martha Hendrix langte mit ste­chenden Lungen an der Stelle an, an der sie mit Katy Reynolds Blu­men gepflückt hatte. Wie eine Ewigkeit kam ihr die Zeit vor, die seitdem vergangen war.

Weinend lief sie über den Weg in Richtung ihres Hauses. Keine drei Meilen waren es noch. Eine Strecke, die ihr im Augenblick unendlich erschien.

Sie schaffte es dennoch, nach­dem die Sonne längst hinter dem Horizont verschwunden war.

Blasses Mondlicht übergoss die Landschaft mit silbrigem Licht.

Vollmond!

Und war heute nicht auch Walpurgisnacht, die Nacht der Hexen und Dämonen?

Martha Hendrix wurde es nicht bewusst.

Ihr Haus, das sie gemeinsam mit ihrem Mann Tom Hendrix be­wohnte, stand am Ortseingang. Straßenlaternen spendeten genügend Licht.

Martha wankte zur Haustür.

Sie suchte nach ihrem Schlüs­sel, merkte erst jetzt, das ihre Ta­sche gar nicht vorhanden war und klingelte Sturm.

Schritte näherten sich von jenseits der Tür.

Die Tür wurde geöffnet.

Tom Hendrix, ihr Mann?

Ja, er war es!

»Tom!« ächzte Martha mit heiserer Stimme. Mehr brachte sie einfach nicht heraus. Sie fühl­te sich müde, ausgelaugt, mit ih­ren Kräften total am Ende.

»Ja, Sie wünschen?« Er be­trachtete sie, wie man eine Fremde betrachtet, die sich wunderlich benahm und nicht ge­rade den besten Eindruck mach­te.

Sie prallte von seinem Ge­sichtsausdruck zurück.

Die Tür stand weit offen.

»Aber, Tom, wie kannst du...?« Sie vollendete den Satz nicht.

»Hören Sie, ich kenne Sie wirklich nicht.«

Forschend betrachtete er sie. Er zuckte die Achseln.

»Sie sind auch nicht von hier. Soll das ein neuer Trick sein? Verkaufen Sie Zeitschriften oder...?«

Weiter kam er nicht. Mit einem Aufschrei warf sich Martha nach vorn, stieß ihn beiseite.

In der Garderobe hing ein Spiegel.

Wie mit magischer Gewalt zog sie dieser Spiegel an. Ehe Tom Hendrix reagieren konnte, war sie an ihm vorbei.

Sie stierte in den Spiegel hin­ein. Nichts! Kein Antlitz blickte ihr entgegen! Als würde es sie gar nicht geben!

Tom Hendrix wurde wütend. Er packte die Eingedrungene an den Schultern und bugsierte sie unsanft nach draußen.

Martha ließ es willenlos über sich ergehen. Sie sagte kein Wort.

Nicht ein einziges Mal wandte sie sich um, als sie davon schritt.

Verständnislos blickte Tom Hendrix der Frau nach, die er nie im Leben gesehen zu haben glaubte. Sie ging den Weg entlang, den sie gekommen war.

Tom kratzte sich verlegen am Kopf. Hatte er sich falsch benom­men? War er zu weit gegangen, als er die Fremde hinaus bugsiert hatte?

Er hatte echte Gewissensbisse.

Aber wie hätte er sonst rea­gieren sollen?

»Eine Verrückte«, murmelte er vor sich hin.

Trotzdem ließ er sie nicht aus den Augen, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann erst schloss er die Haustür.

Am Spiegel blieb er stehen.

»Was hatte sie nur mit ihm?«

Auch das verstand er nicht.

»Wer war das denn, Tom?« fragte jemand aus dem Wohnzimmer.

Der Fernseher lief. Man hörte dramatische Musik, die langsam abschwoll, schließlich verstumm­te.

Die entstandene Stille wurde von einem peitschenden Schuss zerfetzt. Stöhnen, Keuchen, ein Poltern.

»Tom?«

»Ja, ich komme ja schon!« er­widerte er halb ärgerlich. Irgend­wie wollte ihm die Fremde nicht aus dem Sinn gehen.

Er betrat das Wohnzimmer.

»Irgendeine Verrückte. Ehr­lich, ich habe keine Ahnung, was sie eigentlich von uns wollte.«

Seine Frau blickte ihm vom Sessel aus entgegen. Die flimmernde Bildröhre des Fernse­hers goss unnatürlich bleiches Licht über sie.

Irgendwie erscheint sie in diesem Licht unwirklich, dachte Tom Hendrix.

Er ärgerte sich über diesen Gedanken und schob ihn weit von sich.

»Es hat wieder mal einen Mord gegeben«, sagte Martha Hendrix vom Sessel aus.

»Die unheimliche, unbekannte Macht hat wieder zugeschlagen.«

Mit dem ausgestreckten Arm deutete sie auf den Fernseher.

»Ganz schön spannend, der Krimi!«

Tom Hendrix räusperte sich. Es klang verlegen.

»Ich will einmal nach Katy se­hen. Hoffentlich wurde sie nicht von der Türglocke aufgeweckt.«

Er wandte sich ab und schritt zur Tür.

»Die hat einen anstrengenden Tag hinter sich und schläft be­stimmt wie ein Murmeltier«, rief ihm seine Frau nach.

Er ließ sich nicht aufhalten, ging über den kurzen Flur zum Kinderzimmer.

Selber hatten sie keine Kinder, weshalb sie manchmal in den Fe­rien Katy Reynolds zu sich nahmen.

Katy war ein angenehmes Kind, aufgeweckt, nicht zu über­triebenen Scherzen aufgelegt. Sie waren bisher immer gut mit ihr ausgekommen. Sie freuten sich stets über Katys Besuch.

Tom Hendrix öffnete die Kinderzimmertür und lauschte.

Tiefe, regelmäßige Atemzüge.

Tom wagte es, die Flurbe­leuchtung einzuschalten. Ein schmaler Lichtstreifen fiel quer über das Kinderbett.

Oh, dachte Tom, Katy ist wirklich groß geworden. Das nächste Mal passt sie nicht mehr in dieses Bett. Wir müssen ihr ein größeres besorgen.

Er schob die Tür noch ein Stückchen weiter auf.

Das hineinfallende Licht be­rührte die Schlafende.

Katy Reynolds lag halb auf der Seite, in ihren Armen einen zer­rupft aussehenden Teddy. Ihr Gesicht war entspannt. Friedlich schlief sie.

Der Schlaf der Unschuldigen und Gerechten! dachte Tom Hendrix im stillen.

Er betrat das Zimmer und zupfte die Bettdecke zurecht.

Katy Reynolds erwachte nicht davon.

Tom Hendrix wollte das Zimmer verlassen. Da wuchs plötzlich ein hoher Schatten vor ihm auf.

Aber es war nur seine Frau.

»Alles in Ordnung?« flüsterte sie.

Tom legte den Zeigefinger an den Mund und bedeutete ihr, ru­hig zu sein.

Er schloss hinter sich die Tür. Sie standen zu zweit im Flur.

»Ja, sie schläft tief und fest.«

»Ich sagte doch schon, sie hat eine Menge erlebt heute. Das macht müde.«

In Toms Ohren klang das ir­gendwie zweideutig. Er konnte es sich nicht erklären.

Er nahm seine Frau in die Ar­me. Ihr Körper war warm und weich - real. Was bildete er sich bloß ein?

Sein erwachtes Misstrauen verflüchtigte sich bei einem leidenschaftlichen Kuss.

»Ist der Krimi schon vorbei?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, aber das interessiert mich im Moment nicht beson­ders.«

Sie küsste ihn abermals.

Er verstand. Auch seine Leidenschaft wuchs. Sie gingen vom Kinderzimmer weg und be­gaben sich in ihren eigenen Schlafraum.

Tom Hendrix fiel in dieser Nacht nur auf, dass seine Frau schon lange nicht mehr so leiden­schaftlich gewesen war. Als hät­ten sie sich lange Zeit nicht mehr gesehen und feierten jetzt Wieder­sehen.

Tom machte sich keine Ge­danken darüber. Er genoss viel­mehr das heiße Temperament sei­ner Angetrauten.

Für ihn war die Welt in Ord­nung.

Aber war sie das wirklich?

*

Die Bilder verschwanden. Schlagartig fand Toy Fong in die Wirklichkeit zurück.

Es war nur eine Vision ge­wesen - erzeugt vom Geist seines Vorfahren.

Was hatte er ihm damit sagen wollen? Wo hatte sich das Drama mit Martha Hendrix und Katy Reynolds abgespielt?

Mit dem Ende der Vision war auch der Kontakt mit dem Geist abgerissen. Toy Fong kon­zentrierte sich darauf. Vergebens.

Er schlug die Augen auf.

Mit dem Rücken lag er auf der Straße. Sein unbekannter Führer beugte sich über ihn.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte er besorgt.

Hilfreiche Hände unterstützten Toy Fong beim Aufstehen.

Er schüttelte die Hilfe ab. »Danke, es geht schon wieder.«

Verständnislos blickte er um­her.

»Was ist eigentlich passiert?«

»Oh, Sie sind plötzlich zu­sammengebrochen. Ich kann es mir nicht erklären. Beinahe wä­ren sie noch überfahren worden. Dadurch erst wurde ich auf den Umstand aufmerksam.«

Drei Schritte weiter stand ein Fahrzeug. Die Bremsspur ging knapp an Toy Fong vorbei.

Der aussteigende Fahrer ges­tikulierte wild mit den Armen.

»Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?« rief er er­zürnt. »Bei Gegenverkehr hätte ich nicht mehr ausweichen können. Passen Sie gefälligst auf, wenn Sie...«

Toy Fongs Führer beschwichtigte ihn: »So regen Sie sich doch nicht auf. Es ist alles gut verlaufen. Das ist die Haupt­sache. Mein Freund brach zu­sammen. Ihm wurde plötzlich schwarz vor Augen.«

Der Fahrer beäugte Toy Fong misstrauisch. »Hat er das denn öfter?«

Toy Fong mischte sich ein. Er deutete mit dem Daumen zum Himmel.

»Die Sonne! Ich war zu lange in der Sonne. Da hat es mich um­gehauen. Tut mir leid.«

»Aber, Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Kann ja wirklich mal passieren. Besser, wenn Sie zum Arzt gehen. Könnte schließlich bleibender Schaden entstehen.«

»Werde es beherzigen!« ver­sprach Toy Fong.

Der Mann blickte sie beide noch einmal misstrauisch an. Dann stieg er in sein Auto und brauste davon.

Toy spürte eine Hand am Arm.

»Sind Sie sicher, dass es nur von der Sonne kommt?«

Toy Fong schaute in das besorgte Gesicht. »Ja, wovon denn sonst?«

»Wie steht es mit dem Arzt? Ein guter Vorschlag, finde ich!«

»Sollen wir denn Seine Schwarze Eminenz warten lassen?«

»Nun, es ist weder ihm noch Ihnen gedient, wenn Sie den nächsten Zusammenbruch veran­stalten. Ihre Gesundheit geht vor alles.«

»Freut mich zu hören, aber ich fühle mich wirklich wieder ganz in Ordnung.«

Der Führer zuckte die Achseln. Er wandte sich ab. »Nun gut, wie Sie wollen, Dr. Fong.«

»Hören Sie!« rief Toy Fong hin­terher. »Wie heißen Sie eigentlich?«

Keine Antwort.

Toy Fong folgte. Er schaute sich um. Jetzt erschien die Stadt fast normal. Als hätte jemand den Schleier des Unheimlichen davon weggezogen.

Vielleicht habe ich mir das vorhin nur eingebildet und bin tatsächlich erholungsbedürftig? überlegte er.

Aber dann dachte Toy Fong an den Geist seines Vorfahren, der ihn her gebeten hatte. Und die Vision war auch eindringlich genug gewesen.

Wie lange hatte sie eigentlich gedauert? Nach Lage der Dinge konnte er nur wenige Sekunden am Boden gelegen haben.

Toy Fong beschäftigte sich nicht weiter damit. Er war neu­gierig auf die Schwarze Eminenz.

Vielleicht brachte diese omi­nöse Figur ein wenig Licht in das Dunkel der Ereignisse?

4

Die Schwarze Eminenz hatte ihr Domizil inmitten der Kleinstadt. Das Haus war umge­ben von einer Fußgängerzone. Ein eiserner Zaun verwehrte un­gebetenen Gästen den Zutritt.

Quietschend öffnete sich das Tor, als Toy Fongs Führer dagegen drückte. Zielstrebig ging er auf den Hauseingang zu.

Ein Gefühl wie Beklemmung entstand in Toy Fong. Er zögerte. Aber dann riss er sich zusammen und schloss sich seinem Führer an.

Die Haustür schwang selb­ständig auf.

Und dann betrat Toy Fong eine Welt, die ihn an das Compu­terzentrum von Cap Kennedy denken ließ.

Das Gebäude hatte von draußen alt und ehrwürdig ge­wirkt. Und jetzt das...

Was suchte eine solche Ein­richtung in einer kleinen, unbe­kannten Stadt wie Pensing?

Toy Fong wirbelte blitzschnell um die eigene Achse. Ein leises Zischen hatte seine Aufmerksam­keit erregt.

Sein Führer war verschwunden! Als hätte er sich mit jenem Geräusch in Luft auf­gelöst!

Keine Tür war zu sehen, auch kein Fenster. Die Wände waren bedeckt mit Paneelen, an denen seltsame Apparaturen hingen.

Jetzt wirkte der Raum nicht mehr wie ein Computerzentrum, sondern fremdartiger. Der erste Eindruck trügte.

Mein Gott, wo bin ich denn hier gelandet? dachte Toy Fong bestürzt. Und er zweifelte nicht mehr daran, dass er geradewegs in eine Falle getappt war.

Seine Schwarze Eminenz hatte es nicht einmal geschickt anzu­stellen brauchen.

Toy Fong hatte das Gefühl, je­mand hätte einen stetigen Druck von seinem Kopf genommen. Plötzlich konnte er viel klarer denken.

Etwas oder jemand hatte ihn seit seiner Ankunft in Pensing be­einflusst.

War ihm deshalb alles so un­wirklich und seltsam erschienen?

Wer steckte dahinter und was hatte dies hier mit den Vorgängen beim Hügel des Schreckens zu tun?

Toy Fong fand keine Ant­worten auf seine Fragen. Er durchquerte den Raum, war dar­um bemüht, keine der Be­dienungselemente zu berühren. Er hatte keine Ahnung, was er damit hätte bewirken können.

Diese Einrichtung war mehr als nur futuristische Kulisse. Sie verfolgte einen bestimmten Zweck, der Toy Fong bis jetzt ver­borgen blieb.

Mitten im Raum blieb er stehen.

Die Räumlichkeit hatte eine Grundfläche von schätzungsweise acht mal zehn Yards.

Er betrachtete den Boden. Er war mit eigenartigen Zeichen versehen. Wenn man den verwir­renden Linien folgte, wirkte sich das lähmend auf den Verstand aus.

Magische Zeichen! Jemand hatte hier Supertechnik mit Schwarzer Magie verknüpft. Die Folgen waren unübersehbar. In diesem Raum manifestierte sich eine Macht unbekannter Größe.

In diesem Augenblick erwach­ten die Computerrelais, Arma­turen, Anzeigen und Bedienungs­elemente zum Leben!

Schalter legten sich knackend um, Hebel bewegten sich von ih­rer Stelle, rasteten hörbar ein. Summen und Brummen, Klicken und Rattern erfüllten die Luft.

Panik überfiel Toy Fong. Doch er sah keinen Ausweg.

Und dann hatte er das Gefühl, in einen finsteren Abgrund zu stürzen. Der Boden gab unter sei­nen Füßen nach. Alles drehte sich um ihn, immer schneller.

Die Kulisse des futuristisch eingerichteten Raumes löste sich in Nichts auf.

Ein irres Kreischen drang aus der Tiefe zu ihm herauf, schwang die Tonleiter empor, bis es fast unerträglich wurde.

Gesichter umringten Toy Fong, verschwanden wieder wie platzende Seifenblasen.

Und dann war alles vorbei, kam die Umgebung wieder zur Ruhe.

Toy Fong sah sich um. Er hatte eine Reise ins Unbekannte angetreten und wusste nicht mehr, wo er sich befand.

Verwundert blickte Toy Fong zu seinen Füßen hinab. Er stand auf einem metallisch glänzenden Boden und dieser gehörte zu einem langen, kreisrunden Gang. Nirgendwo eine Lichtquelle und doch war alles gut ausgeleuchtet.

An der Stirnseite des Ganges befand sich eine Tür aus dem gleichen Material, aus dem auch der Boden bestand. Von einem Öffnungsmechanismus war nichts zu sehen.

Toy Fong schaute zur Decke empor.

Ein Schacht, der ins Dunkel führte. Ein leichter Luftzug strich über ihn hinweg und dann war die Öffnung geschlossen, fügte sich nahtlos in das Ganze.

Toy wagte es nicht, sich zu be­wegen. Er befürchtete, den Ein­stieg in diesen Gang nicht wieder­zufinden.

Doch das war unbegründet, denn links und rechts des Ganges befanden sich Symbole. Toy Fong war sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben. Aber als er sie betrachtete, brannten sie sich in sein Gehirn ein und wurden ver­ständlich.

Er wusste auf einmal, was sie bedeuteten.

Er befand sich in einer Transportröhre!

Zwar hatte er keine Ahnung, was es damit auf sich hatte, doch nahm er sich vor, dies zu ergründen.

Toy Fong richtete sein Augen­merk auf das gegenüberliegende Gangende. Auch hier eine Tür ohne Öffnungsmechanismus.

Handelte es sich überhaupt um eine Tür?

Toy bekämpfte das be­klemmende Gefühl, in einer dicht verschweißten Röhre zu stecken, aus der es niemals mehr ein Ent­rinnen gab.

Er tat einen vorsichtigen Schritt.

Sobald sich sein Fuß vom Boden löste, packten ihn leichte Schwindel. Nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte der Spuk an. Eine eigenartige, unbestimm­bare Kraft zog und zerrte an sei­nem Körper, brachte ihn in die Schwebe. Der Gang schien weg­zukippen, so dass der eine Abschluss plötzlich zu seinen Fü­ßen lag.

Er raste heran, berührte seine Schuhe.

Toy Fong konnte nichts dagegen tun. Hilflos musste er es mit sich geschehen lassen. Er war den Mächten ausgeliefert, die hier mit ihm ihr Spiel trieben.

Er dachte an die Worte des Geistes, der ihm die Vision vom Hügel des Schreckens gesendet hatte. Er bat Toy Fong, seine eigenen Kräfte einzusetzen, um sich zu wehren. Doch Toy fühlte sich leer und ausgehöhlt, unfä­hig, seine Magie anzuwenden. Et­was hemmte ihn in dieser Umge­bung.

Auch dagegen konnte er nichts tun!

Die Kräfte ließen von ihm ab.

Mit den Fingerspitzen tastete Toy Fong über die gewölbte Gang­wand. Sie fühlte sich glatt und warm an - warm wie ein leben­diges Wesen.

Der Vergleich weckte Abscheu in Toy. Er zog die Hand zurück.

Seine Unsicherheit, hervorge­rufen durch die Unbeschreiblich­keit seiner Situation, wuchs. Er schaute hoch und - erschrak. Auch das andere Gangende hatte sich genähert. Er stand nun in einer Röhre, die nur etwas höher als zwei Yards war. Rechts und links von ihm befanden sich noch immer Symbole für Transportröh­re - magisch verschlüsselt in un­bekannter Art und Weise.

Wenn sich Toy Fong auf die Zehenspitzen stellte, lief er Gefahr, mit dem Kopf anzu­stoßen.

Er war groß und durch­trainiert. Fünfundachtzig Kilo Muskeln, Sehnen und Knochen.

Und er hatte einen über­ragenden Verstand, der ihm allerdings im Augenblick wenig nutzte.

Oder etwa doch?

Er kratzte sich hinter dem Ohr. Unwillkürlich musste er an den Raum mit der komplizierten Einrichtung denken. Technik, verknüpft mit starken magischen Kräften.

Auch hier?

Vielleicht befand er sich in einer Art Gebäude? Dies hier war eine Transportröhre. Irgendein Mechanismus erkannte, dass er allein war. Die Röhre passte sich daraufhin an.

Doch lag er damit wirklich richtig? Wie sollte er die Röhre wieder verlassen? Bedienungs­elemente fehlten.

Mit den Fingerspitzen tastete er noch einmal das warme Metall ab. Diesmal erfüllte ihn der Kon­takt nicht mehr mit Abscheu.

Irgendwie hatte er dabei die Symbole berührt. Plötzlich be­gannen sie zu blinken, proji­zierten Zahlen direkt in seine Augen.

Wohin er den Blick auch wendete - die Zahlen befanden sich deutlich vor ihm.

Sie leuchteten auf, verwandelten sich in nächstnied­rigere.

Toy Fong lernte schnell. Er legte die Handflächen auf die ma­gischen Symbole. Die Zeichen erloschen. Als er die Hände zu­rückzog, sah er für Sekunden eine goldene Sieben auftauchen.

Was bedeutete sie? Hatte sie ebenfalls mit Magie zu tun?

Ein sanfter Lufthauch. Damit tat sich eine Öffnung auf. Sie war groß genug, um Toy Fong hin­durchzulassen.

Er tat es dennoch nicht.

Was er sah, schlug ihn in sei­nen Bann.

Im Gang außerhalb standen zwei Menschen! Ein Mann und eine Frau.

Sie schauten kurz auf, sahen ihn, nickten ihm freundlich zu, unterhielten sich weiter.

Toy Fong verstand jedes Wort, doch die Bedeutung der Worte drang nicht bis zu seinem Be­wusstsein durch.

Lachend und scherzend kamen die beiden zu ihm herein.

Es war auf einmal Platz genug für alle drei vorhanden. Die Röhre hatte sich gedehnt, ohne dass es Toy Fong bemerkt hatte. Sie war jetzt ein wenig größer.

Der Mann legte die Hände auf ein Symbol. Die Zahlen blinkten wieder auf.

Toy Fong war unfähig, etwas zu unternehmen. Die Situation erschien ihm so unmöglich und verwirrend, dass er nichts anderes tat, als sich in sein Schicksal zu fügen.

Die Reise endete bei zwei­hundertvierunddreißig. Noch immer unterhielt sich das Paar unbeschwert. Sie verließen die Röhre - nicht bevor sie Toy Fong abermals freundlich grüßten.

Die Öffnung schloss sich hin­ter ihnen nahtlos.

Toy Fong war fassungslos. Das Erlebte passte in kein Konzept.

Träumte er denn die ganze Zeit - träumte er seit seiner Ankunft in Pensing?

Und wer steuerte diese Träu­me? Seine Schwarze Eminenz - wer immer sich auch dahinter verbarg?

Zum ersten Mal fragte sich Toy Fong nach dem Motiv für alles. Es ergab einfach keinen Sinn, keine praktischen Konse­quenzen.

Der Begriff Transportröhre fiel ihm wieder ein. Es konnte bedeu­ten, dass er sich in einer Art Lift befand. War das hier das zwei­hundertvierunddreißigste Stock­werk?

Er fühlte sich versucht, den beiden zu folgen, die mit ihm hier hergereist waren, doch wusste er nicht, wie er die Röhre öffnen konnte. Deshalb legte er seine Hände auf die Symbole. Bei Sieben stoppte er ab.

Hier war das Pärchen zuge­stiegen.

Im Nachhinein erschienen sie ihm wie zwei Gespenster.

Die Öffnung. Toy Fong trat auf den Gang hinaus.

Als er sich umschaute, deutete nur das bekannte Symbol auf die Transportröhre hin. Die Öffnung hatte sich geschlossen.

Toy Fong fühlte sich nicht recht wohl in seiner Haut, als er weiterging.

Immer wieder fragte er sich nach dem Motiv. Es blieb für ihn unbegreiflich - so unbegreiflich wie alles hier.

Doch das Karussell der un­heimlichen Ereignisse hatte eben erst begonnen. Eine Menge Über­raschungen wartete auf ihn.

Toy Fong blieb vor einem wei­teren Symbol stehen. Es hatte unbestimmbare Formen. Sobald Toy darauf sah, verwandelte es sich, drang in seinen Verstand ein.

Und dann kannte er die Be­deutung: »Speiseraum!«

In einem Anflug von Galgen­humor sagte er sich, dass die beiden, denen er begegnet war, unmöglich Gespenster sein konn­ten. Solche Wesen pflegten im all­gemeinen keine Nahrung zu sich zu nehmen.

Er spürte Hunger in sich auf­steigen.

Mit dem Bedecken des Sym­bols tat sich eine Tür auf. Der Raum dahinter maß zweimal drei Yards und war völlig kahl - bis auf einen Sessel und einen Tisch, der direkt aus der Wand kam. Die Möbel bestanden aus dem glei­chen Material wie Boden, Wand und Decke.

Toy Fong ging zu dem Sessel und setzte sich.

Ehe er erschrocken auf­springen konnte, hatte sich der Sessel genau seinen Körperkon­turen angepasst.

Auch er war warm und weich und schien zu leben.

Toy Fong überwand sich und blickte zur gegenüberliegenden Wand. Sie veränderte sich zu einem Schaufenster. Speisen der unterschiedlichsten Art und Zu­bereitung lagen aus. Eines hatten alle gemeinsam: ihre absolute Fremdartigkeit.

Toy Fong deutete mit dem ausgestreckten Arm auf ein Me­nü. Es war ein Experiment, dass sich als erfolgreich erwies. Das Bild erlosch. Gleichzeitig verwandelte sich der Tisch in ein »Tischlein-deck-dich«.

»Schwarze Magie hat auch sei­ne Vorzüge«, bemerkte er lä­chelnd.

Toy Fong nahm sich vor, sich nicht mehr ins Boxhorn jagen zu lassen. Es war nicht das erste Mal, dass er mit magischen Dingen konfrontiert wurde.

Trotz der Fremdartigkeit der Mahlzeit ließ er sich nicht ab­schrecken.

Er fand ein passendes Besteck und kostete. Es mundete vorzüg­lich.

Toy Fong begann zu essen.

Er war rasch satt.

Kaum ließ er von den Speiseresten ab, als diese schein­bar im Nichts verschwanden.

Leise Musik ertönte aus un­sichtbaren Lautsprechern. Sie wirkte einschmeichelnd.

Ein Geräusch durchbrach die entstehende Atmosphäre der Be­haglichkeit und Entspannung. Ein Mann trat ein. Er lächelte, als er Toys ansichtig wurde und nickte grüßend.

Plötzlich war der Raum größer und besaß einen weiteren Tisch mit einem bequemen Sessel.

Toy Fong beobachtete den Mann.

Der Sessel erwachte zum Leben, sobald er berührt wurde. Er passte sich seiner Körperform genau an.

Toy schauderte es bei dem An­blick leicht.

Der Mann ließ sich nichts anmerken. Er bestellte und be­gann zu essen.

Toy Fong stand auf. Er knirschte mit den Zähnen.

Mit vier Schritten hatte er den Nachbartisch erreicht.

Prompt verstummte die Musik.

Toy Fong baute sich vor dem Essenden zu einer drohenden Gestalt auf. Er spürte Zorn in sich aufkommen. Endlich wollte er wissen, warum man dieses Spiel mit ihm trieb. Da nur dieser Mann in Reichweite war, nahm er sich vor, mit ihm einmal ein erns­tes Wort zu reden.

»Niemand scheint sich zu wundern, dass ich hier bin«, sagte er beherrscht. »Also ist es mit ein­geplant. Man hat mich in eine Falle gelockt und deportiert. Warum? Und wo befinde ich mich?«

Der Speisende blickte auf. Sei­ne Miene war überaus freundlich.

»Du bist ein Mensch, also heißen wir dich willkommen, weil auch wir Menschen sind!«

Abermals knirschte Toy Fong mit den Zähnen.

Er konnte sich nicht mehr be­herrschen.

Blitzschnell griff er zu, packte den anderen an den Schultern.

Der Mann verzog das Gesicht. Die Berührung schien ihm nicht zu gefallen.

Und dann löste er sich einfach auf - wie zuvor die Speisereste!

Der Vergleich trieb Toy Fong den Schweiß auf die Stirn.

Erschrocken blickte er sich um.

Er war allein im Raum!

Etwas schnürte Toy Fong die Kehle zu. Er japste nach Luft, lief zum Ausgang.

Er musste weg hier, hinaus auf den Flur, vielleicht auch weg von dieser unheimlichen, fremd­artigen, unbegreiflichen Umge­bung. Länger hielt er es nicht mehr aus.

Der Gang tat sich vor ihm auf. Toy Fong rannte zum Lift.

Erst dort kam er wieder zu sich.

Es war sinnlos, was er tun wollte. Es gab einfach keinen Ausweg. Er war in die Falle ge­tappt und sie war zugeschnappt.

Aus eigener Kraft würde er daraus nicht entkommen!

Er schloss die Augen und dachte intensiv an seinen Vorfahr.

Der Magier Toy Fong hatte vor undenklichen Zeiten eine Sphäre der Ruhe und des Friedens ge­schaffen, das reinste Paradies. Ir­gendwo im Himalaja. Das Tal der Träume nannte er sein Reich, in das niemand Zutritt hatte, weil es von einem magischen Schutzschirm umgeben war. Hier lebte er mit seinem kleinen Volk abgeschnitten von der Welt.

Mittelpunkt vom Tal der Träu­me war der Garten der Düfte, ein Blumengarten von unbeschreibli­cher Exotik und der Duft, den diese Pflanzen ausströmten, hatte magische Wirkung. Hierher kam der Magier Toy Fong, wenn er alt und verbraucht war. Und wenn er den Garten der Düfte verließ, hatte er sich in einen jungen Bur­schen verwandelt.

Doch eines Tages kam ihm ein anderer Magier ins Gehege: Lord Gilbert Guinness. Mit seinen Mannen knackte er den ma­gischen Schutzcode und drang in das Tal der Träume ein. Die Be­wohner waren den waffenstar­renden Gesellen hilflos aus­geliefert.

Die Regentschaft der Gewalt ließ den Garten der Düfte verdor­ren. Im entscheidenden Kampf, aus dem kein endgültiger Sieger hervorging, wurde der Rest des Paradieses, dass sich hier einst befand, zerstört.

Der Magier Toy Fong zog nach Europa, um sich bitter zu rächen. Er vertrieb Lord Gilbert Guinness von seinem Schloss und wartete dort auf ihn.

Im Verlauf der weiteren Jahre heiratete er die Tochter des Lords, die ihm einen Sohn gebar. Die Tochter war die damalige In­karnation des Goriten Mahsa - und die heutige war... MARK TA­TE! Der Toy Fong der Gegenwart stammte in direkter Linie von jenem Sohn ab und war somit so­wohl der Nachfahr vom alten Toy Fong als auch von der damaligen Inkarnation Mark Tates!

Und dann kehrte der Lord zu­rück - mit einer auserlesenen Schar von Magiern.

Ein erneuter Kampf entbrann­te. Rechtzeitig schickte Toy Fong seine junge Frau in Sicherheit. Sie sollte zu ihm zurückkehren, wenn er sie rief.

Die Magier starben allesamt und nur Toy Fong und sein Gegenspieler blieben übrig. Doch auch diesmal ging der Kampf un­entschieden aus. Die beiden wurden in eine Sphäre des Grauens verbannt.

Die junge Frau des Magiers Toy Fong starb. Ihr Geist wurde wieder frei - um in einen anderen Körper zu fahren und heute Mark Tate zu sein, Jahrhunderte spä­ter.

Vor kurzem erst führten dringende Geschäfte den Ex­perten für Marketing und Doktor der Betriebswirtschaft Toy Fong zum Schloss von Lord Gilbert Guinness. Er, der Toy Fong der Gegenwart, wusste nichts von dem Drama, dass sich hier in der Vergangenheit abgespielt hatte. Und es war kein Zufall, dass er hierher gerufen wurde: Mark Tate war nicht mehr auf der Erde. Also würde er nicht eingreifen können!

Durch Toys Anwesenheit wurde ein Teufelskreis ge­schlossen. Das Tor zur Hölle öff­nete sich und spuckte die beiden Widersacher von damals aus.

Diesmal musste der Lord gegen zwei Toy Fongs kämpfen - und unterlag.

Seitdem befand sich der Toy Fong der Gegenwart sporadisch in Verbindung mit dem ruhelosen Geist eines Vorfahren, der trotz des Sieges nicht die erhoffte Erlö­sung gefunden hatte.

Denn er hatte nicht nur Gutes getan, sondern auch Böses in sei­ner Gegnerschaft mit Lord Gilbert Guinness. Außerdem: so lange Mark Tate nicht wieder zurückge­kehrt war, hatte er die Aufgabe, den Toy Fong der Gegenwart zu unterstützen!

Die ganze Geschichte ging Toy Fong durch den Kopf.

Es nutzte ihm nichts. Die Ver­bindung kam nicht zustande.

War sie abgerissen für immer? Konnte ihm der Geist nicht mehr helfen?

5

Von dem Gang führten mehre­re Türen ab, die sich nahtlos in die Wände einfügten. Gegenüber dem Essensraum befand sich das Symbol für Entspannung. Eben­falls magisch.

Toy Fong folgte seiner Neu­gierde und öffnete.

Es war, als hätte er eine Wunderbüchse aufgemacht. Selt­same Klänge drangen an seine Ohren. Sie lockten.

Kein Raum befand sich hinter der Öffnung, sondern eine Wald­lichtung!

Verständnislos schaute sich Toy Fong um.

Die Öffnung war verschwunden. Ringsum Bäume, Gras, Blumen, Büsche - und diese seltsamen Klänge, die zu ihm herüberwehten. Ihr Ursprung war verborgen.

Toy widerstand dem Be­streben, ihnen entgegenzueilen. Er wehrte sich gegen das, was sich seinen Blicken darbot, rieb sich die Augen.

Als er sie wieder aufschlug, hatte sich seine Umgebung er­neut verändert.

Von den Bäumen keine Spur!

Ein kahles Zimmer mit einer primitiven Liege.

Toy Fong verstand.

Dieser Raum hier diente der Ruhe, der Entspannung, aber auch der Ablenkung. Wenn man es wünschte, bekam man auf ma­gische Weise Trugbilder vorgegau­kelt, Dinge, die nicht Wirklichkeit waren.

Wie im Traum befand man sich mitten im Geschehen, aber man hatte die Möglichkeit, je­derzeit auszusteigen. Es genügte der Wunsch. Toy Fong hatte es am eigenen Leib erfahren.

Er ging zur Liege und streckte sich nieder.

Er war hier Gefangener und sah nicht ein, warum er nicht die Möglichkeiten auskosten sollte, die man ihm darbot.

Er schloss die Augen und sag­te laut vor sich hin: »Wo befinde ich mich?«

»Auf einem Raumschiff der Zu­kunft«, antwortete prompt eine Stimme.

Er hob den Kopf.

Vor ihm stand ein uralter, weise aussehender Mann. Die wässerigen Augen ruhten auf Toy Fong.

»Auf einem Forschungsschiff«, erklärte der Alte.

Im Hintergrund sah Toy Fong eine lange Schalttafel, an der un­gezählte Lichter blinkten. Anfang und Ende der Tafel verloren sich in der Ferne.

Toy Fong lag noch immer auf der Liege. Seine Umgebung war diesmal ein breiter Gang, dessen eine Seite eben von der Schalt­tafel gesäumt wurde.

»Forschungsschiff?« fragte er verwundert.

Der Alte nickte und war im nächsten Moment verschwunden. Seine Stimme blieb. Toy Fong wunderte sich über nichts mehr.

»Unser Auftrag ist die Erfor­schung der barbarischen Welt Sydt. Die Sydter sind unsere Feinde. Sie kamen aus den Tiefen des Alls, um die Erde zu unterjo­chen. Im eigentlichen Sinne ist dies hier ein Forschungsschiff mit Kampfauftrag. Es kommt ganz darauf an, wie sich die Sydter uns gegenüber verhalten.«

»Was ist mit der Schalttafel?«

Der Alte materialisierte wieder.

Er lächelte nachsichtig.

»Die Waffen von uns Men­schen der Zukunft sind furcht­bar, obwohl sich die Sydter zu­nächst überlegen gezeigt haben. Doch es gab Neuentwicklungen. Alles Wissen steckten wir in dieses Schiff, damit es seinen Auftrag wahrnehmen kann. Es besitzt die Möglichkeit, das ge­samte Imperium der Sydter aus­zurotten!«

»Ganz allein?« fragte Toy Fong ungläubig.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Warum eigentlich nicht?«

»Aber wenn diese Sydter wirklich so überlegen waren, wieso...?«

»Habe ich es dir nicht eben er­klärt? Nun, es ist natürlich nicht sicher, ob die Sydter inzwischen noch auf dem gleichen waffen­technischen Stand sind. Eine Un­sicherheit, die uns letztlich das Leben kosten kann.

Dennoch haben sich alle frei­willig gemeldet. Es war nicht möglich, in der kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, eine ganze Flotte aufzustellen. Wir mussten uns mit diesem einen Schiff be­gnügen. Hoffen wir das Beste. Hoffen wir, dass es nicht zum Kampf kommt und das Schiff seinem eigentlichen Zweck zugeführt wird: nämlich zu forschen!«

Der Alte entmaterialisierte. Die Schaltwand setzte sich in Bewe­gung.

Erst jetzt bemerkte Toy Fong, dass sie leicht gewölbt war. Der Gang, in dem er sich befand, bildete also einen Ring. An den Instrumenten saßen Menschen, die irgendwelche Schaltungen vornahmen. Plötzlich tauchte ein großer Fernsehschirm auf.

Toy Fong sah erstaunt, dass sich in Wirklichkeit seine Liege in Bewegung gesetzt hatte. Sie tat das in völliger Lautlosigkeit und ruckte nicht einmal.

Er setzte sich auf. Das Polster machte die Bewegung mit und er­schien jetzt auch nicht mehr so primitiv.

Die Liege verwandelte sich in einen überaus bequemen Sessel.

Das Bild einer Planetenkugel projizierte sich auf die Oberfläche des Schirms, sehr plastisch, als handelte es sich um ein Fenster ins All hinaus.

»Die Welt der Sydter«, erklärte die Stimme des Alten aus dem Unsichtbaren. »So nahe sind wir natürlich nicht wirklich. Wie du weißt, verfügen wir über ausge­zeichnete Ortungsgeräte.«

»Noch ein Lichtjahr!« rief der Mann vor dem Schirm.

Er wirkte gegenüber der Bild­einrichtung wie ein winziger Zwerg.

Beeindruckend! fand Toy Fong im stillen.

Ein zweiter Mann saß in einem Sessel auf einem erhöhten Podest, von dem aus er alles überblicken konnte.

»Ortung?«

»Bis jetzt noch keine«, ant­wortete der dritte, der sehr beschäftigt wirkte.

Toy Fong fragte sich gerade, was der Mann eigentlich tat, da glitt er auch schon näher heran. Deutlich sah er, wie der Mann an einer Unzahl von Hebeln und Knöpfen manipulierte. Über Oszil­loscheiben huschten Blips hin und her und auf und ab. Ein fas­zinierender Anblick. Der Mann beobachtete alles und schien sich damit ausgezeichnet zurechtzu­finden.

»Da!« rief er auf einmal erregt.

Eine rote Lampe leuchtete grell auf.

»Gehirn!« schnappte der erhöht Sitzende.

»Der Kommandant!« flüsterte jemand am Ohr von Toy Fong.

Er erschrak nicht darüber, denn es war die weise Stimme des Alten.

»Soll - ich - Bild - projizieren?« erkundigte sich ein monotones, metallisch klingendes Sprech­organ.

»Nebenschirm!« befahl der Kommandant.

Toy Fong spürte eine leichte Gänsehaut. Das Ganze wirkte auf ihn kitschig. Dennoch beobachte­te er weiter. Er erhoffte sich eine Erklärung für die bisher erlebten Ereignisse und übte sich in Ge­duld.

Mehrere Fernsehschirme flammten gleichzeitig auf. Wäh­rend sie zumeist Ausschnitte des sternenübersäten Weltraums zeigten, war auf einem ein Spindelraumer zu erkennen. Er war gespickt mit Waffentürmen.

»Die verdammten Sydter!« knurrte der Mann an den Schirmen.

»Ich verbiete Ihnen solche Re­densarten!« fauchte ihn der Kommandant an. »Vergessen Sie nicht, dass wir zunächst einen friedlichen Auftrag haben. Erst wenn die Sydter...«

»Sie schießen!«

Der Mann an den Ortungsin­strumenten hatte es ausgerufen.

Aus einem der Waffentürme löste sich eine Art von Wasser­tropfen, der aber ständig seine Form veränderte, bis er zu einer bunt schillernden Seifenblase wurde.

Doch das Aussehen sug­gerierte falsche Harmlosigkeit. Das Ding raste heran.

»Annähernd Lichtgeschwindig­keit!« erläuterte der Ortungs­ingenieur prompt.

»Es ist da!«

Alle hielten sich fest. Eine ge­waltige Erschütterung durchlief das Schiff. Auch Toy Fong in sei­nem Sessel wurde gründlich durchgeschüttelt. Beinahe wäre er aus dem Polster gekippt.

»Gottlob!« keuchte der Kom­mandant. »Unsere Schutzschirme halten!«

»Meine Zuversicht schwindet und macht blankem Pessimismus Platz«, schnarrte der Mann an den Schirmen. »Diese Waffe haben sie uns noch nicht vorge­führt. Haben wir die verdammten Sydter unterschätzt? Haben sie uns technisch schon überholt, während wir noch an diesem Schiff bastelten?«

»Ich verbiete Ihnen noch ein­mal...«, begann der Kommandant.

Weiter kam er nicht. Ein zweiter Tropfen löste sich, entwickelte sich beim Herankommen zu einer schillernden Blase.

Gleichzeitig materialisierten mindestens hundert weitere Spindelraumer.

»Wir erwidern das Feuer!« bellte der Kommandant.

Die »Seifenblase« erreichte ihr Ziel nicht.

Ein Energiestrahl ließ sie vor­her zerplatzen.

Eine Sonne entstand, die rasch expandierte und dabei wieder an Leuchtkraft verlor, bis sie ganz erlosch.

Ein zweiter Schuss traf den Spindelraumer und löste ihn in seine atomaren Bestandteile auf,

»Großartig!« rief der Mann an den Schirmen begeistert.

»Ich habe zwar keine Ahnung, wie die Sydter aussehen, aber jetzt möchte ich ihre Gesichter se­hen - falls überhaupt welche vor­handen sind.«

»Feuer einstellen!« befahl der Kommandant.

»Ein Spruch geht herein«, meldete der Funkingenieur.

Gleichzeitig erschien auf einem der Nebenschirme das übergroße Bild einer Spinne.

Eine Spinne in Uniform?

»Also doch kein Gesicht«, stellte der Mann an den Bildgerä­ten sichtlich enttäuscht fest.

Toy Fong schüttelte den Kopf.

Er hielt es nicht mehr länger aus, sprang aus seinem Sessel und rief: »Was soll das alberne Schauspiel?«

Das Ganze mutete an wie ein billiger utopischer Film.

Kaum hatte er die Worte aus­gesprochen, als die Umgebung, die Zentrale des Raumschiffs, ver­puffte.

Toy Fong stand mutterseelen­allein inmitten dem kahlen Raum, direkt neben der primi­tiven Liege.

Er begriff augenblicklich.

Eine Art Unterhaltungsfilm!

Verwirrt strich er sich über die Stirn.

Er hatte die Frage gestellt, wo er sich befand. Prompt hatte ihm eine unbekannte Macht diese Vision aufgedrängt, in dem der Alte die Rolle des Erzählers spielte.

Ein perfekter Traum, aber bei aller Perfektion eben doch kit­schig und für Toy Fong unbefrie­digend.

War er vielleicht tatsächlich auf einer Art Forschungsschiff?

Wo befand es sich? Was war der Auftrag? Wie lange würde es unterwegs sein?

Toy Fong bildete sich all­mählich eine Theorie. Aber sie hatte noch nicht richtig Gestalt angenommen.

Im Augenblick hatte es wenig Zweck, sich mit der Theorie weiter auseinander zu setzen. Er wollte endlich etwas tun.

Sofort verließ er den Raum und stieg in die Transportröhre.

Magische Kräfte und eine un­begreifliche Technik transportierten ihn davon.

Er wählte das Stockwerk zwei­hundertvierunddreißig.

Das Pärchen hatte die Erho­lungsebene verlassen, um sich hierher zu begeben. Was befand sich auf dieser Ebene?

Vielleicht kam Toy Fong der Lösung der Rätsel jetzt endlich einen kleinen Schritt näher?

Auf jeden Fall mussten sich hier mehr Menschen befinden. Möglicherweise hatten sie gegen eine Befragung nichts einzu­wenden?

Das hoffte Toy Fong zu­mindest.

Das hier war sein phantas­tischstes Abenteuer überhaupt - auch ohne dass er Genaues über die Hintergründe wusste.

6

Der Gang war anders als der vorhin verlassene. Hier herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Öffnungen zu drei Räumen waren ständig offen. Menschen eilten hin und her.

Toy Fong verließ die Transportröhre.

Niemand achtete auf den ein­samen Eindringling.

Die Wände des Ganges waren übersät mit Messanzeigen, Hebeln, Knöpfen, Schaltern.

Wie in dem Raum in Pensing, in dem alles begonnen hat! dach­te Toy unwillkürlich.

Er wich einem Mann aus, dem er im Wege stand. Der Mann ignorierte ihn. Er war in Aufzeich­nungen vertieft, die er in beiden Händen hielt.

Toy Fong wandte sich der Tür am Kopfende des Gangstücks zu. Etwa acht Schritte war sie von der Transportröhre entfernt.

Wallende Nebel schienen sich dahinter zu bilden. Milchiger Schein drang nach draußen. Toy Fongs Neugierde war geweckt.

»Noch fünf Minuten bis zur ersten Phase«, meldete eine gleichgültige Stimme über einen unsichtbaren Lautsprecher. Keiner der Menschen achtete dar­auf.

Welche Phase? fragte sich Toy Fong. Eine ungeheuerliche Idee kam ihm. Vielleicht befand er sich in einem Schiff, das durch die Dimensionen des Satans schwamm, im Zwischenreich der Dämonen?

Er wusste von seinem Vorfahr, was ihn da Schreckliches erwarten konnte.

Aber dann schob er alle Ge­danken in dieser Richtung als unsinnig von sich. Toy Fong er­reichte sein Ziel.

»Noch viereinhalb Minuten bis zur ersten Phase«, meldete sich die Stimme.

Auch Toy Fong achtete dies­mal nicht darauf.

Er blickte in den Raum hinter der Öffnung.

Etwas schnürte seinen Brust­korb. Ein Gefühl der Angst.

Er wollte nicht weitergehen, aber es trieb ihn vorwärts, durch die Tür hinaus in das - Nichts!

Grauenhafte Leere. Die Kälte des Nirgendwo streifte seinen Körper.

Da, in der Ferne blinkten Lichter, rasten heran, wurden zu diffusen Schemen, die vorüber­huschten.

Eine Landschaft unter Toy Fong.

Landschaft?

Es waren keine Einzelheiten erkennbar. Alles wirkte unscharf, unwirklich. Doch er erlebte keinen Alptraum, sondern Wirklichkeit.

Was für eine Wirklichkeit?

Toy Fong schwebte nicht schwerelos. Deutlich spürte er festen Boden unter seinen Füßen.

»Noch vier Minuten bis zur ersten Phase«, ertönte es leiden­schaftslos.

Gleichzeitig wurden die Kon­turen der Umgebung ein wenig schärfer.

Würde er überhaupt den Weg zurück in diesen Gang finden? Hatten auch andere vor ihm dieses grauenvolle Nichts betre­ten, dass sich mehr und mehr anreicherte mit Dingen, die ihm unbekannt blieben?

Stirnrunzelnd sah er zur Seite.

Ein Mann. Ruhig schwebte er in dieser Sphäre. Das Licht reich­te aus, so dass sich der Fremde einige Notizen machen konnte. Er tat dies mit einem sonderbar ge­formten Stift.

Wie Schuppen fiel es Toy Fong von den Augen.

Keiner machte sich Aufzeich­nungen oder studierte solche. Was die Männer und Frauen in ihren Händen hielten, waren Di­rektverbindungen mit einer zentralen Stelle.

Sie gaben Werte durch, ließen sich Antworten geben.

Ein perfektes Zusammenspiel. Aber wer war der Koordinator?

Eine magische Kraft, die alles belebte?

Toy Fong war überzeugt da­von. Nein, er befand sich nicht an Bord eines normalen Schiffes. Hier war überhaupt nichts nor­mal.

Alles war von Schwarzer Magie durchdrungen. Jemand hatte das Schiff geschaffen und es auf die Reise geschickt. Mit welchem Ziel?

Und dieser Jemand war vielleicht jener geheimnisvolle Ko­ordinator. Jeder der Beteiligten konnte ihm ständig eigene Ge­danken mitteilen, ohne an einen Ort gebunden zu sein. Unterein­ander hatten sie keinerlei Kon­takte. Das war auch nicht not­wendig.

Ein perfekt eingespieltes Team, in dem jedes Mitglied ein absoluter Spezialist war mit haarklein abgestecktem Auf­gabenbereich. Die Koordination konnte in einem solchen Fall nur ein Wesen übernehmen, dass nicht von dieser Welt war.

Ein Dämon vielleicht?

Toy Fong erinnerte sich an die seltsame Bezeichnung »Schwarze Eminenz«.

Es blieb die Frage, wo sich Toy Fong befand. Was war das für eine Umgebung. Auch nur eine Vision, hervorgerufen durch den Koordinator? Auf jeden Fall wurde hier die Umgebung des Schiffes gezeigt. Das glaubte Toy Fong zumindest.

Menschen traten hinzu, verschwanden wieder. Reges Kommen und Gehen.

Nur Toy Fong stand da und rührte sich nicht von der Stelle. »Noch drei Minuten bis zur ersten Phase!«

Die Stimme klang nicht mehr so gleichgültig. Leise Erregung schwang darin mit.

Ein leuchtendes Kreuz ent­stand, mit geöffnetem Schnitt­punkt. Es schwebte scheinbar in der Ferne.

Wie eine Visiereinrichtung, dachte Toy Fong.

Handelte es sich tatsächlich um eine?

»Noch zwei Minuten bis zur ersten Phase!«

Grau in grau war alles rings­herum. Nur in der Öffnung des Kreuzes zeichnete sich etwas ab.

Augenblicklich wusste Toy Fong, was es war: Ein Eisenmole­kül!

Seine ganze mühsam aufge­baute These brach in sich zu­sammen. Er musste die gerade erst im Entstehen begriffene Theorie verwerfen und sich einer neuen zuwenden.

Wieso ein Eisenmolekül?

»Das Ziel anvisiert. Vorbe­reitungen zum Ende bringen! Eine Minute und vierzig Se­kunden bis zur ersten Phase!«

Toy Fongs Gedanken wirbelten im Kreis.

Ein ungeheuerliches Expe­riment. Er saß wahrhaftig an Bord eines Schiffes - eines ganz besonderen.

Eines, das sich verkleinern konnte!

Deshalb diese unglaubliche Konzentration von magischer Energie, verquickt mit unver­ständlicher Technik.

Die Insassen dieses Schiffes waren dazu ausersehen, immer kleiner zu werden und ein Eisen­molekül anzusteuern!

Toy Fong schwindelte es bei diesem Gedanken.

Toy Fong beschäftigte sich nicht mehr damit, wer der Initia­tor des Unternehmens war.

Auf jeden Fall hatte dieser an alles gedacht. Er schickte das Schiff mit seiner Besatzung auf die Reise und sorgte dafür, dass die Männer und Frauen es auch alle möglichst bequem hatten.

Das war seine Gegenleistung.

Toy Fong machte kehrt und stolperte auf den Gang zurück.

Hauptaugenmerk richteten die Menschen jetzt auf den Projek­tionsraum, den er gerade verlassen hatte.

Ton Fong überquerte den Gang.

Er war sicher, dass es sich bei der ominösen Phase um eine Ver­kleinerung handelte. Wollte man wirklich auf dem Eisenmolekül landen? Ein mehr als phantas­tischer Gedanke. Aber wenn man das als erste Phase bezeichnete, dann mussten noch andere Pha­sen darauf folgen.

Weitere Verkleinerung? Kleiner noch als ein Molekül, kleiner als ein Atom?

Toy Fong zwang sein Denken in geordnete Bahnen, be­schränkte sich aufs Beobach­ten.

Der zweite Raum war vollge­stopft mit Technik, die irgendwie unheimlich wirkte in ihrer Perfek­tion und ihrem Zusammenspiel mit magischen Kräften.

Eine Gruppe von dreizehn Menschen steckte in Behältern, die Herz-Lungen-Maschinen nicht unähnlich sahen. Nur die Köpfe schauten heraus. Sie waren be­deckt mit einer ganzen Batterie von Kontakten.

Wozu diente das alles?

Hier traten die wenigsten Be­satzungsmitglieder ein.

»Eine Minute und zehn Se­kunden!«

Jetzt war Toy Fong klar, wer die Zeit ständig durchgab. Es war einer der Menschen-Männer und Frauen-Menschen in den Behäl­tern. Seine Lippen bewegten sich. Ein versteckt angebrachtes Mi­krofon nahm es auf und übertrug es in die einzelnen Räume.

»Achtung, bei zwanzig Se­kunden bis zur ersten Phase schalte ich auf Countdown. Jetzt noch eine volle Minute.

Koordination einwandfrei. Keine Bedenken gehen ein. Pannen treten nicht auf. Das Steuerungskollektiv veranlasst das Anlaufen der Energie­erzeuger. Speicher eins bis zwanzig bereit zur Abgabe bei plus-minus-null. Dauer: eine Na­nosekunde.«

Überrascht hatte Toy Fong den Worten gelauscht.

Steuerungskollektiv?

Das war die Lösung! Die drei­zehn Menschen wurden im Moment künstlich am Leben erhalten, während ihre gesamte Geisteskraft zu einem Kollektiv zusammengeschaltet war. So befanden sie sich in unmittelba­rer Verbindung miteinander und mit den technischen Ein­rich­tungen.

Auch hier triumphierte Magie, gekoppelt mit modernster Technik!

Er trat aus dem Steuerraum, der so gar nichts gemeinsam hatte mit einer Kommandozentra­le, wie man sie sich allgemein vor­stellte.

»Noch dreißig Sekunden. Ach­tung, bald beginnt der Sekunden-Countdown!«

Die dritte Räumlichkeit in dieser Ebene barg für Toy Fong eine Überraschung.

Er hatte nur wenig Zeit, den Anblick zu verarbeiten, denn die Ereignisse begannen sich zu überschlagen, nachdem der Countdown dem Ende zuging...

*

Ein weiterer Projektionsraum, der sich von dem anderen in dieser Ebene durch einen wesent­lichen Umstand unterschied: Er zeigte nicht das Ziel der Reise, sondern die momentane Umge­bung in der Wirklichkeit!

Das magische Schiff wirkte von hier aus gesehen wie aus Glas. Die Umrisse blieben un­deutlich. Es stand in einer gigan­tischen Halle. Es wuselten Men­schen darum herum mit Zellstoff­masken vor den Gesichtern und in sterile Kittel gekleidet. Ein wahrer Ameisenhaufen.

Nicht mehr lange, denn sie verließen beinahe fluchtartig die Szene. Bald lag die Halle verlassen vor Toy Fong.

Wände und Boden waren pechschwarz und übersät mit magischen Symbolen.

Aus dem Hintergrund der Halle traten fünf Menschen, ge­kleidet in schwarze Umhänge mit Kapuzen, die nur Augen­schlitze freiließen. Sie umringten das magische Schiff und be­gannen mit einem Ritual.

Aus der Höhe der Halle kam Feuer, das sich auf die Gruppe ergoss, ihr aber nichts anhaben konnte.

Ein Wimmern und Stöhnen war in der Luft. Mühelos drang es durch die Wand zu Toy Fong her­ein.

Er blickte empor.

Das Dach der Halle war kuppelförmig und transparent. Die Sonne war nicht zu sehen. Aber der runde Vollmond zeigte sich. Er stand genau im Zenit und schickte bleiches Licht her­ein.

Der Feuerregen verebbte. Er war aus dem Nichts entstanden und löste sich im Nichts auf.

Irrlichter huschten über die Hallenwände, machten sie für wenige Sekunden durchsichtig.

Toy Fong erschrak. Er erkann­te, dass die Halle auf dem Hügel des Schreckens lag.

Wieso hatte sie bisher nie­mand entdeckt? Hatte man sie in die Erde gegraben?

Das war eine Möglichkeit. Vielleicht hatte ihr Erbauer nur eine vorhandene Höhle ausbauen müssen.

Ein Verdacht entstand in Toy Fong. Doch die Ereignisse verhinderten, dass er zum Nach­denken kam.

»...vierzehn... dreizehn... zwölf... elf...«, wurde monoton ge­zählt. Es hallte überall wider. Ein Beben durchlief den Leib des Schiffes, so dass Toy Fong fast den Boden unter den Füßen verlor.

»...zehn...«

»Stoppt den Countdown!« kreischte jemand mit sich über­schlagender Stimme.

»...neun...«

Toy Fong rannte in den Gang hinaus. Lämpchen blinkten wie verrückt. Etwas war geschehen. Was?

»...acht...«

Eine weitere Erschütterung.

Toy Fong schaute in den zwei­ten Projektionsraum.

Noch immer das Eisenmolekül im Fadenkreuz. Doch verharrte es dort nicht ruhig, sondern zitterte hin und her. Ringsum Lichtkas­kaden, die aus dem Nichts bra­chen und ins Nichts wieder zu­rückkehrten.

Toy Fong schloss geblendet die Augen.

»...sieben...«

Alles lief wie im Zeitlu­pentempo ab. Aus der Schalt­wand kräuselte Qualm. Es roch beizend nach verbrannten Kabeln und Ozon.

Eine meterlange Stichflamme, die einen der Männer erfasste. Als brennende Fackel rannte der Un­glückliche in Richtung Transport­kabine.

Aus der Decke löste sich ein Löschstrahl. Das Kollektiv rea­gierte prompt und rettete dem Mann das Leben. Röchelnd sank der Getroffene zu Boden.

Niemand kümmerte sich um ihn im Augenblick. Jeder hatte mit sich selbst zu tun und mit der Aufgabe, mit der er betraut worden war.

»...sechs...«

Der dritte Stoß. Diesmal konn­te sich Toy Fong nicht mehr hal­ten. Er schlitterte über den Boden in den Steuerraum hinein.

Einer im Kollektiv bäumte sich auf. Er warf den Kopf hin und her. Es knisterte und knatterte plötzlich in dem Kasten, in dem er steckte.

Ein Schrei.

Eine Reihe von Kontrolllämp­chen fiel aus.

Toy Fong musste sich abwenden. Er konnte ohnedies nichts für den Unglücklichen tun.

Er rappelte sich vom Boden auf, der jetzt schräg stand.

Das Steuerungskollektiv griff ein. Irgendwie gelang es den Männern und Frauen, das Schiff wieder auszurichten.

Doch es geschah zu abrupt. Alle purzelten durcheinander. Toy Fong wurde wie von einer Riesen­faust gepackt und wieder auf den Gang gefegt.

»...fünf...«

Der erste Projektionsraum, der die Werkshalle wiedergab.

Leute tauchten auf, bewaffnet mit Werkzeugen und eigenartigen Dingen, die an Talismane er­innerten und wahrscheinlich auch eine entsprechende Funkti­on hatten.

Toy Fong erkannte, dass die Katastrophe nicht allein auf das Schiff beschränkt blieb.

Ein Riss zeigte sich im Hallen­boden. Als hätte das Schiff gigan­tisch an Gewicht zugenommen!

Ließen sich die magischen Energien doch nicht so beherr­schen, wie man es angenommen hatte?

Eine überschnappende Stimme im Lautsprecher, fast den Countdown übertönend, der ble­chern in allen Ebenen des ma­gischen Schiffes zählte.

»Die Speicher! Die Speicher drehen durch! Defekt im Regel­system!«

Welche Speicher?

»...vier...«

Wurde die Energie, mit der sie geladen waren, auf einmal frei­gegeben und führte das zur Schrumpfung?

Konnte man denn magische Ereignisse wirklich speichern, um mit ihr physikalische Gesetze auf den Kopf zu stellen und das Raum-Zeit-Kontinuum derart zu verzerren?

Auf jeden Fall konnte ein falscher Ablauf unabsehbare Folgen haben. Dagegen war das, was im Moment geschah, prak­tisch überhaupt nichts.

»...drei...«

Toy Fong fragte sich, wieso sich innerhalb so kurzer Zeit eine solche Menge ereignen konnte.

»Achtung!« kreischte die Stimme von vorhin.

Niemand hörte darauf, denn im nächsten Augenblick wurde die Energie aus den zwanzig Spei­chern frei.

Zu früh und auf einen Schlag.

Innerhalb einer Nanosekunde.

Grelles Rot brach in die Montagehalle, ließ die Menschen davon wirbeln wie welke Herbst­blätter, fetzte das Kuppeldach ins Freie.

Das bekam Toy Fong noch mit.

Da stürzte das Rot auch schon über das Schiff, packte es wie die Faust eines Giganten.

Toy Fong hatte Atem­beschwerden. Er rang nach Luft, die auf einmal stickig und tro­cken erschien.

Etwas schleuderte ihn zu Boden. Die Decke schlug ihm ent­gegen. Sie drehte sich jedoch blitzschnell wieder weg.

Das war sein zweiter Ein­druck.

Dann war da nichts mehr. Ein furchtbarer Schlag gegen seinen Schädel löschte alles.

7

Dunkel und schmerzfrei. Hel­ligkeit, die die Finsternis vertrieb und sich grell in sein Denken bohrte. Chaos um ihn herum.

Toy Fong war auf einmal hell­wach. Er lag auf dem Rücken. Der Boden erbebte wie ein hus­tender Riese. Seine Hände fuhren hin und her, vergeblich nach Halt tastend. Seine Fingerspitzen stießen gegen etwas Weiches.

Toy Fong wandte den Kopf. Ein Mensch, eine Frau!

Es durchzuckte ihn wie ein Blitz: Die Frau kam ihm bekannt vor. Eine Bekannte hier an Bord? Sie war ohne Bewusstsein. Ihr Gesicht war verzerrt, die Haltung unnatürlich verkrümmt.

Toy Fong richtete sich auf, tastete nach dem Handgelenk der Frau, suchte den Pulsschlag. Vergebens! Die Frau war ohne Zweifel tot! Und jetzt wusste er auf einmal, um wen es sich handelte: Martha Hendrix!

Ihr trauriges Schicksal hatte er in der Vision genau mitver­folgen können. Und jetzt lag sie da und war tot.

Wie war sie an Bord des Schif­fes gekommen?

Sein alter Verdacht erhärtete sich. Doch auch diesmal kam er nicht dazu, sich näher damit zu beschäftigen, denn die Totge­glaubte schlug die Augen auf.

Ihre Blicke begegneten sich. Toy Fong spürte, wie ihm heiß wurde. Sein Herz schlug ein paar Takte schneller. Er vergaß für Augenblicke das Chaos, hatte nur Interesse für Martha Hendrix.

Zum ersten Mal sah er sie persönlich und diese Tatsache löste in ihm etwas aus, was er bisher nicht gekannt hatte.

Sie wandte sich von ihm ab und erhob sich, ohne noch weiter auf ihn zu achten. Mit anmutigen Schritten verließ sie den Raum.

Nun erst fand Toy Fong Zeit, sich auf die Umgebung zu kon­zentrieren. Er widerstand dem Impuls, Martha Hendrix zu folgen.

Der Projektionsraum zeigte, was sich außerhalb des Raumes abspielte.

Streifen fluoreszierenden Lich­tes zogen auf allen Seiten entlang. Dunkle Schatten rasten aus der darunter liegenden Finsternis, näherten sich dem Schiff be­drohlich, drehten wieder ab.

Nur noch kleinere Erschütte­rungen erreichten die Besatzung. Das Steuerungskollektiv und die Macht, die es verband, verstanden es großartig, alles andere zu kompensieren.

Wie viel Zeit war seit Toy Fongs Bewusstlosigkeit vergangen? Waren es Sekunden oder Minuten gewesen?

Viel hatte sich unterdessen nicht geändert.

Das Zählen des Countdowns hatte aufgehört. Das Schiff schrumpfte, um auf dem Eisen­molekül Platz zu haben.

Eine unglaubliche Tatsache.

Doch verlief nicht alles nach Plan. Der Prozess hatte auf spek­takuläre Art und Weise noch vor Beendigung des Countdowns, al­so zu früh, eingesetzt.

Die Besatzungsmitglieder lie­fen aufgeregt hin und her. Sie hatten alle Hände voll zu tun.

Toy Fong blieb stiller Beobach­ter. Er trat ein wenig zur Seite, um nicht im Weg zu stehen.

Das visuelle und auditive Cha­os verstärkte sich. Eine schwere Erschütterung ließ das Schiff erbeben. Vor dem Schiff tauchte etwas auf, dass an den Kopf eines Riesenmonsters er­innerte.

Toy Fongs Augen weiteten sich. Es sah aus, als wollte das Ding alles verschlingen.

Schon war es überstanden. Gähnender Abgrund tat sich auf. Wände, die man nur ahnen konn­te, huschten vorüber.

Ein ungeheurer Sog hatte das Schiff erfasst, um es immer tiefer in die Mikrowelt der Moleküle hineinzuziehen.

»Wir müssen die rasende Fahrt stoppen, bevor wir auf dem Molekül zerschellen!« kreischte je­mand neben Toy Fong.

Der Mann war außer sich. Er gestikulierte wie wild mit den Ar­men.

Ein anderer trat hinzu und versetzte dem Durchdrehenden zwei kräftige Ohrfeigen. Wortlos tat er das, dann wandte er sich wieder ab.

Der Mann fand zu sich selber zurück, setzte seine Arbeit fort.

Alles spielte sich in Sekunden ab. Momente muteten an wie Ewigkeiten.

»Achtung!« plärrte es aus den Lautsprechern.

»Gegenregelung gleich Gegen­schub!«

Wie ein Mann warfen sich alle zu Boden.

Toy Fong benötigte keine Extraeinladung. Er reagierte ebenso schnell wie die anderen.

Keine Sekunde zu früh.

Ein gewaltiger Ruck. Riesen­fäuste schüttelten das Fahrzeug.

Toy Fong schlitterte davon, kollidierte mit anderen im Projek­tionsraum, knallte gegen die Wand, rutschte daran vorbei, kam nicht mehr zum Halten.

Ein Funkenregen entstand um ihn herum.

Einen Augenblick lang glaubte er, von dem Feuer verbrannt zu werden.

Doch es war nur eine Projekti­on. Die Schiffswände hielten. Vielleicht gab es besondere Schutzvorrichtungen?

Die Glut verstärkte sich.

Und dann purzelte er kopfüber durch den Raum.

Geistesgegenwärtig krümmte er sich zusammen und schützte den Kopf mit den Armen.

So war der Aufprall nicht so hart. Diesmal verlor er nicht das Bewusstsein.

Plötzliche Stille an Bord.

Toy Fong wagte kaum, den Blick zu heben.

Schwärze, als hätte ein Samt­tuch das Schiff eingehüllt. Doch dieses Tuch wies Löcher auf.

Feuer brannte sie größer.

Es irrlichterte jenseits, fraß das Tuch, die Dunkelheit, mehr und mehr hinweg.

Ein glosendes, strahlendes Universum, alles erkennbar in unnatürlicher Schärfe. Die Kon­traste waren so hart, dass es in den Augen weh tat.

Das Schiff war zur Ruhe ge­kommen, lag auf einer spiegeln­den Fläche unbekannten Materi­als. Auf den ersten Blick wirkte sie völlig glatt, doch eine kom­plizierte Kristallstruktur zeichnete sich ab.

»Die atomare Struktur eines Eisenmoleküls, dass niemals völ­lig rein ist. Fremdatome haben sich mit Eisenatomen verbun­den«, murmelte jemand ehrfürch­tig.

Eine weibliche Stimme.

Toy Fong wandte erstaunt den Blick und sah Martha Hendrix neben sich stehen.

Er wollte auf ihre Worte einge­hen, wollte sie bitten, dass sie ihn nicht wieder verließ. Brachte je­doch keinen Ton heraus.

Deshalb sah er sie nur an.

Gedankenverloren nickte sie.

»Dabei ist dies hier nur ein Ausschnitt des Moleküls, was schon die Ebenheit der Oberflä­che beweist. Ein wenig sind wir über unser Ziel hinausgestoßen. Die Verkleinerung erfolgte stärker als von uns erwünscht.«

Jetzt wagte Toy Fong doch et­was.

»Auf was ist die Panne zurück­zuführen? Wurde nicht alles sorg­fältig genug vor Antritt der Reise überprüft?«

Sie lächelte, schüttelte ihr langes, dunkelblondes Haar in den Nacken.

Ihre Augen blitzten.

In der Vision war sie Toy Fong nicht annähernd so schön vorge­kommen. Aber er hatte sie da als unbeteiligter Beobachter gesehen und betrachtete sie jetzt als Mann!

»Wir wussten, was auf uns zu­kommen würde. Natürlich sind alle Möglichkeiten mit einbezogen worden. Auch ist es nicht die erste Verkleinerung. Es gab Vor­experimente, die zur Zufrieden­heit aller verliefen. Allerdings haben wir dabei nie so viel gewagt wie jetzt!

Niemals zuvor gelang es, das Atom zu erforschen, es dazu zu bringen, sich zu verkleinern bis auf die passende Größe. Wir sind die ersten. Magie ermöglicht es - Magie und die Besonderheit der Besatzung.

Dies alles hier bedeutet ein Novum in der Geschichte der Menschheit. Die Schwarze Eminenz ist unser aller Herr und Führer. Er hat uns mitgegeben, was wir brauchen und wir handeln in seinem Sinn - nicht als seine Sklaven und nicht als seine Diener, sondern als seine Verbündeten. Es ist eine Sache auf Gegenseitigkeit.

Wir rechneten mit Pannen und kalkulierten das Risiko mit ein. Unbekanntes Land wird betreten. Begegnen wir den Gefahren und meistern wir sie!«

Enthusiastisch hatte sie die letzten Sätze gesprochen.

Toy Fong war mehr als fas­ziniert.

Diese Frau war nicht nur überaus attraktiv und ein wahrer Traum, sondern auch klug und selbstbewusst. Dabei nicht über­dreht, sondern weiblich warm und von gesteuerter Leidenschaft. Sie wusste, was sie wollte und hatte die Dinge im Griff.

Und damit war sie anders als in der Vision!

Was hatte die Veränderung bewirkt? Das Erlebte?

Nicht einen Bruchteil der Angst legte sie an den Tag, die sie damals verspürt hatte.

Als wäre sie eine vollkommen andere.

Toy Fong schaute sich ver­stohlen um.

Keiner der Besatzung war mit einem normalen Menschen zu vergleichen. Wie hatte Martha ge­sagt: Die Besonderheit der Be­satzung!

Toy Fong wusste, was sie da­mit ausdrücken wollte!

Mit einem freundlichen Nicken wandte sich Martha Hendrix von ihm ab und widmete sich wieder ihrer Aufgabe, die sie aus dem Projektionsraum hinaus führte.

Toy Fong nahm sich zu­sammen und betrachtete die bi­zarre, unwirklich erscheinende Landschaft draußen.

Ein Eisenmolekül, auf dem sie gelandet waren!

Toy Fong löste sich von dem Anblick und verließ den Projek­tionsraum.

Inzwischen kümmerten sich einige der Forscher um den Toten des Kollektivs.

Toy Fong interessierte sich sehr für den Vorgang. Er beob­achtete genau. Nichts entging ihm.

Alle wurden aus ihren Kästen befreit, die Leiche abtransportiert.

Toy Fong merkte sich das Gesicht. Er wusste selbst nicht genau, warum er das tat.

Andere nahmen die alten Plätze ein - dreizehn an der Zahl. Es geschah wortlos. Die Gesichter der Beteiligten wirkten wie ver­steinert. Sie ließen nicht er­kennen, was sie über den Tod eines der ihrigen empfanden.

Toy Fong fühlte sich deplaciert und trat in den Gang hinaus. Forscher nahmen die Verkleidung der Schaltwand ab und begannen mit der Reparatur.

Die Anzeige an der Transport­kabine leuchtete hell. Die Röhre war in Betrieb.

Wohin wurde die Leiche ge­bracht?

Das Schiff blieb nicht ohne Aufsicht. Noch immer beschäftig­ten sich viele mit Auswertungen, die vorangegangenen Ereignisse betreffend. Zum erstenmal wurde deutlich, dass da außer dem Steuerungskollektiv noch etwas sein musste.

Aber was?

Eine Art Elektronengehirn?

Toy Fong konnte sich das nicht so recht vorstellen - nach allem, was er an Bord des Schif­fes erlebt hatte.

Vielleicht Seine Schwarze Eminenz persönlich?

Auch das glaubte er nicht. Er nahm eher an, dass Seine Schwarze Eminenz im Hin­tergrund blieb. Er überließ das Risiko seinen Leuten, die zwar von sich - laut Martha Hendrix - behaupteten, frei zu sein in ihrem Willen, die aber trotzdem von ihm abhängig blieben.

Wie immer diese Abhängigkeit auch aussehen mochte!

Toy Fong hätte gern einen der Männer und Frauen angehalten, um mehr zu erfahren, doch das verkniff er sich. Er durfte nicht mehr länger zögern und verließ deshalb diese Ebene.

Unmöglich konnten hier alle Besatzungsmitglieder beschäftigt sein. Es musste noch mehr ge­ben.

Gab es eigentlich so viele Stockwerke, wie es die Transport­röhre vermuten ließ?

Oder waren die Nummernbe­zeichnungen ohne direkten Be­zug?

Zunächst begab er sich zur Ebene sieben. Prompt traf er auf einen Mann, der sich eben an­schickte, die Transportröhre zu betreten.

Toy Fong hielt ihn am Arm auf.

»Ich möchte zum Aufenthalts­raum. Wie gelange ich hin?«

Es war eine Frage ins Blaue.

Der Mann warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Schließ dich mir an, denn ich habe den gleichen Weg!« forderte er Toy Fong auf.

Toy ließ es sich nicht zweimal sagen.

Unterwegs sprachen sie kein Wort.

Bei Nummer einhundertdrei­ßig stoppte die Transportröhre und ließ beide hinaus.

Diesmal betraten sie keinen Gang, sondern einen großen Raum, der mindestens achtzig Menschen fasste. Überall beque­me Sitzmöglichkeiten. Ein paar Männer und Frauen saßen disku­tierend im Kreis.

Als die beiden Neuankömm­linge näher gingen, wurde klar, um welches Thema es ging: sie unterhielten sich über die Panne.

»Es war gewiss nicht der letzte Zwischenfall«, sagte einer gerade. »Wir haben uns unbekannten Dingen anvertraut und uns selber zu Versuchskaninchen gemacht. Schwarze Magie kennt ihre eigenen Gesetze. Wir sind dabei, sie für unsere Zwecke auszu­nutzen und entsprechend auszu­legen. Die Grundlage dazu war meines Erachtens zu unausgego­ren. Wer weiß, was aus uns allen noch wird.«

Der Mann, der mit Toy gekom­men war, setzte sich zu den anderen. Toy Fong blieb stehen.

Einer hob den Blick und be­merkte Toy. Er stand auf und kam herüber.

»Wer bist du?« fragte er. »Ich habe dich noch nie gesehen und doch kommst du mir bekannt vor.«

»Toy Fong.«

Der Mann nickte. »Warst du oben in der Zentrale und hast alles mitbekommen?«

Toy Fong nickte. »Ja, das habe ich!«

»Wie sieht es aus?«

»Die Reparaturen sind voll im Gange. Wir landeten wunschge­mäß auf dem Eisenmo­lekül.«

Toy Fong tat so, als gehörte er zu den Anwesenden. Es fiel ihm nicht einmal schwer - und sie schienen es zu akzeptieren.

Verwundert runzelte er die Stirn.

Warum erkannte man ihn nicht als Fremden? Wieso be­hauptete der Mann, er wisse von ihm?

Kam denn keiner auf die Idee, dass er ein fremder Eindringling sein könnte, der hier nichts zu suchen hatte?

Oder war seine Mitreise von vornherein eingeplant gewesen?

Der Mann wiegte bedächtig seinen Kopf.

»Mir gefällt die Sache nicht. Eigentlich sind wir alle dafür, umzukehren. Ob dafür über­haupt noch eine Möglichkeit be­steht? Zuerst dachten wir, nichts verlieren zu können, aber das war gewiss ein Trugschluss. Die Ga­rantien sind recht vage, in der Praxis betrachtet.«

Toy Fong hatte keine Gelegen­heit zu einer Erwiderung, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Transportröhre.

Das kreidebleiche Gesicht eines Mannes wurde sichtbar. Der Mann torkelte in den Aufent­haltsraum. Er röchelte und ein Blutfaden rann ihm aus dem Mundwinkel.

Direkt vor Toy Fong und sei­nem Gesprächspartner stürzte er hin.

Die Leute waren fassungslos. Keiner reagierte.

Toy Fong fasste sich als erster. Er beugte sich über den Mann - und erschrak zutiefst.

Ein spitzer Gegenstand hatte sich in den Rücken des Unglück­lichen gebohrt. Vergeblich tastete Toy nach dem Puls.

Der Mann war tot!

Sie sprangen von ihren Sitzen und eilten herbei. Fassungslos schauten sie auf den toten Ge­fährten in ihrer Mitte.

Toy Fong brach der kalte Schweiß aus.

Er blickte auf die Leiche. Mord?

Wenn ja, würde man vielleicht ihn, Toy Fong, als ersten ver­dächtigen.

Unbeobachtet zog er sich zur Transportröhre zurück. Nicht ein­mal ein Blutfleck. Toy Fong regis­trierte es nur am Rande.

Er begab sich zur Zentrale. Die Nachricht von dem Mord überholte ihn. Als er ankam, war man bereits im Bilde. Die Gesich­ter der Männer und Frauen zeig­ten Betroffenheit.

Toy Fong hörte, wie einer sag­te: »Wir müssen herausfinden, mit wem er zusammen war!«

Ein anderer schnappte: »Noch wichtiger erscheint mir die Unter­suchung der Frage, wo wir über­haupt landeten. Das ist jedenfalls nicht das Eisenmolekül, dass un­ser Ziel war!«

Toy Fong erschrak. Er lausch­te weiter. Der kurze Dialog wurde fortgeführt: »Das ist doch nicht möglich!«

»Und ob! Ich habe bereits Nachricht an den Großen Geist gegeben. In dieser Sekunde er­fährt es auch das Kollektiv im Steuerraum. Natürlich ist es ein Eisenmolekül, doch wissen wir nicht, wo es sich befindet. Außerdem ist das Schiff von starken magischen Kraftfeldern eingehüllt. Wir sind bewegungs­unfähig und werden von einer unbekannten Strahlung bombardiert. Phänomene, die absolut neu für uns sind. Es fehlen sogar die Begriffe dafür.«

Über Lautsprecher meldete sich das Kollektiv.

»Achtung, Durchsage an alle Ebenen des magischen Schiffes! Ich wiederhole: Durchsage an alle! Bitte bewahrt Ruhe! Unvor­hergesehenes ist eingetreten. Die Strahlung, mit der wir konfron­tiert werden, ist unbekannten Ur­sprungs. Wir können sie nicht abschirmen. Beobachtet euch selber! Bei den geringsten Anzei­chen einer Veränderung müsst ihr unverzüglich mit der Steuerzentrale Kontakt auf­nehmen oder mit dem Großen Geist! Ab sofort steht das Schiff im Alarmzustand. Sämtliche Frei­schichten haben sich bereitzuhal­ten!«

Die sich unterhielten, trennten sich.

Toy Fongs Gedanken jagten im Kreis.

Noch achtete niemand auf ihn und wenn er sich bemerkbar machte, akzeptierte man ihn als einen der Besatzung. Jetzt aber befand sich das Schiff im Alarm­zustand. Wie lange dauerte es, bis man sich seiner annehmen würde?

Er verließ die Kommando­ebene und wählte willkürlich eine andere: einhundertsiebenundvier­zig.

Der bekannte Gang. Ebenfalls drei Türen. Sie waren ge­schlossen. Toy Fong öffnete eine. Dahinter lag die Wohnkabine eines Besatzungsmitglieds. Nur ein Tisch und Polster. Der Hin­tergrund wurde von dem Bild einer Wüstenlandschaft be­herrscht. Es wirkte so echt, als führte ein Fenster auf diese Landschaft hinaus.

Auch hier triumphierte Magie.

Das ganze Schiff schien eine eigene magische Sphäre zu besitzen.

Ein Umstand, der Toy Fong schon seit langem klar war.

Toy Fong wollte sich wieder zurückziehen, als er von hinten angerempelt wurde. Er stolperte quer durch die Kabine, traf gegen das Bild, warf sich katzengleich herum.

Ein Mann drang auf ihn ein, wortlos.

Toy Fong sah eine große Faust auf sich zurasen. Er drehte den Kopf rechtzeitig zur Seite und wurde so von dem mörderischen Schlag lediglich gestreift.

Dann trat er in Aktion.

Toy Fong war ein durch­trainierter Sportler. Er fühlte sich in fast allen Sportarten zu Hause. Außerdem war er in den asia­tischen Kampftechniken be­wandert. Aber so schwere Ge­schütze brauchte er bei diesem Gegner gar nicht aufzufahren.

Sein Knie zuckte hoch und traf den Angreifer. Stöhnend krümmte sich dieser zusammen.

Toy Fong hasste Gewalt und setzte sie nur ein, wenn es unum­gänglich war.

Noch drei Männer sprangen hinzu. Sie rissen ihren Kame­raden zurück und nahmen eine drohende Haltung gegenüber Toy Fong ein.

»Was hat das zu bedeuten?« keuchte Toy.

Einer deutete mit dem Dau­men auf ihn und wandte sich an die anderen. »Kennt ihn jemand?«

»Ja, ich sah sein Bild. Er ge­hört nicht zur Besatzung, wie ich mich erinnere. Er ist ein Lebender!«

»Ein Lebender?« echote ein anderer erschrocken. »Also, das glaub ich nicht. Ich habe ihn je­denfalls noch nie zuvor gesehen.«

Der Toy Fong überfallen hatte, knurrte wütend: »Was suchst du überhaupt hier?«

Toy Fong runzelte die Stirn. Die Situation hatte er sich eindeutig selbst eingebrockt. Er hätte nicht einfach die Kabine öff­nen sollen. Hier hatte er nichts verloren. Benahmen sich die Männer deshalb so feindselig?

Er legte sich eine Antwort zu­recht, die einigermaßen plausibel klang.

Den Männer dauerte es zu lange. Der Sprecher von ihnen packte Toy vor der Brust.

Gefährlich leise zischte er: »Du schnüffelst hier herum, wie? Von wem hast du den Auftrag?«

»Von niemandem! Ich - ich war einfach nur neugierig.«

»Weißt du, wie man zu meiner Zeit mit Leuten wie dich umge­gangen ist?«

Vergeblich suchte Toy Fong nach einem Ausweg. Die Über­macht war groß. Natürlich hätte er sich gewaltsam freikämpfen können, aber das widerstrebte ihm aus verständlichen Gründen.

Und was war geschehen, dass die bisher so friedlichen Be­satzungsmitglieder sich auf ein­mal so aggressiv zeigten?

Die Antwort bekam er schnell: »Vielleicht ist er der gesuchte Mörder?« fragte der Sprecher der Gruppe.

Ein anderer winkte ab. »Das ist eine reine Vermutung, Sydan, mehr nicht. Sollen wir uns gegen­seitig verdächtigen? Das Schiff befindet sich in einem magischen, unerforschten Strahlenfeld, dass uns verändert. Merkt ihr es nicht? Seine Schwarze Eminenz schenkte uns das Leben und jetzt greift etwas in unsere Psyche ein. Wir haben keine Ahnung, wie das Phänomen zustande kommt, noch wie wir die Gefahr abwenden können. Eine Rückkehr erscheint im Augenblick ebenfalls unmöglich. Die Expedition ist ein Himmelfahrtskommando.«

Sydan griff in die Tasche sei­ner Bordmontur und brachte ein Messer zum Vorschein. Seine Augen waren plötzlich blutun­terlaufen.

»Inzwischen gab es an Bord bereits drei Morde. Die Wiederbe­lebung versagte. Es sollen keine weiteren Morde mehr folgen. Da­für sorge ich jetzt!«

Blitzschnell stieß er mit dem Messer zu.

Die anderen wichen erschro­cken zurück.

Toy Fong war darauf gefasst gewesen. Er sprang zur Seite.

Der Angriff ging ins Leere.

Toy Fong packte den Arm des Mannes, den die anderen Sydan nannten und bog ihn zurück.

Sydan schrie schmerzerfüllt. Das Messer entglitt seiner rechten Hand.

Rasch bückte sich Toy Fong und nahm die Waffe an sich. Er wog sie bedächtig.

»Ich wusste nicht, dass euch ein Menschenleben so wenig be­deutet«, sagte er zerknirscht. »Ich bin ein Lebender. Kennt ihr auch den Grund meiner Anwesenheit?«

Es war eine Frage aufs Gerate­wohl, doch Toy Fong hatte damit wenig Erfolg.

Sydan ignorierte das Messer und holte mit der Faust aus.

Die anderen fielen ihm in den Arm. »Jetzt ist aber genug!«

»Lass mich, Paal! Du sollst mich loslassen!«

»Nein, Sydan, komm zu dir! Du warst im Begriff, wahres Leben zu töten. In dieser Sphäre ist der Tod dieses Menschen end­gültig. Das weißt du. Es gibt kein Zurück mehr für ihn.«

Sydans Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Das gilt möglicherweise auch für uns!«

Aber dann kam er plötzlich zu sich. Verwirrt schüttelte er den Kopf, fuhr sich über die Augen, als erwache er aus einem bösen Alptraum.

»Was - was ist bloß los mit uns?«

Toy Fong übergab das Messer an Paal. »Das als Zeichen dafür, dass ich den Frieden unter uns wünsche. Mit den Morden habe ich wirklich nichts zu tun.«

Sydan betrachtete ihn. Ein Rest von Misstrauen glomm in seinen Augen.

Wahrscheinlich kamen die Strahlenschauer sporadisch. Wann würde sich Sydan wieder in einen vor Hass Wahnsinnigen verwandeln?

In diesem Augenblick ertönte von draußen ein marker­schütternder Schrei.

Geschlossen liefen sie hinaus.

Auf dem Gang war nichts zu sehen. Die Transportröhre war geschlossen.

Abermals dieser Schrei, der den Männern durch Mark und Bein ging.

Eine Frau hatte ihn ausge­stoßen und er war direkt aus einem der verborgenen Lautspre­cher gekommen.

Paal rief, was alle anderen dachten: »Die Zentrale!«

Ja, dort ging etwas vor!

Die Wände begannen zu vibrieren.

Die Männer rannten zur Transportröhre, doch die Öffnung blieb geschlossen.

Das Licht, dass aus nicht fest­stellbaren Quellen drang, fla­ckerte und dann erlosch es.

Toy Fong spürte eine kalte Hand, die sich um seine Kehle legte. Sie packte unbarmherzig zu.

Verzweifelt spannte er seine Halsmuskeln, was ihm aber nicht viel nutzte. Die Hand war wie aus Eisen.

Sterne tanzten vor Toys Augen auf und ab. Verzweifelt setzte er sich zur Wehr.

Kein Geräusch war um ihn herum außer seinem eigenen Keuchen.

In diesem Moment flammte das Licht wieder auf.

Er war allein mit einem Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte.

Sein Gegner war groß und breitschultrig und in den Augen blitzte der reine Wahnsinn.

Und dann ließ er plötzlich los - gerade noch rechtzeitig.

Toy Fong taumelte gegen die Gangwand und betastete rö­chelnd seinen schmerzenden Hals.

Der Mann hatte nicht freiwillig von ihm abgelassen. Als er jetzt wie in Zeitlupe vornüber fiel, er­kannte Toy Fong das Messer in seinem Rücken.

Die Gewalt eskalierte an Bord.

Deutlicher als zuvor zeigten sich die negativen Auswirkungen der Schwarzen Magie.

Paal hatte das Messer ge­worfen. Paal, Sydan und der dritte Mann hatten sich in die Kabine zurückgezogen, nachdem das Licht ausgefallen war.

Mit dem Messer hatte Paal Toy Fong das Leben gerettet!

Jetzt starrte Paal fassungslos auf seine leere Rechte.

»Ich kann es nicht begreifen«, murmelte er brüchig. »Wie soll das weitergehen?«

Die Transportröhre funktionierte wieder. Sie öffnete sich. Eine Frau sprang in den Gang hinein. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Die Augen glühten wie Kohlestücke. Sie rannte auf Paal zu, warf sich an seine Brust. Haltlos schluchzte sie.

Er beruhigte sie, indem er über ihre langen Haare strei­chelte.

Sie stammelte: »Ich komme ge­rade aus der Zentrale. Die fielen plötzlich übereinander her wie die Tiere. Auch das Kollektiv im Steuerraum spielt verrückt.«

Paal horchte auf. »Das... Kollektiv?« Er erschrak. »Aber dann... Die sind direkt verbunden mit dem Großen Geist. Kein Wunder, dass wir das magische Feindfeld nicht abwehren können. Ein Teufelskreis, den wir durchbrechen müssen.«

Er schob die Frau von sich und winkte den anderen zu.

Toy Fong folgte wortlos.

Er warf einen kurzen Blick auf den Toten. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Ja, die Gewalt eskalierte. Wenn nichts geschah, brachten sich die Besatzungsmitglieder gegenseitig um.

Mit der Transportröhre be­gaben sie sich zur Ebene zwei­hundertvierunddreißig. Die Tür blieb geschlossen. Sie konnten es nicht ändern. Wenn sie das Ohr gegen die Wand legten, hörten sie Kampfeslärm. Also war es schlimmer noch, als befürchtet.

»Verdammt!« fluchte Sydan. »Warum geht die Tür nicht auf?«

»Eine Art Sicherheits­schaltung«, belehrte ihn Paal. »Der Große Geist hat eingegriffen.«

Aber dann bildete sich eine Öffnung.

Ein Mann und eine Frau drängten sich zu ihnen herein. Die Frau blutete aus einer Kopf­wunde und wurde von ihrem Be­gleiter gestützt. »Nur schnell weg hier!« rief der Mann panikerfüllt.

»Das geht nicht!« brüllte Paal. »Merkt ihr denn nicht, dass wir das Kollektiv vom Großen Geist trennen müssen? Es ist unsere einzige Chance, wenn wir das alles überleben wollen. Der Große Geist kommt gegen das Strah­lungsfeld nicht an, weil das Kollektiv ein wesentlicher Störfak­tor für ihn darstellt!«

Der Mann und die Frau schauten ihn verständnislos an.

Als Paal mit Toy Fong, Sydan und den zwei Männern die Transportröhre verließ, blieb das verstörte Pärchen zurück.

Sie flohen das Kampfgetüm­mel.

Paal bildete die Vorhut.

Toy Fong spürte ein eigen­artiges Ziehen in seinem Kopf. Waren das die Auswirkungen des magischen Feldes?

Oder vielleicht war es auf die Bemühungen des Großen Geistes zurückzuführen - was immer das auch war?

Er wollte Sydan an seiner Sei­te darauf ansprechen, aber der hörte gar nicht hin.

Sie bahnten sich einen Weg durch das Durcheinander. Das negative Strahlungsfeld wirkte sich nicht auf alle im gleichen Maße aus. Von ihnen war Sydan am gefährdetsten.

Vor dem Eingang zum Steuer­raum krümmte er sich plötzlich stöhnend zusammen.

Paal reagierte ohne Skrupel. Es war das Gebot der Stunde, rücksichtslos zu handeln, um zu retten, was noch zu retten war.

Er schlug Sydan bewusstlos.

Sydan fiel wie ein gefällter Baum und blieb regungslos liegen.

»Ich war zu Lebzeiten einmal in der Legion«, sagte Paal ent­schuldigend zu Toy Fong.

Er wandte sich ab und machte sich an einem der Kästen zu schaffen. Die Frau, die darin steckte, war tot. Nur noch die Hälfte der Angehörigen des Kollektivs lebte.

Paal und die anderen un­terbrachen dis Verbindungen zum Großen Geist.

Toy Fong blickte verständnis­los zu. Er hatte eher an eine technische Verbindung gedacht, aber es handelte sich um eine magische.

Symbole wurden gelöscht oder verändert.

Die Männer und Frauen, die das magische Schiff steuerten, verfielen in einen bleiernen Schlaf.

»Begründung - Begründung - Begründung...«

Eine mächtige Stimme, die di­rekt über ihren Köpfen erscholl.

Es war die Stimme des Großen Geistes.

Toy Fong wusste es, ohne dass es ihm jemand zu sagen brauch­te.

»Ein unbekanntes Strahlungs­feld verändert die Psyche der Menschen. Wir sind zu Lebenden geworden dank Seiner Schwarzen Eminenz. Du sprachst auf die magische Energie nicht an. Stelle heraus, wo seine Ursache liegt und versuche, es abzuschirmen!« befahl Paal.

Toy Fong spürte Bewunderung für ihn. Paal bewies trotz dem Wirrwarr ringsum einen klaren Kopf.

Welche Rolle spielte er im Be­satzungsteam sonst?

Für Augenblicke war es still. Der Große Geist reagierte nicht sofort.

Und dann hatte Toy Fong das Gefühl, eine Faust packe ihn und quetsche ihn zusammen.

Die Schmerzen kamen so plötzlich und waren so stark, dass er den Boden unter den Fü­ßen verlor.

Den anderen erging es of­fensichtlich ebenso.

Anstatt das Feld abzuwehren, schien sich der Große Geist im Gegenteil gegen sie zu wenden.

Das war Toy Fongs letzter Ge­danke. Dann fiel sein Bewusst­sein in den Abgrund des Vergessens.

8

»Steuerungskollektiv - Steue­rungskollektiv - Steuerungs­kollektiv...« Dieses immer wieder­kehrende Wort wurde Bestandteil seines Traumes. Ihm war, als wa­tete er durch eine zähe Brühe, über sich einen ewig roten Himmel. Vor seinem geistigen Auge tauchte das bizarre Wrack eines Segelschiffes auf. Es stand in hellen Flammen. Das Feuer leckte die Masten empor.

Aber nein, er befand sich zwar an Bord eines Schiffes, aber es sah gewiss nicht so aus...

»Steuerungskollektiv!«

Toy Fong warf den Kopf hin und her.

Schlagartig kehrte er in die Wirklichkeit zurück.

Eine zweite Stimme: »Automatik! Die Überwachung der Funktionen erfolgt durch den Großen Geist!«

Die erste Stimme, die direkt in seinem Gehirn aufgeklungen war, verstummte.

Der Mann sprach weiter: »Schwerpunktmäßig Strahlungs­feld absorbieren! Ursache fest­stellen! Reparaturen dringend er­forderlich. Kein Steuerungs­kollektiv, bis Gefahr erkannt und beseitigt.«

Toy Fong hob den Kopf. Er lag auf dem Rücken und schaute zu dem Mann hinüber, der eben gesprochen hatte.

»Bestätigung!« gab der Große Geist zurück. »Auswertung erfolgt nach Konzentration.«

Der Mann nickte. Er strahlte Ruhe aus und schien die Situati­on voll im Griff zu haben.

Mühsam rappelte sich Toy Fong vom Boden auf. Auch Sydan und Paal erhoben sich.

Die Überlebensmaschinen für das Steuerungskollektiv waren of­fen. Fünf Tote, die eben abtransportiert wurden. Die anderen Menschen standen in einer Gruppe herum.

»Du bist Toy Fong?«

Toy schaute den Fragenden an. »Ja, der bin ich!«

Der Mann streckte seine Rech­te aus. Toy Fong ergriff sie zö­gernd.

»Kasor, der Beauftragte Seiner Schwarzen Eminenz!«

Die Ruhe, die Kasor ausstrahl­te, sprang auf Toy Fong über. Er hatte auf einmal das Gefühl, wirklich mit zur Besatzung zu gehören.

Seine letzten Erlebnisse waren weit weg. Für ihn zählte nur noch das Schicksal des magischen Schiffes. Es war für ihn uninter­essant, dass er unfreiwillig an Bord gekommen war. Auch wie das hatte geschehen können!

Mit einem Händeschütteln hatte Kasor Toy Fong zu einem Mitglied der Gemeinschaft ge­macht.

Aus irgendeinem Grund kam Toy Fong die Widersinnigkeit der Situation nicht zu Bewusstsein.

»Auswertung!« meldete sich der Große Geist.

Eine Flut von Gedanken und Begriffen stürzte auf die Men­schen in der Zentrale ein.

Kasor schien sie zu verstehen. Er sagte laut zu Toy Fong: »Strahlungsfeld kam nicht von außerhalb. Das Schiff ruht auf dem Eisenmolekül. Alles ruhig. Die Regelsysteme für die Energie­speicher erwiesen sich als zu schwach. Da hat der Große Geist versagt. Die magische Energie war es, die sich selbständig machte. Das führte zu Neben­effekten während der erfolgten Verkleinerung.«

Toy Fong schüttelte den Kopf. Dann lauschte er weiter.

»Das Phänomen Strahlungs­feld kann nicht erklärt werden. Die Macht des Großen Geistes erweist sich als nicht hinlänglich. Die Energiespeicher absorbierten die Strahlung nach anfänglicher Mehrabgabe. Nachhaltige Beein­trächtigung der Besatzung nicht feststellbar, jedoch unterschwel­lige Langzeitwirkung nicht ganz auszuschließen. Es ist dies auf die Besonderheit der Besatzung zurückzuführen.«

Das war präzise. Kasor gab sich zufrieden.

Er nickte Toy Fong zu.

»Hast du keine Beeinträchti­gung gespürt?«

Toy schüttelte den Kopf.

Daraufhin wandte sich Kasor an Paal.

»Wir kümmern uns um den Großen Geist. Du musst auf deine Freischicht verzichten und unterstützen.«

Paal nickte nur.

Kasor sprach mit lauter Stimme zum Großen Geist: »Wie viel Verluste?«

Die Frage klang, als erkundig­te er sich über die Wetterlage. Doch wer ihn dabei beobachtete, erkannte, wie eisern sich der Be­auftragte Seiner Schwarzen Eminenz beherrschen musste.

»Sechzehn Tote, achtund­neunzig Verletzte. Wiederbele­bung stößt auf Schwierigkeiten. Magische Sphäre hat sich verändert, ohne dass die Ver­änderung direkt erfasst werden kann. Vor allem die Belebten aus früheren Zeiten sind negativ be­troffen.«

Jemand trat in die offene Tür. Toy Fong hob den Kopf und erschrak.

Es war einer der Toten - der Mann, dessen Gesicht er sich ge­merkt hatte!

»Inzwischen wurden fünf frei­gegeben. Einziger Erfolg«, erklärte der Große Geist weiter.

Kasor atmete tief durch. Seine Nasenflügel blähten sich dabei. Er winkte Paal zu.

Toy Fong hatte zwar keine Einladung erhalten, doch auch er schloss sich an.

Wortlos tat er das. Einen einzigen Blick warf er zurück - auf den zu neuem Leben erwach­ten Toten!

Sie gingen zur Transportröhre, betraten sie.

»Wie viele dieser Röhren gibt es eigentlich?« fragte Toy Fong unterwegs.

Kasor erstaunte die Frage überhaupt nicht. Er war besser über die Person des Doktors in­formiert als alle anderen.

»Eine«, gab er bereitwillig Aus­kunft.

»Sind die einzelnen Ebenen übereinander gestaffelt?«

Kasor schüttelte den Kopf. »Es gibt keine eigentlichen Stockwer­ke. Die Ausdehnung des ma­gischen Schiffes ist nicht real in Zahlen zu kleiden.«

Er klopfte mit der Hand gegen die Wand.

»Es sieht aus wie Metall, ist aber keines. Seine Schwarze Eminenz hat es geschaffen. Wir wissen alle nicht viel darüber. Vielleicht besteht es aus ma­gischer Energie? Das Schiff ist eine zu Materie gewordene Idee. Ähnliches gilt auch für die Be­satzung. Wir sind selbständige Wesen, haben einen eigenen Willen. Dafür hat Seine Schwarze Eminenz gesorgt. Und der Große Geist ist nicht unser Herr, son­dern unser Diener. Es sind seine Gedanken, die Realität schaffen.«

Es klang in Toy Fongs Ohren orakelhaft. Vor allem beantworte­te die Ausführung bei weitem nicht alle seine Fragen.

Er hatte vielmehr das Gefühl, dass jede Antwort nur noch neue Rätsel entstehen ließ.

Sie gelangten an ihr Ziel.

Die Transportröhre öffnete sich. Die drei Männer traten in einen großen Vorraum.

Dies hier fällt ein wenig aus dem Rahmen, dachte Toy Fong.

Sie befanden sich auf der Ebene eins, in dem Teil, in dem die magische Energie erzeugt wurde.

Das war, was Toy Fong verstanden hatte.

Voll gespannter Erwartung blickte er sich um. Was er zu­nächst sah, enttäuschte ihn: nur kahle Wände und ein breiter Durchgang.

Leises Summen drang an sein Ohr.

Er folgte Kasor und Paal.

Mehrere Einheiten waren hier miteinander verschmolzen.

»Ist Ebene eins wirklich ganz unten?«

Kasor schüttelte den Kopf. »Begreife, Toy Fong, dass es hier kein Oben und Unten im eigentli­chen Sinn gibt!«

»Dann ist es auch nicht möglich, den genauen Ort zu be­stimmen, an dem sich die Zentra­le befindet - mithin auch unnötig, danach zu fragen?«

»Genau!«

Sie blieben in dem Durchgang stehen.

Toy Fong fühlte sich von dem Erlebten überwältigt.

Egal, was er auch zu sehen erwartet hatte - die Wirklichkeit war anders, doch phantastischer.

Was war Seine Schwarze Eminenz für ein unbegreifliches Wesen, dass er dies hier hatte schaffen können?

Toy Fong fand schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Er musste sich eingestehen, dass die Schwarze Eminenz nicht ganz so perfekt war, wie er sich das einre­dete. Schließlich war es zu bösen Pannen gekommen!

Beinahe hätte es sie das Leben gekostet!

Kasor deutete mit dem ausge­streckten Arm zu Boden.

Das Material wirkte wie Milch­glas. Darunter hingen genau zwanzig Behälter. Sie waren alle­samt fünfeckig und auch in einem Fünfeck angeordnet. Da­durch entstand das Muster eines Drudenfußes.

Toy Fong spürte eine leichte Gänsehaut.

Kasor betrat den milchigen Boden, wurde dicht gefolgt von Paal.

Toy Fong zögerte, ehe er sei­nen Fuß auf das eigenartige Ma­terial setzte. Es fühlte sich weich und nachgiebig an.

Einmal bückte er sich und be­tastete es mit der Hand. Dabei durchzuckte ihn ein leichter elektrischer Schlag.

Kasor beobachtete ihn lä­chelnd. »Es ist reine magische Energie, gebändigt und über­wacht vom Großen Geist, der dies alles ermöglicht. Du siehst, wie wichtig er ist. Man könnte das Schiff als seinen Körper bezeich­nen und wir hausen in seinem In­neren.«

Toy Fong gefiel der Gedanke ganz und gar nicht.

Er betrachtete die zwanzig eigenartigen Behältnisse zu sei­nen Füßen. Ihre wahre Größe konnte er nicht abschätzen. Man­chmal verschwammen ihre Kon­turen.

Ihm fiel etwas ein. »Vielleicht befinden sich die Speicher gar nicht im Diesseits? Sind sie Bestandteile einer anderen Sphä­re?«

Kasor zog die Augenbrauen hoch als Zeichen seines Erstaunens.

»Ich wusste, dass du in ma­gischen Dingen bewandert bist. Trotzdem überraschst du mich, denn dies alles hier muss dir fremd sein. Du denkst logisch. In der Tat sind die Speicher von wahrhaft gigantischer Größe, unschätzbar, denn sie befinden sich in einem jenseitigen Raum, geschaffen durch die Kraft, die sie bindet. Das magische Feld, das hier den Boden bildet, stellt gleichzeitig ein Tor zu den Speichern dar. Hier hatte laut Aussage des Großen Geistes die verhängnisvolle Strahlung ihren Ursprung.

Wir bedienen uns Mittel, die in vielen Zügen als völlig neu ange­sehen werden können. Doch das hast du ja schon mitbekommen. Bei früheren Testverkleinerungen benutzten wir weniger Masse, um nur einen Unterschied aufzu­zeigen. Der Vorgang war ein anderer. Diesmal sollte es uns erstmalig gelingen, das Atom in seiner Struktur vor Ort zu erfor­schen. Dazu waren diese Neue­rungen erforderlich. Leider stellte sich heraus, dass wir die Dinge nicht so perfekt beherrschen wie anzunehmen war. Auch der Große Geist stieß an seine Gren­zen. Hoffentlich geschieht bei der zweiten Phase nicht abermals ein schlimmes Unglück!«

»Zweite Phase?«

»Ja, die Verkleinerung konnte nicht auf einmal erfolgen. Das Eisenmolekül ist unsere zweite Ausgangsbasis. Mit unseren Mit­teln war es unmöglich, das Atom sichtbar zu machen - bisher je­denfalls. Es wäre erforderlich ge­wesen, denn wir steuern nur Ziele an, die fasslich sind. In unserem jetzigen Zustand, so stark ver­kleinert, muss es möglich sein, die zweite Phase ausreichend vorzubereiten. Erst aber müssen wir wieder Herr der Lage werden.«

»Schwarze Magie im Dienste der Wissenschaft!« ächzte Toy Fong beeindruckt.

Damit gab er dem Gedanken Ausdruck, der ihn die ganze Zeit schon beherrschte. Nur hatte er ihn bisher immer unterdrückt. Er hatte es einfach nicht glauben wollen.

»Doch wem nutzt es?«

Kasor ging nicht auf die Frage ein.

»Im Moment droht keine Gefahr mehr von den Speichern!« rief Paal herüber.

Während der Unterhaltung war er nicht untätig geblieben und war die Wände abge­schritten, denen Toy Fong erst jetzt Aufmerksamkeit schenkte.

Die Wände hatten keine feste Form. Purpurn flimmerte es dar­über. Farb- und Lichtkaskaden blitzten kreuz und quer. Wenn man genauer hinblickte, erkannte man das Schema. Ein feines Spinnennetz mit Knoten unter­schiedlicher Größe an den Schnittstellen befand sich einge­bettet in die unbekannte Sub­stanz. Fast erinnerte es an die Verknüpfung von Neutronen in­nerhalb eines menschlichen Ge­hirns.

Toy Fong schauderte es bei diesem Vergleich.

Befanden sie sich denn im In­nern des Gehirns des Großen Geistes?

Als hätte Kasor seine Ge­danken erraten, sagte er: »Es ist das Herzstück des magischen Schiffes, dass wie ein lebender Körper reagiert.«

Paal berührte mit seinen Fingerspitzen einen Knoten. Gleißende Blitze zuckten nach allen Richtungen.

Ein grelles Muster entstand, nahm Einfluss auf die sich scheinbar sinnlos hin und her be­wegenden Farbenspiele, die regel­recht angesaugt wurden.

An verschiedenen Stellen wiederholte Paal die Prozedur. Mit dem Ergebnis schien er zufrieden zu sein.

»Ich glaube, dass in der zwei­ten Phase nichts mehr passiert«, bemerkte er. »Das Gehirn hält stand. Der Große Geist wird seine Aufgabe meistern und wir, seine Parasiten, werden ihn dabei un­terstützen.«

Kasor wiegte bedenklich den Kopf. »Hoffen wir das Beste. Et­was anderes bleibt uns nicht üb­rig. Es sei denn, wir hätten vor, umzukehren. Aber das kommt ohnedies nicht in Betracht.«

»Zumal wir mit Seiner Schwarzen Eminenz einen Pakt haben, der uns bindet«, fügte Paal geheimnisvoll hinzu.

Gemeinsam gingen sie zum Hintergrund der Halle. Toy Fong bemühte sich, nicht auf den Boden zu sehen.

Die Energiespeicher wirkten jetzt wie die glühenden Augen von gigantischen Dämonen. Es war schlimmer, als liefe man auf einer schwankenden Brücke, die über dem geöffneten Schlund eines Vulkans hing.

Ein Teil der Wand tat sich auf und ließ die drei ungleichen Männer hindurch.

Die Beklemmung wich von Toy Fong. In dem Raum waren etwa dreißig Männer und Frauen beschäftigt. Sie achteten nicht auf die Eintretenden. Jeder hielt eine der Tafeln, die ihn mit dem Steue­rungskollektiv auf magischem Wege verband. Die Wände glitzerten metallisch. Eine Unzahl von Fernsehschirmen war in sie eingelassen. Sie zeigten zuckende Blips und grelle Farbenmuster. Ein Zischen, Rauschen, Brodeln und Stöhnen bildete die Geräuschkulisse.

Aha, dachte Toy Fong im stillen, dass hier ist also die technische Seite des Unter­nehmens.

Werte wurden abgelesen und auf die Tafeln übertragen. Einige nahmen Manipulationen an Stell­rädchen, Knöpfen und Schaltern vor. Die ganze Tätigkeit verwirrte Toy Fong, der nicht die leiseste Ahnung von der hier demons­trierten Technik hatte.

Sie gingen weiter und betraten eine Transportröhre.

Toy Fong schloss die Augen und lehnte seine heiße Stirn gegen die Wand. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und das zu verarbeiten, was er gese­hen und erlebt hatte.

Er öffnete die Augen wieder.

Kasor lächelte freundlich.

Toy Fong vergaß sein Miss­trauen darüber fast.

»Durchsage!« rief Kasor, der Beauftragte Seiner Schwarzen Eminenz, wie er sich selber nann­te. In Wirklichkeit war er wohl so eine Art Kapitän auf diesem selt­samen Schiff.

»Das neue Steuerungskollektiv wird zusammengestellt. Bitte in der Zentrale einfinden! Der Große Geist bestätigt die neuerliche Si­cherheit des Systems.«

In seinem Gesicht zuckte es einen Moment. Offenbar dachte Kasor an die Verluste, die sie er­litten hatten.

Toy Fong hielt sich ein wenig im Hintergrund. Er spielte die Rolle des Beobachters.

Im stillen fragte er sich zum wiederholten Male, warum man ihn in die Falle gelockt und hierher deportiert hatte. Welchen Sinn ergab es? Er war doch völlig überflüssig, hatte keine Aufgabe. Man konnte ihm auch keine zu­teilen, weil er keine Ahnung von dem hatte, was da vorging.

Und an noch etwas dachte er: an Martha Hendrix!

Dreizehn Männer und Frauen fanden sich ein. Sie begaben sich auf ihre Plätze. Die Kästen schlossen sich, Kontakte wurden hergestellt, Elektroden angelegt.

Toy Fong gefiel der Ausdruck »Kästen« nicht besonders. Ob­wohl: Er hatte den Dingern selber diese Bezeichnung gegeben, weil sie dem, was sich ihm optisch bot, am nächsten kam.

Ein hohes Summen erfüllte den Steuerraum. Kasor trat zu­rück. Er widmete sich den Vorbe­reitungen für die zweite Phase.

Zwischendurch sagte er ein­mal zu Toy Fong: »Nach Plan müssten wir noch damit warten. Wir wollen aber keine unnötige Zeit verlieren. Das Schiff ist über­prüft und wir sind mit dem Ergebnis zufrieden. Einer wei­teren Verkleinerung steht nichts mehr im Wege.«

»Und wie ist es mit dem Risi­ko?« fragte Toy Fong. »Wäre es nicht doch besser, die Umkehr anzutreten?«

»Hast du etwa Angst? Wir wenden den Blick nach vorn, nicht zurück. Es spielt keine Rolle, in welche Richtung wir uns bewegen. Wenn die Systeme er­neut versagen, werden sie es in jedem Fall tun. Über allem steht unser Auftrag!«

So etwas wie Fanatismus leuchtete in den Augen des Kom­mandanten.

Toy Fong dachte an die Worte der Männer, die ihn in einer anderen Ebene angegriffen hatten - an die Gefährten von Paal.

Einer von ihnen hatte ihn einen Lebenden genannt. Toy Fong wusste nicht mehr, wer es gewesen war. Doch er griff es jetzt auf:

»Für mich sieht die Sache ein wenig anders aus«, sagte er. »Ich bin nicht freiwillig hier wie alle anderen. Außerdem bin ich ein Lebender. Wenn etwas schief geht, ist mein Tod endgültig!«

Kasor bedachte ihn mit einem seltsamen Blick.

Zum ersten Mal unterließ er eine Erklärung. Abrupt wandte er sich ab.

Toy Fong verließ den Steuer­raum und ging in den Raum mit der Zielprojektion. Ein ungutes Gefühl drückte auf seine Brust.

Er vergaß seine Furcht, als er zum ersten Mal in seinem Leben die wirkliche Struktur eines Atoms sah.

Das Atom hatte wenig gemein­sam mit der allgemein üblichen graphischen Darstellung.

Toy Fong raffte alles zu­sammen, was er einmal über Atomphysik gelernt hatte.

Das Atommodell besaß eine theoretische Grundlage. Die Vor­stellungen der Atomphysiker stützten sich auf die Ergebnisse von Experimenten.

Toy Fong hingegen erblickte die Wirklichkeit und die übertraf - wie so oft - die Phantasie der Menschen.

Er verharrte in Ehrfurcht und genoss den Anblick.

Die Welt war lichtlos und doch konnte Toy Fong sehen. Er hatte sich wie alle anderen an Bord des Schiffes so sehr verkleinert, dass er Bestandteil der atomaren Dimensionen geworden war. Hier galten nicht mehr die Gesetze der Wirklichkeit, der realen, bekann­ten Welt. Eine andere Dimension, untergeordnet dem Diesseits, die Welt der Atome.

Toy Fong wusste nicht zu sagen, ob es der großartigen Technik des Projektionsraums zu verdanken war, dass er diese phantastischen, großartigen Bilder in sich aufnehmen konnte, oder ob er auch mit bloßem Auge fähig gewesen wäre, optisch an den Geschehnissen teil­zunehmen.

Das Eisenatom war zunächst nur eine Anhäufung glitzernder Teilchen, bis es das gesamte Gesichtsfeld ausfüllte.

Die Elektronen blieben un­sichtbar. Sie bewegten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit um den Kern und bildeten nicht mehr als huschende Schatten.

Ihre Gesamtmasse machte nur einen kleinen Teil des Ganzen aus.

Herrlich in Form und Aus­dehnung präsentierte sich der Atomkern. Die modernen Graphiken erschienen wie schlecht gelungene Karikaturen.

Protonen und Neutronen bildeten eine Ballung von Materie, die auf den ersten Blick an zu­sammenklebende Wassertropfen erinnerte.

Während die Neutronen in der Farbe zu einem rauchigen Grau tendierten, wirkten die Protonen wie Diamanten, in denen feurige Glut nistete.

Über die Lautsprecheranlage kam ein Kommando. Toy Fong war unfähig, die Worte in sich aufzunehmen. So hielt ihn der unbeschreibliche Anblick in sei­nem Bann.

Die Projektion flimmerte kurz.

Der Große Geist nahm eine Art Trickschaltung vor, um auch die Elektronen sichtbar zu ma­chen.

Toy Fong riss erstaunt die Augen auf.

Da waren sie - die Elektronen!

Toy Fong hätte es niemals für möglich gehalten. Die kleinen Teilchen waren keine festen Kör­per, sondern bildeten Kugel­haufen, deren Dichte nach außen hin abnahm.

In unterschiedlicher Entfer­nung vom Zentrum rasten sie auf einer genau vorbestimmten Kreis­bahn, um mittels Fliehkraft die zerrenden elektrischen Kräfte, die auf sie einwirkten, zu kom­pensieren. Kein Elektron würde ein anderes berühren. Sie hatten gleiche Ladung und stießen sich gegenseitig ab.

Toy Fong widmete sich dem Atomkern erneut. Auch die Pro­tonen und Neutronen waren nicht von fester Konsistenz. Flüssig er­schienen sie, ausgestattet mit einer Art dünner Membrane, die sie zusammenhielt. Eine un­glaubliche Tatsache. Unwillkür­lich fragte sich Toy Fong, was bei einer Atomspaltung wirklich ge­schah.

»Fertig machen!« befahl die Lautsprecherstimme.

Toy Fong fand in die Wirklich­keit zurück.

Das berühmte Fadenkreuz entstand. Toy wurde bewusst, dass sie sich erst in der zweiten Phase verkleinern mussten, um wirklich das Atom direkt anfliegen zu können. Was er hier sah, war nur das projizierte Ziel.

Er verließ den Raum und ging in das zweite Projektionszimmer.

Noch immer die Oberfläche des Moleküls.

In Toy Fong krampfte sich alles zusammen. Würde es dies­mal klappen? Trat keine Panne mehr auf?

Er knetete die Hände inein­ander und hoffte. Um ihn herum herrschte rege Aktivität. Jeder war auf seinem Posten.

Offenbar verschwendete die Besatzung keinen Gedanken an einen möglichen Zwischenfall.

Sie waren voller Optimismus oder hatten einfach keine Zeit mehr, pessimistisch zu sein.

Toy Fong war weniger glück­lich dran. Er fieberte dem Ende des Countdowns entgegen.

Nichts geschah vorher.

»Zero!«

Der Countdown war beendet. Der Große Geist nahm, unter­stützt vom Steuerungskollektiv, mit dem er aufs engste ver­bunden war, alles Notwendige vor.

Jemand schien Blut über das magische Schiff zu gießen. Aus dem Nichts glutete es rot herauf und hüllte das unfassbare Fahr­zeug ein. Der grelle Anblick schmerzte in den Augen.

Toy Fong blinzelte.

Ein leichtes Ruckeln ging durch das Schiff.

Das rote Glühen wurde durch­scheinend, bis es nicht mehr war als nur ein dünner Film, der kaum die Sicht behinderte, sie nur rötlich färbte.

Aber ein Teil der Energie durchdrang die Zellen des Schif­fes, kroch aus den Wänden wie Rauch, erfasste die Körper der Menschen, erzeugte Unbehagen in ihnen.

Toy Fong rang nach Luft. Mit offenen Augen beobachtete er.

Die weite Fläche des Moleküls schob sich auf einmal von ihnen weg - gleichmäßig in alle Rich­tungen.

Ein irres Kreischen klang auf, marterte die Ohren der Be­satzungsmitglieder.

Die Wände ringsum verbogen sich. Toy Fong spürte eine Riesenfaust, die ihn packte und zusammenquetschte, dass ihm dabei die Luft ausging.

Er starrte fassungslos auf sei­ne Hände.

Sie wurden deutlich dünner, zogen sich in die Länge, verzerr­ten sich.

Sein gesamter Körper nahm groteske Formen an.

Doch es schmerzte nicht. Ein Gefühl war in ihm, dass er un­möglich beschreiben konnte.

Apathie nahm von Toy Fong Besitz. Nun war alles egal. Er schaute auf die anderen. Es sah aus wie in einem Spiegelkabinett mit lauter Zerrspiegeln.

Ständige Veränderung.

Und die Oberfläche des Mole­küls schob sich weiter nach den Seiten, öffnete sich nach allen vier Himmelsrichtungen.

Immer poröser wurde die Hül­le, wandelte sich.

Toy Fong hatte keine Ahnung, aus welchem Grund vorher die Oberfläche des Moleküls relativ glatt und eben projiziert worden war. Jetzt jedenfalls wurde die wahre Struktur erkenntlich. Das Molekül war eine Anhäufung von Atomen. Die Bindungskräfte waren sehr stark, verursachten ein Gitternetz von Teilchen.

Toy Fong wusste, dass die kristallene Struktur verändert werden konnte, indem man dem Molekül Energie zuführte.

Die Energie würde sich erhö­hen, den festen Zusammenhalt stören, der jedoch nicht ganz zusammenbrechen konnte. Das Eisen würde sodann flüssig werden, also den nächsthöheren Aggregatzustand annehmen. Erhitzte man es noch mehr, zerbrach das kristallene Gitternetz.

Der Stoff wurde gasförmig!

Die Atome bewegten sich gegeneinander und zueinander völlig frei. Es passierte sogar ständig, dass einzelne Atome gegeneinander stießen.

Dass dabei keine Katastrophe geschah, verdankte man der besonderen Struktur des Atoms.

Toy Fong hatte es mit eigenen Augen gesehen. Der Atomkern war weich. Stießen zwei Atome zusammen, wichen die Elektronen aus und die weichen Atomkerne schluckten kinetische Energie. Sie prallten wieder von­einander ab.

Das alles ging Toy durch den Kopf, als das Gitternetz der Atome größer wurde, an Über­schaubarkeit verlor.

Das Schiff konzentrierte sich nur auf ein einzelnes Atom. Ein hohes Vibrieren erfüllte die Zelle.

Als Toy Fong einen Blick zur Seite warf, erkannte er, dass die direkte Umgebung fast wieder normal erschien.

»Achtung!« plärrte es aus dem Lautsprecher. »Komplikationen! Wir rasen direkt in das Atom hin­ein. Kollision mit einem Elektron ist nicht auszuschließen. Der Große Geist versucht, ein nega­tives Feld aufzubauen, um das zu verhindern. Aber dabei werden die Anziehungskräfte des Kerns stärker wirksam.«

Die Stimme verstummte.

Toy Fong horchte auf. Es war also möglich, dem magischen Schiff ein eigenes elektromagne­tisches Feld zu verleihen, um den hier herrschenden Kräften ent­gegenzuwirken?

Was aber geschah, wenn es di­rekt in den Kern fiel?

Öffnete sich die Membran eines Protons oder Neutrons, um sie zu verschlingen?

Wie sah es im Innern aus? Man konnte schließlich nicht durch die Membrane sehen.

Toy Fong spürte, dass seine Handinnenflächen schweißnass wurden. Er ballte die Hände zu Fäusten.

Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte befand sich ein Fahrzeug auf dem Weg zu einem Atom. Und das auch noch mit Hilfe Schwarzer Magie!

Wie würde dieses einmalige Abenteuer ausgehen?

Tödlich?

Schlimmer?

9

Der Atomkern raste heran. Die Elektronen bildeten huschende Schatten. Und dann kreuzte das Schiff die Bahn eines Elektrons. Ein gewaltiger Ruck ging durch den Schiffsleib. Die Neutralisato­ren mussten einfach versagen.

Alle hatten sich auf den Boden geworfen. So kam niemand ernst­lich zu Schaden.

Es wäre für Toy Fong besser gewesen, er hätte sein Gesicht mit den Armen geschützt, doch er ließ nicht den Blick von dem Ge­schehen da draußen.

Der Atomkern kippte schein­bar nach rechts weg. In Wirklich­keit hatte sich das Schiff gedreht. Es wurde zum Spielball ungeheu­rer Kräfte.

Etwas prallte von außen gegen das Schiff, ließ die Außenseite wie eine gigantische Glocke schwingen, dass Toy Fong meinte, sein Schädel müsste bersten.

Dann waren sie durch. Das Elektron hatte sie abgestoßen!

Der Kern raste ihnen ent­gegen, wuchs heran wie ein Ge­birge, füllte rasch das gesamte Gesichtsfeld aus.

Der Vergleich mit einer riesigen Sonne drängte sich Toy Fong auf. War der Atomkern heiß wie die Sonne als Mittelpunkt eines Systems?

Der Große Geist machte auf seine unnachahmliche Art und Weise eine Durchsage: »Unbekannte Strahlung! Wirkung auf Belebte nicht er­probt. Konnte zwar neutralisiert werden, doch nur zum Teil.« Schon wieder!

Toy Fong schwitzte. Keuchend rang er nach Atem. Sein Körper zitterte wie Espenlaub. Eine Folge des Strahlenschauers?

»Ursprung der unbekannten Strahlung war das Elektron, dessen Bahn wir kreuzten. Analy­se ergab elektrische Aktivität. Wirkung auf organisches Leben: Störung des Nervensystems. Keine Dauerwirkung.«

In der Tat fühlte sich Toy Fong wieder besser. Er schaute in die Runde. Den Besatzungsmitglie­dern erging es nicht anders als ihm.

Das Bild des Atomkerns schwankte hin und her. Das Schiff veranstaltete einen wahren Spießrutenlauf durch die Bahnen der Elektronen. Doch wurde es nicht kritisch. Das negative Feld, das sie umgab, schützte. Sie wurden von den Elektronen abge­stoßen.

Dadurch kam es zwar zu keiner weiteren Kollision, doch die Anziehungskräfte des Atom­kerns rissen das Schiff mit unge­heurer Macht an sich.

Auch der stärkste Schutz musste in Anbetracht dessen letztlich versagen.

Die Neutronen leuchteten aus dieser Perspektive jetzt purpurn. Eine Sinnestäuschung! Wo es kein Licht gab, nahm man auch keine Farben wahr.

Toy Fong wurde klar, dass die Bilder, die er sah, das wahre Wesen des Atoms nicht preis­gaben. Es fehlten dem Menschen einfach die erforderlichen Sinnes­organe.

So verarbeitete das Gehirn die Wahrnehmungen als Modell mit all seinen Unzulänglichkeiten!

Aber die Schöpfung Seiner Schwarzen Eminenz hatte ge­wisse Fähigkeiten. Die fünf Sinne der Besatzungsmitglieder wurden ergänzt - auf magisch-technischem Wege.

Laufend speicherte der Große Geist Informationen. Ein Teil von ihm beschäftigte sich fortwährend mit Analysen, ohne dabei die Handlungsfähigkeiten des ma­gischen Schiffes zu beein­trächtigen.

Das Steuerungskollektiv tat in seiner Verbindung mit dem Großen Geist sein übriges.

Eine menschliche Stimme: »Wir müssen das magnetische Feld umpolen. Die Bahnen der Elektronen liegen hinter uns. Entfernung zum Atomkern be­trägt - relativ gesehen in Bezug zur Größe unseres Schiffes - zehn Millionen Kilometer. Durchmesser des Atomkerns in der gleichen Relation: eine Million Kilometer. Der verhältnismäßige Abstand er­innert an ein Sonnensystem im realen Raum und ist größer als durch entsprechende Expe­rimente gemessen wurde. Ein Phänomen, das nur damit erklärt werden kann, dass wir um den Atomkern ein spezifisches Feld von fünf Millionen Kilometern Di­cke haben. Es ist noch nicht er­kennbar, ob es sich dabei tat­sächlich um ein energetisches Feld oder gar um Materie handelt. Trifft letzteres zu, taucht die Frage auf, welcher Art diese Mate­rie ist. Besteht sie aus Teilen der Protonen oder der Neutronen?

In diesem Zusammenhang muss noch einmal betont werden, dass wir das Innere eines Atoms eigentlich nicht mit einem Sonnensystem vergleichen können. In der Tat sehen wir uns mit der unglaublichen Tatsache konfrontiert, dass Protonen und Neutronen zwar miteinander ver­bunden sind, jedoch nicht verschmelzen, obwohl uns längst bekannt ist, dass man beides in sich teilen kann...«

Immer mehr artete der Vortrag in Fachsimpelei aus. Toy Fong hörte nicht mehr hin.

Er knirschte mit den Zähnen. Der Sprecher wirkte ruhig und gelassen. Was sollte das Ganze? Beruhigungstaktik?

»Bald werden wir mehr wissen«, knurrte Toy Fong. »Wir haben in Kürze unser Ziel er­reicht. Hoffentlich können wir dann noch etwas mit unserem Wissen anfangen!«

Das Schiff war ein Winzling gegenüber dem Atomkern, ja, noch weniger als ein Winzling. Nicht größer als ein Floh gegen­über der gesamten Erde.

Und die Menschen, die darin saßen, merkten bald, aus was der Mantel bestand, der den Atom­kern umhüllte: Es war weder Ma­terie noch Energie. Eine Sub­stanz, bei deren Analyse der Große Geist streikte - streiken musste.

Gemeinsam mit den Be­satzungsmitgliedern und dem Steuerungskollektiv gelang eine Art Vergleich.

Sie bezeichneten den Mantel einfach als die Atmosphäre des Atomkerns. Sie war für das ma­gische Schiff ungefährlich, das mit ungeheurer Geschwindigkeit eintauchte. Eine physikalische Unmöglichkeit blieb, dass das Schiff nicht verglühte.

»Letzte Analyse der Substanz«, meldete der Große Geist. »Es be­steht nicht aus einzelnen Teil­chen, sondern ist ein Ganzes, elektrisch neutral, wenngleich von anderer Beschaffenheit als ein Neutron. Paradox die Tatsa­che, dass die Substanz nicht un­teilbar ist, obwohl sie aus einem Ganzen besteht. Dies trifft eben­falls auf die Neutronen und Pro­tonen zu.«

Das Energiefeld des Schiffes war längst umgepolt. Es war jetzt positiv geladen, musste also vom Kern abgestoßen werden.

Die Geschwindigkeit sank ra­pide. Das Schiff hinterließ eine blasige Spur.

Die Umgebung präsentierte sich grau in grau. Jetzt er­innerten die Protonen wieder an funkelnde Diamanten.

Trotz der Fahrtverzögerung würde die Kollision mit einem Neutron nicht ausbleiben.

Sie rasten auf ein Proton zu, wurden von diesem abgelenkt und stießen in das zunächst be­findliche Neutron.

War die Membrane wirklich weich und elastisch? Oder hart wie Granit?

Die Menschen an Bord hielten den Atem an. Einige wandten den Blick von der Projektion, andere waren dazu nicht mehr fähig.

Die Angst schnürte ihnen die Kehle zu. Ihre Gesichter waren bleich und die Augen wirkten wie glühende Kohlenstücke darin.

Und dann war es soweit.

Später war es Toy Fong un­möglich, zu sagen, was er eigent­lich erwartet hatte. Auf jeden Fall spielte sich das Folgende ganz anders ab, als sie gedacht hatten.

Von einer Berührung war ab­solut nichts zu spüren!

Plötzlich gab es eine Reaktion zwischen der Materie, aus denen das Schiff und seine Besatzung bestand und der unwirklichen Umgebung.

Sie waren eine Zusammenbal­lung von Materie, auf magischem Wege in diesen unglaublichen Zu­stand gebracht. Jetzt rächte sich das.

Alles spielte sich in dem Bruchteil einer Sekunde ab und dennoch blieb der Vorgang für immer in aller Deutlichkeit in der Erinnerung von Toy Fong.

Auf einmal wirkte das Schiff wirklich durchsichtig. Dies war nicht der visionären Projektion des Großen Geistes zu ver­danken.

Schwarze Magie hatte es be­lebt und künstlich verkleinert. Und jetzt entstand die Gegen­kraft: Das magische Feld brach zusammen.

Toy Fong hatte das Gefühl, die Atome, aus denen er bestand, würden explodieren.

Das gigantische Neutron dort draußen bohrte sich in das Schiff hinein, pumpte es regelrecht auf.

So kam es den Menschen an Bord des magischen Gefährts wenigstens vor.

Das Schiff blähte sich auf, wuchs über die Größe des Atom­kerns hinaus, ließ ihn teilweise in sein Inneres. Die Zeit veränderte sich.

Toy Fong sah die Bahn eines Elektrons. Diesmal brauchte er nicht die Projektion des Großen Geistes, um zu sehen, was da draußen geschah, sondern erblickte es mit eigenen Augen. Oder entstand das Bild direkt in seinem Gehirn?

Der Zusammenstoß war un­vermeidbar.

Das Elektron war ein grauer Haufen körniger Substanz. Jedes Korn war an das andere gefesselt. Die Dichte nahm nach außen hin stetig ab.

Wie ein Sternennebel! drängte sich Toy Fong der Vergleich auf. Dieser Gedanke war ihm schon einmal gekommen, als er das Atom zum ersten Mal im anderen Projektionsraum gesehen hatte.

Das Elektron schwebte lang­sam auf ihn zu.

Es hatte nunmehr die relative Größe eines Ozeanriesen, schrumpfte jedoch rasch.

Toy Fong ahnte instinktiv die Gefahr. Das Elektron würde das Schiff durchschlagen. Da das Schiff hin und her geschleudert wurde, blieb die genaue Bahn un­berechenbar.

Und es gab noch viel mehr Elektronen, deren Weg sie zwangsläufig kreuzen würden. Wenn sie hier eindrangen, besa­ßen sie noch die Ausdehnung von Bällen.

Toy Fong duckte sich. In sei­ner gekrümmten Haltung wirkte er wie ein sprungbereites Raub­tier. Und dann warf er sich zur Seite.

Gerade rechtzeitig.

Die Geschwindigkeit des Elektrons war größer als ge­schätzt. Pfeilschnell raste es her­an.

Wilde Schreie um Toy Fong.

Ein Mann wurde voll von dem Elektron getroffen.

Die feinen Körner hatten die Schiffswandungen widerstandslos durchbrochen, dabei aber keinen Schaden hinterlassen.

Der Getroffene wand sich wie unter großen Schmerzen und brach röchelnd zusammen. Vielen erging es so. Toy Fong hatte Glück. Oder aber hatte das Glück seiner unglaublichen Reaktions­schnelligkeit zu verdanken. Auf jeden Fall hatte das Elektron ihn verfehlt. Nichts war ihm ge­schehen.

Eine explosionsartige Vergrö­ßerung des magischen Schiffes entstand, die ganz plötzlich kam. Ein weiterer Schub.

Das Atom spuckte sie aus wie einen Fremdkörper.

Und dann schien der ganze Spuk vorüber zu sein. Zu ihren Füßen dehnte sich wieder das atomare Kristallmuster des Eisen­moleküls aus, gewann an­scheinend an Dichte und verwandelte sich in eine relativ glatte Oberfläche.

Dieser Eindruck war nur scheinbar. Sogar der Große Geist hatte sich täuschen lassen - trotz seiner ungeheuren magischen Möglichkeiten.

Das Eisenmolekül bildete einen so festen Verbund, dass es schwer war, einzudringen. Dem Großen Geist wurde das jetzt be­wusst und er projizierte das wah­re Aussehen des Moleküls in den Projektionsraum. Kreuz und quer verlaufende Muster, bestehend aus einem Raster winziger Punkte, die die Atome bildeten.

Aber Toy Fong hatte keinen Blick dafür. Er widmete sich sei­ner direkten Umgebung.

Der Raum war übersäht mit Toten!

Das Herz krampfte sich ihm zusammen.

Ja, wie es aussah, war das Abenteuer für die meisten tödlich verlaufen!

Mit hölzernen Schritten trat er auf den Gang hinaus. Er über­querte ihn und warf einen Blick in die Steuerzentrale.

In diesem Augenblick erlo­schen sämtliche Lichter.

Hohes Kreischen und Pfeifen erfüllte die Luft.

Das Schiff setzte sich trudelnd in Bewegung. Ein Beweis dafür, dass der Vorgang nicht abge­schlossen war.

Der Große Geist, aus dem das Schiff bestand, hatte es nur vermocht, die auf sie einwir­kenden Kräfte vorübergehend zu neutralisieren.

Jetzt brachen sie wieder durch! In Toy Fongs Schädel dröhnte es. Kraftfelder durch­rüttelten seinen Körper. Langsam ging er in die Knie. Und dann verlor er den Halt. Bewusstlosig­keit löschte sein Denken aus.

10

Sanftes Schaukeln weckte Toy Fong. Es war angenehm und gab ihm das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Lächelnd öffnete er die Augen.

Schlagartig fand er in die Wirklichkeit zurück. Er rappelte sich schleunigst auf.

Wie viel Zeit war inzwischen vergangen?

Das Licht flackerte. In dem trüben Schein sah er es: Keiner der Männer und Frauen des Steuerungskollektivs lebte! Durch den Energieausfall versagten auch die Überlebensmaschinen. Ihre Geister waren voll in das Pro­gramm des Großen Geistes in­tegriert gewesen, als ihre Körper starben.

Ausgelöscht waren sie - und nicht nur sie!

Kreidebleich wankte Toy Fong zum Ausgang.

Er stolperte über den leblosen Körper einer Frau, bückte sich nach ihr.

Tot!

Ein Opfer der Elektronen, die das Schiff gekreuzt hatten?

Nein. Ein Teil der Schaltwand war explodiert und die her­umfliegenden Teile hatten tödlich getroffen.

Toy Fong war es hundeelend. Das andauernde Schaukeln des Schiffes störte seinen Gleichge­wichtssinn, erzeugte Schwindel und Übelkeit.

Er musste sich am Türrahmen abstützen.

Wohin er auch blickte - über­all Chaos, Zerstörung. Das Schiff war nur noch ein Wrack.

Und die Besatzung?

Draußen stand eine Frau, die Toy Fong kannte.

Martha Hendrix!

Fassungslos starrte sie ihn an.

Er versuchte ein Lächeln, doch wurde nur eine verzerrte Grimasse daraus.

Toy Fong stolperte an ihr vor­bei in den Projektionsraum.

Die Projektion stand noch, war wie durch ein Wunder erhalten geblieben. Rötliches Leuchten breitete sich aus.

Wohin hatte sie das Schicksal verschlagen?

Nebelschleier rissen auf. Das Schiff fuhr durch eine brodelnde Masse.

Und da tauchte weit unter ih­nen eine Art Wüstenlandschaft auf.

Flog denn das Schiff?

Ein unglaublicher Vorgang. Toy Fong fühlte sich wie an Bord eines U-Bootes und das da unten musste danach der Meeresgrund sein.

»Steuerungskollektiv erforder­lich!« meldete sich der Große Geist gequält.

Als wüsste er nicht, dass die Verbindungseinheiten auf der Strecke geblieben waren.

»Steuerungskollektiv erforder­lich!« wiederholte er. »Große Zer­störungen! Keine Reparatur möglich!«

Ein abgrundtiefes Stöhnen.

»Die magischen Kräfte sind er­schöpft. Besatzung kann nicht mehr am Leben erhalten werden. Das System löst sich auf. Reduk­tion der Schiffsmasse bereits zur Hälfte!«

Bei Toy Fong zog sich die Nackenhaut zusammen. Er be­griff nicht ganz, was der soge­nannte Große Geist damit sagen wollte.

»Wie viel Überlebende?« fragte eine mühsam beherrschte weibli­che Stimme.

Toy Fong wandte den Kopf. Martha Hendrix hatte die Frage gestellt.

»Einundzwanzig!« erklärte der Große Geist prompt.

»Einundzwanzig?« wiederholte Martha Hendrix gedehnt. Sie schloss die Augen. Eine Träne kullerte über ihre hektisch gerö­teten Wangen.

»Wo befinden wir uns?«

»In einer Sphäre der Geister und Dämonen!«

»Ist die Rückkehr möglich?«

»Wir werden hinunterstürzen und zerschellen. Meine Kraft reicht nicht mehr lange aus.«

Martha Hendrix atmete tief durch. »Weitere Reduzierung der Schiffsmasse!« befahl sie.

»Aber dann werden alle Beleb­ten die Chance verlieren, ihren Preis zu erhalten!« protestierte der Große Geist.

»Du weißt selber, dass uns keine andere Wahl bleibt!«

»Also gut, ich habe mich frei­willig zu eurem Diener gemacht!«

»Wie war das?« Martha Hendrix horchte auf.

»Ich bin die Schwarze Eminenz - persönlich!« antwortete der Große Geist ungerührt. »Denke an den Pakt, den ich mit euch allen schloss! Ich wollte euch zum Menschsein zurückführen und dafür musstet ihr das Experiment mitmachen. Leider misslang es! Alle wart ihr misstrauisch. Ihr habt mir nicht getraut. Um dieses Misstrauen zu beseitigen, schenkte ich euch den Großen Geist als euren Diener. Der Große Geist aber bin ich selber! Und das magische Schiff ist der Träger meines Gedankengutes! Das wusstet ihr bisher nicht. Doch der Pakt verpflichtet mich, zu ge­horchen. Jetzt, da Kasor und sei­ne Vertreter tot sind, übernimmst du das Kommando.

Von zweihundert Geistern, die ich wiederbelebte in meiner Sphä­re, haben nur einundzwanzig alles überstanden. Sollen wenigs­tens diese eine Chance erhalten!«

Ein abgrundtiefes Stöhnen ging durch das Schiff. Es schien direkt aus den Wänden zu dringen.

Und dieses Schiff schrumpfte tatsächlich.

Die Tür zur Transportrohre öffnete sich.

Es gab die Transportröhre nicht mehr! Aber sie war auch nicht mehr erforderlich.

Das Schiff bestand nur noch aus einem engen Komplex von drei Einheiten, in denen sich sämtliche Überlebenden befanden.

Ein erneutes Stöhnen, das von unglaublichen Qualen zeugte.

Toy Fong rannte in den Pro­jektionsraum.

»Was ist das nur für eine Welt?« entfuhr es ihm. Er dachte nicht zufällig an das jenseitige Land mit Namen ORAN! Dort befand sich Mark Tate. Würde er ihm hier etwa... persönlich be­gegnen?

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Nicht nur aus diesem Grund. Vielleicht...? Seine Ge­danken brachen an dieser Stelle ab.

Die Nebelschleier waren wieder aufgerissen. Die Wüsten­landschaft hatte dampfendem Dschungel Platz gemacht. So konnte man sich den Urzustand der Erde vorstellen. Gewaltige Bäume reckten ihre Äste gen Himmel.

Toy Fong gewahrte eine Bewe­gung. Ein Tier von unvorstellba­rem Ausmaß schien ihm direkt in die Augen zu blicken. Dann waren sie weitergeflogen. Mit ho­her Geschwindigkeit jagte die Landschaft vorbei.

Das Schiff verlor stetig an Hö­he.

»Ich - ich kann es nicht mehr länger halten. Meine - meine ma­gischen Kräfte versagen!« stöhnte es von irgendwoher.

Martha Hendrix trat neben Toy Fong. Sie sahen sich an.

»Weitere Reduktion ist nicht möglich?«

»Dann müsste ich euch alle aufgeben. Aber es ist nicht einmal gesagt, ob ich - mich allein retten kann.«

Geistesgegenwärtig warfen sie sich zu Boden. Bald würde der unvermeidliche Aufprall erfolgen.

Toy Fong und die Frau be­rührten sich fast mit den Köpfen.

»Ich glaube, es ist unser aller Tod«, flüsterte sie pessimistisch.

Toy Fong nickte. Auch er hat wenig Hoffnung auf ein Über­leben.

»Bei dieser Geschwindigkeit schon. Wir hätten nur eine Chan­ce, träfen wir auf Wasser auf, doch es ist eine sehr geringe Chance. Es fällt mir schwer, dar­an zu glauben. Aber man sollte eigentlich nie aufhören zu hoffen.«

»Ich kenne dich nicht«, fuhr sie nach einer schweigsamen Pause fort, »aber du schaust mich immer so seltsam an.«

»Ich habe miterlebt, was du am Hügel des Schreckens erlitten hast«, sagte Toy Fong gedehnt. »Du kamst nach Hause und musstest feststellen, eine Fremde zu sein. Noch immer weiß ich nicht, wie ich das Phänomen er­klären soll und in welchem Zu­sammenhang es mit alldem hier steht. Nur eines begreife ich: es gibt keine Rückkehr für dich!«

Sie blieb gefasst. »Ich weiß. Ist das der Grund für deine selt­samen Blicke.«

»Nicht einzig und allein.« Toy Fong zögerte.

»Erst warst du mir nur sympa­thisch. Jetzt ist es längst mehr. Lass es mich dir sagen angesichts des Todes: Ich glaube, ich liebe dich!«

Sie lächelte warm. Dann gab sie ihm spontan einen Kuss.

»Wenn es dafür eine Antwort gibt, Fremder, bekommst du sie erst, wenn ich dich näher kenne.«

»Dazu müssen wir erst einmal überleben!«

Diese Worte brachten sie in die Wirklichkeit zurück.

Der Dschungel war verschwunden, wurde von einem Sumpfgebiet abgelöst. Die kleinen Tümpel verbreiterten sich mehr und mehr zu einem wahren See.

Und dann war da nur noch Wasser. Das Schicksal hatte Toy Fongs Wunsch erhört!

Aber würde es ihnen tat­sächlich das Leben retten?

Das Schiff berührte die blutro­te Wasseroberfläche. Dabei kamen Andruckkräfte durch und pressten die Überlebenden gegen den Boden.

Wie ein flacher Stein, den ein Junge über seichtes Wasser schickt, wurde das Schiff hochge­schleudert, um abermals aufzu­treffen.

Die Wandungen knirschten verdächtig. Irgendwo zerbarst et­was krachend.

Rauch drang in den Projek­tionsraum, brachte Toy Fong und Martha Hendrix zum Husten.

Der dritte Aufprall war nicht weniger stark.

Das grausame Spiel wieder­holte sich.

Urkräfte schüttelten das Schiff durch, ließen es zur Seite kippen.

Toy Fong und Martha rutsch­ten über den Boden und stürzten gegen die Wand.

Das Schiff drehte sich im Flug. Das Unterste kehrte sich zu­oberst.

Erst beim vierten Mal pflügte das fliegende Wrack durch das blutige Nass, ohne erneut hoch­geschleudert zu werden.

Es rauchte und donnerte.

»Wasser dringt ein!« berichtete der Große Geist verzweifelt. »Ich kann es nicht aufhalten. Eine der Ebenen muss ich als verloren an­sehen. Alle Betroffenen müssen schleunigst umsiedeln. Ich gebe diesen Teil ebenfalls auf.«

Eine Öffnung entstand plötz­lich in der Wand. Toy Fong über­prüfte gerade, ob noch alle seine Knochen heil waren. Er und Mar­tha hatten Glück gehabt.

Sie blickten durch die Öffnung in die überflutete Ebene, die et­was tiefer lag.

Acht Männer und Frauen kletterten Hals über Kopf zu ih­nen herein.

Toy und Martha halfen ihnen, wie sie nur konnten.

Und dann hatten es die Men­schen geschafft. Die Öffnung schloss sich hinter ihnen. Gleich­zeitig verebbte das Rauschen und Brodeln.

»Wie steht es jetzt mit der Ant­wort?« fragte Toy Fong zurückhal­tend.

Martha Hendrix versuchte zu lächeln. Es misslang. »Ich glaube fast, zuviel versprochen zu haben.«

»Was soll das heißen?«

»Es ist unmöglich für mich, dich zu lieben. Welten trennen uns.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du bist ein Lebender und ich eine Belebte. Die magischen Kräf­te der Schwarzen Eminenz haben nicht nur dieses Schiff geschaf­fen, sondern mir einen Körper ge­schenkt, der nur scheinbar aus Fleisch und Blut ist. Du kennst meine Geschichte. Mein Körper befindet sich im Diesseits und spielt die Rolle weiter, die die meinige war. Ich aber wurde in die Welt der Geister verbannt - in die Welt der Toten!«

Toy Fong schüttelte den Kopf. Er wollte es nicht glauben, zu weh tat ihm der Gedanke, obwohl er genau wusste, dass jedes Wort der Wahrheit entsprach.

Alle versammelten sich auf der Kommandoebene.

Toy Fong blieb an der Seite von Martha Hendrix.

Gemeinsam mit dem Großen Geist wurde die neue Lage er­örtert.

Einmal wandte Martha Hendrix ihr Gesicht ab. Doch Toy Fong entging nicht, dass sie weinte.

War es seinetwegen?

Ein Kratzen und Schaben drang durch die Wände. Dann lag das Schiff ruhig - das Schiff, das eigentlich gar keins war.

Der Große Geist ließ eine Öff­nung entstehen. Alle ein­undzwanzig Überlebende kletterten ins Freie.

Wieder ging ein Ruck durchs Schiff. Doch es bewegte sich nur ein kleines Stück von der Stelle.

Hatte es auf Grund gesetzt?

Toy Fong kletterte als letzter hinauf. Rötlicher Schein war über ihm. Er schaute umher. Unweit befand sich eine große Insel. Hatten sie Glück im Unglück ge­habt?

Misstrauisch schaute er in das brackige Wasser. Wie sollten sie hinüber gelangen? Schwimmend? Sehr einladend sah die rote Brü­he nicht gerade aus.

Martha trat neben ihn. »Auch wenn der Große Geist seine Energie behält oder sogar wieder neue auftanken kann, sind wir für ewig in dieser Welt gefangen!«

»Was ist das eigentlich für eine Welt?«

»Niemand weiß es, nicht ein­mal Seine Schwarze Eminenz, der das Schiff mit seinem Geist beleb­te.«

Toy Fong hob die Stimme. »Können wir bis zur Insel schwimmen?«

»Nur bedingt!« antwortete der Große Geist und seine Stimme er­klang in seinem Kopf.

»Na, das ist doch schon etwas. Wenn der Antrieb fehlt, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Schiff in einen Segler zu verwandeln.«

»Es ist nicht notwendig. Die Entfernung ist nur gering. Meine Energie wird ausreichen.«

Das Schiff schwamm höher. Es schaukelte hin und her. Das rote Wasser trug es.

War es denn wirklich Wasser?

Vielleicht war es Blut?

Toy Fong dachte über diese Frage lieber nicht nach. Es schauderte ihn.

»Maximale Höhe erreicht«, be­richtete der Große Geist. »Es gibt eine sanfte Strömung. Sie bringt uns hinüber.«

»Besser kann es gar nicht kommen«, bemerkte Martha Hendrix geistesabwesend. Sie ließ die Insel nicht aus den Augen. »Aber was erwartet uns dort drü­ben?«

Auch Toy Fong schaute hin­über.

Dabei spürte er etwas. Es war in seinem Innern und doch kam es irgendwie von... außerhalb. Er lauschte in sich hinein, versuchte zu ergründen, was für ein seltsa­mes Gefühl das auf einmal war. Hatte es mit Martha zu tun?

Nein! entschied er.

Und dann traf ihn die Er­kenntnis wie ein Schlag aus hei­terem Himmel: MARK TATE!

»Er - er ist hier! Tatsächlich!«

»Wer denn?« erkundigte sich Martha prompt - und meinte na­türlich die Insel vor ihnen.

»Nein, nicht dort, sondern in dieser Sphäre.« Toy wandte sich ihr zu. »Wir sind im Land ORAN! Und Mark Tate befindet sich hier. Ich spüre es. Vielleicht kann ich sogar... Verbindung zu ihm auf­nehmen?«

Sie schaute ihn an, als sei er auf einmal verrückt geworden. Aber er ignorierte es und schloss die Augen, um sich zu kon­zentrieren.

»Mark Tate!« riefen seine Ge­danken. Er versuchte es immer wieder, aber der Kontakt blieb einseitig. Er spürte die Anwesen­heit von Mark Tate, der sich ir­gendwo hier befand, vielleicht nah, vielleicht unendlich weit... Wichtig dabei blieb nur eines: »Mark Tate lebt! Und wenn er lebt, dann gibt es wenigstens für ihn eine Chance, ins Diesseits zu­rückzukehren!«

»Wer ist dieser Mark Tate?« erkundigte sich Martha neugierig.

Aber Toy Fong winkte nur ab. Er hatte keine Lust, jetzt Erklä­rungen darüber abzugeben, denn sie waren angelangt: Das Schiff stieß mit sanftem Ruck gegen das Ufer.

Die ersten wollten an Land springen.

»Vorsicht!« warnte sie der Große Geist, »ich werde erst erfor­schen, ob uns keine direkte Gefahr droht.«

Sie geduldeten sich.

Später gab der Große Geist seine Einwilligung.

Er hatte sich der Besatzung verschrieben, aber niemand hatte etwas dagegen, dass er im Augen­blick das Kommando übernom­men hatte. Sie konnten es je­derzeit ändern, wenn es ihnen nicht mehr passte.

11

Am ersten Tag erkundeten sie die nähere Umgebung. Die Insel wirkte sehr friedlich. Bis jetzt war kein gefährliches Raubtier aufge­taucht. Überhaupt gab es nur sehr wenige Tiere auf der Insel. Pflanzen überwogen. Sie waren teilweise von bizarrem Aussehen, exotisch.

Tiefer drangen die Menschen nicht vor. Ihr Hauptaugenmerk galt ihrem Schiff. Sie fällten Bäu­me, bearbeiteten sie. Allmählich bekam das Schiff eine ganz neue Form. Sie verwandelten es in ein altertümliches Segelschiff.

Sie wollten nicht an die Insel gebunden sein. Das ursprüngli­che Schiff blieb Kernstück des neuen Bauwerks.

Am fünften Tag nach ihrer Ha­varie sah das Segelschiff schon seiner Vollendung entgegen. Je­der arbeitete nach Kräften mit. Einige der Besatzungsleute erwiesen sich als sehr sachkun­dig.

Toy Fong fragte Martha da­nach.

»Sie waren in ihrer Zeit Ex­perten für den Schiffsbau«, erläu­terte sie.

»In ihrer Zeit?« echote Toy Fong.

»Sie stammen aus dem Mittel­alter.«

Diese Antwort erschreckte Toy Fong. Er wollte noch mehr erfah­ren. Doch das war nicht möglich. Martha Hendrix war zu sehr beschäftigt. Sie hatte inzwischen wieder das Kommando vom Großen Geist übernommen und vertrat den einstigen Kom­mandanten Kasor.

Nur einmal sagte sie zu Toy Fong: »Kasor selber war Kapitän Ihrer Majestät und wurde im sechzehnten Jahrhundert zum Verfluchten. Seine Schwarze Eminenz schulte sie alle, damit sie die Reise zum Atom mitma­chen konnten. Sie erwiesen sich als sehr gelehrig, denn die Neue­rung der Zeit ging nicht ganz spurlos an ihnen vorüber. Schließlich waren sie nicht ganz vom Diesseits abgeschnitten ge­wesen.«

Toy Fong hatte tausend Fragen, doch er behielt sie für sich.

Er bedauerte es sehr, dass Martha nicht mehr Zeit für ihn hatte.

Habe ich mich wirklich in sie verliebt? fragte er sich bestürzt. Er forschte in sich und fand die Antwort: Ja!

Solange sie hier waren, in dieser Welt, durften sie zu­sammen sein. Toy Fong hatte gar nicht mehr die Sehnsucht, ins Diesseits zurückzukehren. Er wusste nicht, ob er das als positiv oder negativ bewerten sollte.

Nur noch drei Tage, bis sie die Insel verlassen konnten - mit ih­rem neuen Segelschiff.

Da wurden alle versammelt. Martha Hendrix hatte vorher Rücksprache mit dem Großen Geist gehalten.

An ihrem sorgenvollen Gesicht erkannte Toy Fong, dass etwas passiert war. Und er wusste auch im gleichen Augenblick: Es konn­te nichts Gutes sein.

»Wir haben einen Lebenden in unserer Mitte«, verkündete Mar­tha Hendrix.

Sie stand an der Reling des recht abenteuerlich aussehenden Segelschiffes und blickte auf die am Ufer Versammelten herunter.

»Sein Name ist Toy Fong!«

Niemand schaute zu Toy hin­über. Es war ihm lieber so. Die ganze Zeit hatten sie ihn einfach akzeptiert und er hatte alles ge­tan, um bei ihnen nicht zum Außenseiter zu werden.

»Nur ihm ist zu verdanken, dass die magische Energie des Großen Geistes noch nicht ganz verebbt ist. Und wir sind uns in­zwischen alle darüber im klaren, dass es nur diese Energie ist, der wir unser Leben verdanken. Er­lischt sie, wissen wir nicht, was aus uns wird. Vielleicht erlangen wir die Erlösung von unserem un­barmherzigen Schicksal, vielleicht aber wird es noch schlimmer als das, was wir alle hinter uns haben. Wenn kein Wunder ge­schieht, werden wir es bald erfah­ren.«

Mit diesem letzten Satz hatte sie endlich gesagt, was der Sinn der Zusammenkunft war.

Ehe Unruhe entstehen konnte, fuhr Martha Hendrix schnell fort: »Der Große Geist hat gehofft, in dieser Welt neue Kräfte schöpfen zu können, aber hier herrschen eigene Gesetze, mit denen er nicht zurechtkommt. Er fand her­aus, dass wir in einer unbere­chenbaren Sphäre gelandet sind mit Namen ORAN - und das auch noch als Winzlinge. Wir sind hier nicht größer als vergleichsweise winzige Insekten. Und deshalb gelingt es ihm nicht, seine Fähig­keiten zu entfalten. Sein Einfluss auf die magischen Dinge ist einfach zu gering.

Nur Toy Fongs Anwesenheit bildet eine winzige Brücke zum Diesseits. Das ist auch der Grund, warum er ihn mitgenom­men hat. Toy Fong hat magische Fähigkeiten. Anfangs wollte er sie einsetzen, um sich zu befreien. Er konnte ja nicht wissen, dass Sei­ne Schwarze Eminenz seine Fä­higkeiten neutralisieren, ja sogar für eigene Zwecke benutzen konnte. Er legte einen Köder aus und Toy Fongs Verbündeter, ein verwunschener Geist aus der Vergangenheit, fiel prompt darauf herein. Er bekam mit, was mir widerfuhr und wurde auf Pensing aufmerksam. Deshalb schickte er seinen Nachfahr Toy Fong nach Pensing. Dort wartete bereits die Falle auf ihn. Seine Schwarze Eminenz hatte ihn als geeigneten Begleiter für die phantastische Fahrt ins Mikroreich erkannt.

Aber Seine Schwarze Eminenz hatte noch einen weiteren Grund: Toy Fong hat eine magische Ver­bindung zu Teufelsjäger Mark Ta­te, normalerweise unser aller töd­licher Feind, den es hierher ver­schlagen hat, in das Land ORAN! Es ist der Grund, wieso wir hier gelandet sind. Ohne diese gering­fügige magische Verbindung wä­ren wir längst verloren, denn sie führte uns her und so wurde ORAN zu einer Art Hintertür, zu einer Rettungsinsel in der Not. Wir wurden nicht vernichtet, son­dern ORAN nahm uns auf. Leider nur sind wir solche Winzlinge. Al­so genügt auch nicht die ma­gische Brücke zwischen Mark Ta­te und Toy Fong, dass Mark Tate überhaupt etwas von Toy Fong bemerkt.

Noch schlimmer: In einigen Tagen wird die Macht des Großen Geistes erlöschen. Dann ist alles aus. Er weiß nicht einmal, was danach aus Toy Fong wird.«

Toy Fong trat vor. »Zum ersten Mal erfahre ich, welche Rolle ich bei diesem wahrhaft grausigen Spiel einnehme. Ich habe allen Grund, darüber erbost zu sein. Doch liegt mir das Schicksal aller hier Versammelten am Herzen. Ihr haltet Mark Tate für euren Feind? Nein, er ist nicht euer Feind, genauso wenig wie ich. Er ist nur der Feind der Macht, die euch dies alles hier angetan hat! Auch wenn es zu spät ist, ihn, den Großen Geist, dafür zur Re­chenschaft zu ziehen: Ich will wenigstens versuchen, mit dem Geist meines Vorfahren in Ver­bindung zu treten. Kann der Große Geist mir das erlauben?«

Martha Hendrix blickte ihn an.

Toy Fong bemerkte ihren Blick; er war sich auf einmal si­cher, dass sie seine Liebe er­widerte. Doch sie wusste sich ausgezeichnet zu beherrschen. Warum? Weil sie keine gemein­same Zukunft sah?

»Du musst das mit dem Großen Geist persönlich ausma­chen!« Sie hob ihre Stimme. »Wir werden inzwischen hier draußen bleiben. Legen wir uns nieder und verbrauchen wir keine unnötige Energie. Der Große Geist wird sie benötigen. Wenn er Toy Fongs Wunsch erfüllt, wird die Brücke zum Diesseits gestört.«

Toy Fong stieg in den Bauch des Segelschiffes.

Der Erbauer hatten Groß­artiges geleistet. Mit Holz war alles in idealer Weise verkleidet.

Eine Öffnung bildete sich. Toy Fong kletterte hinab.

»Ich werde es nicht verhindern«, sagte der Große Geist, »obwohl die Sache für mich ein erhebliches Risiko birgt.«

Toy Fong befand sich auf der Kommandoebene. Sie erschien unverändert. Es wurde deutlich, dass hier auch durchaus reale Materialien Verwendung ge­funden hatten. Nicht das ganze Schiff bestand aus manifestierter magischer Energie.

Toy Fong rief den Geist - und er hatte auf Anhieb Erfolg. Zum ersten Mal erschien ihm der Toy Fong aus der Vergangenheit als körperliches Wesen. Konnte er das vielleicht nur in dieser selt­samen Welt?

Der Geist trat direkt aus der Wand. Erst war er nur ein trans­parentes Schemen. Seine Kon­turen verfestigten sich. Wie ein alter Mann aus Fleisch und Blut näherte er sich Toy Fong und reichte ihm bewegt die Hand.

»Ich grüße dich, mein Sohn!«

Die asiatischen Züge in dem runzligen Gesicht waren unver­kennbar. Tränen der Rührung rollten dem alten Mann über die Wangen.

»Zum ersten Mal kann ich dir persönlich gegenübertreten! Es ist für mich ein überwältigendes Erlebnis.«

Nicht nur für ihn, sondern auch für den jungen Toy Fong aus der Gegenwart!

Aber sie hatten nicht viel Zeit zu verlieren. Erfahrungsgemäß würde der Kontakt zwischen ih­nen beiden nicht lange bestehen. Er war Gesetzen unterworfen, auf die sie beide keinen Einfluss hatten - auch nicht der Große Geist, der sich bei der Begegnung zunächst neutral verhielt. Schließlich erwartete er sich einen Vorteil von der Zusammenkunft.

»Sage mir zunächst: Wer ist eigentlich diese ominöse Schwarze Eminenz?« verlangte der junge Toy Fong zu wissen.

Der alte Chinese lächelte weise.

»Du solltest dich nicht von Be­zeichnungen irreführen lassen, mein Sohn. Ob er sich nun Schwarze Eminenz oder Großer Geist nennt: Dahinter steht ein mächtiger Dämon, der in der Vergangenheit viel Schlimmes vollbrachte. Eines Tages wandelte er sich zum Guten. Er wurde von der Idee besessen, gegen das Bö­se, dessen eifrigster Verfechter er bislang gewesen war, anzu­kämpfen. Sogar in die Dienste der Wissenschaft wollte er seine Fä­higkeiten stellen. Dabei machte er die Erfahrung - wie andere schon vor ihm -, dass ein dämonischer Magier dann zur größten Ent­faltung seiner Möglichkeiten kommt, wenn er nicht mehr nur einseitig das Böse im Auge hat. Es liegt darin begründet, dass in einem solchen Fall die Gegenkräf­te des Guten nicht mehr im vollen Maße wirksam werden.«

»Aber was hat der Ort Pensing mit dem Fall Martha Hendrix zu tun?« begehrte Toy Fong auf, ob­wohl er die Antwort längst schon wusste.

Der weise Geist antwortete: »Vor vielen hundert Jahren stand auf dem Hügel des Schreckens eine Burg. Der Lord übte eine schreckliche Tyrannei aus und man behauptete, er stehe mit dem Teufel im Bund. Und das stimmte, sonst wäre das Folgende nicht denkbar!

Man lauerte ihm auf und töte­te ihn und seine Getreuen aus dem Hinterhalt. Die Burg war nunmehr ungeschützt. Nur noch Frauen, Kinder und Alte waren darin. Durch einen Trick gelang­ten die Bauern ins Innere der Burg. Ihre Rache kannte keine Grenzen. Sie töteten die restli­chen Bewohner der Burg.

Bevor der Sohn des furchtba­ren Lords seinen Geist aufgab, verfluchte er diesen Landstrich, der so viel Böses gesehen hatte. Der Teufelspakt seines Vaters half ihm, den Fluch durchzufüh­ren. Sein Geist ging nicht ein in die Ewigkeit, sondern wurde ru­helos - so ruhelos wie die Geister der anderen Kinder, die mit ihm den Tod fanden. Aber sie hatten die Möglichkeit des Weiterlebens - des Weiterlebens in den Körpern von Erwachsenen! So wurden sie selbst erwachsen. Du hast es am Beispiel von Martha Hendrix gesehen. Der Geist eines Mäd­chens war wieder frei geworden. Er hatte eine Frau besessen, die im hohen Greisenalter verstarb.

Der ehemalige Kindgeist lockte Martha Hendrix in die Falle. Marthas Nichte diente dabei als Lockvogel. Ihr Körper wurde zur Behausung für den ruhelosen Geist und sie selbst gehörte zu den Verdammten - so wie es der Fluch des Lordsohnes verfügte.«

Toy Fong fügte hinzu: »Seine Schwarze Eminenz nahm sich dieser Geister an. Es gelang ihm, den Fluch unwirksam zu ma­chen, doch nicht ganz, die Geister zu befreien. Er schenkte ihnen Körper mittels seiner Magie. Aber was geschieht, wenn die Energie erlischt?«

»Alle, die mit ihm reisten und sich somit hier befinden, werden erlöst sein und in die Ewigkeit eingehen. Die bereits umkamen, sind diesen Weg gegangen. Es sind Erlöste und sie dürfen im Paradies der lebendigen Seelen weilen.«

So etwas wie Sehnsucht trat in die Augen des Alten. Er hatte von etwas gesprochen, was ihm nicht vergönnt war, denn auch er war ein ruheloser Geist, der vergeblich auf seine Erlösung harrte.

Toy Fong hätte gern in dieser Richtung weitergebohrt. Er wollte mehr wissen über das Paradies im Jenseits. Doch dazu war we­der Zeit noch Gelegenheit. Anderes war wichtiger.

»Was soll ich tun?« drängte er zu erfahren.

»Der Große Geist ist ge­schwächt. Wir können es schaf­fen, dich ins Diesseits zurückzu­befördern. Aber dann wird er und alle anderen nicht mehr dieses Dasein fortführen können. Es sind Tote und dennoch werden sie sterben.«

Toy Fong dachte an Martha Hendrix und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das will ich nicht! Eher will ich den Rest meines Lebens in dieser Sphäre ver­bringen.«

»Bedenke, was du da sagst, mein Sohn. Wenn du jetzt nicht handelst, gibst du denen nur einen kleinen Aufschub. Diese Sphäre sieht den Großen Geist als Fremdkörper an und ver­sucht, ihn loszuwerden. Er vermag sich zu wehren - dank dir. Aber das schafft er nur noch ein paar Tage. Und dann wirst auch du sterben müssen. Du bist hier nur ein Winzling. Vergiss das nicht. Kommt es dir wirklich auf die paar Tage an? Willst du dafür den ganzen Rest deines Lebens verschenken? Ich denke ja auch an mich selber. Du bist meine einzige direkte Verbindung mit dem Diesseits. Ohne dich bin auch ich verloren.«

»Meine Entscheidung steht fest - falls es nicht eine andere Möglichkeit gibt!«

Der Alte schüttelte traurig den Kopf. »Du bist verblendet, mein Sohn. Nein, es gibt wirklich keine Alternative. Aber wenn du nicht einwilligst, werde ich dich zu deinem Glück zwingen!«

»Nein!« stöhnte der Große Geist. »Toy Fong, ich habe dir vertraut und jetzt willst du mich verraten!«

Aber Toy Fong kam gar nicht zu einer Antwort. Der Alte hatte sich abgewendet und ging zum Ausgang. Er rief mit lauter Stimme nach Martha Hendrix.

Der Große Geist war schwach geworden. Er hatte zwar Einfluss auf Toy Fong, aber nicht auf dessen Verbündeten.

Martha Hendrix erschien.

Der Geist sprach zu ihr: »Sage meinem Sohn, dass sein Opfer sinnlos ist. Er will euch wenige Tage Aufschub geben und gibt sich dabei selber auf.«

Martha Hendrix verstand nicht sofort. Der Geist von Toy Fongs Vorfahr erklärte es ihr.

Martha Hendrix nickte ernst. Sie ging zu Toy Fong und umarm­te ihn. Zum ersten Mal küssten sie sich - ein Kuss, den Toy Fong niemals mehr vergessen würde.

Dann sagte sie warm: »Das ist die Antwort auf die Frage, die du mir vor kurzem gestellt hast: Ja, Toy, auch ich liebe dich, aber es gibt keine gemeinsame Zukunft für uns. Ich bin eine Verfluchte und habe keine Möglichkeit mehr, zum normalen Leben zu­rückzukehren - zu dem Leben, in dem ich glücklich war. Mein Mann und ich arbeiteten beide als Physiker. Es ging uns gut und... Aber das ist Vergangen­heit. Da es nichts anderes mehr gibt, ersehne ich nur noch die Erlösung von diesem schreckli­chen Schicksal. Mir zerreißt es das Herz beim Abschied von dir, aber es geht nicht anders. Ver­stehst du das?«

Toy Fong schloss die Augen für einen Moment. Dann öffnete er sie wieder. Er streichelte über Marthas langes Blondhaar.

»Ja, ich verstehe dich, aber...« Er brach ab.

Martha Hendrix legte den Zeigefinger auf seine Lippen. »Sprich nicht weiter, Toy! Denke an deine Bestimmung! Das Schicksal hat dich zu einem Dä­monenjäger gemacht, der Mark Tate im Diesseits vertreten muss - bis zu dessen Rückkehr. Du spürst mit Hilfe deines Verbünde­ten das Böse auf und bekämpfst es. Menschen wie dich braucht die Welt - das Diesseits - will es nicht völlig im Chaos enden. Ihr seid die Söldner des Guten und zu Kämpfen berufen. Es gibt noch sehr viel für dich zu tun. Willst du deine Aufgabe vergessen - wegen ein paar Tagen frag­würdigem Glücks -, fragwürdig, weil es vom Schatten des Todes begleitet wird?

Denke doch einmal an den Hügel des Schreckens! Durch sei­ne Magie gelang es Seiner Schwarzen Eminenz zwar, den Fluch gewissermaßen für seine eigenen Zwecke zu nutzen, doch vermochte er es nicht, ihn aufzu­heben. Es bleibt dir überlassen. Kehre zurück ins Diesseits, bre­che den furchtbaren Fluch, der so viel Unschuldige zur Verdammnis geführt hat und befreie die zurückgebliebenen Seelen, die Seiner Schwarzen Eminenz dienten und nun ins Reich des ewigen Lebens eingehen wollen!«

Toy Fong hob den Blick. Seine Augen waren feucht. Er wollte die Gefühlsaufwallung unterdrücken, doch es gelang ihm nicht.

»Ich bin bereit!«

»Nein!« stöhnte der Große Geist erneut und voller Verzweif­lung. Er hatte die Hoffnung auf eine Wendung zum Guten nicht aufgegeben und wollte nicht wahrhaben, dass es keine gab.

Er bäumte sich ein letztes Mal auf. Es nutzte ihm nichts. Martha Hendrix hatte durch den Pakt und dank seiner Schwächung Ge­walt über ihn und unterstützte Toy Fong und seinen Vorfahr.

Es gab keinen großartigen Ab­schied. Ohne große Theatralik reichten sich Toy Fong und Mar­tha Hendrix ein letztes Mal die Hände. Sie umarmten sich, küss­ten sich. Dann trat Toy Fong zum Geist seines Vorfahren.

Er blickte in dessen Augen.

Schade, dass ich keinen direk­ten Kontakt zu Mark Tate bekom­men habe. Vielleicht hätten wir ihn dadurch mitnehmen können ins Diesseits? dachte er, um sich von Martha abzulenken. Dabei hatte er den Eindruck, die Augen vor ihm würden immer größer werden, bis sie sein gesamtes Gesichtsfeld ausfüllten. Sie wurden zu abgrundtiefen Schäch­ten, die ihn ansaugten.

Toy Fong wehrte sich dagegen, doch da hörte er die beruhigende Stimme des Alten: »Nicht doch, mein Sohn, du musst mich un­terstützen!«

»Ich vernichte euch!« heulte der Große Geist, der das Schiff besetzte und erfüllte. »Es soll euch nicht gelingen.«

»Still!« Eine dritte Stimme. Es war die von Martha Hendrix. »Du darfst die beiden nicht behindern. Denke an unseren Pakt! Ich bin jetzt der Kommandant des Schif­fes und du mein Diener.«

»Ich weiß!« Der Große Geist raste. Seine gebündelten Energi­en wollte er auf Toy Fong ab­schleudern. Es gelang ihm nicht.

»Lebe wohl!« hörte Toy Fong die Stimme Marthas. »Ich danke dir für Augenblicke des Glücks, die ich mir nicht einmal mehr zu erträumen gewagt habe, weil ich eine Verdammte bin. Denke immer daran, dass ich dir meine endgültige Erlösung verdanke!«

Toy Fong fiel in die bodenlosen Schächte, ohne sich dagegen zu wehren. Im Gegenteil, er tat, worum ihn sein Vorfahr gebeten hatte und unterstützte den Vorgang noch.

Die Welt um ihn herum wir­belte wie rasend. Plötzlich kam sie zum Stillstand. Toy Fong konnte sich orientieren. Jetzt befand er sich außerhalb des Schiffes. Alles erschien seltsam transparent und unwirklich. Auch vermochte er durch die Schiffswände hindurchzusehen. Dort sah er seinen Vorfahr, sich selber und Martha Hendrix.

Jetzt verschwand sein Vorfahr und auch sein eigener Körper. Martha Hendrix schaute umher, legte auf einmal den Kopf in den Nacken. Sie schien Toy Fong zu sehen, denn sie winkte ihm zu.

Toy Fong konnte nicht win­ken. Er war körperlos, nicht mehr als ein Schemen, das magische Energie sammelte, um den Über­gang in die Wirklichkeit schaffen zu können.

Er wollte Martha Hendrix noch etwas zurufen, doch auch das war nicht möglich. So warf er einen Blick zum Strand. Er sah die anderen verdammten Geister. Und auch sie blickten zu ihm hoch. Ihre Gesichter waren bleich, denn sie wussten, was sie erwartete. Angst hatten sie allerdings nicht. Im Gegenteil, Toy Fong glaubte in ihren Augen freudige Erwartung zu lesen.

Sie winkten ebenfalls.

Toy Fong hatte auf einmal das Gefühl, größer zu werden. Das Bild unter ihm rückte weiter weg, die Figuren wurden winzig. Er überblickte die diffuse Sphäre jener Welt, auf und in der sie ge­strandet waren. Schließlich kam der Übergang. Es war schmerz­haft, als würde Toy Fong aus einem bösen Traum erwachen. Und außerdem verlief er quälend langsam.

Durch unbekannte Räume schwebte er. Unsichtbare Kraft­felder zerrten und kneteten ihn. Und er hatte nicht einmal eine Stimme, um seine Pein hinauszu­schreien.

Die diffuse Welt verschwamm, wurde unwirklicher, bis sie ihre Existenz vollends verlor. Unter Toy Fong blieb ein schrecklicher, finsterer Abgrund, der ihn emportrieb, dem Licht entgegen. Erst war es nur ein winziger Punkt in der Ferne. Es raste her­an, holte ihn ein.

Plötzlich lag er am Boden des elektronisch-magischen Labors, das Seiner Schwarzen Eminenz gehörte! Die Halle war schwer beschädigt.

Toy Fong rappelte sich auf. Noch immer war keine Tür zu er­kennen. Er suchte deshalb die Wände ab - und fand endlich den Ausgang.

Draußen erwartete ihn eine Ruine - die ehemalige Burg auf dem Hügel des Schreckens. Die direkte Umgebung war völlig ohne Bewuchs, wie eine Wüste.

Doch das war von zweit­rangiger Bedeutung. Viel wichtiger war die Frage, was die Geister mit ihren manifestierten Körpern jetzt taten.

»Du hattest recht, Martha«, murmelte Toy Fong vor sich hin. Der Wind trieb ihm nadelfeine Staubkörner in Augen, Mund und Nase, spielte mit seinen Haaren. »Ein Mann darf seine Aufgaben nicht vernachlässigen. Das Schicksal hat mich dazu berufen, den Verdammten beizustehen. Al­so will ich das auch tun.«

Konnte ihm sein Vorfahr hel­fen? Ja, falls es ihm gelang, mit dem Alten erneut Verbindung aufzunehmen! Zu diesem Zweck lehnte sich Toy Fong zurück und konzentrierte sich. Sein Verstand rief nach dem Verbündeten, der in einer eigenen, jenseitigen Sphäre gefangen war.

Es dauerte nicht lange, bis der Kontakt zustande kam. Der Geist antwortete aus Raum und Zeit: »Ich höre deine Stimme. Toy Fong, du rufst mich?«

»Ja. Ich will den Fall ab­schließen und brauche dazu ein letztes Mal deine Hilfe.«

Er bekam den Geist nicht zu Gesicht, vernahm nur seine schwache Stimme: »Deine Befrei­ung hat mich ungeheuer viel Energie gekostet - mehr als ich einzugestehen gewillt war. Deshalb muss ich die Verbindung abbrechen, Toy Fong!«

12

Ein Mann starb. Der Arzt hatte alles versucht, was in seiner Macht stand, aber der Leichtsinn war auf der Seite des Todes. Man hatte ihn zu spät gerufen und da half alles nichts mehr.

Obwohl es die Verwandten verhindern wollten, riss sich die Witwe draußen los. Die Tür flog auf, krachte donnernd gegen die Wand. Die Witwe eilte zum Bett, wollte sich verzweifelt auf ihren Mann werfen, stockte mitten in der Bewegung.

Der Arzt richtete sich auf. Er schaute in das tränenüber­gossene Gesicht der verhärmt aussehenden Frau. Sie hatte nicht viel Gutes in ihrem Leben gehabt und jetzt hatte sie das verloren, was ihr trotz alledem noch Halt verliehen hatte!

Nicht zum ersten Mal wurde der Doktor mit dem Tod konfron­tiert. Jedes mal ein schlimmes Erlebnis.

Er sagte in die betretene Stille: »Es tut mir leid, aber es war zu spät. Ich konnte für Ihren Mann nichts mehr tun. Herzinfarkt. Er hat sich überarbeitet und all meine Warnungen in den Wind geschlagen.«

Die Witwe schluchzte auf. Die Verwandten, die betreten drein­schauend in der Tür standen, kamen näher und stützten sie.

Der Arzt ging nach draußen. Er ordnete seine Gedanken, um den Totenschein auszustellen.

Ein kleines familiäres Drama, entsetzlich für die Betroffenen. Daran dachte der Arzt. Was er nicht wissen konnte, war die Tat­sache, dass der Geist des Verstor­benen mit ihm in einem Raum war.

Der Sohn des Lords! Als er starb, war er ein Kind. Doch sein Geist war durch die Jahrhunderte gereift und erfahrener als es ein normaler Mensch jemals werden konnte. Erneut hatte er einen Körper verloren und zu seiner al­ten Identität zurückgefunden.

Gefühle kannte der Sohn des Lords nicht. Er war ein Ver­dammter, der den Fluch über sich und andere gebracht hatte.

Die von ihm beschworenen Kräfte nahmen sich seiner an, rissen ihn davon, um ihn zum Hügel des Schreckens zu entfüh­ren. Dort wollte er ausharren, bis sich erneut die Gelegenheit bot, im Tausch einen Körper zu über­nehmen. In alter Routine sandte er auch sofort seine geistigen Lockrufe aus. Sie galten all denen, die es wagten, in seine Reichweite zu kommen - in die Reichweite des Fluches.

Es war auch schon jemand da, jedoch ohne Kind. Ein Kind bräuchte der Geist hingegen als Vermittler. Deshalb vermochte er dem Fremden nichts anzuhaben und wandte sich enttäuscht von ihm ab. Gern hätte er den Körper von Toy Fong übernommen. Es schien ihm nicht vergönnt zu sein.

Der Sohn des Lords wandte sich dem Hügel zu, erforschte die Umgebung und da erst erkannte er, dass sich sehr viel geändert hatte. Der Fluch war geschwächt, ja für eine Weile sogar in wichtigen Teilbereichen wirkungs­los gewesen. Eine fremde Kraft. Die Kraft hatte jetzt jedoch keine Gewalt mehr über den Fluch, weshalb er erneut an Wirksam­keit gewann.

Der Sohn des Lords fand die große Halle, in der das magische Schiff entstanden war. Man hatte die Halle nur notdürftig repariert und sie war sehr gegenständlich, bestand nicht aus magischer Energie, die Seine Schwarze Eminenz manifestiert hatte.

Zorn erfüllte den Sohn des Lords, als er entdeckte, wie sehr sich die Reihen der verdammten Geister gelichtet hatten. Wie hatte das geschehen können?

Er ließ seine Wut an den Ver­bliebenen aus. Sie vermochten nichts gegen ihn zu unter­nehmen, denn er war der Herr des Fluches, der nach vielen Jah­ren der Manifestation in einem menschlichen Körper nunmehr zurückgekehrt war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137859
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Urban Fantasy Horror Fantastik Fantasy Mystery Teufelsjäger Mark Tate Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Wilfried A. Hary (Autor:in)

Nähere Angaben zum Autor siehe auf Wikipedia unter dem Suchbegriff Wilfried A. Hary
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Titel: TEUFELSJÄGER: Die 8. Kompilation