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Fast Vierzehn

Ein Jugendroman

von Klaudia Jeske (Autor:in) Torsten Seemann (Herausgeber:in)
77 Seiten

Zusammenfassung

Das Leben ist nicht einfach, wenn man 13 Jahre alt ist und die Figur eines Sprungkastens besitzt, findet Daria Hohmann. Noch komplizierter wird es allerdings, wenn man in den Freund der großen Schwester verknallt ist und sich mit seiner Mutter, die seit neuestem „Mo“ genannt werden will, nicht versteht. Doch, selbst das sind, wie Daria lernt, die kleineren Probleme im Leben. Was ist, wenn der geliebte Vater seine Familie verlässt? Wie verhält man sich, wenn die beste Freundin in die Alkoholfalle gerät? Und wie lernt man seine eigenen Gefühle zu deuten? Ein chinesischer Glücksspruch und Henry, der Junge, den sie bis vor kurzem für eine absolute Niete gehalten hat, begleiten Daria auf dem Weg zu erstaunlichen Erkenntnissen. Printausgabe: 120 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 Schreiben

Es ist einer dieser voreilig heißen Tage, wie sie sich manchmal im Frühling verirren: Ein sonniges Appetithäppchen als Vorgeschmack auf einen langen, intensiven Sommer.

An solchen Tagen schlüpfen bleichhäutige Menschen in Shorts und T-Shirts und recken glücklich und irgendwie gierig ihre Gesichter und Gliedmaßen der Sonne entgegen. Der unverwechselbare Duft von Holzkohle zieht um die Mittagszeit durch die Gärten. Federballspiele, Bocciakugeln und sonnengebleichte Dartscheiben werden aus dunklen Quartieren hervorgekramt. Geblümte Polster, die beim Überwintern im Gartenhäuschen einen muffigen Geruch angenommen haben, landen auf frisch geschrubbten Gartenstühlen. Und wie in jedem Jahr wird die fehlende Flexibilität der Freibäder beklagt, dem Wetter entsprechend auch schon mal vor dem offiziellen Saisonbeginn die Pforten zu öffnen. Alle sehnen sich danach, bei diesem Prachtwetter die Sonnenstrahlen zu nutzen. Na ja, vielleicht nicht wirklich jeder.

Ich habe das verdammte Kreuz eines Bauarbeiters, den Stiernacken eines Ringkämpfers, auf meinem breiten Hintern kann man Feldhockey spielen und das überhaupt oberpeinlichste sind meine feisten Schenkel, die beim Gehen aneinander reiben. Dabei bin ich gar nicht dick, nur etwas zu mollig vielleicht. Aber, ich schwöre es, eine Diät würde kein bisschen an der Tatsache ändern, dass ich die Figur eines Sprungkastens aus der Turnhalle besitze. Wie mein Vater. Bei ihm sieht es allerdings männlich und stark aus. Ein idealer Typ zum Anlehnen ist der. Männer brauchen eben keine Taille.

*

Während ich mir den Kopf darüber zerbreche, was ich schreiben soll, klopft es an der Zimmertür. Ich drücke auf SPEICHERN. Mein altersschwacher Computer gibt ein kurzes, geschäftiges Geräusch von sich. Schnell schließe ich das Textdokument. Ich sage „ja-ha” und meine Mutter schwebt in rosa glänzenden Boxershorts und eng anliegendem weißen Top in den Raum. Mit zusammengekniffenen Nasenflügeln stürmt sie zum Fenster und reißt es sperrangelweit auf. Dann schreitet sie zu meinem ungemachten Bett und schüttelt kräftig das Kissen und die Bettdecke auf. Bedenkenlos okkupiert sie mein Zimmer.

„Also, Daria, ich verstehe nicht, wie du dich in so einem muffigen Zimmer wohl fühlen kannst. Außerdem sieht´s mal wieder aus, als hätte hier ein Blitz eingeschlagen.”

Mutter, oder besser gesagt Mo, wie sie von uns Töchtern neuerdings genannt werden will (diese Abkürzung ihres Vornamens Monika findet sie total schick), lässt sich kopfschüttelnd auf der Bettkante nieder.

Ich verdrehe die Augen. „Was willst du hier, wenn es dir bei mir nicht gefällt?”

Mo streckt ihre meterlangen Beine von sich und kneift sich gedankenversunken in den linken Oberschenkel. Einen Moment lang sehen wir beide einige Millimeter Orangenhaut zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger aufblitzen. Seufzend lässt Mo los und die Haut glättet sich zaghaft wieder.

Beiläufig sagt Mo: „Patrizia lässt fragen, ob du heute Abend auf Marlon aufpassen kannst. Sie ist zu einer Vernissage eingeladen.”

„Ach, und das ist ihr erst heute beim Frühstück eingefallen. Oder was?”

Ich bin genervt. Patrizia ist eine von Mos Freundinnen, und Marlon ist Patrizias fünfjähriger hyperaktiver Sprössling. Seit seiner Geburt werde ich regelmäßig als Babysitterin gebucht. Leider habe ich mit dem Job angefangen, als ich mich noch über zwei Euro Verdienst pro Stunde freute. Irgendwann kam ich dahinter, dass man mich miserabel entlohnte. Doch als ich dieses Problem einmal meiner Mutter gegenüber zur Sprache brachte, erzählte sie mir etwas von Freundschaftsdienst und Spaß an der Sache. Marlon wäre schließlich so etwas wie ein kleiner Bruder für mich. Außerdem sollte ich nicht so geldgierig sein.

Neben dem dumpfen Gefühl, finanziell ausgebeutet zu werden, versetzt mich die Art, wie Patrizia Winterfeld über meine Zeit verfügt, in Wut.

„Wie kommt ihr alle eigentlich auf die schwachsinnige Idee, dass ich jederzeit abrufbereit bin? Bin ich so eine Art Notfalldienst, oder was?” verlange ich zu erfahren.

Meine Mutter seufzt wieder. Sie hat es außerordentlich schwer. „Patrizia will doch nur wissen, ob du heute Abend Zeit hast zum Babysitten oder nicht.”

„Wieso kann sie nicht rechtzeitig fragen?”

„Eine spontane Einladung. So etwas kommt vor. Was ist nun? Willst du dir ein paar Euro verdienen oder nicht?”

„Keine Zeit!” fauche ich.

„Ach?”

„Sonst noch was?”

Mo wechselt das Thema. „Olivia hat gemailt, dass sie ihre Führerscheinprüfung bestanden hat. Jetzt darf sie den Zweitwagen der Tylers benutzen. Ist doch total großzügig oder?”

„Super”, sage ich mit herablassendem Tonfall.

Meine Schwester ist seit acht Monaten als Austauschschülerin in Florida. Sie genießt ihr Leben im sonnigen Süden, das entnehmen wir jeder ihrer Emails. Manchmal vermisse ich sie sehr. Mehr als mir lieb ist, wenn ich ehrlich bin. In den letzten drei Jahren haben wir uns nicht mehr so gut wie früher verstanden. Sie behandelt mich wie ein Baby, obwohl aus mir langsam doch auch ein Teenager geworden ist. Und ich bin oft eifersüchtig auf ihren Erfolg bei den Jungs, auf ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein und vor allen Dingen auf ihr gutes Aussehen. Ungerechterweise hat sie die Model-Figur unserer Mutter geerbt. Beide haben schlanke Beine, die ihnen fast bis zum Schwanenhals reichen und Popos, die so klein und niedlich sind, dass man sie immerzu streicheln will. Jedenfalls tätscheln Olivias häufig wechselnde Freunde ständig ihren knackigen Hintern und auch mein Vater pflegt des Öfteren verstohlen über das Hinterteil meiner Mutter zu streichen. Es wird wohl niemanden verwundern, wenn ich zugebe, dass sich die Aufmerksamkeitsbekundungen für meinen dicken A… auf Häme und Spott von pubertierenden, pickeligen Jungs beschränken. Es ist diskriminierend!

„Du könntest dich ruhig mal für deine Schwester freuen”, sagt Mo vorwurfsvoll.

„Mein Gott, sie ist die Prinzessin und lebt zurzeit bei den reichen Tylers wie im Paradies. Olivia kommt ganz gut ohne meine Begeisterung aus.”

Endlich erhebt sich Mo von meinem Bett. Glücklicherweise scheint sie das leidige Thema nicht vertiefen zu wollen. Ich weiß, sie hat vor einiger Zeit beschlossen, unsere schwesterlichen Eifersüchteleien als altersgerechtes Herumzicken abzutun. Mo hat den Türknauf bereits in der Hand als sie sich noch einmal zu mir umdreht. „Tom kommt heute Nachmittag vorbei. Kümmerst du dich ein bisschen um ihn? Ich bin zum Schwimmen verabredet.”

*

Typisch! Man kann ihr gerade etwas erklärt haben, und sie behält es nicht für fünf Minuten im Kopf. Ich habe keine Zeit für irgendwelche Fremdaufträge! Wann kapiert meine Mutter das endlich? Verärgert gehe ich ins Badezimmer. Während ich pinkele, denke ich an Tom Fetgenheuer, den Freund meiner Schwester. Der Arme leidet ziemlich unter Olivias Abwesenheit und er wird außerdem von heftigen Eifersuchtsattacken geplagt. Nachdem er Olivia im Januar in Florida bei den Tylers besucht und dabei festgestellt hat, dass mindestens drei der vier Tyler-Söhne im Teenageralter ein Auge auf Olivia geworfen haben, taucht Tom regelmäßig bei uns unter dem Vorwand auf, nur ein bisschen in Olivias Zimmer sitzen zu wollen, um sich ihr dadurch näher zu fühlen. In Wirklichkeit versucht er uns so viel wie möglich über Olivias Leben in Florida aus der Nase zu ziehen. Er traut ihr nicht mehr.

Was findet dieser gut aussehende Typ nur an Miss Zicke of the World? Tom könnte an jedem Finger eine tolle Frau haben, wenn er wollte. Er ist so ein großer, breitschultriger Surfertyp mit mittellangen blonden Haaren und einem Blick aus ultramarinblauen Augen zum darin Versinken. Letztes Jahr hat er das Gymnasium nach der 10. Klasse verlassen, um eine Tischlerlehre zu beginnen. In seiner Freizeit ist er Bandleader der Gruppe Jump. Das Saxophon spielt er zum dahin schmelzen.

Meistens bin ich dankbar und glücklich darüber, von dem tollen Tom Fetgenheuer als eine Art Unterwesen, nämlich als die Schwester von Prinzessin Olivia, wahrgenommen zu werden. Da ich ziemlich in ihn verknallt bin, gebe ich mich gerne mit dieser Rolle zufrieden. Was bleibt mir anderes übrig?

Nachdenklich drücke ich die Klospülung und gehe zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Prüfend schaue ich in den Spiegel. Ich mag meine gerade, kleine Nase und die wachen schilfgrünen Augen. Aber meine Lippen finde ich viel zu schmal. Trotzdem, wäre nicht der schwere Körper, könnte ich ganz zufrieden mit meinem Äußeren sein. Während ich mein langes, honigfarbenes Haar kopfüber zu bürsten beginne, höre ich meine Mutter von unten meinen Namen rufen.

„Daria! Telefon!”

Mäßig gespannt trabe ich die Treppe hinunter und nehme in der Küche das Handy von Mo entgegen. Am anderen Ende der Leitung ist meine beste Freundin Nina Rosen. Während sie mir von dem Treffen mit ihrem neuen Freund Niklas, ein Junge, der im Februar neu in unsere Klasse gekommen ist, vorschwärmt, angele ich mir die Cornflakestüte von der Anrichte. Aus dem Kühlschrank hole ich kalte Milch. Teller und Löffel stehen noch vom Frühstück meiner Eltern auf dem Tisch. Wenn Nina erst einmal zu reden beginnt, kann man getrost davon ausgehen, die nächsten zehn Minuten keine Antwort geben zu müssen. So war es schon immer mit uns beiden. Seit unseren Kindergartentagen sind wir befreundet. Nina übernahm von Anfang an den quirligen Part, während ich der ruhende Pol in unserer Freundschaft bin, so jedenfalls sieht es Mo. Auf Nina kann ich mich hundertprozentig verlassen. Sie ist von einer manchmal schon beinahe beleidigenden Aufrichtigkeit, ist mutig in Worten und Taten und reißt mich mit. Ohne sie wäre ich eine verdammte Einzelgängerin. Das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt, den Teller voll Cornflakes mit Milch balancierend, gehe ich hinaus auf die Terrasse. Das Sonnenlicht blendet. Am Tisch unter dem großen Marktschirm aus weißem Leinen lasse ich mich nieder.

„Wir treffen uns um drei auf dem Marktplatz beim Eiskaffee. Kommst du auch?” fragt Nina.

„Ich weiß noch nicht …”, nuschele ich mit vollem Mund in den Hörer. Ich denke an Tom, der ja heute Nachmittag vorbeikommen will und den ich zwar einerseits nicht verpassen will, weil ich nichts lieber wünsche, als in seiner Nähe zu sein, jedoch andererseits es für klüger halte, ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn ich Tom begegne, besteht immer ein hohes Risiko, mich zum Volltrottel zu machen. Außerdem hat bisher jedes Treffen mit Tom einen bitteren Nachgeschmack bei mir hinterlassen.

„Ach, komm schon, Daria. Vesteck´ dich nicht immer. Niklas bringt einen Freund mit. Und Henry kommt auch. Die Luft ist weich und flirrend. Es ist Frühling und Zeit sich zu verlieben.”

Ich schlucke die Cornflakespampe in meinem Mund hinunter. „Verliebt bin ich doch schon lange. Es ist ein definitiv wetterunabhängiges Gefühl …”

Natürlich ist Nina im Bilde.

„Schlag ihn dir aus dem Kopf, Süße. Das kannst du nicht bringen, mit dem Freund deiner Schwester …“ Wie immer versucht sie mir Tom Fetgenheuer auszureden. Stattdessen beginnt sie, ihren Bruder Henry anzupreisen. Das wird langsam zu einer Marotte von ihr. Ich kenne Henry Rosen bereits eben so lange wie Nina, was bedeutet, dass ich mich noch an ihn als einen zahnlückigen Milchbubi erinnern kann. Bereits als Erstklässlerin hatte ich keinen Respekt vor ihm, denn obwohl er schon in der dritten Klasse war, wurde er oft verhauen und stand dann plärrend auf dem Schulhof. Irgendwann kam er auf ein Internat. Mir war das egal. Trotz meiner Schüchternheit würde ich mich niemals unterbuttern lassen. In den ersten Schuljahren war ich meistens diejenige, die freche Buben verprügelte. Dabei nutzte ich den einzigen Vorteil meines bereits damals soliden Körperbaus: ich wirkte stark und Furcht einflößend.

Ich winke meinem Vater zu, der gerade den Rasenmäher aus der Garage schleift. Gleich wird er den Elektromotor anschmeißen. Bevor Paps auf die Idee verfällt, mich für die Pflege unseres lang gestreckten, verwunschenen Gartens anzuheuern, verziehe ich mich lieber auf mein Zimmer. Das Handy zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, verlasse ich die Küche.

„Also gut, Nina”, lenke ich ein. „Ich komme so gegen vier Uhr zum Eiskaffee, okay?”

Auf diese Weise werde ich Tom zwar kurz sehen, habe aber gleichzeitig eine gute Ausrede dafür, mich schnell zu verdrücken. Mit Glück werde ich mich heute nicht zum Affen zu machen. Jedenfalls ist Nina mit meinem Vorschlag einverstanden, und wir beenden das Gespräch.

Jetzt stellt sich das Problem, was ich nachher anziehen soll. Etwa drei Stunden stehen mir für die Beantwortung der Kleiderfrage zur Verfügung.

Das ist knapp.

2 Tom

Seit einiger Zeit ist mein Leben so furchtbar kompliziert geworden.

Früher habe ich mich zwar auch manchmal über andere Leute geärgert, aber der Groll ging schnell vorüber und das Leben war bald wieder schön. Als Kind durchschaut man die Hintergründe eben nicht, man merkt nicht, dass einem oft eine verlogene Fassade vorgespiegelt wird. Meine Familie war immer ein Ort der Geborgenheit für mich, doch mittlerweile erkenne ich, wie viel schöner Schein dabei ist.

Mo kreist seit langem wie die Sonne um sich selbst. Mein Vater, dieser solide Mensch, dreht sich nur um meine Mutter, und ich habe bisher versucht, immer in Reichweite meines Vaters zu bleiben wie der Mond, der die Erde umrundet. Olivia ist schon immer ihr eigener Fixstern gewesen. Trotzdem kommt im Grunde genommen keiner ohne den anderen aus.

In der Schule ist es ähnlich. Jeder braucht sein Publikum. Wir messen uns aneinander, spiegeln uns in den Reaktionen unseres Gegenübers. In der Grundschulzeit glaubte ich, die Lehrer lebten nur für uns Schulkinder, später erkannte ich, dass sie vollauf damit beschäftigt waren, mit ihren eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten zu kämpfen, um den Alltag einigermaßen zu bewältigen.

Und die Freunde? In schlechten Momenten beschleicht mich das Gefühl nur deshalb Ninas beste Freundin zu sein, weil sie mich als ihr beständiges, treues Publikum ausgewählt hat. Jemand, in dem sie sich reflektieren kann. Aber letztlich heißt das alles ja nur, dass die Menschen einander brauchen. Und was ist daran eigentlich so schlimm?

Heute habe ich mich nach etwa einstündigem Hin- und Her vor dem Kleiderschrank für ein dunkelblaues ärmelloses Kleid, dessen dünne Träger im Nacken zusammengeknotet werden, entschieden. Da ich recht kräftige Schultern und Oberarme besitze, beschließe ich, später eine leichte kurzärmelige rotweiß gestreifte Bluse darüber ziehen. Als ich gerade vor dem Spiegel die Träger zusammenbinde, klopft es kurz an meiner Zimmertür und Tom Fetgenheuer tritt breit grinsend ein.

Er fragt, ob er mir behilflich sein kann und deutet mit dem Kopf auf mein Kleid. Sein Blick bleibt an meinen Brüsten hängen. Ich werde knallrot. Mein Herz beginnt wie wild zu pochen und meine Knie werden weich. Tatsächlich fängt er mit seinen warmen, etwas schwitzigen Händen an, an meinem Nacken herumzunesteln. Trotz der Hitze jagen mir ungefähr zweihundert Gänseschauer über den Rücken. Zum Glück scheint Tom die Veränderung meiner Haut nicht zu bemerken. Seine Aufmerksamkeit richtet sich bereits auf den PC, über dessen Bildschirm gerade immer wieder die Buchstaben P I N K in eben dieser Farbe flimmern. Pink ist momentan meine Lieblingssängerin. Tom lässt sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und fragt, ob neue Post von Olivia gekommen sei.

Vor Monaten habe ich den Fehler begangen, Tom die E-Mails von Olivia an mich lesen zu lassen. Ich bin in seine Falle getappt, weil ich mich geschmeichelt fühlte, dass er glaubt, Olivia verriete mir mehr über ihr Leben in Florida als ihm. Außerdem bin ich mittlerweile süchtig nach seiner wöchentlichen Stippvisite bei uns. Ich befürchte, er wird nicht mehr bei mir auftauchen, wenn ich ihm die gewünschten Informationen verwehre. Wie genieße ich es doch, Knie an Knie neben ihm am Computer zu sitzen, seinen Duft – ich glaube er benutzt Tommy Hilfiger – einzuatmen und die Wärme seiner samtigen Haut zu ahnen. Oft berühren sich unsere Finger, wenn wir aus Versehen gleichzeitig nach der Computer-Maus greifen.

Dieses Mal stelle ich mich hinter Tom und beuge mich dicht an ihm vorbei zur Maus.

„Mann, strahlst du eine Wärme aus”, sagt Tom und lüftet dabei sein weißes T-Shirt, das ihm am Körper klebt. Im Gegensatz zu mir, die auf ewig so dicht neben ihm stehen bleiben könnte, ist Tom meine Nähe offensichtlich unangenehm. Enttäuscht rücke ich etwas von ihm ab.

„Sie haben Post” ertönt die wohlbekannte weibliche Internetstimme. Irgendwann einmal habe ich Tom gefragt, wie er sich diese Frau vorstellt. Er hat mich angeguckt, als sei ich ein Vorschulkind, das noch an den Weihnachtsmann glaubt. Die Stimme sei doch künstlich, hat er mich kopfschüttelnd aufgeklärt, und ich war mir mal wieder komplett bescheuert vorgekommen.

An diesem Nachmittag hat Olivia tatsächlich eine E-Mail geschickt. Gespannt lesen Tom und ich die Post.

Hi sister!

It´s so hot! Wow! War gestern auf einer absolut supercoolen Party mit den beiden ältesten Tyler-Boys. Habe einen Typen kennengelernt, der mit Justin Timberlake befreundet ist. Jeff, so heißt er, nimmt mich nächste Woche mit zu Timberlakes Konzert in Miami. Backstage! Stell dir das mal vor! I´m so very much excited! Willst du ein Autogramm, little sis´? Justin Timberlake!!! Obwohl, dieser Jeff ist auch ein ganz süßer, interessanter Bursche. I´m so curious!

Bye, O.

Diese englischen, affektierten Worteinsprengsel öden mich an, meine ich zu Tom und sehe ihn Zustimmung heischend an. Sein Gesicht ist jetzt so puterrot wie meines zuvor.

„Die pennt mit dem Kerl!” stößt er in einem ganz merkwürdigen Ton hervor.

Ich reiße die Augen weit auf. „Mit Justin Timberlake! Ich glaube nicht …”

„Blöde Kuh! Doch nicht mit Timberlake! Mit diesem Jeff!”

Wie er denn darauf komme, frage ich nun wirklich verblüfft.

„Was meinst du, wieso diese Type ausgerechnet Olivia zu so einem Event mitnimmt. der hat doch was mit ihr!”

Ich schüttele den Kopf. „Olivia liebt doch dich.”

„Kleine, du bist so naiv!” Seine Stimme klingt erbittert. „In Olivias Mail an mich standen auf jeden Fall ganz andere Sachen. Über die Schule, das Wetter und wie sehr sie mich vermisst. Heuchlerin!”

Tom steht abrupt von seinem Stuhl auf. Ich versuche ihn zu beschwichtigen, doch meine Worte scheinen ihn nur noch wütender zu machen. Er brauche dringend frische Luft, schreit er aufgebracht, und dann marschiert er zornig aus meinem Zimmer. Die Haustür fällt knallend ins Schloss.

Ob möglicherweise ein Mann in meinem Leben einmal wegen mir so eifersüchtig werden wird? Ich bezweifele es.

*

Die norddeutsche Kleinstadt in der Nähe von Lübeck, in der ich lebe, ist ein Ort mit zahlreichen Neubaugebieten und vielen jungen Familien mit Kindern. Auch meine Eltern sind damals, als meine ältere Schwester ein Jahr alt war, aus Hamburg hierher gezogen. Die meisten Leute glauben ihrem Nachwuchs dadurch, dass sie mit ihnen im Grünen wohnen, etwas Gutes zu tun. Das Leben jenseits des Asphaltmeeres der Großstadt lockt mit der Vorstellung von einer heileren Welt. Nur: Entspricht dieses Bild der Wahrheit?

In der Mitte unserer kleinen Stadt gibt es einen großzügigen Marktplatz, der von Geschäften, einer Bäckerei, einer Apotheke, zwei Restaurants und von dem italienischen Eiskaffee Gardone umgeben ist. Schon aus der Ferne erspähe ich meine Freundin Nina, unübersehbar in ihrem knallgelben Minirock und einem bauchnabelfreien Top in apfelgrün. Neben ihr winkt ein schlaksiger junger Mann in meine Richtung. Ist das der Freund von Niklas?

Neugierig beschleunige ich meinen Schritt. Wieder einmal ärgere ich mich über meine unpraktisch breiten Hüften, und zwänge mich mit eingezogenem Bauch zwischen den viel zu eng gestellten, voll besetzten Tischen hindurch zu Nina und den drei Jungs. Niklas, unser Klassenkamerad, mit dem Nina seit vier Wochen geht, hat den Arm Besitz ergreifend um ihre Schulter gelegt. Er scheint sehr erfreut, mich zu sehen. Wir mögen uns wie gute Freunde einander mögen. Bei Niklas fühlt sich allerdings fast jeder sofort wohl. Mit seiner unkomplizierten Art wird er schnell jedermanns Freund. In Nina ist Niklas wirklich sehr verschossen. Dauernd blickt er Nina auf eine Art an, die mich neidisch werden lässt. So sollte mich einmal ein Junge ankucken! Ganz liebevoll zieht er Nina auf seinen Schoß, damit ich mich auf ihren Stuhl, der dicht neben einem gut aussehenden, dunkel gelockten jungen Mann steht, setzen kann.

„Hi Daria. Gut, dass du da bist. Wir überlegen gerade, was wir gleich machen wollen. Der da neben dir ist übrigens Leon, Niklas´ Freund und Nachbar aus Hamburger Zeiten …”

Ich lächele den Lockenkopf etwas schüchtern an, er kommt mir viel älter vor als die anderen am Tisch. Mit einem arroganten Blick guckt er mich kurz an und schaut dann wieder hinüber zu Nina, die mir gerade erklärt, dass Leon letzte Woche achtzehn Jahre alt geworden ist, und als frischgebackener Führerscheinbesitzer heute eine Spritztour in unsere kleine Stadt zu seinem alten Kumpel Niklas unternommen hat. (Was mich alles überhaupt nicht interessiert). Viel lieber wüsste ich, wer der schlaksige, fremde Junge an unserem Tisch ist. Offensichtlich wird vorausgesetzt, dass ich den Typen mit dem hippen Kurzhaarschnitt und dem coolen Kinnbärtchen kenne. Während Nina munter weiter plappert, schaue ich fragend in das gut geschnittene, offene Gesicht des Jungen. Unsere Blicke streifen sich.

„Gut schaust du aus”, sagt er.

„Meinst du mich?” frage ich ihn verblüfft.

„Wen denn sonst?“

„Nina.”

„Meine Schwester? Nö. Die meine ich nicht.”

Der Junge lacht, und mir geht endlich ein Licht auf. Der coole Typ ist ein völlig umgestylter Henry Rosen!

„Du hast mich nicht erkannt, stimmt´s? Ist ja krass!”

Die anderen haben plötzlich aufgehört, sich miteinander zu unterhalten und lauschen nun unserem Gespräch.

Nina biegt sich fast vor Lachen. „Dass du Henry nicht mehr erkennst!”

Natürlich werde ich wieder einmal rot wie eine Tomate. Ich stehe ungern im Mittelpunkt des Geschehens. Zu meiner großen Erleichterung taucht endlich der Kellner auf. Ich bestelle erst einmal ein Banana Split und ein kühles Mineralwasser dazu. Henry und Leon ordern Eis. Während Nina und Niklas darüber debattieren, ob sie sich noch eine Cola teilen sollen, habe ich einen Moment Zeit mich noch einmal in Ruhe über Henry Rosens Wandlung von einem verklemmten, pickeligen, zu klein geratenen Fünfzehnjährigen in einen hoch gewachsenen sechszehnjährigen jungen Mann zu wundern.

„Du bist so groß geworden”, raune ich Henry zu und beiße mir sofort auf die Zunge. Ich höre mich an wie eine alte Tante.

„Ja, endlich. Ich habe ziemlich darunter gelitten, jahrelang einer von den ganz Kurzen gewesen zu sein. Meine Mutter hat mich mit zwölf zum Arzt geschleppt, weil selbst sie es mit der Angst zu tun bekommen hatte, ich würde auf ewig ein Zwerg bleiben.” Henry grinst und zeigt dabei eine Reihe beneidenswert schneeweißer, gerade gewachsener Zähne. Ich muss an die Zahnspange denken, die er jahrelang getragen hat. „Jedenfalls hat dieser Arzt meine Mutter beruhigt und gemeint, ich würde im Endeffekt mindestens 1,80 Meter groß werden. Tja, in den vergangenen Monaten habe ich dann endlich einen Schub nach oben gemacht.”

„Und aus dem hässlichen Entchen wurde ein stolzer Schwan!” Nina klopft ihrem großen Bruder gutmütig auf den Rücken und fragt dabei gutgelaunt in die Runde: „Also Leute, was fangen wir mit dem angebrochenen Tag nun an?”

Vor dieser Frage stehen wir Jugendlichen oft in unserer kleinen, aufgeräumten Stadt. Das Angebot für unsere Altersstufe ist etwas spärlich geraten. Na gut, es gibt zwar den Sportverein, kirchliche Jugendgruppen, ein kleines Kino und ein Jugendzentrum, in dem man ab und zu unter der Aufsicht von Sozialpädagogen abfeiern kann, doch ist das alles nicht wirklich spannend. Natürlich hätte sich eine Tour ins Schwimmbad angeboten, doch das hat ja noch nicht geöffnet und darüber bin ich ehrlich gesagt nicht unglücklich. Ungern würde ich die Kombination meiner kastenförmigen Figur mit winterkäsiger Haut im Badeanzug zeigen. Im nahen Lübeck gibt es zwar wesentlich mehr Unterhaltungsangebote, doch unsere Eltern lassen uns Dreizehn- und Vierzehnjährige abends noch nicht alleine dort hin.

Niklas schlägt vor, wir könnten heute Abend bei ihm Zuhause „Wetten dass” kucken. Seine Eltern sind zu einer Party in Hamburg eingeladen. Leon tut diese Idee als extrem uncool ab und schlägt stattdessen vor, eine Fete bei Niklas zu veranstalten. Er fragt Nina, ob sie nicht ein paar hübsche Mädchen weiß, die Lust auf Party machen hätten.

Wie erstarrt stochere ich in meinem Banana Split herum, wieder steigt mir die Hitze ins Gesicht. Für diesen Schönling Leon existiere ich scheinbar gar nicht richtig. Auf jeden Fall ist es ganz offensichtlich, dass er mich nicht zur Sorte der hübschen Mädchen zählt. Da passiert etwas Eigenartiges. Plötzlich sind nur noch Leon und Nina völlig in die Partyplanung vertieft. Sie überlegen welche Musik gespielt werden soll, ob es etwas zu Essen gibt, welche Getränke besorgt werden müssen und solche Sachen. Ich komme mir mit einem Mal so vor, als sei ich gar nicht mehr vorhanden und fühle mich unbehaglich. Dann fällt mir auf, dass auch Niklas und Henry ganz still geworden sind. Ich blicke in Niklas Gesicht und kann an seiner Miene erkennen, wie sehr ihm dieser unglaublich vertraute Umgang zwischen Nina und Leon missfällt. Gleichzeitig fühle ich mich selbst beobachtet. Henrys Blick ruht auf mir, ich spüre es fast körperlich. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich in seiner Gegenwart plötzlich gehemmt.

Ausgerechnet Henry Rosen! Dieses bleiche, ängstliche Bübchen, das ich noch vor wenigen Jahren habe beschützen müssen. So ein unscheinbares, mageres Kerlchen! Endlich jemand, auf den sogar ich hinabsehen konnte. Und nun? Kann an mir nicht vielleicht auch mal ein Verwandlungswunder geschehen, frage ich mich, und rücke unbehaglich meine Sommerbluse über dem Busen zurecht.

Es gibt Situationen im Leben, in denen man überglücklich auf den Anblick einer Person reagiert, die man ansonsten nicht unbedingt zu treffen wünscht.

Plötzlich taucht Patrizia Winterfeld, die Freundin meiner Mutter, an unserem Tisch im Eiskaffee Gardone auf und wirft ihren dünnen Schatten auf unser sonniges Plätzchen.

„Daria, gut dass ich dich hier antreffe. Dein Vater hat mir den Tipp gegeben. Ich bin echt verzweifelt. Es ist einfach kein Babysitter für heute Abend zu finden. Dabei ist die Vernissage suuuper wichtig für mich. Besteht wirklich keine Möglichkeit, dass du vielleicht doch heute Abend …”

„Wir wollen nachher zusammen feiern”, teilt Nina vorlaut mit.

„Daria hat keine Zeit”, entscheidet auch Niklas für mich.

„Ich zahle dir einen Spitzenpreis. Wirklich”, bittet Patrizia händeringend.

Ich sehe Schweißtröpfchen auf ihrer hohen Stirn glänzen und fühle mich plötzlich gut. Wie angenehm es ist, endlich einmal selbst in einer Machtposition zu sein.

„Wie viel?” frage ich.

„Hm. Ich denke …, sieben Euro pro Stunde sind wohl angemessen …”

„Zehn”, sagt Leon.

„Zwölf”, sage ich und lächele Leon äußerst kühl an. Wieso mischt sich der Typ in meine Angelegenheiten ein?

„Okay.” sagt Patrizia knapp. „Bist du bitte pünktlich um sieben Uhr bei uns?”

Ich nicke. Sie dreht sich grußlos um und verschwindet.

Die anderen gratulieren mir zu meinem guten Geschäft, nur Henry Rosen sagt: „Schade, dass du dann heute Abend nicht dabei bist.”

Mir ist die ganze Sache allerdings ganz recht. Ich habe keine Lust auf eine Party zu gehen, für die ich vielleicht nicht schön genug bin, wie dieser Leon mir indirekt zu verstehen gegeben hat. Außerdem fühle ich mich von Henry Rosen bereits für heute ausreichend verwirrt. Ich will unsere Begegnung und seine Verwandlung erst einmal in Ruhe überdenken.

Der Tag ist bisher unheimlich anstrengend gewesen. Da sollte selbst Patrizias Nesthäkchen, der rotzfreche Bengel, heute Abend wohl eine leichte Übung für mich sein.

3 La-Le-Lu

Kurz vor sieben klingele ich an der Haustür der Jugendstilvilla der Winterfelds.

Inzwischen ist es draußen merklich kühler geworden, und ich habe mir Zuhause Jeans und ein himbeerrotes Sweatshirt übergestreift.

Dr. Stefan Winterfeld, Steuerberater, öffnet. Mir strömt eine Wolke aus süßlich herben Duftwässern entgegen. Für meinen Geschmack ist Patrizias Ehemann etwas zu verschwenderisch mit Duschgel, Eau de Cologne und After Shave umgegangen. Er trägt schwarze Stoffhosen und einen schwarzen Rollkragenpulli, in dem er heute Abend bestimmt ins Schwitzen geraten wird, so vermute ich.

Noch ehe er mich ins Wohnzimmer bitten kann, kommt Patrizia, ebenfalls rabenschwarz gekleidet, die Treppe hinunter gerauscht. Während sie sich im großen Dielenspiegel von allen Seiten kritisch betrachtet, verkündet sie mir ihre Anweisungen.

„Marlon spielt gerade noch draußen bei den Nachbarskindern. Die Nachbarin bringt ihn gleich vorbei. Du kannst Marlon dann unter die Dusche stellen, ihm ein Käsebrot schmieren und ihn danach ins Bett bringen,” rattert sie. „Er ist bestimmt hundemüde, hat den ganzen Tag draußen rumgetobt. Wir sind gegen ein Uhr wieder zuhause. Oder was denkst du, Stefan?”

Dr. Winterfeld nickt, er schaut gerade in ein Sportmagazin, das auf der Flurkommode liegt, und ich bezweifele, ob er seiner Frau zugehört hat. Patrizia zupft nervös an ihrer platinblonden Kurzhaarfrisur herum.

„Der Abend ist wirklich wichtig für mich, Daria. Vielleicht kann ich Kontakte knüpfen.” Sie überprüft den Schwung ihrer Augenbrauen. „Im äußersten Notfall kannst du uns über das Handy erreichen, das ist ja klar. Die Nummer liegt wie immer auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Wie gesagt, im äußersten Notfall.”

Patrizia schaut mich kurz prüfend an, als müsse sie sich vergewissern, dass ich alles kapiert habe.

„Ich weiß doch Bescheid. Keine Sorge”, sage ich gelangweilt.

Patrizia tut gerade so, als würde ich zum ersten Mal auf Marlon aufpassen.

Sie nickt und wendet sich wieder an ihren Mann. „Wir müssen los, Stefan.”

Unwillig löst sich Dr. Winterfeld von seiner Lektüre. Ich glaube, er hat überhaupt keine Lust, auf diese Vernissage zu gehen. Jedenfalls bin ich froh, als die beiden endlich aus der Haustür sind und ich einen Moment lang die große, alte Villa für mich habe. Ich schlendere in das sehr aufgeräumt wirkende Wohnzimmer, das mit schwarzen Ledermöbeln und antiken Schränken eingerichtet ist. An den Wänden hängen ultramoderne Bilder, deren Sinn kein Mensch versteht. Dann schlendere ich in die Küche. Dort trifft mich fast der Schlag! Das schmutzige Geschirr von Tagen türmt sich überall. Der Tisch sieht klebrig aus, und ist mit halbleeren Saftgläsern vollgestellt. Auf der Herdplatte pappen angetrocknete Nudelreste. Es sieht aus wie in einem Saustall. Denkt Patrizia etwa, ich werde aus Langeweile das Chaos beseitigen? Aus reiner Neugier öffne ich die Geschirrspülmaschine. Voll! Immerhin ist das Geschirr darin sauber. Die Spülmaschine muss lediglich ausgeräumt werden. Kopfschüttelnd verlasse ich die Küche. Meine Familie besitzt zwar nur eine stinknormales 50er-Jahre Siedlungshaus, aber dafür sieht es bei uns überall recht gemütlich aus.

*

Es klingelt. Die Nachbarin hält einen von oben bis unten völlig dreckigen, sich sträubenden kleinen Jungen am Ausschnitt seines T-Shirts fest und überreicht mir das zappelnde Kind mit den Worten „Viel Spaß miteinander”. Dann dreht sie sich auf ihrem Absatz um und ist weg.

Marlon Winterfeld, fünf Jahre, schenkt mir einen düsteren Blick aus dunkelbraunen Augen und sagt übellaunig: „Du schon wieder.”

Das ist exakt dasselbe, was ich von ihm denke. Obwohl ich ihn beinahe seit seiner Geburt kenne, sind wir nie Freunde geworden. Ich habe ihn schon immer für einen verzogenen kleinen Bengel gehalten, und für ihn bin ich vermutlich die doofe Ziege, die ihm seine Mutter immer dann vorsetzt, wenn sie ihn los sein will. Von diesen Gelegenheiten abgesehen hat er seine Eltern nämlich prima im Griff.

Es wird also ein alles andere als spaßiger Abend.

Bis ich Marlon unter der Dusche habe, vergeht etwas eine Stunde mit Fangen und Versteckenspielen. Ich jage hinter dem kleinen Aas her, bis ich ihn endlich in Patrizias Kleiderschrank finde. Nach dem Duschen sieht das Badezimmer aus wie das Babybecken im Freibad. Der Fußboden ist fast vollständig mit Wasserpfützen bedeckt und überall schwimmen Gummitiere und glitschige Seifenreste herum.

Gegen halb zehn setzen wir uns endlich in die Küche, in der man ja zum Glück kaum noch mehr Chaos anrichten kann, und essen. Natürlich verschmäht Marlon das Käsebrot, er will Cornflakes mit Milch. Teile davon gelangen auch tatsächlich in seinen Mund, der Rest der Mahlzeit landet auf dem Fußboden, als Folge von Leons Sturm- in-der-Suppenschüssel-Spiel.

Danach stopfe ich ihn ins Bett, singe ihm sein Lieblings-Gutenachtlied „La-Le-Lu” vor, ohne das er angeblich nicht einschlafen kann, schalte das Licht aus und gehe erschöpft ins Wohnzimmer, um mich ein bisschen vor dem Fernseher auszuruhen.

Nach etwa zehn Minuten bemerke ich, dass Marlon hinter dem klobigen schwarzen Ledersessel hockt und heimlich „Wetten dass” mitverfolgt. Es ist 22.30 Uhr. Wie immer überzieht Thomas Gottschalk die Sendezeit. Ich scheuche Marlon in sein Bett zurück und drohe ihm eine Tracht Prügel an, falls er sich heute Abend noch einmal aus dem Bett trauen sollte. Pädagogisch ist das sicherlich keine Glanzleistung, aber ich brauche endlich, endlich meine Ruhe.

Entnervt schlurfe ich ins Wohnzimmer zurück. Als ich hinter der Gardine, draußen an der Terrassentür eine dunkle Gestalt erblicke, erschrecke ich furchtbar. Schnell mache ich das Licht im Wohnzimmer aus.

„Lass mich rein, Daria!” höre ich den dunklen Schatten leise rufen.

Nun traue ich mich näher an die Terrassentür. Ich bin verblüfft. Draußen steht Tom Fetgenheuer! Schnell öffne ich die Tür und lasse ihn ins Wohnzimmer treten.

Tom stolpert ungeschickt über die Türschwelle, direkt in meine Arme. Er presst sich ganz dicht an mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter.

„Man soll sich nie mit zu sch… schönen Mädchen einlassen, sagt Kulle. Die können nicht treu sein …, sie bre… brechen dir das Herz …” Tom schnieft.

Ich habe ja kaum Erfahrung mit so etwas, doch er scheint stockbetrunken zu sein.

Normalerweise müsste ich jubeln, endlich meinem Schwarm so nah zu. Seltsamerweise fühle ich mich aber unbehaglich, als er seinen Kopf von meiner Schulter löst, mir tief in die Augen blickt, und mir seine Lippen auf meinen Mund presst.

Es ist überraschend und eigentlich völlig unromantisch. Mein erster Kuss ist ganz anders, als ich es mir erträumt habe.

Eine Sekunde später trifft mich nicht etwa Amors Pfeil, sondern ein schmerzhaftes kleines Geschoss am Hinterkopf. Ich zucke zusammen.

„Hey, was is´n los mit dir …”, murmelt Tom, als ich mich brüsk von ihm abwende.

Gerade noch sehe ich einen kichernden Zwerg aus dem Wohnzimmer springen. Marlon Winterfeld! Na warte!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137835
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Teenager Eifersucht Schreiben Liebeskummer Erste Liebe Kinderbuch Jugendbuch Liebesroman Liebe

Autoren

  • Klaudia Jeske (Autor:in)

  • Torsten Seemann (Herausgeber:in)

Klaudia Jeske wurde 1964 in Hamburg geboren und wuchs in Norddeutschland auf. Ihr erster Krimi "Erben ist menschlich" entstand 2010 während eines Schreibkurses an der Volkshochschule. Daneben hat sie diverse Kurzgeschichten veröffentlicht. Sie war Mitglied der Hamburger Autorengruppe "Mörderklüngel" und bei den "Mörderischen Schwestern". Weitere Projekte waren in Planung, konnten von ihr aber zu Lebzeiten nicht mehr fertiggestellt werden. Der Roman "Fast Vierzehn" wurde posthum veröffentlicht.
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Titel: Fast Vierzehn